Eine Geschichte über Egoismus von minikeks ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Jene, die mich kennen, würden mich vermutlich mit Attributen wie Naivität, Fröhlichkeit und Oberflächlichkeit charakterisieren. Auch diejenigen, die mich besonders gut und lange kennen, würden keine anderen Eigenschaften als diese nennen. Da bin ich mir ganz sicher. Keiner von ihnen weiß, was in mir vorgeht, denn ich bin ein guter Schauspieler. Ich strenge mich den Menschen gegenüber, die mir am nächsten stehen, besonders an. Vor allem dieser eine Mensch soll von all dem hier niemals etwas erfahren. Wenn sie es doch täte, könnte ich ihr nicht mehr in die Augen sehen, denn sie ist der Mittelpunkt meines Lebens, alles, was für mich zählt... „Lock, komm endlich! Wir wollen endlich die Farbbomben auf das Haus vom Bürgermeister werfen!“ Ich sehe meine besten Freunde an, während sie vor mir über den Fallbeil-Platz herlaufen. Wir verstecken uns hinter der Mauer, zählen bis Drei und ziehen dann an der Leine des Katapults. Etwa ein Dutzend Luftballons, die mit Farbe gefüllt sind, fliegen durch die Luft und treffen das Haus fast überall. Nur wenig bleibt farblos. „Actionpainting!“ ruft Shock und kichert. Sofort rasen wir wieder über den Platz und lachen lauthals über die wütenden Stimmen hinter uns, die immer leiser werden. Noch nie hatte uns jemand eingeholt und auch jetzt hängen wir unsere Verfolger binnen weniger Minuten ab. Wir verstecken uns im Wald. Barrel stützt sich an einen Baum, hält sich den Bauch und schnauft wie ein Rhinozeros, kann sich trotz seiner Erschöpfung sein breites Grinsen aber nicht verkneifen. „He, Barrel!“ Shock grinst ebenfalls. „Wir machen das schon jahrelang. Man sollte meinen, dass du dir irgendwann wenigstens ein bisschen Kondition antrainiert hättest!“ „Shock, sei nicht so gemein zu unserem Kleinen. Das ein Meter lange Sandwich von heute morgen liegt ihm doch noch so schwer im Magen.“ „Ha! Ein Meter? Für ihn ist das doch etwas für den hohlen Zahn!“ Wir witzeln noch eine Weile weiter über unseren kleinen, runden Freund, der wie immer nichts versteht und einfach mit uns lacht. Diese gewohnte Situation spielte sich schon unzählige Male ab. Für uns gibt es einfach nichts, dass wir lieber täten. Nichts, was uns mehr Vergnügen bereitet. Es mag stimmen, dass uns die meisten Bewohner Halloween Towns dafür hassen. Aber wen interessiert schon, was andere denken? Solange ich meine Freunde habe und einen Ort, den ich Zuhause nennen kann, brauche ich nichts und niemanden auf der Welt. Es ist spät – weit nach Mitternacht – als wir Zuhause ankommen. Mit „Zuhause“ meine ich Jacks Haus, in das wir kurz nach Oogie Boogies Ableben einzogen. Jack, der gutmütige Kerl, war uns nicht böse. Er kannte unser aller Beweggründe für die Dienerschaft bei Oogie, weshalb er die Unterkunft des alten Sackes dem Erdboden gleichmachte und uns zu sich holte. Dort erfuhren wir, was elterliche Liebe ist, denn die beiden – sowohl Jack als auch Sally – umsorgten uns voller Fürsorge und tun dies bis zum heutigen Tag. Ich weiß nicht, wie es den anderen beiden geht, aber ich bin ihnen sehr dankbar für alles, was sie für uns getan haben und tun. Ich würde ihnen das natürlich niemals sagen. Ich verstecke mich – wie gesagt – hinter der Maske. Auch oder gerade vor den Personen, die für mich am wichtigsten sind. Die Lichter des Hauses sind ausgeschaltet. Wie immer klettern wir das Rohr an der Seite hinauf, um in den ersten Stock zu gelangen und wie immer wartet eine wütende Sally auf uns, um uns in Empfang zu nehmen. Mit verschränkten Armen steht sie da und tippt nervös mit ihrem Fuß auf den Boden auf. „Hey, Sally! Mensch, altes Haus! Lange nicht gesehen!“ sage ich beschwingt und versuche die Unschuldsnummer. „Wir, äh, haben uns nur kurz die Beine vertreten. Wir wollten gerade zurück ins Bett und...“ „Deine Ausreden werden auch immer schlechter. Ich habe euch gebeten, früher zu Hause zu sein. Wenigstens in der Schulzeit könntet ihr rechtzeitig hier sein. Stattdessen streunt ihr durch die Gegend und macht was weiß ich für Sachen.“ „Och, heute haben wir nur Farbbo...“ Barrel will gerade ansetzen und ihr von den Farbbomben auf dem Haus des Bürgermeisters erzählen, aber bevor er den Satz beenden kann, übertönt Shock ihn. „Heute ist doch Freitag und mal ganz im Ernst: Wer passt Freitags schon in der Schule au...“ „Ihr solltet das tun! Es würde euren Noten gar nicht schlecht bekommen!“ Sally wendet uns den Rücken zu. „Ich habe euch gesagt:, es sei mir egal, was für Sachen ihr macht, solange ich sie nicht zu Gesicht bekomme, aber ich will trotzdem, dass ihr was aus eurem Leben macht. Alles, worum ich euch bitte, ist...“ Barrel ist wie immer der Erste, der ein schlechtes Gewissen bekommt und Sally um Verzeihung bittet. Er ist einfach zu leutselig und ehrlich, weshalb ich nicht wirklich verstehe, warum er mit uns all diesen Unfug anstellt. Er will, dass sich die Leute in seiner Gegenwart wohl fühlen, ist höflich und kann Ungerechtigkeit einfach nicht zulassen. Ich weiß, wieso er sich Oogie anschloss, aber ich verstehe nicht, warum er auch weiterhin diesen Unsinn mit uns anstellt. Shock entschuldigt sich ebenfalls bei Sally. Ich denke, sie tut es nicht, weil es ihr wirklich leid tut. Sie ist kein schlechter Mensch, aber sie hat ihre Probleme mit Autoritäten. Befehle oder dergleichen kann sie nur schwer akzeptieren. Sie muss immer gegen alles aufbegehren, macht einen riesigen Aufstand, bekommt ihre Strafen dafür und muss schließlich doch die ihr aufgetragene Aufgabe erledigen. Es ist sowohl in der Schule als auch bei Jack und Sally so. Das Problem ist weniger das Ausführen der Befehle oder die Einhaltung gewisser Regeln als eher ihr Bedürfnis, ihr Image aufrechtzuerhalten. Sie möchte vor Jack und Sally als emanzipierte, ungebundene Person dastehen. Vom Rest der Gesellschaft will sie um jeden Preis als Rebellin betrachtet werden. Auch Barrel und mir gegenüber erhält sie dieses Theater aufrecht. Ob sie damit ihre Unsicherheit verstecken will? In manchen Situationen scheint durch, dass sie schwankt und zögert. Sie ist auch verkrampft, schüchtern und ängstlich. Ich bin mir nicht sicher, ob Barrel es je bemerkt hat, aber ich kenne beide Seiten an ihr, sowohl die starke als auch die in sich gekehrte. Irgendwer sagte mal: „Man mag einen Menschen wegen seiner Stärken, aber man liebt ihn wegen seiner Schwächen.“ Genau das beschreibt meine Gefühle für Shock. So sehe ich sie. So liebe ich sie. Auch ich entschuldige mich bei Sally. Ich weiß, dass das, was wir getan haben, falsch war. Ich habe nie gerne anderen Leuten Schaden zugefügt, Streiche gespielt, verbotene Dinge getan. Nicht seit jener Nacht einige Jahre zuvor. Mein Selbst, dass ich nach außen verkörpere, ist im Grunde nur eine Rolle, die ich spiele. Ich habe mich schon vor langer Zeit aufgegeben. Ich habe keine Ziele und keine Wünsche. Ich strebe nach nichts und interessiere mich für (fast) nichts... Sally sieht uns duldsam an und sagt schließlich: „Es ist doch eh immer das Gleiche mit euch. Geht jetzt ins Bett. Ihr habt morgen Schule.“ „Aber es ist schon so spät. Da muss ich eigentlich ausschlafen.“ sagt Shock und kichert. „Wenn du so lange ausbleiben kannst, dann kannst du nachher auch um sieben Uhr aufstehen und zur Schule gehen. Gute Nacht!“ Fröhlich summend geht Sally zurück ins Schlafzimmer, aus dem laut und deutlich Jacks Schnarchen zu hören ist (man muss sich ernsthaft fragen, wie ein Gerippe wie Jack Schnarchlaute zustande bringt, aber er schafft es dennoch). Erschöpft schleppen wir uns in unsere Betten. Barrel kriecht hinauf in die obere Koje des Doppelbetts, während ich mich in die untere fallen lasse. Ich kann die Beule der gewölbten Matratze erkennen, die durch Barrels Gewicht verursacht wird. Ich stemme meinen Fuß dagegen und rufe hinauf: „Zieh deinen Hintern ein, Specki.“ Barrel dreht sich zur Seite, weshalb die Wölbung verschwindet, und keine dreißig Sekunden später kann man auch schon sein Schnarchen vernehmen. Ich bin wie immer der Letzte, der noch wach ist, denn auch Shock schläft schnell ein. Ihr Bett steht an der gegenüberliegenden Wand. Durch das hinein scheinende Licht kann ich deutlich ihre Gesichtszüge erkennen. So wie jetzt habe ich sie schon unzählige Male beobachtet und jedes Mal macht mir dieser Anblick deutlich, warum ich überhaupt noch hier bin. Jetzt kann ich besser einschlafen. Der Wecker (in Form einer laut singenden Sally) weckt uns unsanft. Ich öffne vorsichtig ein Auge und luge ins Zimmer. Sally geht beschwingt durch den Raum, reißt die Vorhänge auf und öffnet das Fenster. Die kalte Herbstluft zieht herein und das Licht veranlasst uns, schnell die Decke über den Kopf zu ziehen. Barrel rafft sich stöhnend auf und klettert die Leiter hinunter. Die letzten beiden Stufen übersieht er und plumpst geräuschvoll zu Boden. Sally hilft ihm auf und zieht mir dann die Decke weg. Schnell lege ich meine Hand auf das Gesicht und zieh die Beine an. Barrel trottet ins Badezimmer. „Los, steht auf, ihr faulen Bälger!“ Sally geht zum Kleiderschrank, zieht unsere Schuluniformen heraus und wirft sie Shock und mir zu. „Macht schon. Wenn Barrel vor euch beim Frühstück ist, dann bleibt für euch nichts übrig und noch einmal Essen machen werde ich garantiert nicht.“ Das ist ein verdammt guter Beweggrund. Schnell erheben wir uns und wetteifern darum, wer als nächstes in das Badezimmer darf. Als Barrel herauskommt, entsteht ein Handgemenge. Als Verlierer stehe ich nun vor der verschlossenen Tür und beschließe, erst zu frühstücken und dann ins Bad zu gehen. Auf dem Weg zur Schule beraten wir über das, was wir heute Abend unternehmen wollen. „Lasst uns nach Christmas Town und Sandy Claws ärgern.“ schlug Barrel vor. Er mag den Weihnachtsmann einfach zu gerne. Ich vermute, sie teilen die selbe Leidenschaft für das Essen. Shock verschränkt die Arme hinter dem Kopf und erwidert gelangweilt: „Da waren wir doch erst letzten Freitag.“ „Das stimmt allerdings.“ stimme ich zu. „Wie wäre es, wenn wir die Party von Benny Bunny aufmischen? Ich wette, es wird wieder so eine lasche Vorstellung wie beim letzten Mal.“ „Das haben wir bei seiner letzten Party auch getan und deshalb sind wir heute nicht eingeladen.“ Shock schaut mich finster an. „Außerdem kann uns sein Vater sowieso nicht leiden, nachdem wir aus Versehen statt Sandy Claws ihn gekidnappt und zu Jack gebracht haben. Erinnerst du dich?“ „Wie könnte ich das vergessen? Schließlich standen wir damals noch unter der Herrschaft von Oogie.“ Beim Aussprechen dieses Namens wirft Shock mir einen noch finsteren Blick zu und wendet sich von mir ab. Barrel starrt mit träumerischem Blick in die Gegend. „Die Party war ein Hochgenuss.“ „Was war ein Hochgenuss?“ frage ich. „Das fackelnde Wohnzimmer oder die Katze mit dem Dynamit am Schwanz?“ „Dieser einzigartige, unglaubliche... Eiersalat!“ Barrel beginnt zu sabbern. Shock und ich werfen uns einen kurzen Blick zu und seufzen. Essen ist tatsächlich das Einzige, was durch die Regionen seines Hirns schwirrt. „Lasst uns ins in die Kneipe gehen und schauen, ob wir nicht ein bisschen Streit mit den Touristen bewirken können!“ Barrel und ich stimmen ihr gut gelaunt zu. Touristen ärgern ist das Einzige, an dem man wenigstens ein wenig Spaß haben kann. Jack hatte durch die Übernahme von Weihnachten erheblichen Schaden angerichtet, der bezahlt werden musste. Das riesige Loch in der Haushaltskasse Halloween Towns konnte nur noch durch den Tourismus gestopft werden. Im Sportunterricht liegt Barrel in der Ecke und schnarcht leise vor sich hin. Ich erhole mich gerade von einem Tausend-Meter-Lauf und beobachte Shock, wie sie über den Platz fegt und ihre Konkurrentinnen binnen weniger Sekunden hinter sich lässt. Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck läuft sie ins Ziel und grinst mich kurz an. Ich grinse zurück. Ohne rot zu werden, denn das habe ich mir schon vor einiger Zeit abgewöhnt. Die Kneipe ist sehr voll, als wir am Abend eintreffen. Shock sieht bezaubernd aus – wie immer. Auch Barrel hat sich in seine besten Kleidungsstücke geworfen, in denen er aussieht wie ein Klischee-Zuhälter; mit halboffenem Hemd, einer Sonnenbrille und Ketten. Wir verjagen die großmäuligen Halbstarken, die unsere Stammplätze belegen und lassen uns an dem Tisch in der Ecke nieder. Shock pfeift die Bedienung, ein genervtes schwarzhaariges Mädchen namens Mourning, herüber und bestellt Bier für uns alle – außer für mich. „Schau nicht so beleidigt. Du hast Schere-Stein-Papier nun mal verloren, also darfst du uns nachher auch nach Hause manövrieren. Barrel und ich werden dazu garantiert nicht mehr in der Lage sein, oder was meinst du, Barrel? Barrel?“ Er sitzt schon nicht mehr auf seinem Platz, sondern läuft der genervten Bedienung hinter. Er hat schon seit mehreren Wochen ein Auge auf die Kleine geworfen. „Ich weiß nicht, wieso er eigentlich noch versucht, bei ihr zu landen. Er hat doch bisher immer einen Korb kassiert.“ bemerkt Shock amüsiert und sieht zu, wie das Mädchen Barrel mal wieder zusammenstaucht. Geknickt geht Barrel zur Theke und kehrt mit zwei weiteren Biergläsern zum Tisch zurück. Der Abend verläuft nicht sehr abwechslungsreich. Shock legt sich mit ein paar asiatischen Touristen an, die sich tausendmal dafür entschuldigen, dass sie Shock angerempelt hätten (Fakt ist, dass Shock ihnen ein Bein stellte), und auch mit ein paar Amerikanern, mit denen wir uns schließlich prügeln. Wie immer werden wir danach vor die Tür gesetzt und wie so häufig stütze ich mit der rechten Seite den sturzbetrunkenen Barrel und mit der linken Seite die völlig beschickerte Shock. Als wir eine kleine Steinbrücke überqueren, muss Shock sich übergeben und reihert über das Geländer in den Fluss. Barrel lässt sich auf dem Boden nieder, lehnt sich an die niedrige Steinmauer und schließt die Augen. Wenige Sekunden später vernehme ich sein lautes Schnarchen. Es ist doch immer dasselbe. Genervt laufe ich auf und ab und lausche dabei Shocks geräuschvollen Eskapaden. Als sie den Inhalt ihres Magens in voller Gänze dem Fluss übergeben hat, lässt sie sich erschöpft neben Barrel nieder. Auch bei ihr dauert es nur wenige Sekunden, bis sie einschläft. Ich beuge mich zu Barrel hinunter und packe ihn an den Schultern. „Kommt schon Leute! Aufwachen! Ihr erkältet euch! Na los! Macht die Augen auf!“ Es hilft alles nichts. Als ich mich genervt wieder aufrichte, bemerkte ich Bewegungen am naheliegenden Waldrand. Vorsichtig nähere ich mich Stelle, wo ich sie glaube gesehen zu haben. Plötzlich höre ich eine leise wispernde Stimme, die immer und immer wieder meinen Namen sagt. Ich kenne sie, ich weiß, dass ich sie schon einmal gehört habe. „Hallo? Wer ist da?“ Ich bekomme keine Antwort. Nur das Flüstern ist noch da. Ich habe das Gefühl, umkreist zu werden, in die Falle gegangen zu sein und plötzlich erkenne ich die Stimme, die weiter meinen Namen zischt. Wie hatte ich sie nur vergessen können... Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- Ich war noch nicht einmal geboren, als mein Vater verschwand. Meine Mutter hatte nie mit mir über ihn geredet, aber ich hatte Spekulationen über seinen Verbleib aus dem Munde unserer tratschfreudigen Nachbarinnen gehört. Angeblich war er mit Barrels Tante durchgebrannt. Barrel selbst kannte ich aus der Schule. Genauso wie Shock. Wir besuchten dieselbe Klasse, hatten aber nie ein Wort miteinander gewechselt. Keiner von uns dreien hätte ahnen können, dass wir in Zukunft einen gemeinsamen Weg beschreiten und zusammen leiden würden. Meine Mutter war sehr auf ihre Karriere bedacht. Es gab nichts Wichtigeres für sie. Macht. Geld. Autorität. Ich sah sie selten, denn sie WOHNTE quasi in ihrem Büro. Auch vor dem Verschwinden meines Vaters hatte ich sie nie wahrgenommen. Wir wohnten in einer riesigen Villa mit Swimmingpool, Sauna, Musikzimmer, Salon und anderem Schnickschnack. Unzählige Bedienstete waren angestellt: Einige, die meiner Mutter hinterher räumten, Manche, die sich um das Haus kümmerten, und Solche, die nur für mich da waren. Sie säuberten mein Zimmer, wenn ich es nach einem Wutausbruch verwüstet hatte, kauften mir Spielzeug, unterhielten mich und machten meine Hausaufgaben, wenn ich keine Lust dazu hatte. Alles in Allem ging es mir sehr gut. Es ist bestimmt schwer nachzuvollziehen, weshalb ich trotzdem todunglücklich war. Ich versuche, es zu erklären: Stellt Euch vor, ihr habt alles, was ihr wollt. Es mangelt Euch an nichts und es gibt viele Menschen, die nur für Euch da sind. Sie geben Euch das Gefühl, geliebt zu werden, als wäret Ihr der Mittelpunkt ihres Lebens. Dann zu begreifen, dass sie nur mit Euch zusammen sind, weil sie dafür bezahlt werden, ist ein schwerer Schlag. Als ich diese Erkenntnis hatte, feuerte ich sie alle. Ich wollte keine geheuchelte Liebe. Ich wollte die Zuneigung und Aufmerksamkeit meiner Mutter, dem Menschen, der mir eigentlich hätte am nächsten stehen sollen. Ich scharwenzelte um sie herum, provozierte sie und tat alles, um von ihr wahrgenommen zu werden. Das erwies sich allerdings als schwierig, denn ich sah sie ja nur morgens beim Frühstück und eher selten beim Abendessen. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte, aber sie war nicht da. Tagelang blieb ich von Zuhause fort, ohne, dass nach mir gesucht wurde. Irgendwann kehrte ich gar nicht mehr zurück. Ich versteckte mich in einer kleinen Höhle im Wald, in der ich alle für mich wichtigen Dinge lagerte. Tagsüber streifte ich durch Halloween Town, nachts rollte ich mich in eine dicke Decke, um nicht zu frieren. Eines Abends (ich war schon über ein Jahr nichts mehr zu Hause gewesen) begegnete ich meiner Mutter zufällig auf dem Fallbeil-Platz. Ich beobachtet sie einige Zeit, wie sie am Springbrunnen saß, erregt mit Jemandem übers Handy stritt und währenddessen kleine Häppchen in ihren Mund schob. Als sie das Handy ausschaltete, ging ich auf sie zu. „Hast du mal Kleingeld?“ Erschrocken sah sie mich an. „Müsstest du um diese Uhrzeit nicht schon längst zu Hause sein?“ Sie sah mich tadelnd an. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich, Besorgnis in ihrer Stimme zu hören. Vielleicht hatte sie ja doch bemerkt, dass ich nicht da war? Vielleicht sorgte sie sich doch um mich? Alle Hoffnungen wurden mit einem Schlag vernichtet, als sie fortfuhr: „Geh schnell nach Hause, Kleiner. Deine Eltern machen sich sicher Sorgen.“ Ich weiß nicht mehr, was ich in diesem Moment gedacht oder getan habe. Eigentlich ist es eine dieser Erinnerungen, an die ich möglichst nicht denke. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich einige Stunden später wieder in meiner Höhle war und geheult habe. Wie ein Baby. Ich war wütend und warf alles, was greifbar war, durch die Gegend. Ich prügelte auf die Wurzeln ein und schrie mir die Seele aus dem Leib. Und ich heulte. Die ganze Zeit über. Jetzt im Nachhinein schäme ich mich dafür, dass ich schwach und verletzt gewesen war. Nur wenige Tage später begegnete ich zum ersten Mal Oogie Boogie. Ich hatte versucht, in sein Haus einzubrechen, wobei er mich erwischte. Einige Tage später traf ich ihn in einer Gasse wieder. Er fragte mich dies und das und machte mir schließlich ein Angebot: Ich solle für ihn arbeiten und dafür könne ich bei ihm wohnen. Ich zögerte nicht eine Sekunde es anzunehmen. Er half mir, meine Sachen aus der Höhle in seine Unterkunft zu bringen und wies mir ein Zimmer zu. Ich kann auch heute nach all der Zeit nicht leugnen, dass es eine sehr glückliche Zeit gewesen war. Ich erledigte kleinere Botengänge und Gaunereien, dafür wohnte ich bei ihm und bekam von ihm die Aufmerksamkeit, die ich mir von meiner Mutter ersehnt hatte. Er lobte mich, wenn ich etwas gut gemacht hatte, und er schrie mich an, sobald ein Auftrag gescheitert war. Ich fand es nicht schlimm. Ich redete mir ein, dass ich froh war, wenn er mir seine Aufmerksamkeit schenkte – sei es auf positive oder negative Weise. Aus kleineren Diebstählen wurden größere und aus Gaunereien wurde bald richtiger Betrug. Ich fühlte mich nicht schlecht dabei, mit Oogies Schlägertypen unterwegs zu sein. Wir drohten Besitzern kleinerer Läden mit Zerstörung ihres Hab und Guts, wenn sie nicht ein „Schutzgeld“ zahlen wollten. Wir quälten solche, die nichts berappen wollten. Ich fühlte mich stark, einflußreich und von den anderen akzeptiert. Oogie trat bei diesen Aktionen nie selbst in Erscheinung, sondern zog die Fäden im Hintergrund. In der Schilderung klingt, als hätte ich damals zur Mafia gehört und Oogie wäre „Der Pate“ gewesen und im Grunde war es auch ein bisschen so. Eines Nachmittags rief Oogie mich zu sich. Ich war gut gelaunt, weil wir an diesem Tag viel Knete gemacht hatten und alle waren in Feierlaune. Oogie selbst schien auch gut gelaunt zu sein, weshalb ich ihm aufgeregt erzählte, wie es gelaufen war. „… und während er ihn festhielt habe ich…“ Ich redete bestimmt eine Viertelstunde lang und Oogie unterbrach mich nicht. Als ich geendet hatte, sagte Oogie: „Du bist nun schon einige Zeit hier und dir scheint es Spaß zu machen.“ „Und wie! Das kannst du dir gar nicht vorstellen! Es war großartig! Du hättest sehen sollen, wie die Frau gewinselt hat! Und hinterher hat sie geschrien wie am Spieß, als wir ihrem Mann den Arm gebrochen haben.“ Oogie grinste mich an. „Dann kannst du mir doch mit Sicherheit einen Gefallen tun, meinst du nicht auch? Es ist nämlich schrecklich wichtig und ich will es niemandem anderes anvertrauen als dir!“ Ich nickte sofort. „Na klar! Alles was du willst!“ Sein Grinsen wurde breiter. Den Ausdruck auf seinem Gesicht werde ich niemals vergessen. Es war geradezu abstoßen. Damals war ich allerdings begeistert: Oogie vertraute MIR diese wichtige Sache an und keinem anderen! Ich war so unendlich stolz darauf. „Es gibt da ein Ehepaar. Dieses hier.“ Er gab mir ein Foto, auf dem eine grünhaarige Frau und ein Mann mit violettem Haar abgebildet waren. Er hatte seine Arme um ihr Becken geschlungen und hob sie hoch. Beide lachten. Auf der Rückseite stand eine Adresse. „Es ist mir schon seit Jahren ein Dorn im Auge. Sie haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin.“ An einer Stelle riß Oogies Sack auf und heraus krabbelten einige Insekten. Angeekelt wich ich davor zurück. „Ihnen ist es zu verdanken, dass ich so bin.“ Er sagte es voller Verachtung in der Stimme. „Was willst du mit ihnen machen? Tust du ihnen das Gleiche an wie sie dir?“ Er musste wohl gedacht haben, dass ich Angst um sie hatte, denn er wurde wütend. „Hast du etwa Mitleid mit ihnen?“ „Nein, nein!“ „Eigentlich wollte ICH gar nichts mit ihnen machen. Das sollst du ja für mich tun. Töte sie. Auf möglichst qualvolle Art und Weise. Und zwar schnell.“ Erstaunt sah ich ihn an. Ich hatte geklaut, Leute gedemütigt, Knochen gebrochen, Körperteile und Haare verbrannt – aber getötet hatte ich noch niemanden. Bei all den anderen Taten war es mir nie schwergefallen, aber jetzt hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich wusste nicht, woher es kam und es ärgerte mich, dass ich mich deshalb schlecht fühlte. Als ich Oogie nicht antwortete, sondern nur auf den Boden starrte, packte er mich an den Haaren und schleuderte mich gegen die Wand. Danach riss er meinen Kopf zurück und sah mir direkt in die Augen. „Willst du etwa nicht, du kleiner Versager? Willst du wieder zurück in dein kleines Rattenloch im Wald, hm? Soll ich vielleicht dasselbe mit dir machen, wie du es mit deinen Opfern getan hast?“ Ich sah ihn erschrocken an und in diesem Augenblick war es wie ein Schlag ins Gesicht. Oogie hatte mich nie für voll genommen. Für ihn war ich nur ein kleines, nerviges Anhängsel, ein kleiner Sklave, der bereitwillig alles für ihn tat. Ich hatte wenigstens einen Menschen gebraucht, der mich akzeptierte, mir Halt gab und der mir dieselbe Liebe entgegenbrachte wie ich ihm. All diese Erwartungen hatte ich auf Oogie projiziert, der aber - wie mir im Nachhinein auffiel – nie eine davon erfüllt hatte. Ich hatte es mir eingeredet, die ganze Situation beschönigt. Jetzt traf mich die Wahrheit wie ein nasses Handtuch im Gesicht und holte mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Er würde seine Drohungen wahr machen, wenn ich nicht so handelte, wie er es verlangte. „NEIN!“ Ich schmetterte es ihm mit aller Verdrießlichkeit und allem Wut, den ich aufbringen konnte, entgegen. „Na also.“ Oogie ließ von mir ab und wandte mir den Rücken zu. „Ich will Ergebnisse sehen und zwar schnell, verstanden?“ Mit zugekniffenen Augen stammelte ich ein Ja. „Was war das? Ich habe dich nicht verstanden, du Waschlappen!“ „JA!“ schrie ich und rannte hinaus. Zwei Tage lang kauerte ich in meinem alten Versteck im Wald, aß und trank nichts und bewegte mich kaum. Ich wollte den Auftrag erfüllen, damit Oogie mich nie wieder einen „Versager“ schimpfte, aber… etwas in mir schrie auf und wehrte sich heftig dagegen. Immer wenn ich mir vorstellte, die Personen auf dem Foto zu töten, musste ich würgen. Am Abend des dritten Tages setzte ich mich auf und dachte angestrengt nach. Würde Shock an dieser Erzählung teilhaben, würde sie sich über den Ausdruck „angestrengt nachdenken“ in Zusammenhang mit meinem Namen lustig machen. „Ein besonders großer Denker warst du noch nie.“ würde sie sagen und mir ein fieses Grinsen zeigen. Wie sehr ich diese Frau liebe. Ich starrte auf das Foto. Der Mann hatte die Frau hochgehoben und strahlte sie an. Sie lachte. Beide waren noch sehr jung. Ich drehte das Foto um und starrte auf die Adresse. Es war nicht weit von meiner Höhle entfernt. Ich lehnte meinen Kopf an eine Wurzel und schloss die Augen. Ich schlief ein und wurde erst durch die in meinem Kopf laut widerhallenden Worte „Waschlappen“ und „Versager“ geweckt. Ich schreckte hoch und sah mich um. Es war dunkel geworden und der Mond hing am Himmel. Er schien mich hämisch anzugrinsen. Ich schrie ihm ein paar Beleidigungen entgegen und rannte dann los. Als ich das Haus erreichte, begann es zu regnen. Das Gebäude war sehr winzig. Der Garten war wild bewachsen; er erinnerte an einen Dschungel. Ich schlich durch das Gras, welches über mich hinausragte und blickte durch das Fenster. Ich war am richtigen Haus, denn auf dem Sofa lag die grünhaarige Frau und schaute zum Fernseher. Kurze Zeit später kam der Mann mit dem violetten Haar aus der Küche, setzte sich zu ihr und legte seinen Arm um sie. Beide waren einige Jahre älter als auf dem Foto. Durch die geöffnete Verandatür konnte ich sie reden hören. „Ich mag den Film nicht. Lass uns einen anderen sehen!“ sagte er und wollte gerade nach der Fernbedienung greifen, als die Frau seine Hand festhielt und ihm zuflüsterte: „Es ist doch egal welchen Film wir sehen. Der wird uns gleich sowieso nicht mehr interessieren. Seit langer Zeit verbringen wir mal wieder einen Abend allein zu Hause, da sollten wir besseres zu tun haben, als fern zu sehen.“ „Ich bezweifle, dass sie sich bei meinem Arbeitskollegen wohl fühlt.“ „Sie wird es einen Abend lang schon aushalten.“ Zärtlich küsste sie ihn auf den Mund. Ich errötete, kam ich mir doch vor wie ein Spanner. Ich wandte mich ab und ging zur Haustür. Ich pochte ein paar Mal laut dagegen. Leises Fluchen war zu hören und dann ein paar Schritte. Der Mann öffnete, übersah mich zunächst, erspähte mich dann aber doch auf dem Boden zusammengekauert. „Hey, Kleiner! Solltest du nicht längst zu Hause sein?“ Ich brach in Tränen aus und erzählte ihm, ich hätte mich verlaufen und wisse nicht, wo ich hingehöre. Mit einem mitleidigen und besorgten Blick holte er mich ins Haus und beruhigte mich. Die Frau stieß dazu und wies ihren Mann an, mich unter die Dusche zu stecken, da ich ja klitschnaß sei, während sie frische Kleidung für mich heraussuchen wollte. Nachdem sie mich also neu eingekleidet und mir etwas zu Essen gegeben hatten, stellte sie sich als Pain und er sich als Misery vor. „Wann hast du denn deine Eltern zuletzt gesehen?“ „Ich kann mich nicht erinnern. An gar nichts.“ Ich fügte einige Schluchzer hinzu, um den theatralischen Effekt zu verstärken. „Auch nicht, wo du herkommst, geschweige denn wie deine Eltern überhaupt aussehen?“ „Gar nichts. Ich weiß es nicht! Es ist alles leer!“ Ich legte meine Hände an meinen Kopf, schüttelte mich und kniff die Augen zusammen, während ich heulte. Pain legte ihre Arme um mich und wiegte mich sacht hin und her. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in den Armen dieser Frau zu liegen und dieses Theater zu spielen. Ich spürte ihre Wärme und meine Zufriedenheit, dass sich jemand um mich sorgte. Auf eine perverse Art und Weise fühlte ich mich geborgen. Diese Situation dauerte nur kurze Zeit an, denn jäh wurde ich zurück in Wirklichkeit geholte, als erneut Oogies Stimme durch meinen Kopf hallte. Vorsichtig löste ich mich von ihr. Das Ehepaar bot an, dass ich über Nacht dort bleiben könne und sie sich gleich morgen früh mit dem Bürgermeister in Verbindung setzen würden. Ich schlief im Zimmer ihrer Tochter. Pain brachte mich in einen finsteren Raum. Ihre Tochter müsse etwa in meinem Alter sein. Die Wände waren über und über mit Fotos tapeziert: Ihre Eltern, Tiere, Gräber, Kapellen, die Kürbisfelder, Särge und Vorbereitungen für Halloween waren abgebildet. Ich wurde gebeten, nichts durcheinander zu bringen, und ins Bett gebracht. Pain wünschte mir eine Gute Nacht, löschte das Licht, drehte sich im Türrahmen aber noch einmal um. Aufmunternd lächelnd sagte sie: „Wir werden deine Eltern schon finden. Mach dir keine Sorgen. Wir helfen dir.“ Dann schloss sie die Tür. Ich hatte bis in die Nacht warten und sie dann im Schlaf töten wollen, aber daraus wurde nichts. Bis zu dem Moment des Betretens des Hauses war ich sehr angespannt und nervös gewesen. Es hatte keine Anzeichen von Müdigkeit gegeben, aber nach einer Dusche, meiner ganzen Heulerei und dem Abendessen fühlte ich mich satt, warm und schläfrig. Es dauerte nicht lang und meine Augen fielen zu. Es war ein traumloser Schlaf und als ich durch einen fürchterlichen Schrei geweckt wurde, fühlte ich mich, als hätte ich sehr lange geschlafen. Der Schrei kam aus der Küche. Ich sprang aus dem Bett, eilte in diese Richtung und sank durch den sich mir bietenden Anblick zu Boden. Miserys Extremitäten und Organe waren über den Boden verteilt. Überall war Blut. Der Geruch verursachte Übelkeit bei mir. Die kreidebleiche und tränenüberströmte Pain saß in der Ecke gekauert. Über ihr gebeugt stand Oogie, der eine blutbeschmierte Axt in der Hand hielt. Pain bemerkte mich. Oogie folgte ihrem Blick, grinste breit und sagte: „Na, da ist ja der kleine Taugenichts! Wie ich sehe, hast du es dir ja recht gemütlich gemacht, wie? Sag mir jetzt bloß nicht, du seist noch nicht dazu gekommen, sie abzuschlachten.“ Ich konnte nichts sagen. Mich nicht bewegen. Mein Blick blieb starr auf Pain gerichtet, die zurück starrte. Es war nicht vorwurfsvoll oder wütend, sondern angstvoll und flehend. Oogie packte Pain am Hals, zog sie hoch und sagte zu mir: „Weißt du, bis gerade eben war ich wirklich sauer und enttäuscht, weil du mit dem Tempo einer Schnecke zu Werke gegangen bist, aber du kannst es wieder gut machen.“ Er schleuderte Pain vor meine Füße und sah mich gnadenlos an. Dann drückte er mir die Axt in die Hand. „Mach schon.“ Und ich tat es. Ich zögerte nicht, sondern hob die Axt über meinen Kopf und rammte die Klinge in den Hals der wimmernden Pain, die keine Zeit mehr zum Schreien hatte. Das Blut spritzte aus ihrem Nacken und besprenkelte meinen ganzen Körper. Oogie klopfte mir auf die Schulter und erzählte irgend etwas von Stolz und ich könne bei ihm bleiben, so lange ich wolle. Ich fühlte mich weder schlecht noch gut, als wir Oogies Unterkunft erreichten und ich wie ein Stein ins Bett fiel. Ich war leer. Spürte nichts. Dachte nichts. Sah nichts. Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- Oogie wusste genau, wie ich ihn nun sah, spürte meinen Hass, meine Abneigung, meinen Ekel. Er nutzte es aus und provozierte mich, worauf ich natürlich ansprang. Das gab ihm unzählige Anlässe mich zu quälen und zu demütigen. Ich ließ alles über mich ergehen und wehrte mich nicht, weil ich das Gefühl hatte Strafe verdient zu haben. Ich blieb bei ihm, weil ich keinen anderen Ort kannte, wo ich hätte hingehen können. Der Mord an dem Paar war Gesprächsthema Nummer Eins in Halloween Town. Aus einer Unterhaltung, die ich zufällig einmal mit anhörte, erfuhr ich, dass die Tochter des Paares bei Pains Bruder untergekommen war. Ich hatte sie zu einem Waisenkind gemacht. Es war meine Schuld, dass sie nun leiden musste. Viele Male dachte ich über Selbstmord nach. Mehrere Male versuchte ich es – mehrere Male scheiterte ich. Ich traute mich nicht, meine Pulsadern aufzuschneiden, irgendwelche Flüssigkeiten in Doktor Finkelsteins Labor zu trinken, mich zu erhängen oder zu erschießen. Feige Sau. Waschlappen. Versager. Taugenichts. Schlappschwanz. Null. Idiot. Nicht einmal dazu war ich fähig. Dabei hatte ich meine Lebensberechtigung schon längst verwirkt. Es war wirklich dreist einfach weiter zu leben. Ich wünschte, ich hätte es damals getan. Mir wäre so vieles erspart geblieben. Und denn anderen ebenfalls. „Hey, ich bin Barrel. Ich bleibe in Zukunft auch hier.“ Der winzige, runde Junge mit den grünen Haaren grinste von einem Ohr zum anderen. Er war einfach so in meinem Zimmer aufgetaucht, hatte zwei Tüten zu Boden fallen lassen und stand nun dümmlich grinsend vor mir. Noch ein Kind, dass Oogie aufgegabelt hatte. Noch einer, der erkennen würde, dass Oogie ein wertloses Nichts war. „Wieso bist du hier?“ fragte ich gelangweilt auf meinem Bett liegend. Es interessiert mich nicht wirklich. „Meine Eltern verdienen nicht sonderlich gut, also habe ich Oogie gebeten, mir Arbeit zu geben, damit ich sie unterstützen kann. Oogie wird ihnen das Geld auszahlen.“ „Das glaubst du jawohl selbst nicht.“ Er winkte ab. „Ach, Oogie macht das schon! Und wenn nicht, dann hat mein Aufenthalt hier trotzdem etwas Gutes an sich.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Ach ja?“ „Meine Eltern müssen dann nichts mehr für mich zahlen. Kein Essen, keinen Strom, kein Wasser, keine Kleidung und so was.“ „Ich hoffe, du bist dir bewusst, auf was du dich da eingelassen hast.“ „Na klar doch!“ Ich bezweifelte es sehr, aber wie sich herausstellte, wusste er es ganz genau: Er übernahm dieselben Aufgaben wie ich, aber im Gegensatz zu mir sagte er freiheraus, was er tun wollte und was nicht. Hätte Oogie ihm den Auftrag gegeben, Misery und Pain zu töten – er hätte es ganz sicher abgelehnt, auch dann, wenn sein eigenes Leben dabei auf dem Spiel gestanden hätte. Oogie schikanierte und verletzte ihn auch für seine vorlaute, impertinente Art, aber es schien Barrel nichts auszumachen, denn er beharrte weiterhin auf seiner Meinung. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart schlecht, denn er hielt an seinen moralischen Werten fest und kam niemals ins Schwanken. Seine Anwesenheit war mir unangenehm und ich versuchte, ihn zu verscheuchen. Ich verprügelte und misshandelte ihn genauso wie Oogie es tat, aber es half alles nichts. Er grinste weiter. „Wenn dir das alles hier so gegen den Strich geht, wieso bleibst du dann?“ fragte er mich. „Wohin sollte ich denn deiner Meinung nach gehen? Nach Hause? Nee. Da ist niemand, dem ich was bedeute. Hier habe ich wenigstens eine Aufgabe.“ „Aber du hasst das hier! Und außerdem geht es dir dort bestimmt besser als hier.“ Er hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Ich wusste, dass ich so einen schon mal irgendwo gesehen hatte, aber es fiel mir nicht ein, wo. Ich hatte tatsächlich nie in Erwägung gezogen, einfach nach Hause zurückzukehren. Wäre es vielleicht besser für mich? Ich dachte längere Zeit darüber nach. Einen Versuch war es wert. Vielleicht dachte Mutter ja tatsächlich noch ab und zu an ihren Sohn. Abermals wurden meine Erwartungen in dieser Hinsicht enttäuscht, denn als ich vor ihrer Tür auftauchte, sah sie mich verärgert an und machte mich zur Schnecke. Betteln sei schäbig. Es sei dreist, irgendwo zu klingeln und dann derlei Dinge zu behaupten. Ob ich sie denn für dumm verkaufen wolle. Sie habe gar keinen Sohn. Niemals einen gehabt. Super. Als ich zu Oogie zurückkehrte, verprügelte ich Barrel. Einfach so. Weil es mir gerade in den Kram passte. Er wehrte sich kaum. Seine Lippe und sein Auge bluteten, sein Handgelenk war geschwollen und sein Arm blauviolett. Bei diesem Anblick fühlte ich mich plötzlich noch schlechter als zuvor. „Hat sie dich abgewiesen? Deine Mutter, mein ich.“ Er sah mich fragend an. Keine Anzeichen von Wut oder Schmerz waren in seinem Gesicht zu erkennen. Nur ehrliche Besorgnis. Mir fiel wieder ein, was der Gesichtsausdruck bedeutete, mit dem er mich heute morgen angesehen hatte. Er machte sich allen Ernstes Sorgen um mich. Dieser Schwachkopf. Ich ließ mich auf dem Bett nieder und verbarg mein Gesicht in den Händen. Dieser kleine Arsch mit seinen Speckrollen und dem breiten Grinsen eröffnete noch mehr von dem, was ich bisher nicht begriffen hatte. Moralische Werte. Am Leben anderer teilhaben. Sich Sorgen machen. Seine Familie unterstützen zu wollen. Der Kleine opferte sich quasi für seine Eltern auf, damit sie weniger Sorgen hatten. Er kannte mich kaum und versuchte trotzdem, mir zu helfen. Ich behandelte ihn schlecht und dennoch setzte er sich vor mich auf den Boden, sah zu mir hoch und sagte leise: „Lass uns Freunde sein.“ Ich war nie außerordentlich freundlich zu ihm, noch habe ich ihn jemals wieder verprügelt, weil mir danach war oder weil ich wütend auf ihn war. Wir balgten uns ab und an aus Spaß, aber wir verletzten uns nicht wirklich. Hier eine Rauferei, da ein paar Boxer auf die Schulter oder den Rücken. So was in der Art. Von Misery und Pain habe ich ihm nie erzählt. Barrel wurde zu einer der vier wichtigsten Personen in meinem Leben, aber ich würde alles verlieren, wenn ich mit der Wahrheit herausrücken würde. Ich bin mir völlig bewusst, dass ich damit nicht ewig hinter dem Berg halten kann, aber ich versuche dennoch, es hinauszuzögern. Bis heute. Oogie schob die Kleine zu Barrel und mir ins Zimmer. Genau wie das Pummelchen kannte ich sie aus der Schule. Sie war sehr schön. Ihr violettgrünes Haar schimmerte und ihre Bewegungen waren sehr grazil und ästhetisch. Damals schon fühlte ich mich – man mag es frühreif nennen – zu ihr hingezogen. Jetzt schaute ich in ihr ovales Gesicht, das uns beide missmutig musterte, und mir wurde schlagartig bewusst, wer sie war, denn die Ähnlichkeit war unverkennbar. „Ihre Eltern wurden vor einigen Monaten auf bestialische Art und Weise ermordet.“ Während er sprach, grinste Oogie mich hämisch an. „Sie kam danach bei ihrem Alkohol abhängigen Onkel und ihrer Tante unter, aber dort war es auch nicht wirklich heimisch. Jeden Tag eine Tracht Prügel zu bekommen kann auf die Dauer ganz schön stressen, nicht wahr, meine Kleine? Ich dachte mir, dass ihr beide Unterstützung bestimmt gut gebrauchen könnt.“ Er trat aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ohne mit der Wimper zu zucken ging sie zu Barrel, schubste ihn vom Bett und warf sich darauf. Barrel blieb auf dem Boden sitzen, legte den Kopf schräg und beobachtete sie genauso wie ich es tat. Mit einem Mal kam ich mir wieder sehr schäbig und minderwertig vor. Ihre nach unten zeigenden Mundwinkel verrieten ihr Leiden genauso wie ihre Augen. Alle Erinnerungen an diese Nacht schossen zeitgleich mit diesen Beobachtungen durch meinen Kopf. Ich sprang vom Bett und rannte hinaus, denn ich ertrug ihren Anblick nicht mehr. Vorher hatte ich sie in der Schule immer gerne angesehen, aber nun war sie der Beweis für meine Greueltat. Sie war wie ein Neonschild, dass sagte: „Seht! Da ist Lock, der meine Eltern gemeuchelt hat! Seinetwegen bin ich eine Waise!“ Wie immer flüchtete ich mich in meine kleine Höhle im Wald, in der mich Oogie sehr bald ausfindig machte. „Na? Was ist? Hast du ein schlechtes Gewissen?“ Er grinste wieder sein überhebliches Grinsen, das mich so sehr anekelte. „Warum hast du sie hergebracht?“ fragte ich leise und verzweifelt. „Ich dachte, es könnte dir gefallen, die Kleine zu sehen. Nachdem ihr quasi beste Freunde seit...“ „Ich will nicht, dass sie bleibt!“ „Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass du mir irgendetwas befehlen könntest, du Wurm!“ „Bitte, schick sie fort. Ich flehe dich an!“ Ich ging auf die Knie. Ich glaubte nicht wirklich daran, dass Oogie vielleicht nachgeben würde, aber ich musste es wenigstens versuchen. Oogie stieß mich zur Seite. Er ging ein paar Mal auf und ab und grinste dabei immer mehr. „Was meinst du? Wie würde sie wohl reagieren, wenn sie wüsste, wer ihre Eltern auf dem Gewissen hat, hm? Ob sie dich dann hassen würde? Vielleicht sollten wir es ausprobieren und sehen, was passie...“ Panik überkam mich. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie davon erfuhr. Dass sie mich verabscheute. Dass sie mich verachtete. Dass sie mich nie wieder ansah. Vermutlich wollte er genau das provozieren, was ich zu ihm sagte, aber es war mir egal. „Ich werde alles tun, was du willst, aber sag es ihr nicht.“ „Aber sollte ich so eine wichtige Information wirklich für mich behalten? Ich weiß nicht. Das wäre Misery und Pain gegenüber doch unfair, meinst du nicht auch?“ Ich flehte einige Minuten. Er rang mir viele Versprechen ab, ehe er mir versprach, ihr niemals davon zu erzählen. Ich würde also mein Leben lang für Oogie arbeiten und alles ertragen, was er für mich parat hatte. Ich diente Oogie, damit Shock niemals die Wahrheit über mich erfuhr. Nachdem sie ihr Lächeln wiedergefunden hatte, wollte ich es unbedingt bewahren, was ein weiterer Beweggrund war, Oogie treu zu dienen. Ich wollte sie – soweit mir dies möglich war – vor diesem Bastard und seinen Bösartigkeiten beschützen. Im Laufe der Jahre provozierte ich ihn immer mehr, damit er all seine Wut an mir ausließ und Shock und Barrel vergaß. Das war die einzige Weise, auf die ich meine Freunde beschützen konnte. Das Paradoxe an der ganzen Sache ist, dass ich nur wegen Shock und ihrer Familie keine Ziele mehr habe und mir wünsche, tot zu sein. Shock ist also sowohl der Grund für meinen Todeswunsch also auch für mein Weiterleben. Meine beiden Freunde wurden zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben, genauso wie Jack und Sally. Genau diese Tatsache machte es für mich unumgänglich, das Theater weiter zu spielen, wenn ich sie nicht verlieren wollte. In den vergangenen Jahren ging mir irgendwann gänzlich die Fähigkeit verloren, mich anderen mitzuteilen, um Rat zu fragen oder meine Meinung zu äußern. So wurde ich zu dem, was ich heute bin. Ein elender Beziehungskrüppel. Fantastisch. Wirklich. Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- „Schade, meine lieben Kinder scheinen mich vergessen zu haben.“ sagt die Stimme zu mir. Oogies Flüstern scheint sehr weit entfernt zu sein, aber dennoch verstehe ich jedes Wort. „Wer ist da?“ frage ich erneut. Ich will es nicht wahrhaben. Er KANN es einfach nicht sein. Das ist unmöglich, selbst hier in Halloween Town. Wie könnte Oogie von den Toten zurückkehren? Es gibt keinen Zauber, der die Toten zurück ins Leben holen kann. Oder doch? Ich stehe mitten im Wald und höre absolut nichts außer dem Flüstern. Auch Barrels und Shocks Schnarchen nicht. Alles ist schwarz, nur ein kleiner Lichtkegel erhellt den Waldboden vor mir. Minutenlang – jedenfalls kam es mir so lang vor – passiert nichts. Als ich mich gerade zum Gehen wenden will, tritt eine nebelige Gestalt in den Lichtkegel und ich erkenne Oogies schemenhafte Umrisse. Die Nähte seines Sacks. Dunklere Stellen, die seine Augen sein müssen. Sein überhebliches Grinsen, das erneut das Gefühl von Ekel in mir erzeugt. Er ist es. „Ich hätte gedacht, dass du dich besser an mich erinnerst, wo wir uns doch so…NAHE… standen, Lock. Du enttäuscht mich.“ Ich kann mich nicht rühren. Ich bin wie erstarrt. „Da du scheinbar nicht in Jubelstürme ausbrichst, wie ich gehofft hatte, teile ich dir mit, was du für mich tun sollst. Ich brauche…“ „Ich muss für dich nichts tun! Du bist tot! Du bist nur ein Produkt meiner Phantasie!“ schreie ich und kneife die Augen zusammen. Ich will, dass es aufhört. „Produkt deiner Phantasie, so, so. Wenn ich also nur dein Hirngespinst bin, dann könnte ich ja nicht zu Shock dahinten hinüber gehen und ihr sagen, wer ihre Eltern getötet hat. Wollen wir es ausprobieren? Ich bin gerade sehr experimentierfreudig.“ „NEIN!“ Ich atme schwer, alles dreht sich. „Was willst du?“ frage ich ihn leise. „Na, das gefällt mir doch schon viel besser!“ Er klatscht in die Hände. „Ich will wieder die Fäden in Halloween Town ziehen! Es soll wieder mir gehören! Und ich will Rache an Jack Skellington!“ fügt er erbost hinzu. „Und wie könnte ich dir dabei helfen?“ „Zuerst brauche ich meinen Körper wieder. Nicht den zerlumpten, mit Käfern vollgestopften Sack. Nein, ich meine einen richtigen. Meinen URSPRÜNGLICHEN Körper.“ „Du meinst, du warst nicht immer ein alter Sack?“ Bei dieser meiner Bemerkung muss ich fast lächeln. Als ich seinen scharfen Blick bemerke, starre ich schnell wieder zu Boden. „Natürlich nicht, du Idiot! Misery und Pain machten mich zu dem, was ich war! Es ist allein ihre Schuld!“ Nachdem er ihnen einige Flüche und Beschimpfungen hinterher gerufen hat, sammelt er sich wieder. „Du musst einige Sachen für mich besorgen. Ich brauche einen Sack.“ Mag die Situation auch beängstigend sein, so muss ich doch leise prusten. „Ich dachte, du wolltest kein alter Sack mehr sein?“ „Es ist ja auch nicht irgendein Sack!“ Seine nebelhafte Silhouette löst sich auf und strömt in meine Lungen. Ich kann nicht mehr atmen, denn er schnürt mir die Kehle zu. Ich krümme mich, denn die Schmerzen werden unerträglich. Dann lässt er von mir ab und erscheint wieder vor mir. „Treib es nicht zu weit, Bürschchen. Ich warne dich! Vielleicht sollte ich mich wirklich mal kurz mit Shock unterhalten!“ „Schon gut, schon gut. Tut mir leid. Was sind das für Sachen, die du noch brauchst?“ rufe ich keuchend. „Den Sack und eine spezielle Schriftrolle wirst du nur von einem bestimmten Händler in der Menschenwelt bekommen. Er hat sein Geschäft auf einem ehemaligen Friedhof. Such ihn auf und sag ihm, dass du mir die Sachen bringen sollst. Er wird schon wissen, welche ich brauche. Außerdem brauche ich ein paar Kerzen in Menschenform. Da musst du meinen Namen hinein ritzen. Und ich brauche Fleisch.“ „Was für Fleisch?“ Oogies Grinsen wird noch eine Spur breiter. „Das wirst du in ein paar Tagen selbst herausfinden. Komm wieder her, sobald du alle Sachen hast.“ Ich sitze hier auf dem Boden und lausche seinem Geschwätz, aber eigentlich bin ich ganz woanders. Meine Gedanken kreisen nur um Shock und Barrel, Jack und Sally, die allesamt friedlich schlummern. Mir bleibt wohl keine Wahl, als auf seine Forderungen einzugehen. Vorher allerdings muss ich ihn um etwas bitten. „Oogie... Ich werde dir helfen, aber du musst mir versprechen, Jack, Sally, Shock und Barrel in Ruhe zu lassen. Im Gegenzug werde ich dir dienen. Wie damals.“ Oogies Grinsen, dass mich damals schon angewiderte, taucht erneut auf. „Abgemacht.“ Während ich Barrel und Shock stützend nach Hause bringe, fechten das Engelchen und das Teufelchen in meinem Kopf einen Kampf aus. Du kannst ihm nicht helfen! Er ist wahnsinnig! Na und? Du wirst ganz Halloween Town ins Verderben stürzen! Na und? Unzählige Menschen werden sterben! Na und ? Hör endlich auf mit diesem „Na und?“, verdammt! Du machst mich wahnsinnig! Na und? ARGH! Denk doch mal nach, Mister Unschuld! Wenn ich ihm nicht helfe, dann wird Shock erfahren, was damals war! Unser schlechtes Gewissen wäre dadurch immerhin etwas erleichtert! Unsinn! Das ändert nichts an der Tatsache, dass Shock unseretwegen all die Jahre gelitten hat! Shock allein ist egal! Es geht hier nicht nur um ihr und unser Wohl, sondern um ganz Halloween Town! Willst du wirklich so egoistisch sein? Allerdings! Der Kampf endet damit, dass das Engelchen wahnsinnig wird und sich selbst die Zunge herausreißt. Das Teufelchen sitzt triumphierend auf meiner Schulter. Daheim schaffe ich die beiden Schnapsdrosseln ins Bett. Ich selbst lasse mich auch nieder, aber an Einschlafen ist gar nicht zu denken. Dazu geht mir viel zu viel im Kopf herum. Oogie... Oogie ist wieder da... Oogie ist wieder da und wird Halloween Town versklaven... Ich muss irgendwann doch eingeschlafen sein, denn als ich erwache ist es schon Mittag. Barrel und Shock sind nicht da. Unten in der Küche finde ich sie auch nicht. Jack und Sally sind auch nirgends zu finden. Verwirrt frühstücke ich und werfe einen Blick in die Zeitung. Als ich die Überschrift der Titelseite lese, spucke ich die eben getrunkene Milch wieder aus und benetze damit den Tisch. „VERSTÜMMELTE LEICHEN IN WALDNÄHE GEFUNDEN.“ lautet die Schlagzeile. Daneben ist ein Foto abgebildet. Neben einzelnen verstreuten Organen und Extremitäten ist eine Nachricht hinterlassen worden. Mit Blut steht da geschrieben: „Und das ist erst der Anfang.“ Wenn Oogie zurückkehrt, dann auch mit Pauken und Trompeten. Ich erkenne, dass es sich bei den Leichen um zwei Schulkameraden handeln muss, weil sie dieselben Uniformen tragen, wie Shock, Barrel und ich. Oder sind es gar die beiden? Hat Oogie sein Versprechen gebrochen? Panisch schlüpfe ich in meinen Morgenmantel und laufe. Ich überquere den Platz und eile zur Brücke, auf der meine beiden Freunde gestern Abend ein kleines Nickerchen gehalten hatten. Viele Leute sind dort versammelt. Unter ihnen sind viele Klassenkameraden. Ich kann die beiden nirgends entdecken. Ich quetsche mich durch die Menschen näher an den Tatort heran. Dabei remple ich versehentlich jemanden um. Sofort entschuldige ich mich und sehe mir den Ort des Verbrechens näher an, aber die Person schreit mich an: „BIST DU BLIND, DU ARSCHGEIGE!? VERPISS DICH, SONST… Oh.“ Shock verstummt schlagartig und sieht mich an. „Mensch, sag doch, dass du das bist.“ Sie wendet sich von mir ab und sieht die Blutlachen an. Neben ihr steht Barrel und starrt auf den Schriftzug. Da stehen beide und ahnen nicht einmal, wie erleichtert ich bin. Ich atme auf und beginne lauthals zu lachen. Die Umstehenden sehen mich empört an und weichen vor mir zurück. „Warum hast du dich nicht umgezogen?“ fragt Barrel auf dem Rückweg. „Ähm... habe ich wohl vergessen. Ich war so erpicht darauf, den Tatort zu sehen, dass ich einfach nicht daran gedacht habe.“ „Sensationsgeiler Sack.“ bemerkt Shock und grinst. „Wo sind eigentlich Sally und Jack?“ „Sie lunchen bei Sandy-Claws.“ Es geht ihnen gut. Es geht ihnen gut. Es geht ihnen gut. Den ganzen Tag begleiten mich diese erleichternden Worte. Trotz Oogies Rückkehr und meinem bevorstehenden Verrat an der ganzen Stadt geht es mir blendend. Wenn ich bald alle Menschen (einschließlich denen, die ich liebe) als Feinde haben werde, muss ich wohl die letzten Stunden, die ich gemeinsam mit ihnen verbringen kann, genießen. Obwohl Sandy-Claws sich nicht gerade über unsere Gesellschaft freut, schneien wir trotzdem bei ihm vorbei. Sally steht mit Mrs. Sandy-Claws in der Küche. Beide brüten kichernd über einem Rezept. Statt den Wein jedoch in den Topf zu geben, genehmigen sie sich lieber mehrere Gläschen davon. Jack und Sandy-Claws sind ebenfalls leicht angeschickert. Und das um die Mittagszeit! Da soll Sally doch noch mal sagen, wir seien unbedacht! Gegen vier wird es Shock zu langweilig, also stiehlt sie sich in die Fabrik, um die Wichtel zu ärgern, die mit Feuereifer Weihnachten vorbereiten. Barrel und ich beobachten sie eine Weile schweigend. Barrel durchbricht die Stille zwischen uns: „Was hältst du von den Morden?“ Ich hebe fragend die Augenbraue. „Was meinst du?“ „Ach, komm! Du weiß doch, was ich meine! Das ist doch eindeutig Oogies Handschrift!“ Ja, denke ich verbittert, es ist genau seine Art, seine pompöse Wiederauferstehung anzukündigen. „Oogie ist tot.“ sage ich ruhig und entschieden. „Was ist, wenn er als Geist zurückgekehrt ist? Was ist, wenn...“ „Hör auf mit dem Quatsch!“ Meine Stimme wird lauter. Einige Wichtel schauen zu uns rüber. „Wenn es ihn als Geist noch geben sollte, warum hat er all die Jahre dann nichts unternommen?“ „Ich weiß nicht...“ murmelt Barrel nachdenklich und stiert an die Decke der Fabrik. „Vielleicht war er ja all die Jahre da und hat bis jetzt gewartet, damit wir unvorbereitet sind und uns in Sicherheit wiegen. Oder...“ „Den Unsinn hör ich mir nicht länger an!“ Ich kehre zu Sandy-Claws und Jack zurück, die jetzt lautstark Rudi, the red-nosed pumkin schmettern. Den Nachmittag verbringen wir mit Hausaufgaben. Ob man es glaubt oder nicht, aber wir tun Sally den Gefallen und nehmen die Schule tatsächlich ernst. Manchmal zumindest. Aber nur, weil es sonst ein Donnerwetter von ihr geben würde. Barrel hat seit meiner harschen Reaktion auf seine Vermutung nicht mehr mit mir geredet und mich auch nicht angesehen. „ACH, ICH VERSTEH DEN SCHEIß NICHT!“ Shock schleudert ihr Mathebuch zur Seite, zieht die Beine an und schmollt. „Ich auch nicht.“ gibt Barrel zu und räkelt sich gähnend auf dem Boden, wo er bisher über seinem Buch gebrütet hat. „Wollen wir die öffentliche Toilette im Zentrum mal wieder explodieren lassen?“ schlage ich grinsend vor. Die beiden starren mich an. „Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Seit... seit...“ Shock denkt nach. „... Jahren nicht mehr.“ beendet Barrel den Satz und auch auf seinem Gesicht breitet sich eine Grinsen aus. Shock lässt die Knochen ihrer Hand knacken. „VIEL zu lange nicht mehr.“ Als wir noch kleiner waren, haben wir es mindestens ein Mal pro Monat hochgehen lassen. Irgendwann störte es keinen mehr und wir verloren die Lust daran. Während ich die Matheaufgaben ohne Probleme löse, muss ich an die Zeit nach Oogies Verschwinden denken. Es war uns nicht ganz geheuer, plötzlich bei Jack und Sally zu sein, ein geregeltes Leben zu führen und vor allem (und das fiel gerade mir besonders schwer) geliebt zu werden. Barrel und Shock kannten so etwas wie elterliche Liebe, aber ich hatte es nie erfahren, wie es war, nach Hause zu kommen und in die Arme genommen zu werden. Oder Hausarrest zu bekommen. Oder sich zu streiten, um sich anschließend in die Arme zu fallen, weil es allen leid tut. Barrel hatte nicht lange gebraucht, um sich zurecht zu finden. Nach anfänglichen Schwierigkeiten nahm auch Shock die neue Situation an. Es dauerte geschlagene drei Monate, aber nachdem sie überwältigt von all der Wärme und Herzensgüte heulend zusammengebrochen war und Sally und Jack sich liebevoll um sie gekümmert hatten, konnte auch sie sich fallen lassen. Ich war ihnen sehr dankbar, dass sie uns ohne große Vorbehalte ein Dach über dem Kopf gaben und ich liebe sie, aber wirklich fallen lassen – das hatte ich nie fertiggebracht. Ich misstraute dieser Harmonie immer und seit letzter Nacht weiß auch, wieso. Die Zeit nach seinem Verschwinden war also so etwas wie ein Neuanfang für uns und vielleicht auch für die ganze Stadt. Glücklich erinnere ich mich all den Unfug, den wir anstellten, die Zeit die wir zu fünft verbrachten, den Alltag, den wir gemeinsam durchlebten, alle Aufs und Abs... Nach diesen Zeiten sehne ich mich zurück. Stattdessen schleiche ich nachts durch die Stadt. Shock und Barrel waren abends feiern gegangen. Ich war zu Hause geblieben und hatte vorgegeben, kotzen zu müssen. Als Jack endlich weit nach Mitternacht zu Bett gegangen war, konnte ich mich endlich hinausschleichen und mache mich nun auf den Weg, Oogies Rückkehr vorzubereiten. Die Welt außerhalb der Feiertage ist für mich immer wieder erschreckend. Düster und bedrückend wirken die Straßen, die Hochhäuser und die Menschen, die sich an mir vorbeischieben. Es ist nebelig und kalt. Ich ziehe den Kopf enger an die Schulter und verstecke ihn hinter meinem Schal und meinem Hut. Eine Viertelstunde später erreiche ich den Friedhof, drücke das rostige, schwarze Gitter auf und folge dem Steinweg, bis er sich in zwei Wege spaltet. Intuitiv folge ich dem rechten Pfad. Nach einer Kurve um einige dicht beieinander stehenden Bäume höre ich ein lautes Keuchen und erkenne einen kleines, gebeugt gehendes Gerippe, das ein kariertes Jackett, blaue Stoffhosen und einen Hut trägt. Es schnauft und hält sich den Rücken, während es sich mit der anderen Hand auf einem Gehstock abstützt und scheinbar etwas unter einer Bank sucht. Leise nähere ich mich. „Was schleichst du da so herum? Komm gefälligst her und hilf mir, du nichtsnutziger Bengel!“ keift er plötzlich. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich meint. „Setzt du deinen jungen Hinter mal langsam in Bewegung oder muss ein alter Mann wie ich etwa unter die Bank kriechen?!“ Er starrt mich durch den Busch hindurch an, hinter dem ich mich versteckt halte. Wie hatte er mich nur entdecken können? Ich trete schnell hervor, knie mich nieder und schaue, was ich unter der Bank finden kann. In der Dunkelheit erkenne ich die Umrisse von etwas kleinem Rundem in der hinteren Ecke. Als ich danach greife und es berühre, lasse ich es vor Schreck wieder fallen und springe auf. Es ist warm, weich und zittert. An der Seite hängt eine Art Schnurr heraus. „Jetzt stell dich nicht so mädchenhaft an!“ knurrt er und zieht mich wieder zu Boden. Dieses Mal bin ich auf das unangenehme, eklige Gefühl dieses Dings vorbereitet, greife es, werfe es dem Alten zu und ich weiche zurück. Im Schein der Laterne erkenne ich einen Augapfel. Die Schnur stellt sich als Sehnerv heraus. Das Gerippe spuckt darauf, wischt es an seinem Jackett ab und stopft es mit einem schmatzenden Geräusch zurück in die linke Augenhöhlen. Den Sehnerv bindet er an einem der Löcher fest, die in seinen Schädel hinein gebohrt worden sind. Lauthals fluchend will er gerade gehen, als ich mich ihm in den Weg stelle. „Was denn, Kleiner?“ „Bitte sehr, gerne geschehen, du alter Sack!“ Ich versuche, provokant zu gucken und hoffe, es wirkt in irgendwie einschüchternd auf ihn. „Pah! Bild dir bloß nichts ein, du Würstchen! Verschwinde oder soll ich dir Beine machen?“ „Wie denn, Opa? Du schaffst es ja nicht mal, dein Auge aufzuheben!“ rufe ich trotzig und bereue es im nächsten Augenblick auch schon wieder. Das Wort „Opa“ hat ihm offensichtlich gar nicht gefallen, denn sofort greift er in die Innenseite seines Jacketts und wirft einen kleinen, rot schimmernden Dolch nach mir, dem ich nicht rechtzeitig ausweichen kann und der sich durch meine Hand bohrt. Einen Schmerzensschrei von mir und kurzem Gekicher des Gerippes später, sagt dieses: „Haust du jetzt ab oder willst du noch mehr?“ Okay, die große Klappe zieht bei ihm nicht. Versuchen wir es doch mal mit ein bisschen Unterwürfigkeit. „Hören Sie... Sir. Oogie Boogie schickt mich.“ Das Grinsen auf seinem Gesicht verschwindet. „Warum sagst du das denn nicht gleich, Bürschchen!“ Unsanft zieht er das Messer im Vorbeigehen aus meiner Hand und bedeutet mir, ihm zu folgen. Kapitel 5: Kapitel 5 -------------------- Ich folge ihm zu einer steinernen Gruft, die größtenteils mit Moos bewachsen ist. Obenauf thront ein Engel, dessen Gesicht mich stark an das von Shock erinnert. Vielleicht ist es auch Wunschdenken. Das weiß ich nicht genau. Im Innenraum stehen rechts und links hohe Regale, in denen Bücher, Steine, Kerzen, Destillationskolben, Mörser und Stößel, Ketten, Traumfänger, verschiedene Zutaten und anderes Zeugs liegen. In der Mitte des Raumes steht ein Schreibtisch, hinter dem sich das Gerippe niederlässt. „Soso.“ stellt das Klappergestell fest und sieht mich durchdringend an. „Soso.“ sagt er erneut und mustert mich. Dann springt der Alte auf und geht an den Regalen entlang, nimmt hier und da Sachen heraus und legt sie auf den Schreibtisch und drückt mir schließlich einen alten Sack in die Hand, der genauso aussieht, wie Oogies vorheriger. „Oogie sagte... sagte, er brauche einen speziellen Sack.“ stelle ich leise fest. „Das ist ja auch nicht irgendeiner!“ schnauzt er. „Du kannst dem alten Stinkstiefel übrigens sagen, dass er mich nie wieder belästigen soll! Sonst trete ich ihm in seinen untoten Hintern!“ „Er ist ein Geist. Da könnte es schwierig werden.“ Wütend schmeißt das Gerippe die restlichen Sachen in den Sack, den ich ihm hinhalte. „Dann nehme ich halt einen verdammten Staubsauger!“ Die Vorstellung, dass Oogie in einem Staubsauger hausen könnte, gefällt mir sehr gut. Ein breites Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Das Gerippe bemerkt es und grinst ebenfalls breit. Dann wird sein Blick wieder ernster. „Oogie ist ein verdammtes Arschloch. Wieso hilfst du ihm?“ „Er erpresst mich. Ich habe keine andere Wahl.“ „Man hat immer eine Wahl.“ sagt er und wendet sich von mir ab. Als er wieder spricht, ist es nicht mehr als ein Flüstern. „Solltest du dich anders entscheiden – ich bin hier.“ „Danke.“ sage ich. Ich weiß zwar nicht, wie der fiese Mistkerl mir helfen sollte, aber egal. Ich will gerade gehen, als mir ein Gedanke kommt. „Wenn du Oogie hasst, wieso hilfst du ihm dann?“ Das Gerippe winkt ab. „Sentimentalität.“ sagt er und bedeutet mir zu verschwinden. Zurück in Halloween Town, genauer gesagt auf dem Fallbeil-Platz, präpariere ich die Dinge, die ich bekommen habe. Auf dem Brunnenrand verteile ich die Kerzen in Menschenform, in die ich Oogies Namen hinein geritzt habe. Aus dem Sack hole ich die Schriftrolle und überlege, ob etwas fehlen könnte. „‚Und ich brauche Fleisch.‘“ erinnere ich mich. Sofort fallen mir die beiden Leichen von heute morgen ein. Ich vermute, dass sie zur Obduktion bei Doktor Finkelstein sind. Blitzschnell eile ich zu seinem Haus und klingele. Sein „kostbares Goldstück“ Fiona öffnet die Tür und lässt mich herein, weil sie mich kennt. „Danke, Fiona.“ rufe ich ihr zu und eile die Treppe hinauf in Finkelsteins Arbeitszimmer. Der Doktor studiert gerade ein paar Skizzen, als ich meine Hand fest um seinen Hals schließe. „Wie... Was...“ Er wehrt sich kurz, lässt die Hände aber sinken, sobald er mich erkennt. „Was willst du?“ Er rückt seine übergroße Brille zurecht. „Wo sind die beiden Leichen von heute morgen?“ „Nebenan. Wieso?“ „Geht dich nichts an, alter Mann.“ Ich lasse ihn los und drücke die Tür zum Nebenraum auf. Auf zwei Bahren liegen die bleichen Körper. Die Organe ruhen in Glasgefäßen auf einem Schrank. In den Gesichtern der Toten erkennt man auch jetzt noch die Panik und Angst, die sie kurz vor ihrem Tod verspürt haben müssen. Das Mädchen war in derselben Stufe wie Barrel, Shock und ich und der Junge neben ihr war ein Jahrgang unter uns gewesen. Vorsichtig öffne ich die Gläser und lasse aus einem die Flüssigkeit heraus. Das Herz platscht geräuschvoll in das Waschbecken. Ich hebe es auf und behalte es einige Sekunden lang in der Hand. Beim Anblick der Organe hatte ich unwillkürlich angenommen, es müsse warm sein und würde schlagen. Wie dumm von mir. Stattdessen ist es kalt und glitschig. Auf eine perverse Art und Weise enttäuscht stecke ich es in das leere Glas, nehme die anderen Organe aus ihren Gefäßen und lege sie zu dem Herz dazu. Dann eile ich an dem mir hinterher schreienden Finkelstein vorbei die Treppe hinunter und hinaus zurück zum Brunnen. Ich werfe das Glas hinunter ins Wasser, zünde die Kerzen an und lese den Text auf der Schriftrolle. Einige Zeit geschieht nichts. Dann beginnt das Wasser zu kochen. Dampf steigt aus dem Brunnen empor. Der ganze Platz hüllt sich in zähen Nebel. Einige Sekunden irre ich umher, bis ich plötzlich gegen etwas stoße und auf dem Hintern lande. Der Nebel strömt auf das Etwas zu, das mich zu Fall brachte, und verfestigt sich. Ein riesiger, nackter Mann steht vor mir. Sein aschblondes Haar ist hüftlang. Auf seinem ausgemergelten, einem Totenschädel ähnlichen Gesicht ist ein breites Grinsen. Seine Augen sind zu Schlitzen verengt und fixieren mich. „Guten Abend.“ sagt Oogie und betrachtet dann seine Hände und den Rest seines Körpers. Dann beugt er sich über den Brunnenrand und schaut in sein eigenes, widerliches Gesicht. „Ich will ja nicht arrogant wirken, aber ich sehe verdammt gut aus.“ bemerkt er und berührt vorsichtig die straffe Haut an seinen hervorstehenden Wangenknochen. „Um dein Image brauchst du dir garantiert keine Gedanken zu machen. Dass du ein Arschloch bist, weiß hier sowieso jeder.“ bemerke ich und stehe auf. Oogie lässt von seinem Spiegelbild und wendet sich mir zu. „Übertreibs nicht. Shock liegt nicht weit von hier in ihrem Bettchen und schlummert friedlich. Vielleicht sollte ich ihr einen Besuch abstatten.“ Jedes Mal, wenn er ihrem Namen gebraucht, schrillen bei mir die Alarmsirenen. „Schon gut, schon gut, tut mir leid.“ Er wendet sich von mir ab und schreitet auf und ab. „Steht mein altes Haus noch?“ „Schon längst nicht mehr. Es wurde abgerissen, gleich nach dem du... verschwunden warst.“ Er grübelt kurz. Dann sagt er: „In diesem Fall brauche ich wohl eine neue Unterkunft. Ist Finkelsteins Labor noch da?“ „Ja, aber ich bezweifle, dass er es dir zur Verfügung stellt.“ Oogie bricht in schallendes Gelächter aus. „Was ist?“ frage ich gereizt. „Als würde es mich interessieren, ob Finkelstein es will oder nicht. Also bitte, hat mich das jemals interessiert? Du solltest mich besser kennen.“ „Ja, leider.“ murmele ich. Dann sieht er erneut an sich herunter und befielt: „Gib mir deinen Mantel.“ Ich ziehe meinen schwarzen Mantel aus und reiche ihn ihm. Er zieht ihn sofort an und folgt dann der Straße direkt zu Finkelsteins Labor. Laut pocht er an die riesige Tür. Fiona öffnet sie erneut. „Was soll das denn sein?“ fragt Oogie amüsiert. „Finkelsteins Gefährtin.“ erwidere ich. „Kann ich helfen?“ fragt Fiona verwirrt und stellt sich in den Türrahmen. „Mach den Weg frei.“ knurrt Oogie und tritt über die Schwelle auf sie zu. Vorsichtig schiebe ich Fiona zurück und versuche sie zu beschwichtigen. „Das ist ein alter Freund von Finkelstein. Könnten wir den Doktor sprechen?“ Ohne die Antwort abzuwarten, betritt Oogie das Haus und folgt der Treppe nach oben. Hier unten ist ein lautes Scheppern, ein kurzer Aufschrei und wütendes Fluchen zu hören. Kurze Zeit später kommt Doktor Finkelstein in seinem Rollstuhl nach unten. Er wirft mir einen kurzen angewiderten Blick zu und führt uns dann in seinen Arbeitsraum. „Und was genau willst du von mir?“ fragt er mit seiner krächzenden Stimme. „Dein Haus.“ antwortet Oogie kurz und knapp. „Lächerlich!“ poltert Finkelstein, sinkt aber sofort wieder auf seinem Rollstuhl zusammen, als er Oogies Blick bemerkt. „Mein lieber Finkelstein, wir kennen uns nun schon eine ganze Weile. Da kannst du mir doch mal dein Haus zur Verfügung stellen, oder nicht? Ich meine, es würde einen ziemlich hässlichen Skandal geben, wenn man mal einen genaueren Blick in deinen Keller werfen würde. Was meinst du?“ Er fixiert ihn mit seinen Augen. Finkelstein schwitzt stark. Nervös wischt er sich den Schweiß von der Stirn, während er scheinbar in Gedanken abwägt, wie viele schmutzige Geheimnisse Oogie kennt. Schließlich sinkt er noch weiter zusammen und murmelt: „Fein, du kannst es haben. Tu, was du willst.“ „Hervorragend!“ ruft Oogie und klopft mir aufmunternd auf die Schulter. „Ja, wirklich fantastisch.“ gebe ich trocken zurück. „Da gibt es noch etwas, was du für mich tun kannst, Finkie.“ Oogie schreitet wieder auf und ab. Er wirkt dabei wie ein General. „Ich brauche… Untergebene... Ich bezweifle nämlich stark, dass ich hier noch eine Anhängerschaft habe.“ „Dann überrascht es dich vielleicht zu hören, dass es da eine kleine Untergrundorganisation gibt, die deine Geschäfte weiterführt.“ Oogies Augen weiten sich. „Das wird ja immer besser!“ Er freut sich. Auf eine perverse, widerliche Art und Weise freut er sich. Ich könnte kotzen. Die „Untergrundorganisation“, von der Finkelstein sprach, stellt sich als ein Haufen Kleinkrimineller heraus, die Oogies Namen dazu missbrauchten, um sich selbst einen Namen zu machen. Oogie ist enttäuscht. Ich freue mich. Binnen weniger Tage schafft er es, sie auf seine Seite zu bringen. Er verspricht ihnen mehr Macht in der Stadt, Reichtum, Wohlstand, wenn sie ihm folgen. In ihrer Verzweiflung greifen sie nach dem Grashalm, den Oogie ihnen hinhält. „Mit einem paar lausigen Taschendieben komme ich nicht weit.“ meint Oogie und schreitet wieder im Zimmer auf und ab. „Ich bräuchte... so etwas wie... eine Armee!“ In seinen Augen sieht man einen wahnsinnigen Glanz. „Finkie, erinnerst du dich noch an das kleine Frankenstein-Experiment, an dem wir an der Uni gearbeitet haben?“ Ich starre die beiden an. „Ihr seit beide zur Uni gegangen? Halloween Town hat eine Universität?“ „Nein, hier gibt es keine, aber in Valentine City. Oogie hat ebenfalls einen Doktortitel.“ erzählt Finkelstein. „Wir haben im selben Jahr promoviert. In Physik und Chemie.“ „Wir beide waren die Jahrgangsbesten.“ ergänzt Oogie. Er schwärmt noch weiter von ihrer Studienzeit. Es ist schwer vorstellbar, dass Oogie und Finkelstein mal so jung waren wie Shock, Barrel und ich. Diese ganze Situation ist skurril: Ich sitze hier in Finkelsteins Labor, während Shock, Barrel, Jack und Sally in der ganzen Stadt nach mir suchen und höre mir Anekdoten aus Finkelsteins und Oogies jungen Jahren an. Noch hat niemand Oogies Rückkehr bemerkt außer der „Untergrundorganisation“, Finkelstein und mir. Ich sah die Vermißtenanzeige mit meinem Bild in der Zeitung und die Flyer, die in der ganzen Stadt kursieren. Außerdem traf ich meine Freunde während der vergangen zwei Tage vier oder fünf Mal auf der Straße, aber sie erkannten mich nicht, weil ich meine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und den Kragen meines Mantel aufgestellt hatte. Sie schauten auch bei Finkelstein vorbei, der genaue Anweisungen hatte, was er antworten sollte. Auf ihren Gesichtern sind große Sorgenfalten. Meinetwegen. Verdammt. Mein Bedürfnis mich ihnen zu nähern, mit ihnen zu sprechen wird mit jedem Mal größer. So gern würde ich meine Arme um Shock legen. Schreien. Sagen was ich fühle. Was ich denke. Meinen Kopf in ihren Schoß legen und weinen. So groß ist meine Sehnsucht. Nach der Geborgenheit, an die ich mich – trotz meinem Willen, die Maskerade aufrecht zu erhalten – gewöhnt habe. Mach, dass es aufhört. Ich will es nicht mehr. Lass von mir ab. Sterben. Ruhe. Das ist es, was ich will. „Träum nicht!“ schnauzt Oogie. Ich starrte gerade Löcher in die Luft, während ich eigentlich die Kadaver der Versuchstiere sezieren sollte. Ich nehme das Skalpell zur Hand und schneide in die Haut der Ratte. Blut spritzt mir entgegen. Vor wenigen Minuten lief sie noch in ihrem Käfig umher. Dann kam Oogie und was er mit ihr tat – das erwähne ich lieber nicht. Ich versuche, meinen gelangweilten Blick beizubehalten, damit Oogie ja keinen Grund findet, mich zu demütigen. Es widert mich an und es kostet mich einiges an Kraft. Den ganzen Nachmittag helfe ich bei den Experimenten. Ich weiß nicht ob ich es noch lange durchgehalten hätte, aber endlich sagt Oogie: „Fantastisch! Es läuft alles ausgezeichnet!“ Ich weiß nicht, was er meint. Ich verstehe von dem, was wir da tun, recht wenig. Ich frage auch nicht nach. Ich muss es nicht wissen. Ich will es gar nicht so genau wissen. Weitere Tage verstreichen. Eines Nachts erwache ich durch ein ohrenbetäubendes Geräusch. Ich gehe die Treppe hinunter in das Labor. Oogie und Finkelstein beugen sich über den hohen Arbeitstisch. Etwas darauf bewegt sich. Als ich näher trete erkenne ich etwas mehr: Eine Kreatur, zusammengesetzt aus vielen Körperteilen verschiedener Menschen. Frankensteins Monster lebt. Es ist sehr fleischig, denn an einigen Stellen fehlt die Haut. Aus seinem schiefen Mund kommen gurgelnde Geräusche. Als würde es gerade ertrinken. Oogie versetzt ihm einen Schlag auf den Brustkorb. Es reißt die unterschiedlichen Augen auf, hustet, spuckt und richtet sich dann langsam auf. „Schaffen wir das noch einmal?“ fragt Oogie und wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Noch einmal? Du willst noch mehr?“ Der Doktor sieht ihn empört an. „Ich brauche mehr davon! Viel mehr! Ich will, dass meine Rache perfekt ist! Ich will, dass sie alle leiden!“ Er spricht wie im Wahn, mehr zu sich selbst als zu Finkelstein. „Ich brauche eine ganze Armee! Ich will nicht nur die Halloween-Welt! Halloween Town ist nur ein erstes Ziel! Ich will ALLES!“ „Und du glaubst, dass du das mit ein paar Matschbirnen schaffst?“ rutscht es mir heraus. Sie hatten mich vorher nicht bemerkt, darum wenden sich die beiden erschrocken zu mir um. Oogies Ausdruck verrät seine Wut. Er streckt die Hand nach meinem Hals aus, drückt fest zu und hebt mich dabei einige Zentimeter über den Boden. Ich zapple und strampele, während Oogie zischt: „Du hast ja keine Ahnung, du Idiot! Das hier ist nur ein erster Schritt in Richtung vollkommener Schöpfung! Und für Halloween Town völlig ausreichend! Hier rechnet niemand mit einem Angriff, sie aalen sich in ihrer heilen Welt und ihren heilen Vorstellungen! Ich…“ Er merkt vermutlich, dass ich langsam blau anlaufe, jedenfalls lässt er los. Geräuschvoll falle ich zu Boden, röchele und klinge dabei ähnlich wie dieses Geschöpf zuvor. Mein Hals schmerzt. Oogie wendet sich wieder an Finkelstein: „Wie gesagt: Ich brauche noch viel mehr!“ Leichen. Viele Leichen werden herangeschafft. Der Friedhof ist eine reichhaltige Quelle. Tiere. Menschen. Alles wird herangeschafft. Im Verborgenen. Doch langsam wird die Stadt unruhig. Es bleibt nicht unentdeckt, dass die Anzahl der Morde in letzter Zeit ganz schön zunimmt und dass der Friedhof häufiger umgegraben wird. Der Friedhofswärter beschwichtigt die anfragenden Bürger: Es sei nötig, umzugraben. Das alles habe seine Richtigkeit. Auch er gehört zu Oogies Gefolge. Zusammen mit Doktor Finkelstein schuf Oogie Hunderte dieser hässlichen, Frankensteins Monster ähnlichen Kreaturen. Er bezeichnet sie als seine „Kinder“. Mich zählt er dazu. Igitt. Mehr bin ich also nicht mehr? Ein seelenloses Stück Fleisch, das Oogies Befehle ausführt? Hirn- und herzlos wie sie? So abwegig ist dieser Gedanke gar nicht. Oder? Wochen vergehen. Die Armee wächst und wächst. Gehalten werden die „Kinder" in einem leerstehenden Fabrikgebäude, in dem Barrel, Shock und ich früher häufig gespielt hatten. Bei der ersten Begehung zusammen mit Oogie und Finkelstein werden Erinnerungen wach. Die Maschinen sind mit großen Planen abgedeckt, alles ist verstaubt, Ratten laufen umher und es riecht, als würde etwas verwesen. Ach ja. Die Katze. Sallys Katze. Und ein Vogel. Und ein Hund. Die armen Viecher, die wir aus Versehen zu Tode erschreckt hatten, als wir direkt neben ihnen Silvesterkracher hatten hochgehen lassen. Sie müssten noch in der hinteren Ecke unter einem Schreibtisch liegen. Genau dort finde ich sie. Ich muss schmunzeln. Der Katze hatten wir eine Rakete an den Schwanz gebunden. Das arme Getier war durch die ganze Fabrik gesprungen, ehe sich die Lunte gelöst hatte. Danach war ihr Herz einfach stehengeblieben und sie war tot umgekippt. Wir kugelten uns auf dem Boden vor Lachen. Wir wurden älter. Irgendwann hörten wir auf hierher zu kommen, denn dieser Ort hatte seinen Reiz verloren. Jetzt war es für mich das reine Glück hier zu stehen, in einer Stätte unserer Kindheit, und in diesen Erinnerungen zu schwelgen. Ich lasse meinen Blick durch die Halle schweifen und vor meinem geistigen Auge sehe ich uns drei. Wie wir die Tiere bearbeiten. Wie wir Barrel zwingen, auf die oberen Dachbalken zu klettern, obwohl wir wussten, dass er Höhenangst hat. Wie Shock ihre erste Zigarette versucht und sie schließlich keuchend und hustend wegwirft. Wie Shock und ich allein hier sitzen und durch die hohen Fenster die Sterne ansehen. Shock. Shock. Shock... „Für meine Zwecke ist es perfekt.“ schließt Oogie und reibt sich die Hände. „Ein bisschen Arbeit hier und da und es wird ideal sein.“ Dann wendet er sich zum Gehen. Dann, eines Abends, während ich mich auf dem Boden sitzend um ein neues „Kind“ kümmere: „Morgen wird es soweit sein. Morgen schlagen wir zu.“ Ich schaue zu ihm auf. Mit seinem ekelerregenden Grinsen steht Oogie da und sieht wie ein Hirte auf seine Schafe herab. Schafe, kurz vor der Hinrichtung. „Warum ausgerechnet morgen?“ frage ich. „Morgen jährt sich mein Todestag. Ich finde das sehr passend. Ein bisschen Pathos darf es sein. Während der Feierlichkeiten im Rathaus schlagen wir zu. Alle wichtigen Leute werden anwesend sein. Alle, die leiden sollen. Jack, sein kleines Püppchen, der Bürgermeister, Finkelstein...“ „Finkelstein gehört doch zu uns.“ „Finkelstein ist schwach. Er wird uns verraten, da bin ich sicher. Er weiß nichts von meinen Plänen. Niemand weiß etwas. Niemand außer dir.“ „Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?“ frage ich genervt und wende mich ab. „Aber natürlich! Du darfst diesen historischen Tag miterleben! Du hast quasi einen Logen-Platz! Du bist immerhin die rechte Hand des Teufels!“ „Ja oder Satans rechte Arschbacke.“ murmele ich. „Du hast versprochen, Jack und Sally in Ruhe zu lassen. Und Barrel. Und Shock.“ „Das habe ich nicht vergessen. Ich werde sie in Sicherheitsverwahrung nehmen.“ „Du hast gesagt, du lässt sie in Ruhe.“ „Das tue ich doch!“ sagt er gespielt entrüstet. „Aber ich kann sie doch schlecht draußen herumlaufen lassen. Sie könnten mir gefährlich werden.“ „Dann schaff sie fort, aber sperr sie nicht ein!“ flehe ich. „Wohin denn?“ „Nach Christmas Town! Zu Sandy-Claws! Von dort aus können sie keine Schwierigkeiten machen!“ „Ach, Lock. Du bist einfach viel zu naiv.“ Er lächelt mitleidig. „Du glaubst doch nicht, dass ich nur in Halloween Town bleibe! Die anderen Feiertage sind auch bald dran!“ „Dann… dann...“ „Na also. Dir fällt auch nichts Besseres ein. Aber keine Bange: Ich werde sie unter ‚Hausarrest‘ stellen, wie wäre das?“ „Aber...“ Ich seufze. Ich kann ja doch nichts ausrichten. Alles ist egal, solange Shock nicht die Wahrheit erfährt. Langsam frage ich mich, ob es das wirklich wert ist. Vielleicht hatte das Engelchen auf meiner Schulter ja doch Recht? Ist das Wohl Aller wichtiger als das Wohl des Einzelnen? Wichtiger als mein Wohl? Ich weiß nicht. Ich bin egoistisch. Ich fürchte mich vor Shocks Blick. Ich könnte es nicht ertragen, von ihr gehasst zu werden. Ich will nicht, dass sie... Hassen wird sie mich dennoch. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Sie wird mich verachten, wenn sie sieht, dass ich mit Oogie zusammenarbeite. Dieser Gedanke kommt mir erst jetzt! Schnell wende ich mich an Oogie. „Hör mal...“ „Hm?“ „Ich brauche doch nicht... Ich meine, ich... muss doch nicht in Erscheinung treten, oder? Also...“ „Warum denn nicht? Das wird doch ein Heidenspaß!“ „Aber wenn sie erfahren, dass ich dir helfe...“ „... dann wird Shock es bald auch erfahren. Geht dir das auch endlich auf?“ Wieder grinst er. „Hast ja ganz schön lange dafür gebraucht! Jetzt machst du dich nicht nur an Shock schuldig, sondern an der ganzen Stadt!“ „Ich hatte nur den Gedanken, dass sie von... ihren... Eltern...“ Mir wird schlecht und schwindelig. Wie kann man nur so dämlich sein? Warum war mir das nicht vorher... Oogie beobachtet mich. Wortlos geht er vor mir auf und ab. Dann seufzt er und sagt: „Na schön, du kannst mir auch anders dienlich sein.“ „W-wirklich?“ Verwirrt sehe ich zu ihm auf. Hat er das ernst gemeint oder will er mich auf den Arm nehmen? „Sicher. Ist doch ganz egal.“ Er macht eine wegwerfende Geste und wendet sich zum Gehen. „Oogie!“ Ich stürze aus der Fabrik hinter ihm her. „Was soll das? Was sind das für Tricks? Wieso...“ Er hebt seine Hand. Reflexartig schütze ich mein Gesicht mit meinen Armen, aber was ich spüre lässt mich erstarren. Ich hatte mit einem Faustschlag oder einer saftigen Ohrfeige gerechnet, stattdessen ruht seine Hand auf meinem Kopf und zerzaust auf spielerische Weise mein Haar. Ich senke meine Arme und sehe ihn mit ungläubiger Miene an. „Wieso?“ frage ich erstickt. Er lächelt. Kein ekelerregendes, kaltes Grinsen. Nein. Ein warmes, freundliches Lächeln. Dann geht er. Kapitel 6: Kapitel 6 -------------------- Es hat begonnen. Gleich am Morgen nach diesem Gespräch griff er die Stadt an. Er nahm den Bürgermeister gefangen, genauso wie jene, die Widerstand leisteten. Zu ihnen gehörten natürlich auch Jack und Sally, Barrel und Shock... Aus der Ferne beobachtete ich, wie sie festgenommen und in die zweite Fabrikhalle gebracht wurden. Weitere vierzig Personen wurden dort festgehalten. Den Bürgermeister hielt man in Finkelsteins Labor fest. Als Geisel. Die übrigen Bewohner verhielten sich aus Angst vor Oogie und seiner fleischigen Armee ruhig und widersetzten sich kaum. Es war ein Leichtes, die Stadt in seine Gewalt zu bringen. Wie Oogie es einmal prophezeit hatte, waren die meisten Bewohner zu furchtsam und angsterfüllt, um die Übernahme zu verhindern. Diese feigen Hunde... Bei alledem hielt ich mich versteckt, kümmerte mich um ein paar von Oogies „Kindern“, die von den wenigen Rebellen, die es gab, verletzt worden waren, und teilte Rationen ein, die von den anderen Verbündeten an die Gefangenen verteilt wurden. Aus einiger Entfernung beobachtete ich die Vier, die ich am meisten liebte. Ich versteckte mich auf den Stahlträgern, die direkt unter der Decke waren und die ich, ohne bemerkt zu werden, über das Dach erreichen konnte. Sally saß in der Ecke und weinte. Barrel hatte seinen Arm um sie gelegt und flüsterte ihr aufbauende Worte zu. Jack und Shock rannten wie wild geworden von einem Ende der Halle zur nächsten und suchten verzweifelt nach einer Möglichkeit, aus ihrem Gefängnis zu entkommen, fanden aber keine. Die großen Fenster der Fabrikhalle hatten Gitter bekommen; es war nichts da, um ein Loch in eine der Stahlwände zu machen. Beide fluchten was das Zeug hielt. Shock steigerte sich so sehr in ihre Wut, dass sie alles um sich herum vergaß und mit den nackten Fäusten auf die Wand einprügelte. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn sie stand mit dem Rücken zu mir, aber das brauchte ich auch gar nicht; diese Art Wutausbruch kannte ich nur zu gut von ihr. Immer und immer wieder hämmerte sie darauf ein. Man hörte deutlich die Knochen ihrer Hände knacken. Blut spritzte. Jack packte sie an den Schultern und zog sie mit sanfter Gewalt weg. Erst, als er sie vorsichtig umdrehte und seine Arme um sie legte, sah ich ihr tränenüberströmtes Gesicht. Sie klammerte sich an Jack und schluchzte leise. Ich hatte diese verletzliche Seite unter ihrer Maske, die sie trug, schon vor Jahren bemerkt, aber ich hatte nicht erwartet, dass sie in dieser Situation so reagieren würde. Mit einigem Entsetzen sah ich diese geschwächte, angsterfüllt Shock. Die anderen Anwesenden waren verstummt. Nun konnte ich hören, was Shock sagte. „Oogie muss das schon seit Wochen planen! Er hat Lock bestimmt auch etwas angetan! Garantiert! Ich schwöre es, sollte ich Oogie, diesen Mistkerl in die Finger kriegen, dann wird er leiden, wie er noch nie zuvor gelitten hat! Er wird bezahlen, dieser...“ Danach fand sie die schlimmsten Schimpfwörter für Oogie. Eine erschrockene Mutter legte schnell ihre Hände auf die Ohren ihres kleinen Sohnes. Ich hörte, wie sie immer und immer wieder meinen Namen schluchzte. Sie war also meinetwegen so sorgenvoll und ängstlich? Wegen mir ist sie so geschwächt? Vielleicht vermisst sie mich ja sogar? Ich konnte und kann es kaum ertragen, sie dort zu sehen. Auch jetzt noch droht mich das Bedürfnis zu übermannen, zu ihnen zu gehen, mit ihnen zu sprechen, sie zu umarmen... Stattdessen hocke ich auch zwei Wochen nach Oogies Machtergreifung noch jede Minute, die ich entbehren kann, auf den Streben, beobachte sie und helfe dabei, die Feiertagswelten zu unterjochen. Oogie hatte mir die Koordination der Angriffe auf die anderen Welten übertragen. Der Valentinstag war bereits restlos annektiert. Amor und seine winzigen Liebesboten hatten dem Angriff keine zwei Stunden standhalten können. Sie waren nicht zum Kampf geeignet. Auch Thanksgiving war schnell unter Kontrolle gebracht worden. Nur noch der St. Patrick’s Day und die Weihnachtswelt halten tapfer die Stellung. Aber auch ihr Untergang ist nur noch eine Frage der Zeit. Ich kann nicht verhehlen, dass es eine gewisse Faszination auf mich ausübt, über eine derartige Armee zu verfügen. Langsam begreife ich, warum Oogie und viele andere kranke Männer und Frauen nach Macht streben. Es gibt ihnen ein Gefühl von Kontrolle und Überlegenheit in einer Welt voller Chaos. Mir ergeht es gerade wenig anders. Ich schäme mich, dies zuzugeben, aber die Verlockung ist ziemlich groß. Allerdings bin ich schlauer als Oogie und alle Machtbesessenen dieser Welt. Ich lasse mich von der Macht nicht von meinem eigentlichen Ziel ablenken: Oogie zu schaden. Obwohl ich seine Marionette bin und für den Rest meines Lebens sein werde, kann ich doch wenigstens ein bisschen Rache nehmen für alle Demütigungen und Schmerzen die er den Menschen, die mir am meisten bedeuten, zugefügt hat... Mit Zornesröte im Gesicht stürmt Oogie in Finkelsteins Haus, von wo aus ich die Angriffe koordiniere. „BIST DU WAHNSINNIG?“ brüllt er. Er macht mir keine Angst. Ich habe alles unter Kontrolle. „ZEHNTAUSEND?! ZEHNTAUSEND!“ „Und?“ frage ich ruhig. „Es sind genug davon da. Was machen die paar...“ Er unterbricht mich. „Wir haben mehrere Monate gebraucht, um all die Leichenteile zusammen zu klauben und du vernichtest ein Drittel der gesamten Armee binnen weniger Tage!“ „Na und? Dann kann Finkelstein doch mehr produzieren. Es braucht nicht mehr lange, bis wir die letzten beiden Welten auch haben! Du wolltest doch...“ „Du wirst die Truppen abziehen.“ sagt er mit bemüht ruhiger Stimme und massiert sich die Schläfen mit seinen Zeigefingern. Trotzig schüttle ich den Kopf. „Nein, das werde ich sicher nicht! Wir stehen SO kurz davor zu...“ Seine Hände legen sich an meinen Hals. Wütend zischt er: „Mein lieber Junge, du scheinst vergessen zu haben, WER hier das Kommando hat! Wer alles in die Wege leitete! Wen all diese Menschen und Kreaturen fürchten!“ Er drückt fester zu. Ich röchele. Ich versuche, seine Hände wegzuziehen, schaffe es aber kaum, bei Bewußtsein zu bleiben. Dann lässt er von mir ab. Ich sinke zu Boden. „Du ziehst sie ab. Ich werde mich nach Easter Town begeben und dort an den Hinrichtungen teilnehmen. Wenn ich übermorgen zurückkomme, will ich ein befriedigendes Resultat sehen. Hast du mich verstanden?“ Ich reibe meinen Hals und frage heiser: „Willst du ihnen damit die Chance geben, sich wieder zu regenerieren? Sich zu rüsten?“ „Lass sie nur. Ich habe andere Pläne, um sie unter Kontrolle zu bringen.“ Er grinst kurz. Dann setzt er wieder eine wütende Miene auf. „Wenn so etwas noch einmal vorkommt, kann ich ja mal deiner kleinen Freundin einen Besuch abstatten und mich mit ihr unterhalten. Sie...“ „SCHON GUT!“ brülle ich und schlage mit der Faust auf den Boden. „Schon gut. Es wird alles so geschehen, wie du es wünschst.“ „Na also.“ Dann geht er davon. Wenigstens diesen einen kleinen Tritt konnte ich ihm verpassen. Einen Teil der Armee sinnlos in den Tod schicken. Ich werde aber keine weitere Gelegenheit bekommen, seine Pläne zu sabotieren, ohne Aufsehen zu erregen. Jetzt kann ich nur noch beobachten, wie alles um mich herum zu Grunde geht... Ich ziehe die Beine an und lege meinen Kopf auf meine Arme. Ich will nicht mehr auf DAS einprügeln, was ich eigentlich beschützen sollte. Ich bin egoistisch. Mach, dass es aufhört! Ich will das nicht mehr! Töte mich! Es... Was soll das, Lock? Du bemitleidest dich selbst viel mehr als die Menschen, die deinetwegen leiden. Was bist du doch für ein Hund! Zu schwach, um sich gegen Oogie zu stellen. Zu schwach, um zu beschützen, was du eigentlich beschützen solltest. Zu schwach, um ihr die Wahrheit zu sagen... Wenige Wochen sind vergangen. Oogie kehrte nach Halloween Town zurück und bekam seine befriedigenden Resultate von mir geliefert. Du hast dich für das hier entschieden, also nimm es an und tut, wie dir geheißen. Das ist mein neuer Vorsatz. Selber Schuld, Lock. Du hast kein Recht, Mitleid zu empfinden. Vor allem nicht für dich. Feigling. Egoist. Alle Welten gehören Oogie. Alle fürchten ihn und jene, die es nicht tun, werden bald hingerichtet sein oder verstecken sich und auch ihr Tod ist nur noch eine Frage der Zeit. Wie Oogie es versprochen hat, wird Barrel und Shock, Jack und Sally nichts geschehen. Er hat sie aus der Fabrik in Jacks Haus bringen lassen und stellt sie quasi unter „Hausarrest“, wie er es nennt. Tag und Nacht werden sie bewacht. Jetzt habe ich keine Gelegenheit mehr, sie zu sehen. Ich sehne mich nach ihnen. Ich widerstehe nur schwerlich dem Drang, einfach in das Haus zu stürmen. Ich muss mich um andere Dinge kümmern... Täglich begleite ich nun Oogie zu Hinrichtungen – vermummt, damit mich niemand erkennt. Ich sehe mit an, wie einstige Freunde und Nachbarn auf das Schafott geführt und vom Henker gefoltert und enthauptet werden. Die Bürger, die sich nicht gegen Oogie aufgelehnt haben, müssen daran teilnehmen. Ihre Furcht wird so geschürt. Aufstände verhindert. Einige der älteren Generationen schließen sich mit Leib und Seele seiner Sache an. Sie murmeln etwas davon, dass es früher unter der Herrschaft eines Einzelnen auch besser gewesen sei. Kaum Arbeitslosigkeit. Bildung für alle. Der Kampf für eine noble Sache. Das Wohl der Gesellschaft, das Wohl Vieler fest im Blick. Eine Ehre, sich dafür zu opfern. Bullshit. „Kommt dir die Dame bekannt vor?“ Erschrocken halte ich den Atem an. Ich stehe hinter Oogie auf den Balkon des Rathauses und schaue auf den Platz hinunter, wo die Hinrichtungen stattfinden. Eine Frau, die gerade hinauf geführt wird, wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Männer, die sie in festem Griff haben. Sie schreit und flucht, während man ihre Extremitäten mit dicken Seilen auf der Streckbank fixiert. Sie hat rotes Haar. Ihre gelben Augen funkeln den Henker wütend an. „Mutter.“ flüstere ich und kann meinen Blick nicht von ihr abwenden. Bedeutet sie mir etwas? Bin ich ihr etwas schuldig? Nein. Sie ist nicht meine Mutter. Nur Diejenige, die mich geboren hat. Hat sie je etwas für mich getan? Sie verleugnete mich um ihrer Karriere willen. Sollte ich für sie um Gnade bitten? „Willst du mich nicht anflehen, sie zu verschonen?“ fragt Oogie. Ich zögere und sehe, wie man ihr unter großem Geschrei einen Finger abschneidet. „Na los doch, ich warte.“ Ich starre weiter. Man ritzt ihr die Haut an Armen und Beinen auf. „Was ist los, Lock? Findest du endlich doch Gefallen daran?“ Meine Augen weiten sich immer weiter. Man reißt ihr die Lumpen vom Leib und begießt sie mit kochend heißem Wasser. „Das ist wahre Ästhetik, nicht wahr?“ Ich gehe auf die Knie und greife Oogies Ärmel. „Bitte, lass sie am Leben.“ „Warum?“ Oogie dreht sich nicht um. Die Menge unten verfolgt angsterfüllt das Geschehen auf dem Schafott. „Sagtest du nicht damals, dass sie dich nicht nur im Stich gelassen sondern auch verleugnet hat? Warum willst du diese Frau schützen? Sie kümmerte sich einen Dreck um dich. Sie würde dich sicher auch verrecken lassen, wenn sie an deiner Stelle wäre. Ist sie etwa doch nicht die skrupellose Frau, die du immer beschrieben hast? Warum also?“ „Sie… ist meine Mutter.“ So sehr mich diese Worte auch schmerzen und so sehr ich diese Frau auch hasse: Sie wird immer die bleiben, die sie war, auch wenn ich mir wünschte, es wäre nicht so. Oogie befreit sich aus meinem Griff und sieht mich auch jetzt nicht an. „Ich kann es nicht mehr aufhalten. Was würden die Leute denken, wenn ich sie jetzt begnadigen würde? Ich würde mein Gesicht verlieren.“ „Oogie, ich flehe dich an. Bitte! Bitte, lass sie gehen.“ „Lock, dein Helfersyndrom für deine ach so geliebten Menschen ödet mich wirklich an! Wie viele von ihnen soll ich denn noch verschonen? Bald bittest du mich noch um ganz Halloween Town! TÖTET SIE ENDLICH!“ Die letzten Worte schreit er dem Henker zu, der gerade ihre Hand abschneiden wollte. Stattdessen bindet er ihren geschundenen Körper los und schleift sie zur Guillotine. Die Menschenmenge schaut ruckartig zu Oogie hinauf und dann wieder zum Scharfrichter. Ich wende mich ab. Ich will es nicht sehen. Mein erneutes Versagen. Ich höre das Herabsausen des Beils, mit dem der Kopf abgetrennt wird. Wie bei den anderen Hingerichteten hält der Henker sicher den Kopf wie eine Trophäe in die Höhe und das Publikum jubelt gedämpft. „Du enttäuscht mich erneut.“ Oogie sieht mich herablassend an und rauscht dann mit wehendem Mantel an mir vorbei. Hätte ich sie retten können? „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“ sagt Jack immer. Wirklich, Jack? Woher weißt du das? Du bist sehr willensstark, auf dich trifft das vielleicht zu. Aber auf mich auch? Vermutlich nicht. Es deutet jedenfalls alles darauf hin. Weitere Personen werden auf dem Platz getötet, während ich auf dem Balkon kauere. Als ich mich erhebe und den Blick über die Menge streifen lasse, erkenne ich Finkelstein inmitten der Masse. Es gibt nicht viele Rollstuhlfahrer in Halloween Town. Er redet leise, scheinbar flüsternd, mit einem hünenhaften Mann, der einem Schrank gleicht. Es erscheint mir nicht so wichtig. Ich schätze, Finkelstein hat viel zu viel Angst vor Oogie, als dass er ihn hintergehen würde. Oder nicht? Finkelstein sieht auf seine Uhr, nickt dann und fährt davon. Der Mann sieht sich um. Als sein Blick hinauf auf den Balkon wandert, wende ich mich schnell ab. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er noch einen Moment lang herauf schaut und sich dann in Richtung Friedhof entfernt. Ich glaube, er hat nicht bemerkt, dass ich sie beobachtet habe. Den ganzen Tag lasse ich Finkelstein nicht aus den Augen. Inzwischen bin ich ziemlich gut darin geworden, Leute still und heimlich zu beobachten. Nachdem ich Shock und die anderen nun schon seit Wochen aus der Ferne betrachte, habe ich viel Übung darin. Erst spät in der Nacht entfernt er sich von seinem Labor und fährt so vorsichtig und unauffällig wie möglich zum Wald. Auf seinem Schoß steht ein kleiner Karton. Auf der Lichtung der Festtagstüren wartet der hünenhafte Mann auf ihn. Bei ihm ist eine Gruppe von Menschen aller Feiertage. Kleine Engel schweben über ihnen, Hasen klopfen ungeduldig auf den Boden, mehrere Leprechans stehen da und tuscheln miteinander, Truthähne wandern umher und geben glucksende Geräusche von sich. Allesamt wirken sie nervös und angespannt. „Hast du es?“ fragt der Hüne Finkelstein und öffnet erwartungsvoll die Arme. „Hier, ist aber nicht sehr viel.“ Der Doktor nimmt den Karton und reicht ihn weiter. „Mehr Penicillin konnte ich nicht auftreiben. Oogie verbraucht es in rauhen Mengen für seine Monster.“ „Wenn er soviel davon hat, kannst du doch auch mehr mitnehmen. Er würde das doch sicher nicht merken.“ Finkelstein winkt wütend ab. „Doch, würde er, verdammt! Er hat genaue Listen aller Lieferungen. Ich nehme an, dass er das Verschwinden dieser Ampullen auch bald bemerkt und dann bin ich schon bald ziemlich tot!“ Der Hüne wägt einen kurzen Moment ab, ob er etwas erwidern soll, dreht sich dann aber um und verteilt an die verschiedenen Feiertagsangehörigen Rationen Penicillin. Dann wendet er sich wieder dem Doktor zu. „Sollen wir bei der nächsten Hinrichtung schon zuschlagen?“ Finkelstein schüttelt den Kopf. „Es ist noch zu früh und ihr seid noch zu geschwächt.“ „Es wird in nächster Zeit auch nicht besser werden! Wir müssen uns wehren, solange wir noch etwas an Kraft haben!“ wirft ein wütender Leprechan ein. „Er hat Recht.“ sagt der Hüne laut. Es gibt zustimmendes Gemurmel der Umstehenden. Finkelstein schüttelt erneut den Kopf. „Ich weiß sowieso nicht, wie ihr euch das vorstellt. Selbst wenn ihr ihn unvorbereitet antrefft – das Überraschungsmoment wird euch nur kurzzeitig unterstützen und dann werdet ihr von seiner Armee überrannt werden. Ihr könnt nicht gew...“ Der Hüne stampft geräuschvoll auf. Die Erde bebt. „Wir sterben lieber im Kampf, als uns weiter wie feige Hunde zu verstecken und darauf zu warten, irgendwann entdeckt zu werden!“ Die Leprechans und die Hasen grölen und applaudieren. „Fein.“ stellt Finkelstein nüchtern fest. „Ihr wollt ihn also nicht aufhalten, sondern Selbstmord begehen. Fein, dann braucht ihr ja auch kein Penicillin mehr, wenn ihr sowieso plant, dabei draufzugehen.“ Die Leute auf der Lichtung verstummen. Der Doktor wendet seinen Rollstuhl und will davonfahren. Der Hüne murmelt flehentlich: „Finkelstein, wir wollen ihn auch loswerden. Der Plan ist einwandfrei. Wenn wir Oogie gleich beim ersten Mal erwischen, dann wird das Chaos perfekt. Sie werden keinen weiteren Angriff mehr koordinieren können, aber um das zu schaffen, brauchen wir deine Hilfe. Ohne dich können wir nicht handeln. Bitte, Finkelstein.“ Es scheint ihn einigen an Überwindung zu kosten, ihn zu bitten. Der Doktor bleibt stehen und seufzt. „Übermorgen also. Da findet die nächste Hinrichtung statt. Oogie wird dort sein. Ich werde den Sprengsatz dort positionieren, wo wir es besprochen haben. Alles andere überlasse ich euch.“ Damit fährt er davon. Kapitel 7: Kapitel 7 -------------------- Wer hätte gedacht, dass Finkelstein genug Schneid hätte, mit dem Widerstand gemeinsame Sache zu machen? Eigentlich habe ich ihn immer für einen feigen, alten Hund gehalten, aber ich muss meine Meinung über ihn wohl gründlich überdenken. Während ich durch die Dunkelheit zurück in die Stadt stolpere, geht mir nur ein Gedanke durch den Kopf: Soll ich Oogie warnen? Soll ich Finkelstein verraten? Ganz sicher nicht. Das wäre ja noch schöner. Wir wären endlich frei. Frei von Tyrannei und Sklaverei. Einfach frei, um die Arme auszustrecken und ein Klo in die Luft zu sprengen... Was für ein verlockender Gedanke. Viel zu verlockend. Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich mir Bilder in meinen Gedanken ausmale. Glückliche Bilder. Eine lachende Shock, ein grinsender Barrel, eine kichernde Sally und ein fröhlicher Jack. Ein rundum gelungenes Halloween. Schnee an einem Weihnachtsmorgen und ein Frühstück mit dem Weihnachtsmann und seiner Frau. Schule. Unterricht schwänzen. Klos in die Luft sprengen. Das Rathaus mit mit Farbe gefüllten Ballons bombardieren. Ich schüttele den Kopf. Es ist zu früh für solche Gedanken. Viel zu früh. Ich mache mir nur wieder irgendwelche einfältigen Hoffnungen. Hoffnung ist immer naiv, das habe ich inzwischen vollkommen verinnerlicht. Es wird niemals mehr so sein, wie es früher war. Das ist nicht möglich. Es darf auch nicht so sein. Wie könnte ich ihnen jemals wieder in die Augen sehen, jemals wieder unbeschwert mit ihnen lachen? Ich wäre schon froh und dankbar, wenn diese geliebten Menschen irgendwann eines Tages ihr Lächeln wiederfinden könnten. Zwei Tage sind vergangen. Neue Hinrichtungen stehen an. Ein paar Vampire, die ein Anschlag auf Oogie versucht hatten, und ein junger Osterhase, von dem ich vorher noch nichts gehört hatte, sollen sterben. Oogie sprach außerdem von einem besonderen „Ehrengast“, den es hinzurichten gelte. Noch vor Sonnenaufgang werden die Bürger Halloween Towns zum Platz getrieben, um dem Spektakel beizuwohnen. Ich habe Oogie nichts von dem geplanten Angriff gesagt. Ich habe nicht den Mut, selbst gegen Oogie aufzubegehren. Ich bin dankbar, dass andere es versuchen. Die Rebellen haben die Chance, ihn aufzuhalten und wenn es endlich soweit ist, kann Shock vielleicht wieder lachen. Ich werde nicht mehr an ihrer Seite sein, aber sie wird zum Glück niemals erfahren, was mit ihren Eltern geschah oder wer für ihr blutiges Schicksal verantwortlich war. Oogie, Finkelstein und ich stehen auf dem Balkon des Rathauses und sehen herab auf eine größtenteils schlaftrunkene Menge, die zusammengepfercht um das Schafott versammelt ist. Manche von ihnen sind schon so abgestumpft, dass es ihnen gleichgültig zu sein scheint, wo sie sich befinden und was gleich vor ihren Augen geschehen wird. Sie gähnen, kratzen sich verschlafen am Kopf und strecken ihre steifen Glieder. Einige andere haben dunkle Schatten unter den Augen und sehen sich angewidert und furchtsam um. Ich halte Ausschau nach den Rebellen oder einem Anzeichen einer bevorstehenden Revolution. Ich erblickte den Hünen. Er steht ziemlich nah am Balkon und starrt zu uns herauf. Hass und Kampflust kann ich in seinen Augen sehen. Sein Blick verharrt auf Finkelstein, der kaum merklich nickt. Der Hüne nickt ebenfalls kurz und wendet sich dann dem Schafott zu, auf das der erste Vampir geführt wird. Es dauert nur wenige Sekunden, schon hält der Henker den Kopf in die Höhe und grölt. Es gibt verhaltenen Beifall, dann rollen zwei weitere Köpfe, der des anderen Vampirs und des ängstlichen Osterhasen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Hase auch nur einer Fliege etwas zu Leide getan haben soll, geschweige denn gegen Oogie rebelliert. Nun ja, ich mache die Regeln nicht, ich befolge sie nur. Bevor ich noch weiter über die vermeintliche Unschuld des Osterhasen nachdenken kann, erkenne ich eine winzige Gruppe am anderen Ende des Platzes, die zu der restlichen, wartenden Menge, getrieben wird. Ungewöhnlich viele Wachen sind für die paar Gefangenen eingeteilt. Als sie näher kommen, erkenne ich den Grund dafür: Es sind Jack, Sally, Barrel und Shock, die im Gänsemarsch auf den Platz geführt werden. Sie sind aneinander gebunden. Shock, als Letzte in der Reihe, wehrt sich mit Händen und Füßen. Immer wieder muss eine Wache ihr einen kräftigen Stoß mit seiner Hellebarde versetzen, damit sie weitergeht. Die ganze Menge starrt auf die kleine Prozession, die erst kurz vorm Schafott Halt macht. Alle Vier schauen hinauf zu Oogie und einer sieht haßerfüllter aus als der andere. Ich bin froh, dass sie mich und Finkelstein nicht zu bemerken scheinen. Ihr ganzes Augenmerk ruht auf dem Tyrannen, der neben mir steht. Möglichst unauffällig nähere ich mich Oogie. Fast panisch flüstere ich: „Oogie, was soll das? Ich dachte, wir hätten...“ Er lässt mich nicht ausreden. „Meine lieben Freunde!“ setzt er an und breitet seine Arme aus. „Ich habe euch für heute einen Ehrengast versprochen. Ich wette, ihr seid schon ganz gespannt, um wen es sich dabei handelt, nicht wahr?“ Die Menge verstummt. Nur Shock weiß etwas zu sagen: „Tu uns doch einfach einen den Gefallen und spring selbst in die Guillotine!“ „Oh nein, wo bliebe denn dann der ganze Spaß!“ Oogie grinste sie überaus freundlich an. „Wenn du schon so viel Spaß hast, warum lachst du dich dann nicht tot? Wer zuletzt lacht, stirbt wenigstens fröhlich!“ Shock grinste genauso freundlich zurück. „Noch nicht, meine Liebe, noch nicht. Das hat noch Zeit.“ Eine der Wachen rammt ihr auf Oogies Zeichen hin seinen Ellenbogen in die Magengegend, so dass sie sich den Bauch haltend zu Boden sinkt. Barrel versucht ihr helfen, aber eine Wache drängt sich zwischen Shock und ihn. „Oogie!“ zische ich erneut. „Ah ja, der Ehrengast!“ ruft Oogie, als habe er es ganz vergessen und ich hätte ihn gerade daran erinnert. Zwei Wachen führen eine schwarz gekleidete Person durch die Menge zum Schafott. Ich kann nicht erkennen, um wen es sich dabei handelt, denn sie hat einen Leinensack auf dem Kopf. Ich sehe, wie Jack und Sally in sich zusammensinken, dann auch Barrel. Als auch Shock zu der Person hinüber schaut, aufspringt und laut losschreit, sehe ich genauer hin: Ein roter Teufelsschwanz ragt aus der schwarzen Hose hinaus, rotes Haar schaut unter dem Leinensack hervor. Ich begreife. Oogie inszeniert meine Hinrichtung. Ich greife nach Oogies Arm und halte ihn fest umklammert. „Was soll das?“ „Ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe.“ murmelt Oogie. „Sie werden endlich glauben, du seist tot und ich habe meine Ruhe. Es wird ihren Willen brechen.“ „Glaubst du nicht, dass du sie damit eher provozierst?“ werfe ich ein. „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen, nur um auch sie endlich leiden zu sehen.“ Zu meiner Überraschung zieht der Henker den Leinensack von seinem Kopf. Der vermeintliche Lock hat rotes, wirres Haar und sein Teufelsschwanz an seinem Hintern ist deutlich zu erkennen. Sein Gesicht ist blutig und geschwollen. Oogie hat ganze Arbeit geleistet. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, ein zugerichteter Lock stünde dort unten auf dem Schafott kurz davor, geköpft zu werden, denn der Kerl trägt nicht nur meine Kleidung und meine Frisur, sondern hat auch die gleiche Größe und die gleiche Kopfform. Ich kann mich selbst kaum von dem da unten unterscheiden. Das Schlimmste an der ganzen Situation ist die nun auf dem Boden kauernde Shock, die vor Wut zittert. Tränen stürzen sturzbachartig ihre Wangen hinab. Das ist das zweite Mal, dass sie um mich weint. Auf eine kranke Art und Weise macht es mich glücklich. Ich erlaube mir sogar ein kurzes Lächeln unter dem Schal, der mein Gesicht verbirgt. Das Bedürfnis, zu ihr zu gelangen ist erneut unendlich groß. Es kostet mich viel Überwindung, nicht die Treppen hinunter zu stürmen, die Wachen aus dem Weg zu räumen und zu schreien: „Seht doch! Hier bin ich!“ Ich stelle mir ihr überraschtes Gesicht vor mit dem zerlaufenden Make-up, dann breitet sich ihr Mund zu einem warmen, erleichterten Lächeln. Sie weint immer noch, aber dieses Mal vor Freude. Sie drückt ihr Gesicht an meine Brust, als ich meine Arme um sie schließe, und umklammert meine Taille. Und immer wieder schluchzt sie meinen Namen. Dann begreift sie, dass ich kein Gefangener bin, dass ich Oogies Handlanger bin, dass ich sie alle verraten habe, dass ich Hundert, wenn nicht sogar Tausende auf dem Gewissen habe. Sie stößt mich von sich und sieht mich angewidert an. Sie durchbohrt mich, tötet auch den letzten Rest in mir mit nur einem einzigen Blick. Das darf nicht passieren! Schnell versuche ich meine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Ach ja, die Rebellen! Fast hätte ich sie vergessen! Was sie wohl planen? Wann sie wohl gedenken zuzuschlagen? Meine Augen wandern zu dem Hünen, der gebannt auf das Geschehen starrt. Selbst er scheint seine Absichten vergessen zu haben. „AB MIT DEM KOPF!“ brüllt Oogie, das Beil blitzt auf, ein Kopf rollt und bleibt genau vor Shock liegen. Zitternd legt sie eine Hand auf die roten Haare. Ganz penibel rückt sie jede einzelne Strähne zurecht. Dann durchbricht ihr schmerzerfüllter Schrei die Stille, als sie ihn hochnimmt und ihn an sich presst. Ich kann Shock nicht länger ansehen. Nein, ich ertrage es nicht. Ich schaue hinüber zu Jack. Er hält Sally in seinen Armen, die unentwegt schluchzt. Hätte sie Tränenkanäle, Jacks Jackett wäre durchnässt. Barrels Blick ist leer. Er sitzt neben Shock auf dem Boden, seine Arme hängen schlaff herab und noch immer ist ihr Kreischen das Einzige, was zu hören ist. Oogie steht neben mir und applaudiert. „Na, wenn das nicht mal eine gelungene Vorstellung war!“ Sein selbstzufriedener Ausdruck erzeugt Übelkeit. „Aber sie ist noch lange nicht zu Ende!“ Verwirrt schaue ich ihn an. Alles geschieht innerhalb weniger Sekunden. Wachen stürmen den Platz. Der Hüne sowie einige Komplizen bei ihm werden wie aus dem Nichts erschossen. Osterhasen, Leprechans, Engel, sie alle werden aus ihren Verstecken getrieben und von Lanzen, Hellebarden, Schwertern und Kugeln durchbohrt. Alles ist eine einzige rote Landschaft. Finkelstein starrt mit vor Schreck aufgerissenem Mund auf das Blutbad, das vor seinen Augen stattfindet. Im nächsten Moment reißt Oogie Finkelstein aus dessen Rollstuhl und hält den schwächlichen, dürren Mann an der Kehle hoch über das Geländer und die wartende Masse. „Glaubst wirklich, man könnte mich mit so simplen Tricks aus dem Weg räumen?“ Oogie grinst noch immer. „Hast wirklich angenommen, es wäre so einfach? Du bist dümmer als ich dachte, Finkie.“ Finkelstein röchelt und rudert verzweifelt mit seinen Armen durch die Luft. Sein Gesicht wird erst rot, dann bläulich. Seine Bewegungen werden immer schwächer, sein Blick panischer. Schließlich weicht alles Leben aus ihm, seine Arme fallen leblos an seine Seite. Oogie öffnet seine Hand. Geräuschvoll landet Finkelsteins Leichnam auf dem Boden neben der noch immer weinenden Shock, die aber nichts zu bemerken scheint. Ich trete an das Geländer und werfe einen Blick nach unten. Seine Beine liegen in merkwürdigen Winkeln zu seinem Körper. Seine Schädeldecke ist aufgebrochen, Fetzen seiner Gehirnhälfte liegen daneben. Fiona, Finkelsteins Gefährtin, kommt herbeigelaufen und bricht über seiner Leiche zusammen. Schweigend wendet Oogie sich ab und verlässt den Balkon. „KOMM SCHON!“ schreit er mir zu. Langsam wende ich mich von dem Schreckensszenario ab und folge ihm hinein ins Rathaus. Sobald ich das Büro des Bürgermeisters betreten habe, schließt sich Oogies kalte Hand um meinen Hals. Seine Augen haben sich zu Schlitzen verengt. Leise, fast flüsternd, zischt er: „Eigentlich hätte ich mit dir das Gleiche machen sollen wie mit Finkelstein!“ Der eiserne Griff lockert sich. „Du hast es wohl nicht für nötig gehalten, mir zu sagen, was man hinter meinem Rücken plant!“ „Natürlich nicht!“ brülle ich. Die Zornesröte steigt mir ins Gesicht. „Du erpresst mich mit Geiseln! Ich helfe dir, um sie zu beschützen, aber das macht mich noch lange nicht zu deinem Gefolgsmann! Es wäre mir nur recht gewesen, wenn du heute ins Gras gebissen hättest!“ Während ich das sage, schließt sich seine Hand wieder fester um meinen Hals. Die letzten Worte verlassen nur noch undeutlich meinen Mund. Dann lässt er mich los und drehte sich um. Er verschränkt seine Hände hinter seinem Rücken, während er murmelt: „Nun, ich hatte wohl zu voreilig angenommen, du hättest etwas von dem verstanden, was ich hier tue.“ „Als verfolgtest du größere Ziele! Du willst Macht haben und andere leiden sehen, nicht mehr und nicht weniger! Das habe ich sehr wohl verstanden!“ „Es geht hier nicht um Macht, aber egal. Ein derart Kleingeistiger wie du kann es einfach nicht begreifen.“ Er wendet sich zum Gehen, aber an der Tür dreht er sich noch einmal um. „Ungehorsam wird bestraft. Das gilt für die Leute da draußen genauso wie für dich. Vielleicht statte ich deinen ach so geliebten Menschen mal einen Besuch ab. Sie werden sich sicher freuen mich zu sehen. Meinst du, Shock versucht gleich mich zu töten oder wartet sie erst ab?“ Damit geht er hinaus. Es dauert eine Weile, bis ich verstehe, was Oogie tun wird. Ich raffe mich auf und laufe so schnell mich meine Beine tragen zu Jacks Haus. Völlig in Rage schlage ich die beiden Wachen rechts und links der Tür nieder und ramme die Tür ein. Sofort eile ich die Treppe hinauf, laufe durch alle Räume, laut ihre Namen rufend. Keine Antwort. Nicht einmal ein Rascheln oder ein Knistern. Gar nichts. Plötzlich höre ich aufgeregtes Gemurmel im Erdgeschoß. Vier weitere Wachen haben ihre niedergeschlagenen Kollegen auf dem Boden liegend gefunden. Hinter ihnen stehen Jack, Sally, Barrel und Shock. Alle starren gebannt auf die ohnmächtigen Wachen, nur Shock scheint das alles nicht zu interessieren. Ihr Blick ist starr auf den Boden gerichtet, aber ihre Augen sind leer. Kein Feuer, kein Glanz ist mehr in ihnen. Als wäre alles Leben aus ihr gewichen. Eine lebende Leiche. Ich weiß genau, wie sie sich fühlt. Dann ein Aufschrei. Sally schaute auf und mir direkt in die Augen. Im nächsten Moment fällt sie in Ohnmacht. Jack fängt sie auf und folgt dann ihrem Blick. Seine Augenhöhlen weiten sich. Barrel sackt auf die Knie, selbst Shock hebt den Kopf und schaut zu mir herauf, wie ich da völlig aus der Puste und demaskiert auf der Treppe stehe. Beim Laufen muss ich meinen Schal verloren haben, der sonst immer mein Gesicht verbarg. Ich habe es nicht bemerkt. Ich hatte nur noch diese Vier im Kopf und die Angst, Oogie könnte ihnen etwas antun. Dass meine vermeintliche Hinrichtung erst wenige Minuten her ist und dass sie noch gar nicht hierher zurückgeleitet worden sein konnten, daran habe ich gar nicht gedacht. Und nun starren mich diese Vier entgeistert an. Oogie schreitet an ihnen vorbei und betritt die Eingangshalle. Amüsiert lächelnd und gespielt überrascht sagt er: „Lock! Was machst du denn hier? Ich dachte, ich hätte dich eben hingerichtet. Scheint, als hätte jemand anderes seinen Kopf herhalten müssen, aber daran bist du schon gewöhnt, nicht wahr?“ In mehrfacher Weise. Er kichert. Ich sinke auf die Treppe. Ihr Blick brennt auf meiner Haut, als stünde sie in Flammen. Shocks Augen verengen sich zu Schlitzen. Ihre Hände ballen sich zu Fäusten, ihre Fingernägel graben sich tief in die Innenseite ihrer Hände. Blut tropft zu Boden. Genau das hier hatte ich verhindern wollen. Vor dieser Situation habe ich mich gefürchtet. Um sie zu vermeiden waren hunderte gestorben und Tausende geknechtet worden, aber das alles spielt nun keine Rolle mehr. Jetzt ist alles egal. Wenn nur jemand käme, mich zu töten. Leider geschieht nichts dergleichen. Im Gegenteil, es wird noch schlimmer. Ohnmächtig wie ich bin, halte ich Oogie nicht davon ab, eine Anekdote über Shocks Eltern zu erzählen. Über ihren Tod. Wie viel Blut an meinen Händen klebt. In allen Einzelheiten. Shocks eben noch verengte Augen weiten sich mit jedem Wort Oogies mehr. Das Brennen auf meiner Haut wird immer schlimmer. Ich presse die Hände auf meine Ohren, ich will es nichts hören. Nein, nein, nein! Das darf nicht passiert sein! Es kann nicht passiert sein. Warum habe ich alles geopfert nur um doch hier zu enden? Wieso? „HÖR AUF! HÖR AUF! HÖR AUF!“ schreie ich. „DAS IST NICHT PASSIERT! DAS IST EINFACH NICHT PASSIERT!“ Bevor noch irgendjemand etwas tun kann, riss eines der Seile, mit denen die Gefangenen aneinander gebunden sind, entzwei. Shock hat sich mit einem mächtigen Ruck aus ihnen befreit. Keine der Wachen ist schnell genug, um sie aufzuhalten, als sie in Richtung Wald läuft. Oogie gellt: „Holt sie zurück! Sofort!“ Zwei der Wachen machen sich sofort auf. Sie werden sie nicht kriegen. Dafür ist sie viel zu schnell. Wie oft waren wir vor den Leidtragenden unserer Streiche weggelaufen und wie oft hatten sie uns nicht eingeholt? Oogie schreitet vor uns auf und ab. „Nun, Lock? Was soll ich jetzt mit deinen geliebten Menschen machen, hm? Sag es mir.“ Ich kann nichts sagen, mich nicht rühren, nichts denken, kaum atmen. Ja, was soll nun geschehen? Alles ist verschwommen. Was nun geschieht nehme ich kaum wahr. Ich glaube, Barrel ruft laut meinen Namen und versucht ebenfalls sich loszumachen, aber eine Wache versetzt ihm einen harten Schlag erst ins Gesicht, dann ins Genick. Er fällt ohnmächtig zu Boden. Oogie gibt den restlichen Wachen Befehle und verlässt dann das Haus. Die Eingangstür wird verschlossen und ich glaube zu hören, wie der Schlüssel im Schloss klickt. Kapitel 8: Kapitel 8 -------------------- Mittlerweile geht die Sonne wieder unter. Barrel liegt eingerollt auf dem Bett und starrt zu Boden. Ich stehe am Fenster und starre hinaus. Jack und Sally ruhen sich im Schlafzimmer aus. Sie wussten wohl nicht, was sie sagen sollten, nachdem Oogie gegangen war, denn sie schwiegen. Sally hatte mich in den Arm genommen und leise geschluchzt. Jack stand neben uns und war scheinbar unschlüssig. Noch immer saß das Entsetzen über meine vermeintliche Hinrichtung, mein plötzliches Auftauchen und meinen Verrat tief in seinen Knochen. Er half mir, Barrel hinauf in unser Zimmer zu tragen und auf Shocks Bett zu hieven. Er schaute mich kurz an, öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn aber wortlos wieder und ging nach nebenan zu Sally, die sich erschöpft auf dem Bett niedergelassen hatte. Es musste alles zu viel für sie gewesen sein. Ich kümmerte mich um Barrel, zog seine Schuhe aus und verarztete die Platzwunde an der Stirn, die er von der Wache erhalten hatte. Während ich sie vorsichtig mit einer stark riechenden Tinktur betupfte, öffnete er langsam seine Augen. Schwach flüsterte er meinen Namen und als er begriff, was er sah, setzte er sich ruckartig auf. Er bereute es jedoch sofort wieder, denn sein Schädel dröhnte, was ich an seinem Schmerz verzerrten Gesicht sehen konnte. Ich entnahm dem Blister eine Tablette und warf sie in das Glas Wasser, das auf dem Nachtschränkchen stand. Als sie sich aufgelöst hatte, reichte ich die Lösung an Barrel weiter, der es ohne zu zögern hinunterstürzte. „Danke!“ seufzte er und betrachtete mich dann schweigend. „Sag was.“ murmelte ich, während ich seine Stirn erneut betupfte. „Um ehrlich zu sein, warte ich darauf, dass DU etwas sagst.“ Ich senkte meine Hand und atmete tief aus. Und dann begann ich zu reden. Und redete immer weiter, bis es dämmerte. Ich sprach von meiner Mutter, von Oogie, von Pain und Misery. Ich berichtete ihm von der Nacht in ihrem Haus, wie es für mich war, als Shock zu Oogie stieß, was ich während all dieser Zeit gefühlt hatte. Wie es war, als Jack und Sally uns aufgenommen hatten und als Oogie mich nach all diesen Jahren heimgesucht hatte. Ich erzählte von den schrecklichen Sachen, die ich für Oogie getan hatte, nur um Shocks Blick nicht standhalten zu müssen. Mein Monolog endet mit der Inszenierung meiner Hinrichtung, während ich vor dem Fenster stehe und den Sonnenuntergang beobachte. Barrel hatte sich währenddessen auf dem Bett zusammengerollt und mich nicht unterbrochen. Nun schweigt er. Ich bin mir sicher, dass er mich verabscheut wie er Oogie verabscheut. In wenigen Sekunden wird er mich angreifen, mir sagen, dass ich zum Teufel gehen soll... oder zurück zu Oogie, was auf das Gleiche hinausläuft. Ich warte darauf. „Hältst du uns wirklich für so bescheuert?“ Leise dringt Barrels Stimme aus dem Bettdeckengewirr. „Hast du wirklich geglaubt, wir wüssten nicht, dass es dir schlecht geht? Dass du still vor dich hin leidest?“ Ich schaue ihn an. „Guck mich nicht so mitleidig an, als hätte ich keine Ahnung, wovon ich rede!“ Er hebt seinen Kopf und sieht mich an „Wir wussten doch, dass da etwas war. Du bist nämlich kein so guter Schauspieler, wie du denkst! Es ist doch genauso wie bei Shock! Du hast doch auch bemerkt, wie unsicher und sensibel sie war! Bei dir war es nichts anderes!“ Seine Gerede wird fast ein Brüllen. Er bemerkt es, und senkt die Stimme wieder. „Ihr beide seit euch so ähnlich. Die Welt, in der ihr lebt, ist nicht halb so ignorant, wie ihr beide glaubt. Aber ihr seit ja fest davon überzeugt, alles mit euch allein ausmachen zu müssen, weil ja niemand da ist, der euch zuhört oder aufsammelt. Ihr seit beide gleich ignorant!“ Ich vergrabe das Gesicht in meinen Händen. Meine Stimme zittert. „Ich kann es doch nicht ungeschehen machen. Geschweige denn wieder gut! Was soll ich denn jetzt machen, Barrel? Sag es mir!“ Er hat immer ein tröstendes Wort auf den Lippen. Einen Ratschlag. Eine Meinung. Etwas, das einem weiterhilft. Er ist mein bester Freund. Er hat mir bisher immer geholfen. Er hat gelacht und geweint, er hat Shocks und meine Launen ertragen und er war immer er selbst. Er weiß immer weiter. Er seufzt. „Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung.“ Eine Weile vergeht. Keiner von uns beiden sagt ein Wort. Fieberhaft durchforste ich mein Hirn nach einer passablen Lösung, aber mir will verdammt noch mal nichts einfallen. Barrel räuspert sich. „Wo ist Oogie angreifbar? Wie kann man ihn schlagen?“ Ich schüttle den Kopf. „Gar nicht. Da ist nichts. Niemand kann uns helfen. Niemand hat die Macht dazu. Das, was er da veranstaltet, dieses Voodoo-Zeug…“ Plötzlich fällt es mir siedend heiß wieder ein. Das Gerippe! Er sagte, er könne ihn wieder loswerden! Es ist das Einzige, was bleibt. Ich muss zu ihm. So schnell wie möglich. Bevor Shock in Oogies dreckige Hände fällt. „Was ist? Ist dir was eingefallen?“ Barrel setzt sich auf und sieht mich erwartungsvoll an. Nein, ich kann ihn nicht um Hilfe bitten. Ich will ihn nicht in Gefahr bringen. Außerdem, und mein Egoismus diktiert mein Vorgehen, ist dies meine einzige Chance, es vielleicht wenigstens ein bisschen wieder gut zu machen. Ich muss es im Mindesten versuchen. „Komm schon! Ich weiß, wie wir ihn loswerden können. Ein für alle Mal!“ Barrel springt auf und folgt mir nach unten zur Haustür. Im Türrahmen drehe ich mich abrupt zu ihm um und ramme meine Faust mit voller Wucht in seine Magengegend. Benommen taumelt er zurück, mit dem Kopf gegen die Wand, und sinkt zu Boden. Ich richte seinen Oberkörper auf, hocke mich neben ihn und befühle seinen Hinterkopf. Keine Wunde vom Sturz. Gut. Ich werfe einen Blick auf sein Gesicht. Seine Augenbrauen sind selbst in der Ohnmacht sorgenvoll zusammengekräuselt. „Du hast dir immer Sorgen um mich gemacht und ich habe dir nichts als Schmerzen bereitet. Ich weiß das und es tut mir leid, mein Freund. Ehrlich.“ Ich lege eine Hand auf sein Haar und zerzause es. „Mach‘s gut, Barrel.“ Als ich mich erhebe, fällt mein Blick auf den oberen Absatz der Treppe. Jack steht dort, scheinbar unschlüssig, ob er etwas sagen oder tun soll. Lange schauen wir einander an. Ich halte seinem Blick stand. Es ist an der Zeit, dass ich für meine Taten geradestehe. Ich bin es ihnen schuldig. Ich habe nichts mehr zu verlieren und alles, was ich jetzt noch tun kann, ist Buße zu tun. Ich zertrümmere das kleine Fenster, strecke meinen Arm hinaus und öffne von außen die Eingangstür. Die beiden Wachen vor der Tür richten ruckartig ihre Hellebarden auf mich. Binnen Sekunden habe ich sie entwaffnet. Ich bin zu wütend und zu entschlossen, um mich von ihnen aufhalten zu lassen. Ich wende mich zurück an Jack. „Verzeiht mir.“ rufe ich lautstark und eile zur Tür hinaus. Im Augenwinkel sehe ich gerade noch, dass er ansetzt um etwas zu sagen, aber ich will es nicht hören. So schnell mich meine Beine tragen, renne ich in die Menschenwelt, zu dem Friedhof, den ich schon vor einer gefühlten Ewigkeit mal besucht habe. Ich suche nach der Gruft mit dem oben aufthronenden Engel, der mich auch jetzt noch an Shock erinnert. Rasch werde ich fündig und stoße die Tür auf. Das Gerippe ist nicht da. Ich laufe hinaus, die Grabsteinreihen entlang und rufe laut nach ihm. „WELCHER IDIOT WILL WAS VON MIR!?“ brüllt er vom anderen Ende des Friedhofes. Als ich mich nähere, erkennt er mich. „So. Du bist das. Das hätt‘ ich ja nicht mehr gedacht. Na, hat der alte Sack alles in Schutt und Asche gelegt?“ „Fast. Es dauert nicht mehr lange.“ antworte ich nach Luft schnappend und stütze mich auf meine Knie. Ich habe Seitenstiche. Ich habe keine Zeit zu verschnaufen. Das Gerippe sieht mich ungeduldig an. Ich hole noch einmal tief Luft und beginne dann zu erzählen. Vom Angriff, der Unterwerfung, den Hinrichtungen. Während ich berichte, gehen wir zurück zu seiner Gruft. Dort angekommen setzt er sich hinter seinen Schreibtisch. Als ich geendet habe, frage ich: „Steht dein Angebot noch, mir zu helfen ihn zu beseitigen?“ Die Miene des Gerippes hellt sich auf. „Na, aber sicher doch. Kann doch nicht zulassen, dass er wirklich auch das letzte Bisschen meines Zuhauses zerstört.“ „Du kommst auch aus Halloween Town?“ „Natürlich, du Idiot! Oder sehe ich aus wie ein Leprechaun oder ein verdammtes Karnickel?“ giftet er. Ich schüttle den Kopf. „Na also! Ich ging damals fort, als Oogie plötzlich besessen wurde. Besessen von dieser Frau!“ „Frau? Was für eine Frau?“ Ich sehe ihn fragend an. Das Gerippe winkt ab. „Ist nicht so wichtig!“ „Oogie wird sowieso bald tot sein! Also kannst du es mir also auch erzählen!“ Er taxiert mich kurz mit seinen mürrischen Augen und beginnt zu erzählen. Oogie, Finkelstein und das Gerippe verliebten sich alle in dieselbe Frau, mit der sie zusammen studierten. Diese heiratete aber kurze Zeit später einen anderen Mann. Das Gerippe wendete sich anderen Damen zu und Finkelstein setzte sich an die Entwicklung einer künstlichen Frau. Nur Oogie konnte die Abfuhr nicht ertragen und belästigte sie weiter. Er stellte ihr nach, rief sie täglich Dutzende Male an, schrieb ihr Liebesbriefe, Sonette, Lieder. Er lauerte ihr in der Uni auf, setzte sich neben sie und in den Laboren wich er ihr nicht von der Seite. Irgendwann geriet ihr Ehemann so in Rage, dass sie anfingen sich zu prügeln. Dabei stießen sie einige der Kolben und Bunsenbrenner um, sodass ein Feuer ausbrach. Manche der Kolben barsten durch die Hitze und die darin enthaltenen Chemikalien verspritzten überall. „Die anderen Studenten brachten sich in Sicherheit, nur die beiden Raufbolde blieben da drin. Ihr Ehemann schaffte es schließlich auch gerade eben so, sich durch ein Fenster zu retten. Oogie hatte nicht so viel Glück und verbrannte dort drin bei lebendigem Leibe.“ „Und wie kam es, dass er aus dem Geziefer und dem Leinensack wieder auferstand?“ Das Gerippe kratze sich knirschend am Kiefer. „Das war meine Schuld. Wir waren immer noch Freunde und ich konnte ihn nicht im Stich lassen. Tja, ich kenne mich mit diesem ganzen Voodoo-Quatsch aus, wie du weißt, also haben Finkie und ich einen Weg gefunden, ihn aus den verkohlten Überresten wieder auferstehen zu lassen. Damals hatten wir noch nicht so viele Möglichkeiten wie heute, darum mussten wir eben mit etwas Minderwertigen wie einem Leinensack und Insekten auskommen. Heute sähe sowas natürlich ganz anders aus, aber die Methoden waren eben noch nicht so weit entwickelt. Wie dem auch sei! Statt sich bei uns zu bedanken, dachte der Mistkerl immer noch an dieses Weibsbild und entwickelte eine Manie, wie sie schlimmer hätte kaum sein können. Mehrmals versuchte er den Ehemann des Weibs zu töten, aber er scheiterte.“ „Und was wurde aus den beiden?“ „Oogie ließ von ihnen ab, als die beiden ein Kind bekamen. Zumindest dachten wir, dass er endlich von seiner Besessenheit geheilt wäre. Er schmiedete aber insgeheim immer noch Rachepläne. Allerdings baute er auch sein kleines Verbrechersyndikat auf. Finkelstein und ich wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Finkie arbeitete danach an seiner künstlichen Intelligenz und ich kam hierher, um mein Geschäft aufzubauen und um meiner Frau willen.“ Er deutete auf ein Foto, das in einem Bilderrahmen auf seinem Schreibtisch stand. Das Gerippe, das darauf zu sehen ist, ist etwa doppelt so groß wie jenes, welches hiervor mir sitzt. Es trägt ein geblümtes Kleid und einen übergroßen Hut auf dem kahlen Schädel. Selbst ohne Haut und Haaren muss ich erkennen, dass es sich dabei zweifellos um eine hübsche Frau gehandelt haben musste. Kurze Zeit starrt das Gerippe das Foto an. Dann schüttelt er den Kopf und wendet sich wieder mir zu. „Ich habe gehört, er hätte die beiden später abgeschlachtet oder besser gesagt abschlachten lassen. Hat wohl ein Handlanger zusammen mit ihm erledigt.“ Bei seinen letzten Worten wird mir schwindelig. Ich lasse mich schwankend auf einem Stuhl nieder, der neben der Tür steht. „Wie hießen die beiden?“ murmele ich. „Ihr Name war Pain. Er hieß Misery, glaube ich. Keine Ahnung wie ihr Kind hieß oder ob es ein Mädchen oder ein Junge war.“ „Ein Mädchen.“ bringe ich erstickt hervor und schüttle entsetzt den Kopf. Das Gerippe sieht mich zuerst fragend an, kommt dann aber scheinbar zu dem Entschluss, nicht weiter nachhaken zu wollen. Stattdessen gibt er mir einen Schlag auf die Schulter. „Was ist nun, du Idiot? Willst du da noch lange rumleiden oder können wir uns Oogies Ableben widmen?“ Ich reiße mich zusammen. Es fällt mit schwer, meine Gedanken auf die Erklärungen des Gerippes zu konzentrieren, der verschiedene Materialien zusammenträgt und das Ritual in allen Einzelheiten beschreibt. „Hast du alles behalten? Das hoffe ich für dich, ich werde es nämlich keine zweites Mal erklären.“ „Ja doch.“ murmele ich und packe die Sachen zusammen, die für das Ritual notwendig sind. „Nimm am Besten Finkie, der ist noch am frischesten. Weißt du, wo man ihn hingebracht hat?“ Ich schüttle den Kopf. „Keine Ahnung, aber vermutlich liegt er noch auf dem Feilbeilplatz. Es wird sich niemand die Mühe gemacht haben, ihn oder einen von den anderen Rebellen zu begraben.“ „Fein.“ Wir schweigen uns eine kurze Zeit lang an. Dann grummelt er: „Bist du sicher, dass du das durchziehen willst oder kannst?“ „Sicher.“ Ich sage es möglichst beiläufig. Ich habe Angst, plötzlich unentschlossen zu werden, wenn ich jetzt mit meinem Entschluss hadere. Wieder sagt keiner von uns ein Wort. Ich wende mich zum gehen, hebe kurz die Hand, bevor ich die Gruft verlasse, und rufe ihm zu: „Also, mach’s gut. Und danke nochmal.“ Während ich an den Grabsteinreihen entlangeile, keift er mir hinterher: „Und lass dich hier nicht noch einmal blicken, du Rotzbengel!“ Ich drehe mich kurz um, grinse ihn an und winke. Er wedelt mit seinem Krückstock durch die Luft. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um Drohgehabe handelt oder um einen Abschiedsgruß. Ich gehe von Letzterem aus. Kapitel 9: Kapitel 9 -------------------- Ich brauche einen ruhigen Ort, an dem ich das Ritual vorbereiten kann. Ich darf unter keinen Umständen einen Fehler machen. Es könnte verheerende Konsequenzen haben, wenn ich etwas Falsches tue. Finkelsteins Labor ist leer. In einem der Hinterzimmer finde ich Fiona. Sie hat sich schrecklich zugerichtet und letztendlich die Waffe gegen sich erhoben. Im Labor wische ich die letzten Arbeiten des Wissenschaftlers vom Tisch. Die Glasgefäße gehen geräuschvoll zu Bruch. Ich nehme ein Sauberes aus einem der Hängeschränke und erhitze darin Wasser. Von draußen vom Platz habe ich einen Finger von Finkelstein mitgebracht, den ich dazugebe. Dann nehme ich eines der Skalpelle aus der Schublade und ritze in meine Handfläche. Ich spüre nichts mehr. Kein Schmerz der Welt könnte so sehr weh tun wie Shocks bohrender Blick in dem Moment, als sie von meinem Verrat erfuhr. Mein Blut tröpfle ich ebenfalls in das Gefäß. Danach durchforste ich die Zimmer auf der Suche nach einem Stift und etwas Papier. In Finkelsteins Büro werde ich fündig. Ich schreibe zwei Namen auf das Blatt, Oogies und meinen, verbrenne es und sammle die Asche, die zum blutroten Gemisch im Labor dazukommt. Noch einmal umrühren und fertig ist meine einzige Waffe gegen diesen Bastard. Mehr kann ich nicht ausrichten. Zu mehr bin ich nicht fähig. Nachdem ich das Gebräu in eine Phiole gefüllt und verkorkt habe, eile ich schnell zur Fabrik. Ich wüsste nicht, wo Oogie sonst sein sollte. Als ich ankomme, steht Oogie zwischen den veralteten Maschinen und hat seine Hand an Shocks Gurgel. Sie hängt einige Zentimeter über dem Boden und keucht. Ihr Gesicht ist blau angelaufen und ihre Arme rudern wild durch die Luft. Ich werfe eine Rohrzange in Oogies Richtung, die lautstark neben ihm zu Boden geht. Sofort sieht er mich, grinst sein schönstes Grinsen und schleudert Shock zur Seite. Bewusstlos bleibt sie liegen, wo sie aufkommt. „Oh, wie schön. Du beehrst uns mit deiner Gegenwart. Shock und ich hatten schon befürchtet, du kämst nicht mehr zu unserer kleinen Party.“ Ich würde ihm gern soviel an den Kopf werfen, soviel Schmerzen zufügen wie nur irgend möglich, ihn leiden sehen wie er uns hat leiden lassen. Ich kann einfach nichts mehr sagen. Ich kann nur in meine Hosentasche greifen, die Phiole hervorholen und sie Oogie entgegenschleudern. Sie trifft ihn auf der Brust und zerbirst. Oogie schaut an sich hinab und wirft mir dann einen mitleidigen Blick zu. „Wir sind beim Showdown und alles was dir einfällt, ist mich mit dem Essen von gestern zu bewerfen? Schäm dich, Lock. Ich hatte mehr von dir erwartet.“ Er grinst. Warts nur ab, das Grinsen wird dir gleich vergehen. „Ich dachte, ich hätte dir beigebracht wie man Leute WIRKLICH beseitigt. Darin hast du doch schon Übung.“ Mit einer beiläufigen Geste wischt er sich die Glassplitter vom Hemd, auf dem jetzt nur noch ein großer roter Fleck zu sehen ist. Er geht zu einem Käfig seiner geliebten kleinen Monster und sperrt ihn auf. „Guten Hunger, meine lieben Kinder.“ Die Monster schießen daraus hervor und direkt auf mich zu. Oogie kontrolliert sie; sie wissen nicht, dass ich noch vor wenigen Tagen ihre Wunden geheilt habe. Es interessiert sie nicht. Mich auch nicht. Ich schließe die Augen. Es ist mir sehr egal. Ich habe meine Aufgabe erledigt. Ich büße. Jetzt muss ich nur noch warten. Die Monster geben ein ohrenbetäubendes Lechzen und Kreischen von sich, während sie in meine Richtung hasten. Ich warte, aber nichts geschieht. Ein lautes, zerreißendes Geräusch, etwas heißes Feuchtes trifft mich und dann ist es still. Ich öffne die Augen wieder. Die Kreaturen liegen zerfetzt am Boden. Die Einzelteile, aus denen sie ursprünglich bestanden hatten, sind auseinandergeplatzt und liegen überall verstreut. Ihr Blut benetzt die Maschinen, den Boden, selbst die einige Meter entfernte Shock hat einen Blutschwall abbekommen. Es tropft auch von meinem Gesicht. Schnell schaue ich zu Oogie, der vollkommen verblüfft dasteht und auf die Stelle starrt, an denen seine Lieblinge geplatzt sind. Dann fixiert er mich mit schmalen Augen. „DU…“ In blinder Wut stürmt er auf mich los. Es muss ihn fuchsen, dass er sich nun doch selbst die Finger an mir schmutzig machen muss. Er streckt die Hände beim Laufen nach mir aus, aber bevor er mich erreicht, stockt er und erbricht Blut. „Was…“ Er starrt auf seine Hände und erbricht sich erneut. „…passiert hier?“ Noch eine Flut Erbrochenes, aber dieses Mal kein Blut, sondern Geziefer. Tausende von Käfern kriechen aus seinem Mund und seiner Nase. Seine Augen weiten sich angsterfüllt. „NEIN! Wie kann…“ Es ist fast ein Kreischen. Noch einmal und noch einmal und noch einmal erbricht er sich. Und dann ist es nur noch ein Röcheln. Er kriecht auf allen Vieren über den Boden. Dann ersterben die Geräusche von ihm. Sein Körper sinkt leblos in sich zusammen. Augenblicklich zerfällt er zu Staub. Endlich ist es geschafft. „Ist er jetzt wirklich tot?“ Ich schaue nach links. Shock richtet sich zitternd auf und sieht mich unsicher an. Ich weiche ihrem Blick nicht aus. Jetzt nicht mehr. „Dieses Mal gibt es für ihn keine Möglichkeit zurückzukommen.“ Ich lächele. Ich bin so erleichtert, ich kann nicht anders. Ein Stein, nein, ein ganzer Berg fällt mir vom Herzen. Ein Kreischen. Shocks Augen sind aufgerissen, sie starren auf meinen Arm. Ich folge ihrem Blick. Die Haut reißt auf. Blut, immer mehr Blut tritt daraus hervor. Auch der andere Arm sieht so aus und ich fühle die Risse unter meinem Shirt und der Hose und in meinem Gesicht. „Ach ja, da war ja was.“ Erschöpft taumele ich rückwärts gegen einen Betonpfeiler. Das hatte ich fast vergessen. Das Gegenopfer. Shock eilt herbei, reißt den Ärmel ihres Pullovers ab und versucht verzweifelt, ihn auf die Wunden zu pressen. „Du musst das hier festhalten und draufdrücken, hörst du? Wir müssen die Blutung stillen...!“ „Hör auf damit.“ Ich schiebe die Stofffetzen fort. „Es hat keinen Sinn.“ Meine Stimme klingt seltsam. Entspannt, gelöst. Ich kann nicht anders. Es ist alles rot gefärbt. Jetzt ist alles gut. Ich halte ihre aufgeregten Hände fest und zwinge sie mich anzusehen. „Jetzt ist alles gut.“ sage ich ihr ruhig. „So soll es sein. Der Zauber, der ihn erledigt hat, wirkt nur, wenn man ein Gegenopfer bringt. Etwas, das einem lieb und teuer ist. Ich hätte auch dich opfern können, du bist am Allerwichtigsten.“ Es fällt mir schwer zu sprechen, ich bin schrecklich müde. „Aber dich und alle anderen hab ich schon einmal geopfert, meinen eigenen Hintern dagegen hab ich bisher am Besten beschützt. Der erschien mir irgendwie passender.“ Ich lächele. Barrel hechelt, als er bei der Fabrik ankommt. Verzweiflung macht sich auf seinem müden Gesicht breit, als er Shock und mich so sieht. „Hat er wieder Dummheiten gemacht?“ fragt er leise und sieht mich traurig an, während er sich neben Shock auf dem Boden niederlässt. „Große. Sieh dir doch nur diese Sauerei an! Das kriegen wir doch nie wieder weg!“ Stumme Tränen fließen über ihre Wangen, aber ihre Stimme ist fest und klar und sie lächelt zurück. Ich kann ihre Hände nicht länger festhalten, mir fehlt die Kraft. Meine Hände sinken auf meine Brust. „Du bist ein Dummkopf. Ein Idiot. Ein Hornochse sondergleichen! Ein großer, großer Riesenarsch! Mit Ohren!“ Die Beiden lachen und weinen gleichzeitig, ich kann das Lächeln nicht lange halten. Meine Augenlider sind schwer. „Das weiß ich doch, erzähl mir was Neues, du verrückte Ziege.“ flüstere ich. Barrel boxt behutsam meine Schulter. „Und glaub ja nicht,“ fügt Shock hinzu, „dass du dich so leicht aus der Affäre ziehen kannst, du Blödmann!“ „Schon klar. Ich fang dann mal an aufzuräumen.“ Ich versuche zu lächeln, aber es gelingt mir schon nicht mehr. Sie ist immer noch das dumme Mädchen, in das ich mich verliebt habe. Immer noch eine rechthaberische Kuh, die sich von niemandem etwas sagen lässt. Eine außergewöhnliche Ziege mit einem Dickkopf und dem wunderschönsten Lächeln. „Da ist noch eine Sache, die ich dir sa… sagen… muss…“ "I will die alone and be left there. Well I guess I'll just go home, Oh God knows where. Because death is just so full and mine so small. Well I'm scared of what's behind and what's before." („After the storm“ by Mumford and Sons) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)