Ausbalanciert von Wintersoldier ================================================================================ Kapitel 1: Gestörtes Gleichgewicht ---------------------------------- ◦ ◦ ◦ Wütend stopfte Moira das Buch, in welchem sie zuvor noch geblättert hatte, zurück in die Lücke im Regal, und stieg auf der Leiter wieder eine Sprosse tiefer, um die nächsten Einbände zu überfliegen. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie viele Bücher sie inzwischen alleine in den letzten Tagen gelesen hatte, auf der Suche nach einer einzigen Information, die jedoch bisher unauffindbar blieb. Dabei befand sie sich in einer der größten Bibliotheken des Landes. Als Moira sie als kleines Mädchen das erste Mal betreten hatte, war sie erstaunt gewesen und hatte sich sofort in diesen Ort verliebt, an dem sich ein Buch an das nächste reihte und die Möglichkeiten endlos schienen. »Das kann doch einfach nicht wahr sein«, fluchte sie, ehe sie die Leiter wieder hinabstieg und sich an den kleinen Tisch setzte, auf welchem sich mehrere Bücher, offen und geschlossen, stapelten. Moira nahm sich ein Buch, welches links von ihr lag, und begann erneut, die einzelnen Seiten zu überfliegen, in der Hoffnung, vielleicht etwas übersehen zu haben. »Moira«, erklang eine leise Stimme, »ich hab dir doch bereits gesagt, dass es noch nie passiert ist. Und über Dinge, die noch nie passiert sind, wirst du hier keine Schriften finden, weil noch niemand sie geschrieben hat.« »Carys, ich will dir doch nur helfen«, antwortete Moira und sah zu ihrer Freundin. Carys war klein, um nicht zu sagen winzig, und saß auf einem Buch, dessen Seite sie eben mit Mühe umgeblättert hatte. Ihr dunkelviolettes Haar, welches sonst ordentlich zusammengebunden war, war etwas zerzaust und ihr Kleid nicht ganz so einwandfrei wie gewöhnlich. Die Schmetterlingsflügel auf ihrem Rücken hatten ihren Glanz verloren, ihren Schimmer, und schienen mit jedem Tag ebenso ein wenig mehr Farbe zu verlieren. »Vielleicht kannst du mir aber gar nicht helfen.« Moira faltete ihre Arme vor sich und stützte ihren Kopf darauf ab, um Carys besser sehen und ihre Mimik genauer erkennen zu können. »Vermutlich kommt meine Magie in ein paar Tagen sowieso von selbst wieder.« Während Carys Lächeln durchaus überzeugend wirkte, blieben ihre Augen traurig und besorgt und Moira wusste, dass sie an ihre eigenen Worte nicht glaubte. Dabei war Carys für gewöhnlich voller Hoffnung, Freude und Optimismus und glaubte immer an das Beste in jeder Situation. »Ich weiß, dass du Angst hast und dir Sorgen machst, aber ich lasse dich nicht alleine«, versicherte ihr Moira entschlossen, »und ich werde einen Weg finden, dir deinen magischen Feenglitter zurückzubringen, selbst wenn so etwas noch nie passiert ist und mir niemand dabei helfen kann. Also hör' auf, mich davon abhalten zu wollen. Ich bin deine Freundin deinetwegen und nicht wegen deiner Magie.« Carys' Mund öffnete sich und schloss sich wieder, ohne dass ihm auch nur ein Wort entkam. Dann, ganz langsam, fingen ihre Augen an zu glänzen und Moira wusste spätestens, als die erste Träne fiel, dass sie ihre Freundin endlich überzeugt hatte und diese endlich nachgab. Nicht nur in Bezug auf ihre Hilfe, nein, denn es ging viel mehr darum, dass sie ihre eigene Angst anerkannte. Dass sie diese nicht einfach ignorierte oder verdrängte oder es hinnahm, sondern dagegen ankämpfte. Dass sie gewillt war, etwas zu unternehmen. Moira sagte nichts mehr, bis Carys kleiner Gefühlsausbruch vorbei war und sie mit ihrem Handrücken die Tränenspuren von ihrem Gesicht wischte, endlich wieder mit einem ehrlichen Lächeln auf dem Gesicht, bei dem auch ihre leicht geröteten Augen wieder strahlten. Und genau dieses Lächeln animierte auch Moira dazu, zu lächeln, denn es bedeutete, dass da noch Hoffnung war. »Ich seh' katastrophal aus«, verkündete Carys plötzlich ernst, als ihr zum ersten Mal seit Tagen bewusst wurde, wie sie aussah, während sie ihr Kleid glatt strich und ihre Reflexion zweifelnd in Moiras Auge begutachtete. »Wie konntest du mich nur so herumlaufen lassen?« Moira lachte. »Ja, was bin ich nur für eine schreckliche Freundin.« - • • • - Einige Stunden später saßen Moira und Carys immer noch in der Bibliothek. Die Bücher auf ihrem Tisch hatten sich in ihrer Anzahl verdoppelt und einige Stapel hatten bereits keinen Platz mehr auf dem Tisch und standen daher auf dem Boden; zumeist diejenigen, welche sie bereits gelesen hatten, für die sie aber keine Zeit hatten, sie wieder wegzuräumen. Moira hatte das Gefühl, nach allem, was sie gelesen hatte, mehr über die Geschichte und Magie der Feen zu verstehen als manch eine Fee, besonders nachdem sie herausgefunden hatte, dass selbst Carys einige Dinge nicht wusste und mit Erstaunen aufnahm. Dennoch stand nirgendwo etwas darüber, dass eine Fee ihre Magie verloren hätte oder wie sie diese zurückerlangen könnte. Es gab auch keinen Hinweis auf irgendeine Krankheit, weder bei den Feen, noch bei anderen magischen Wesen ähnlicher Abstammung, die unter besonderen Umständen vielleicht dazu führen könnte. Es war inzwischen Nacht, aber sie waren bei weitem nicht die Einzigen, die sich noch hier aufhielten und in ihre Recherche vertieft waren, und Moira fragte sich, ob es einen Zusammenhang gab, denn normalerweise waren zu so später Stunde wesentlich weniger Menschen anwesend (und Moira war häufig genug hier, um diesen Vergleich ziehen zu können). Und wenn es einen solchen Zusammenhang geben würde, dann würde es nicht an Carys liegen oder an ihrer Magie, sondern... »Erzähl' mir noch einmal, was du mit dieser Magieverschiebung meintest«, platzte es plötzlich aus Moira heraus, der erst jetzt wieder eingefallen war, dass Carys darüber gesprochen hatte. Sie hatte es abgetan, weil sie keinerlei Veränderung gespürt hatte, weil ihre Magie unverändert gewesen war. Damals dachte sie noch, es wäre vielleicht ein Scherz gewesen und Carys wollte sie wieder damit aufziehen, dass sie der Magie näher war, aber jetzt kam ihr der Gedanke, dass es vielleicht etwas anderes gewesen sein könnte. »Was?«, hakte Carys verwirrt nach und blickte von dem Satz auf, mit dem sie sich gerade beschäftigt hatte, im ersten Moment nicht ganz verstehend, was Moira meinte. »Vor ein paar Tagen, kurz bevor deine Magie langsam schwand, hast du gesagt, du hättest eine Art Magiewelle gespürt«, erklärte Moira ihre Gedanken und setzte sich wieder auf ihren Stuhl, »als wäre etwas passiert und du könntest nicht genau sagen, was.« Carys ging ein paar Schritte die Seite hinunter, um sich an das Buchende setzen zu können und ihre Beine baumeln zu lassen. »Ach, du meinst die Unterhaltung, bei der du der Ansicht warst, ich hätte es mir nur eingebildet, weil etwas Konstantes wie die Magie nicht so einfach aus dem Gleichgewicht gebracht werden könnte?« »Genau die Unterhaltung«, bestätigte Moira und überging dabei bewusst die offensichtliche Anspielung. »Du hast mir nie erzählt, was du eigentlich meintest.« Fast hätte Carys etwas geantwortet wie Du wolltest es auch nicht hören, aber Moira schien so ernst bei der Sache zu sein, dass sie sich diesen Kommentar verkniff und gleich eine anständige Antwort gab. »Stell dir vor, wie sich deine Magie anfühlt. Diese innere Vibration, diese Verbindung zu dem, was uns umgibt. Stell es dir als eine Art Schwingung vor, eine Welle. Stetig und allgegenwärtig. Du kennst sie dein Leben lang, doch für diesen einen Moment schlägt sie aus, als hätte etwas ihre Ruhe, ihren Fluss, gestört und es fühlt sich falsch an. Weil du weißt, dass es nicht so sein sollte. Nach wenigen Augenblicken nimmt sie ihren alten Rhythmus wieder an, doch obgleich du deine Welle, deine Magie, wieder fühlst, hat sich doch etwas verändert, auch wenn du nicht sagen kannst, was oder warum.« »Und deine Magie hat sich verändert?« Carys seufzte. »Ich verliere meine Verbindung zu ihr, deshalb kann ich es nicht wirklich sagen, weil ich sie nicht mehr so ausgeprägt spüre wie sonst. Als würde ein Teil fehlen und nicht mehr bei mir ankommen.« »Und«, setzte Moira nachdenklich an, »was, wenn das nicht an dir liegt oder deiner Magie, sondern der Magie grundsätzlich? Was, wenn an ihrer Wurzel etwas kaputt gegangen ist? Wenn sie sich verändert hat?« »Das würde dich auch betreffen«, entgegnete Carys. »Deine Magie hätte sich auch verändert, aber du spürst überhaupt keinen Unterschied.« »Vielleicht hat es deinen Magiezweig mehr betroffen als meinen. Oder ich spüre es einfach noch nicht.« Moira dachte einen Moment darüber nach, war aber überzeugt von ihrem aktuellen Gedankengang. Es musste einfach so sein. »Du sagst doch immer, dass du näher an der Magie bist als ich, da wäre es doch logisch, dass du früher und leichter betroffen bist, wenn mit der Magie etwas nicht stimmt. Und dass ich es nicht spüre, wenn sich nur eine klitzekleine Kleinigkeit ändert. Du bist einfach empfänglicher dafür.« »Moira, ich glaube, du legst dir da gerade etwas zurecht«, antwortete Carys ruhig und versuchte ihre Freundin davon abzuhalten, sich in etwas hineinzusteigern. Und Moira steigerte sich gerne und schnell in etwas hinein, wenn sie davon überzeugt war und in alle anderen Richtungen auf eine Sackgasse stieß. Moira lächelte jedoch nur begeistert, sprang auf und begann auf und ab zu gehen. »Ich glaube viel mehr, dass wir gerade die Lösung gefunden haben. Es ist das Einzige, was Sinn hat. Siehst du es denn nicht?« »Nein.« Carys sah sie zweifelnd an. »Doch selbst wenn, was würdest du dagegen machen wollen? Die Wurzel der Magie ist nichts Greifbares, nichts Materielles, was man eben repariert, wenn es kaputt geht.« Moira hockte sich vor den Tisch und bettete ihren Kopf wieder auf ihren Armen, sodass sie Carys besser sehen konnte und mit ihr auf Augenhöhe war. »Ich glaube nicht, dass die Wurzel kaputt ist. Zumindest nicht wirklich oder wortwörtlich. Sie hat sich nur verändert, weshalb du deinen Bezug zu ihr verloren hast. Ich habe über die Geschichte der Magie gelesen; in dutzenden Büchern. Und in allen ging es darum, dass man einen Zugang zur entsprechenden Magie finden musste, einen Zweig, den man nutzen konnte.« »Ja, aber meinen Magieteil, den ich verliere«, fing Carys an, immer noch alles andere als überzeugt von Moiras Theorie, »das bin ich. Es ist nichts, was ich jemals finden musste, sondern was schon immer zu mir gehörte. Sie macht mich aus. Sie macht mich ganz. Vollständig. Komplett. Magischer Glitter ist etwas, was mich als Fee ausmacht. Was ist eine Fee denn schon ohne ihren Glitter? Ich kann nicht einmal mehr fliegen, weil meine Flügel mich kaum tragen, dabei ist das Fliegen für uns so natürlich wie das Atmen.« »Du bist mehr als dein Glitter«, erwiderte Moira verständnisvoll. »Warst du schon immer und wirst du immer sein. Und du hast deine Flügel noch, also wirst du auch wieder fliegen.« »Ohne meinen Glitter werde ich höchstens fallen«, versicherte Carys ernst. Moira lächelte. »Dann werde ich dich auffangen, solange es nötig ist.« Carys atmete tief ein und wieder aus. Sie kannte Moira lange genug, um zu wissen, dass es nichts brachte, zu versuchen, sie von etwas abzubringen, wenn sie es sich erst einmal in den Kopf gesetzt hatte. Moira war stur. Sie verfolgte einen Plan immer bis zum Ende; oder zumindest bis zu dem Punkt, an dem sie einsehen musste, dass sie einen neuen Plan brauchte. Und davon war Moira noch weit entfernt. Zudem sagte eine leise Stimme in Carys' Kopf ihr, dass sie recht haben könnte. Obwohl Carys ziemlich sicher war, dass diese Stimme nur daher kam, dass es einfacher wäre, zu sagen, dass es an der Magie lag und sich von selbst wieder einrenken würde. Mit der Zeit. Einfacher als zu wissen, dass es an ihr lag. Dass sie es war und es nicht zu reparieren war, weil da nichts zum Reparieren war. »Gut«, gab Carys also nach, wie sie es immer machte, wenngleich normalerweise mit mehr Motivation, und rutschte von dem Buch, auf welchem sie die ganze Zeit gethront hatte. »Was machen wir also als nächstes?« »Wir gehen zum Schleier«, legte Moira überzeugt fest und richtete sich wieder aus ihrer hockenden Position auf. Carys sah sie verwirrt an und während sie auf die ihr angebotenen Hand kletterte, fragte sie: »Wieso das?« »Ich hab in einem Buch die Theorie gelesen, dass der Schleier die Magie der einstigen Welt trennt, weil die Magie für eine Welt zu viel war und sie ins Chaos gestürzt hat.« Auf Carys' zweifelnden Blick hin lachte Moira und hob ihre Freundin zu ihrer Schulter. »Ja, ich weiß, es klingt absurd. Aber der Schleier ist die mächtigste Magiequelle, welche ich kenne. In seiner Nähe dürfe soviel Magie fließen, dass, selbst wenn du deinen Bezug verloren hast, du ihn vielleicht wiederfinden kannst, weil er dort lauter ist. Und außerdem liegen dort die Häuser von Isis. Solltest du wirklich krank sein und deshalb deine Magie verlieren, sind sie vermutlich die einzigen Hexen, die dir helfen können.« »Also gibst du zu, dass es durchaus an mir liegen könnte?«, wollte Carys wissen, während sie von Moiras Hand auf deren Schulter ging und es sich dort bequem machte. »Ich schließe es zumindest nicht vollkommen aus.« - • • • - Bis zu den Häusern von Isis war es ein langer Weg, der Moira und Carys über drei Wochen kostete. Drei Wochen, in denen Carys' Flügel ihre Farbe vollkommen verloren und nur noch transparent und zerbrechlich an ihrem Rücken hingen. Ab und an flatterte Carys mit ihnen und versuchte Moira zuliebe ihre Magie wiederzufinden und wieder zu fliegen; und obgleich die Flügel inzwischen unglaublich verletzlich aussahen, schaffte Carys es unter großer Anstrengung sich teilweise in der Luft zu halten, allerdings hatte dies nichts mit ihrer Magie zu tun, sondern viel mehr mit guten Windverhältnissen und würde über Dauer nicht ausreichen, wenn Carys sich nicht ihr Leben lang von Moira tragen lassen wollte. Als sie sich den Häusern von Isis endlich näherten, wurde den beiden etwas mulmig, denn während sie davon ausgegangen waren, bereits im Wald ein paar der Schwestern, die auf Kräutersuche waren oder einfach nur Luft schnappten, oder auch Menschen, die gerade von den Häusern kamen, zu treffen, begegnete ihnen in der Realität niemand. Zudem war es beunruhigend ruhig, und so befragte Moira ihre Runen mehrere Male, ob sie tatsächlich noch auf dem richtigen Weg waren. Sie bestätigten es ihr jedes Mal, doch um auf der sicheren Seite zu sein, überprüfte Moira sogar, ob ihre eigene Magie noch funktionierte oder sie diese zwar noch spürte, aber nicht mehr nutzen konnte. Offensichtlich war mit ihrer Magie alles in Ordnung (woraufhin Carys sie kurz sehnsüchtig und traurig ansah), aber selbst diese Sicherheit nahm ihr ihre Zweifel nicht. Irgendetwas war falsch. Carys blieb ebenfalls unruhig, aber da sie beide nicht ausmachen konnten, was genau es war, gingen sie weiter. Würde etwas passiert sein, würden sie schon früher oder später darauf stoßen. Wenige hunderte Schritte weiter befanden sie sich schließlich vor dem Tor zum großen, gepflasterten Hof der Häuser der Isis und ihnen stockte der Atem. Obgleich sie immer noch nicht wussten, was genau passiert war, so wussten sie wenigstens, warum ihnen niemand entgegen gekommen war. Denn hier war nichts mehr. Zumindest keine Häuser. Der Ort glich viel mehr einer Ruine, eingefallen, zerstört, verlassen. Der Torbogen, welchen man durchschritt, um auf den Grund der Schwesternschaft zu gelangen, stand noch und zeigte den Schriftzug „Häuser von Isis“, wenngleich man ihn kaum noch lesen konnte, und dies war das einzige Anzeichen für Moira und Carys, dass sie wenigstens am richtigen Ort waren, welchen sie sich wesentlich lebendiger vorgestellt hatten. Moira ging wenige Schritte auf den Hof und das dumpfe Aufsetzen ihrer Schuhe erfüllte den ganzen, ansonsten gespenstisch ruhigen Raum. Links vor sich erkannte sie einen einzelnen Baum auf dem Hof, in den ein Blitz eingeschlagen war und der daraufhin wohl Feuer gefangen hatte. Aufkommender Wind ließ kleine Steinchen von den eingefallenen Häuserwänden rieseln und pfiff durch die Löcher und Lücken. »Was ist hier passiert?«, sprach Moira schließlich ihre Gedanken aus. Sie hatte von den Häusern von Isis gehört, kannte jemanden, der erst vor kurzem dort gewesen war, und konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Schwestern ihren Grund und Boden einfach aufgaben, selbst wenn er, warum auch immer, zerstört worden war. »Das würde ich auch gerne wissen«, erklang eine weibliche Stimme links von Moira, welche daraufhin überrascht zusammenzuckte, ehe sie sich in die Richtung drehte. Carys versteckte sich halb in ihrer Halsbeuge, während sie beide die junge Frau musterten, die soeben gesprochen hatte. Sie hatte rotes Haar, welches ihr in leichten Wellen um die Schultern fiel, und Augen von einem solch tiefen Blau, dass Moira es selbst auf die wenigen Meter Entfernung erkennen konnte. Sie war von zierlicher Statur, aber sicher mindestens einen Kopf größer als Moira. Aber die Frau war nicht, was Moira die Stimme versagen und Carys interessiert ein Stück hinter Moiras Haaren hervorkommen ließ. Der Grund, weshalb Moira einen Moment nicht fähig war, irgendetwas zu tun, war viel mehr das große, schuppige Etwas, welches neben ihr stand, als würde es genau dort hingehören, während ihre eine Hand auf seinem Hals lag und den Kontakt nie verlor. Auch nicht, als sie wenige Schritte zu dem abgebrannten Baum ging, um ihre freie Hand darauf zu legen, als ihre Augen einen traurigen Ausdruck bekamen, und er ihr automatisch folgte, nicht von ihrer Seite weichend. Moira hatte noch nie einen echten Drachen gesehen, sondern bisher nur über diese gelesen und war ab und an in einigen Büchern über eine Zeichnung gestoßen, aber keine Zeichnung hätte sie darauf vorbereiten können, was dort vor ihr stand. Seine Schuppen glänzten tiefbraun, wo die Sonnenstrahlen sie erwischten, ansonsten wirkten sie fast schon schwarz. Sein langer Schwanz lag ruhig hinter ihm, während sein Hals sich kurz streckte, damit er den Ort besser übersehen konnte, ehe er seinen Kopf wieder senkte und plötzlich Moira fixierte, mit braun-goldenen Augen, deren Ausdruck seiner ansonsten gefährlichen Statur und Ausstrahlung eine komplett neue Komponente gaben. Seine Flügel angezogen, wirkte er fast schon klein – zumindest wenn Moira sich verstellte, welche Ausmaße er wohl hätte, wenn er sich vor ihr aufbauen würde (sollte er es machen, würde sie wahrscheinlich einfach umkippen). »Er hat es nicht so gern, wenn man ihn anstarrt«, erklang wieder die Stimme der Frau, welche ihren Blick wieder von dem Baum gelöst hatte. »Ihr seid?« Moira überlegte einen Moment, was sie sagen sollte, besonders in Hinblick auf die Situation, in welche sie sich befand, kam jedoch zu dem Schluss, dass sie hier nicht Frage-und-Antwort stand, nur weil die junge Frau ein übergroßes Haustier besaß, und verschränkte ihre Arme. »Ich wüsste nicht, dass ihr Euch vorgestellt hättet.« »Nun«, fing die Angesprochene an, dem Klang ihrer Stimme nach offensichtlich nicht beleidigt, dass Moira ihre Frage nicht direkt beantwortet hatte, »ich bin Skye. Und um Eure nächste Frage zu beantworten, ich bin auf der Suche nach meiner Schwester, die eigentlich hier sein müsste.« »Moira. Und ich hatte gehofft, hier Hilfe für meine kleine Freundin zu bekommen.« Bei diesen Worten kam Carys wieder komplett aus ihrem Versteck, lächelte freundlich und setzte sich gut sichtbar auf Moiras Schulter, da zumindest für den Moment von den beiden vor ihnen keine Gefahr ausging. »Oh, eine Fee«, stieß Skye begeistert aus, ehe sie wieder ernst wurde, »was fehlt ihr denn?« »Magie.« »Ah.« Skye tauschte einen Blick mit ihrem Drachen. Hätte Moira es für möglich gehalten, hätte sie vermutet, dass sie sich unterhielten, ehe Skye ihren Blick wieder Carys und ihr zuwandte. »Ja, so etwas hatten wir... oder viel eher er sich schon gedacht. Hängt wahrscheinlich mit dem Zusammenbruch des Schleiers und der dadurch hervorgerufenen Vermischung der -« »Was?« Skye sah sie verwirrt an. »Was was?« »Wieso sollte der Schleier zusammenbrechen?«, formulierte Moira ihre Frage aus, nicht verstehend, wie so etwas passieren könnte. Warum es passieren sollte. Sie kannte niemanden, der genug magische Macht besaß, um einen derart starken Bann zu brechen. Und sie hatte auch noch von niemandem gehört, der dazu fähig wäre. »Weil diejenigen, die dafür verantwortlich waren, ihn aufrecht zu halten, verstorben sind?«, antwortete Skye fragend, ehe ihr einfiel, dass sie selbst vor wenigen Wochen ebenso wenig über den Schleier wusste und dieselben Fragen gestellt hätte. »Okay, das ist vielleicht etwas schwierig zu verstehen. Mir musste er hier es auch ein paar Mal erklären, bis ich es komplett durchsch -« »Du willst mir sagen«, unterbrach Moira Skye, ohne groß darüber nachzudenken, dass es etwas unhöflich erscheinen könnte, »dass der Schleier nicht mehr existiert und was immer auf der anderen Seite war, jetzt zu uns kann?« »Das konnten sie vorher auch schon«, stellte Skye richtig. »Aber ja. Und obwohl das ein Teil des Problems ist, ist es vermutlich nicht der größte Teil.« Moira sah sie ungläubig an. »Was hat das zu bedeuten?« »Was deiner kleinen Freundin passiert ist, passiert vermutlich gerade in der ganzen Welt. In beiden Teilen. Nicht bei allen, denn einige werden ihren Zugang zur Magie relativ schnell wiederfinden; andere machen es intuitiv. Aber bei einem Großteil wird es nicht so leicht sein oder sie werden nicht die Zeit dafür haben.« Skye seufzte und legte ihre Hand noch einmal auf den Baum neben sich. »Viele werden das Problem vermutlich noch gar nicht erkannt haben, ehe es schon zu spät für sie ist.« »Soll das heißen«, erklang Carys' Stimme und Skye hätte sie im ersten Moment fast überhört, »soll das heißen, dass meine Magie zurückkommt?« »Es spricht nichts dagegen«, versicherte Skye ihr mit einem kleinen Lächeln, »immerhin ist sie immer noch da, du musst sie nur suchen oder es auf dich zukommen lassen. Vielleicht wirst du sogar von der neuen Intensität überrascht, wenn es erst einmal so weit ist.« Moira lächelte aufgrund dieser Tatsache innerlich bis über beide Ohren, verkniff sich jedoch jeden Ich-hab's-dir-doch-gesagt-Kommentar, obwohl sie bisher noch nie derart das Recht dazu gehabt hätte. Selbstverständlich freute sie sich sowieso mehr darüber, dass es Carys gut gehen und sie wieder die Alte werden würde, als darüber, dass sie recht hatte. Abgesehen davon beschäftigte sie jetzt, wo das geklärt war, eine andere Frage. »Was... was werdet Ihr nun machen?« Skye sah sie aufgrund der Frage überrascht und ein wenig überrumpelt an; vermutlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass Moira sich dafür interessieren könnte. »Meine Schwester suchen.« »Ihr glaubt, es geht ihr gut?«, hakte Moira nach. »Ich wüsste, wenn es nicht so wäre.« Auf Skyes Gesicht legte sich ein Lächeln der Zuversicht. »Und außerdem hat der Große hier versprochen, mir zu helfen, daher... ich werde sie schon finden. Selbst wenn ich dazu jeden Winkel dieser und der anderen Welt durchsuchen muss.« »Dann wünsche ich Euch viel Glück.« Moira lächelte aufmunternd und zögerte einen Moment, ehe sie hinzufügte: »Solltet ihr Hilfe brauchen...« »Komme ich auf Euch zurück«, versicherte Skye. »Und ich bin mir sicher, dass man sich immer zweimal sieht, daher... ach, und nicht alle Drachen sind so zahm wie dieser hier, also lasst Euch davon nicht täuschen, solltet ihr mal einem begegnen. Und solltet ihr eine Nixe treffen, lasst Euch nicht von ihr einlullen, die sind nur halb so naiv wie sie tun. Und -« »Ihr scheint einiges mit Eurem... Freund erlebt zu haben«, unterbrach Moira ihren Redefluss, bevor Skye richtig loslegen konnte. Ihr war nicht entgangen, wie der Drache mit den Augen gerollt hatte, als sie angefangen hatte, zu erzählen – zumindest kam es ihr so vor, aber vermutlich versuchte sie nur seine Mimik in irgendeiner Weise zu deuten, um ihn ein wenig zu verstehen und einschätzen zu können. »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie viel Ärger ich ihm gemacht habe.« Der Drache schnaubte und Moira musste lachen. Erst jetzt wurde ihr wieder bewusst, dass Skye während ihrer ganzen Unterhaltung ihre Hand, welche an seinem Hals lag, nicht einmal dort wegbewegt hatte, selbst wenn sie mit der anderen angefangen hatte, zu gestikulieren. Moira verstand es nicht ganz, war aber sicher, dass es einen Grund hatte. »Vielleicht wollt ihr mir davon erzählen«, schlug Moira vor, »denn ich vermute, dass wir heute Abend nicht mehr weiter ziehen werden und Ihr seht auch nicht so aus, als würdet ihr Euch sofort wieder auf den Weg machen.« »Ja,... nein,... eigentlich«, fing Skye zögerlich an, schien es sich jedoch anders zu überlegen, bis sie entschlossen antwortete: »Gern.« »Gut. Wir können Euch morgen auch gerne noch helfen, nach Hinweisen zu suchen, was hier passiert ist. Carys ist gut in solchen Sachen, weil sie meistens Dinge sieht, die vielen entgehen«, lächelte Moira und konnte im Augenwinkel sehen, wie Carys mit dem Kopf nickte. Skye sah zu ihrem Drachen und Moira war sich inzwischen ziemlich sicher, dass die beiden sich unterhielten. »Das wäre wirklich sehr nett«, erwiderte sie schließlich. »Aber zunächst sollten wir einen Platz zum Übernachten suchen.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)