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Im Feuer der Vergangenheit

[Buch 1]
von

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Gestohlene Zeit

Prolog

Gestohlene Zeit
 

LOS ANGELES, 1961
 

Außer ihnen beiden war niemand sonst in der kleinen Straße unterwegs und der Mond ließ ihre Schatten vor ihnen herlaufen. Durch Rhiaras lange Haare fuhr die leichte Nachtluft, was sie erfreut genoss. Die längliche Straße war nicht sonderlich stark erhellt, aber das sollte sie nicht weiter stören. Sie versuchte, das Lächeln zu unterdrücken, das in ihr aufkam, als sie zu dem Jungen schaute, der neben ihr den Weg entlanglief. Er bemerkte ihren Blick nicht, sondern schaute einfach nur nach vorne. Sie meinte, in seiner Miene zeichnete sich ein grüblerischer Ausdruck ab.

„Das war … klasse“, sagte Rhiara schließlich leicht zögerlich. „Das müssen wir unbedingt mal wiederholen.“ Eine einfache Feier an einem Abend wie jeder andere auch – an sich nichts Besonderes, wäre sie nicht mit ihrem besten Freund Reece unterwegs gewesen.

Er wandte sich ihr zu und lächelte so herzlich, dass es ihren Herzschlag in die Höhe trieb. „Aber selbstverständlich müssen wir das“, bestätigte Reece. Er schlang während des Laufens einen Arm um sie herum und streichelte ihr fast beruhigend über die Schulter. „Wieso bist du denn so nervös?“

„Du hast das bemerkt?“ Die Ungläubigkeit, die aus ihrer Stimme sprach, war nicht zu überhören. Niemand verstand Rhiara besser als er. Möglicherweise würde er eines Tages anfangen, ihre Gedanken zu lesen.

Unglaublich, dass sie ihm immer noch nichts gesagt hatte. Nachdenklich biss sie sich auf die Zunge. Wie lange konnte sie es noch herauszögern, ohne dass er Verdacht schöpfte?

Ein kurzes Lachen stahl sich über Reece‘ Lippen. „Na klar. Was denkst du denn? Wenn ich es nicht merke, wer dann?“

„Ach, du …“ Lachend und kopfschüttelnd brach sie selbst ab. In der Straße war es so kühl und verlassen, dass Rhiara das Gefühl nicht loswurde, jemand beobachte sie. Sie gab sich nicht weiter dem Gefühl hin und achtete wieder auf ihren besten Freund.

„Ich muss dir etwas sagen“, verkündete Reece.

Jegliche Aufmerksamkeit war nun bei ihm. Rhiaras Augen hatten sich unwillkürlich bei diesen Worten geweitet. Was mochte er ihr wohl sagen wollen, dass er so ernst klang? Vielleicht … Vielleicht war jetzt endlich der richtige Zeitpunkt, um ihm ihrerseits etwas zu gestehen? Aber es gab so viel, das sie ihm sagen wollte. Es schien ihr, als renne ihr die Zeit nur so davon.

„Was denn?“, fragte sie neugierig nach.

Er schaute sie nicht an, als er sprach. Trotzdem ahnte ein Teil von ihr, dass er sich überwinden musste, weiterzureden. Er war nicht der Typ, der gerne über die Gefühle sprach, die er nur ganz tief drinnen fühlte. „Das mag vielleicht schwachsinnig klingen … und ich weiß, dass wir uns erst knapp zwei Jahre kennen, aber …“ Zwischen der Entscheidung, weiterzusprechen oder einfach abzubrechen, blieb er kurz hängen. Aus dem Augenwinkel fiel Rhiara auf, dass Reece sich mit Nachdruck auf die Unterlippe biss.

Plötzlich blieb er stehen. Seine Hand glitt von Rhiaras Schulter und umklammerte stattdessen ihre linke Hand. „Ich vertraue dir voll und ganz, Rhiara. Ich will, dass du das weißt. Und ich glaube … ich kann dir alles erzählen, ohne Angst haben zu müssen, dass du lachst.“ Unter dem bestimmenden Blick seiner Augen musste sie den Blick abwenden. Wieso musste er auf einmal so sensibel werden? Er hatte doch gar keine Ahnung, was er da eigentlich sagte.

„Ich vertraue dir“, sprach Reece weiter. „Ich weiß nicht mit Bestimmtheit, ob du mir auch vertraust, aber das ist wohl auch gut so. Das ist deine Entscheidung.“

Rhiara wollte, dass er zu reden aufhörte. Wenn er nur wüsste; sie log ihn von vorne bis hinten an. Gab es überhaupt eine Sache, die der Wahrheit entsprach? Außer ihrem Namen. „Was willst du mir denn nun sagen?“, forderte sie. Der Griff um ihre Hand erschien ihr mit einem Schlag schrecklich unangenehm.

Erst holte er tief Luft, bevor er mit einem Atemzug sagte: „Ich mag dich wirklich sehr und ich hoffe, dass du hierbleibst. Ich will dich nicht verlieren.“ Er schlug für einen Moment die Augen nieder.

Fragend schaute Rhiara ihn an.

„Du sagtest mal, es gäbe nichts, das dich hier hält. Vielleicht verschwindest du eines Tages“, erklärte er.

Der Knoten in ihrem Hals schien sich ein bisschen zu lösen. Sie schüttelte den Kopf. „Wie könnte ich denn?“ Nach kurzer Überlegung fügte sie grinsend hinzu: „Du hältst mich doch hier.“

Reece‘ Augen glänzten so erfreut, dass sie ihn einfach nur anschaute. „Rhiara, ich …“ Doch er sprach nicht zu Ende. Es kam überraschend für sie, als er sie näher zu sich heranzog. „Das mag vielleicht nicht die passendste Umgebung sein, aber das ist mir egal“, flüsterte er ihr nun entgegen.

Hatte sie vorher noch Panik gehabt, dass irgendetwas nicht stimmte, so war davon jetzt nicht mehr die leiseste Spur übrig geblieben. Fast automatisch schloss sie die Augen und neigte den Kopf leicht. Sie spürte den warmen Atem von Reece auf ihrer Haut und meinte, seine Lippen berührten schon die ihren, doch soweit sollte es nicht kommen.

Er zuckte zusammen, was auch ihren Körper dazu verleitete. Der Griff um ihre Hand verstärkte sich augenblicklich. Diese verlassene Straße war vorher im Grunde schon unheimlich gewesen, aber nun war etwas anders. Eine kühle Brise war aufgekommen und ein seltsames Scharren drang durch die Nacht zu ihnen durch.

„Hörst du das auch?“, fragte Reece unsicher.

„Ja …“ Eine unbekannte Angst schnürte Rhiara die Kehle zu. Sie hatte nicht vergessen, welche Gefahren in den Schatten der Nacht lauerten …

Ein spitzer Aufschrei war alles, was sie noch über die Lippen brachte, bevor sie eine jener Gefahren vor die Brust traf, die sie nicht auszumachen vermochte. Reece‘ Griff um ihre Hand entwich ihr mit einem Mal, was sie schmerzlich feststellte. Als Nächstes fühlte sie schon eine harte und zugleich eisige Wand im Rücken, gegen die sie der Schlag katapultiert hatte. Sie wollte etwas erkennen, doch vor ihren Augen verschwamm es nur langsam. Der Schatten, in dem sie saß, schien über sie zu fallen wie eine unheimliche Decke. Eine Decke, die sie direkt in ihren schlimmsten Albtraum bringen würde. Die Tore zwischen Bewusstsein und Ohnmacht verschwammen vollständig und Rhiara konnte es schockiert nicht verhindern. Die Welt entglitt ihr für einige Zeit.
 

Als sie geistig wieder zurück war, lag ihr Kopf auf dem kalten Steinboden. Nur benommen setzte sie sich auf. Lediglich ein paar Sekunden bedurfte es, bis sie sich wieder der Lage bewusst geworden war. Sie wollte sich schon ganz aufrichten, als etwas anderes ihre Aufmerksamkeit verlangte.

Ihr fiel Reece ins Auge. Aber nicht so, wie er sollte. Ganz und gar nicht. Durch das stetige Dröhnen in ihrem Kopf erschien es ihr fast grotesk, wie diese Gestalt ihn an der Kehle gepackt nach oben hielt. Aber alles war real, nichts ein Traum.

Eine Stimme in Rhiara schrie unwillkürlich „Vampir!“, sie solle aufstehen und ihren Freund retten, aber eine andere schrie hingegen „Nein!“ Selbst wenn sie es gewollt hätte – sie hätte nicht gekonnt.

Als das Mondlicht auf das weiße Gesicht des unbekannten Angreifers fiel, bestätigte es ihre geistige Vorahnung, es handele sich um einen Vampir. Rote Augen und spitze Eckzähne wirkten in diesem Gesicht in jenem Moment so fehl am Platz wie Reece in seinem Griff.

Sie sah, wie der Vampir etwas sagte, und musste sich anstrengen, ihn verstehen zu können. Dabei war es nicht mal laut, sondern eher … totenstill. „Tja, Kleiner. Genau aus diesem Grund sollte man sich nie mit einer Hexe anfreunden.“

Nicht einmal diese Worte konnten Rhiara wachrütteln. Hätte sie als Hexe denn nicht eigentlich etwas tun können? Ihr fiel keine Antwort ein. Sie schaffte es nicht mal, in das Gesicht der Person zu schauen, die ihr so viel bedeutete. In ihr war plötzlich nur noch Entsetzen.

„Alle Heuchlerinnen.“

Die Worte des Vampirs ließen ihr eine eiskalte Träne über die Wange laufen. Wohl wissend, was nun geschehen würde, hielt sie sich die feuchten Augen zu. Gleich darauf stellte sie fest, dass sie sich doch lieber die Ohren zugehalten hätte. Es war nur ein kurzes Knacken, aber lang genug für sie. Dieses Geräusch würde sie nie wieder vergessen. Entkräftet sank sie noch weiter in sich zusammen. Ließ den willkommenen Tränen nun freien Lauf.

Erst nach einer halben Ewigkeit, als alles mucksmäuschenstill schien, schaute Rhiara langsam auf. Wie erwartet war der Vampir verschwunden. Nicht so das, was er zurückgelassen hatte. Sie schaffte es, auf die zittrigen Beine zu kommen und schlich halb aus den Schatten. Fast wie betäubt lief sie zu der Gestalt, die auf dem Boden lag, so schrecklich falsch. Verloren sank sie vor ihr auf die Knie.

„Reece …“, wisperte sie, obwohl ihr eigentlich von Anfang an klar war, dass sie keine Antwort bekäme.

Sie wollte ihm die Haare aus dem friedlichen Gesicht streichen, traute sich aber nicht. Es liefen keine Tränen mehr, doch sie fühlte sich ohnehin viel zu schlecht, als dass sie es hätten besser machen können. Nichts konnte das hier besser machen. „Hoffentlich … hoffentlich ging es schnell.“ Das Ganze beschrieb nicht annähernd das Gefühlschaos tief in Rhiara.

Jetzt bist du doch tatsächlich gegangen, bevor ich es tun konnte … Wieso?, dachte sie und stand langsam wieder auf. Sie fühlte sich seltsam leer, jeglicher Grund, hier zu bleiben, war hinfort. Mit einem Mal … weg.

Es gab keinen Grund mehr, in der Stadt der Engel zu bleiben. Ihr Engel war tot.

Zwei Facetten

SAN FRANCISCO, GEGENWART
 

Mit Präzision prasselte der Regen auf die Scheibe nieder, schnell und erbarmungslos. Eine undefinierbare melancholische Stimmung hatte den Raum ergriffen und schien auch die Leute darin in ihren Besitz zu nehmen. Lucinia seufzte, als sie den Wassertropfen beim Hinunterlaufen an dem Glas zusah. Draußen wurde es langsam, aber sicher dunkel, wodurch sie ihr grüblerisches Gesicht in der Scheibe widergespiegelt erkennen konnte. Gelangweilt fuhr sie die Muster nach, die die Regentropfen schon einige Sekunden zuvor zurückgelassen hatten.

„Dieses Trübsal steht dir nicht“, sagte Ilona ruhig zu ihr. Sie ließ sich neben ihr auf dem breiten Sofa nieder. Zurückgelehnt schaute sie nach oben an die Decke.

Lucinia suchte mit einem Seitenblick das Gesicht der Frau, die sie einst ausgebildet hatte. Ihre Brauen waren leicht zusammengezogen, wie als dachte sie nach, und ihre Lippen pressten sich fest aufeinander. Sie war ziemlich hübsch, abgesehen von der Narbe, die sich über ihr linkes Schlüsselbein erstreckte und leicht gezackt, wenn auch recht hell war. Lucinia wusste nicht genau, wodurch Ilona diese Narbe trug, aber sie trug sie mit Stolz und Lucinia war sich sicher, selbst wenn sie noch größer wäre, ihre innerliche Schönheit hätte sie wettgemacht.

Ihre Aufmerksamkeit lenkte sich wieder auf die Tür, als diese mit viel Elan erst auf und wieder zu geschwungen wurde. Kommentarlos ging Zac an den beiden vorbei und ließ sich an der gegenüberliegenden Wand des Zimmers in einem wuchtigen Sessel nieder. Lässig streckte er die langen Beine aus und legte die Arme auf die Sessellehnen, fast so, als gehörte ihm die ganze Welt. Lucinia sah, dass seine weißen Haare feucht waren. Entweder er war draußen gewesen oder aber er hatte sie sich lediglich gewaschen, vermutete sie nebensächlich. Ihr war klar, dass er wusste, dass sie und Ilona ebenfalls im Raum waren, aber wer schätzte schon ein einfaches Hallo? Zac ganz offensichtlich nicht und er würdigte sie auch keines Blickes. Erst wenn irgendetwas Interessantes passierte, würde er sie als wesentlich betrachten.

Für ein paar Minuten lag eine bedrückte Stimmung über den drei Anwesenden. Lucinia wollte zwar einmal zu einem Gespräch ansetzen, letztendlich waren ihr die Gesichter von Ilona und Zac aber dann doch zu abwesend. Ihr legte sich erst ein Lächeln auf die Lippen, als die Tür sich zum zweiten Mal öffnete und den Blick auf ihren besten Freund freigab.

„Joel!“, rief sie erfreut aus und sprang regelrecht auf ihn zu. Stürmisch schlang sie die Arme um ihn, kaum dass er die Türe hatte schließen können. Da er über einen Kopf größer war als sie, passte ihr Kopf direkt unter sein Kinn. Sie schaute wieder auf, direkt in sein überrumpeltes Gesicht. „Ich hab dich vermisst! Wo bist du die letzten beiden Tage gewesen?“

„Hey Süße“, sagte er zur Begrüßung und schob sie einen halben Meter von sich, um ihr ein strahlendes Lächeln zu schenken, „ich war außerhalb unterwegs. Und ich hab dich auch vermisst.“

Lucinia fuhr ihm lächelnd durch die dunkle lockige Haarpracht. „Was hast du heute wieder mit deinen Haaren angestellt?“, kicherte sie. „Da drin könnte man alles Mögliche verstauen.“ Sie erlaubte Joel keine Chance auf eine Antwort mehr, sondern zog ihn stattdessen zur Couch, wo sie ihn neben Ilona, seiner Schwester, platzierte. Anschließend setzte sie sich selbst neben ihn. Ilona warf ihm nur ein amüsiertes Lächeln zu, sagte aber nichts. Der Gesichtsausdruck sagte in diesem Moment mehr als es jedes Wort vermocht hätte.

„Hast du eine Ahnung, wieso wir hierher kommen sollten?“, fragte Joel Lucinia, die sich an seine Schulter gelehnt hatte.

„Nein“, gestand sie, „aber Noah will uns ganz offensichtlich irgendetwas sagen.“ Normalerweise musste es etwas Wichtiges sein, wenn er sie persönlich herbestellt hatte.

„Blitzmerker.“

Ihre Aufmerksamkeit fiel auf Zac, dessen Blick sich auf die drei gerichtet hatte. Seine Augen funkelten hochmütig.

„Natürlich will er uns etwas sagen, sonst würde er sich wohl kaum dazu herablassen, uns hier zu treffen.“

„Halt die Klappe –“, setzte Joel genervt an, seine Schwester jedoch bremste ihn und wandte sich missbilligend an Zac.

„Sei nicht so unhöflich vor Leuten, denen du unterlegen bist.“

Man konnte ihre Worte durchaus als herausfordernd aufschnappen, aber Zac hätte sich ohnehin bei allem in seiner Würde verletzt gefühlt. „Redest du von dir?“, spottete er.

„Nein, von anderen Leuten.“

Diesmal konnte auch Zac es nicht verhindern, erstaunt zur Tür zu spähen. In Lucinia blitzte ein Hauch von Schadenfreude auf, als sie den trockenen Blick Noahs sah, der Zac zuteilwurde.

„Aber sehr interessant, was du über mich denkst, Zachary, wirklich“, sagte er und gesellte sich dann zu den anderen in den Raum. Hinter ihm kam Tiffany herein und schloss die Türe endgültig. Zac zog eine saure Miene.

Tiffany setzte sich auf einen Stuhl bei dem Tisch nahe der Tür und fuhr sich mit den Händen nachdenklich durch die blonde Mähne.

Noah hingegen lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Tisch. „Gut, dass ihr gekommen seid.“

„Wir sind nicht vollzählig. Wo sind die anderen?“, fragte Lucinia. Gewiss waren sie mehr als sechs Leute.

„Nicht da“, antwortete er kurz angebunden.

„Wo ist Gwen?“, verlangte Ilona zu wissen.

„Immer noch in Kanada unterwegs. Sie hat mir eine Nachricht zukommen lassen, in der stand, dass ihr Zielobjekt hartnäckiger sei, als sie angenommen hat, und sich in den Norden verzogen habe. Es kann noch einige Zeit dauern, bis sie wieder da ist.“ Noah sprach sachlich, aber sein Unterton verriet einen leichten Hauch von Besorgnis. Gwen war eigentlich eine ausgezeichnete Kriegerin, jedoch war sie gelegentlich eine Einzelgängerin. Zudem würde sie es nicht mit mehreren Vampiren gleichzeitig aufnehmen können.

„Schick ihr doch jemanden als Verstärkung“, schlug Joel vor.

Noah nickte und entgegnete: „Daran habe ich auch schon gedacht. Gleich morgen wird Lennon sich auf den Weg machen.“

Als Antwort folgte ein Pfeifen von Zac. Ein Grinsen zierte seine rosafarbenen Lippen. „Das sind ja genau die richtigen.“

„Die beiden sind doch gar kein Paar!“, mischte sich Tiffany erzürnt ein. Ihre funkelnden grauen Augen musterten ihn forsch.

„Aber fast“, war Zacs Antwort. Er schien den Schlagabtausch sichtlich zu genießen.

„Du willst immer nur das sehen, was dir gefällt“, zischte Tiffany. Im Gegensatz zu ihm war sie viel leichter reizbar.

„Tiff, komm wieder runter, der ist es doch gar nicht wert“, startete Joel einen verzweifelten Versuch, die junge Hexe zu beschwichtigen.

Seine Worte blieben ungeachtet, stattdessen lästerte Zac ungerührt weiter. „Aber, aber, wer spricht denn hier von gefallen?“

„Du solltest mal wieder in den Spiegel schauen“, konterte Tiffany ärgerlich.

„Hört auf damit!“

Lucinia fuhr leicht zusammen, als Noahs laute und genervte Stimme zwischen die Zankerei fuhr.

„Ihr solltet nicht hierher kommen, um euch dann nur zu streiten“, stellte er entschieden klar. „Wir haben weitaus Wichtigeres zu tun. Die Bedrohung durch die Vampire nimmt immer mehr zu.“

Erst nach diesen einleuchtenden Worten richteten alle wieder die Augen auf den eigentlichen Grund für dieses Treffen.

„Was ist vorgefallen?“, stellte Ilona die Frage, die allen Beteiligten eindeutig durch den Kopf ging.

Irgendetwas war wieder geschehen, das war ohnehin klar, doch auch Noahs Gesichtsausdruck sprach Bände. Nachdenklich glitt sein Blick über den kleinen Trupp, welcher ihm mittlerweile all seine Aufmerksamkeit schenkte. Selbst Zac hatte keine selbstgefällige Miene aufgelegt – nein, sein Blick war kühl, seine hellen Augen leuchteten wie gefrorenes Eis. Wunderschön, aber zugleich auch grausam. Lucinia hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn dazu gebracht hatte, Jagd auf Vampire zu machen, doch es musste etwas Schlimmes gewesen sein. Wie auch alle anderen hier war er schon da gewesen, bevor sie sich ihnen angeschlossen hatte. Von Anfang an war er ihr als eigensinniger und selbstüberzeugter Typ erschienen und diese Meinung hatte sich bis heute nicht sonderlich verändert. Auch Gefühle für andere legte er offensichtlich nicht besonders hoch an. Das Einzige, was Lucinia durch Joel hatte erfahren können, war, dass Noah Zac wohl irgendwo gefunden haben musste und ihn mitgenommen hatte. Warum, wussten wohl nur sie beide. Zacs Arroganz gegenüber den anderen konnte Lucinia sich trotzdem nicht erklären. Jedoch würde wohl weder sie noch irgendjemand der anderen so schnell den Grund erfahren. Zac vertraute stets nur sich selbst.

„Letzte Nacht wurde eine völlig blutleere und entstellte Leiche gefunden. Der verantwortliche Vampir war sogar noch in der Nähe, soweit ich weiß. Bevor ich es erfuhr, machte sich Ruby auf den Weg, um ihn zur Strecke zu bringen. Das lief soweit auch gut, doch wie wir alle wissen, hassen die Vampire Niederlagen. Also machte sich einer den Spaß, einen weiteren Menschen zu töten, einfach als Racheakt, um uns zu zeigen, dass sie machen, was sie wollen.“

Kaum hatte Noah zu sprechen aufgehört, folgte ein Moment der Stille und des Nachdenkens. Hinter dem Töten der Vampire lag kein richtiger Grund. Natürlich mussten sie Blut trinken, um zu überleben, sonst würden sie unweigerlich immer schwächer werden, bis schließlich der Tot einträte. Doch anstatt dass sie nur notwendige Mengen an Blut tranken und ihren Opfern die Erinnerungen wieder nahmen, saugten sie jene lieber bei vollem Bewusstsein aus, um sie schließlich einfach und ohne mit der Wimper zu zucken, zu töten. Nach Lust und Laune machten sie auch mal einen Menschen zu ihres gleichen. Letztendlich töteten sie sie aber einfach zum Spaß.

„Den Vampiren sollte endlich mal jemand die Augen öffnen, dann würde man sie auch nicht jagen“, tat Joel seine Meinung missmutig kund. Lucinia wusste genau, was er meinte. Doch sie sagte nichts, sondern schaute stattdessen stumm und in Gedanken versunken nach vorne.

Tiffany sprach ohnehin das aus, was ihr unfreiwillig durch den Kopf ging: „Wieso kann man sich nicht einfach mit den Vampiren arrangieren? Ein Abkommen oder so etwas treffen?“

Lucinia fiel auf, dass Ilonas Augen ungläubig aufleuchteten, bevor sie den Blick abwandte.

„Das wurde bereits einmal versucht, scheiterte aber kläglich“, sagte Noah.

„Wieso? Woher weißt du davon?“ Die Neugier durchbrach Joels Ernsthaftigkeit, die sich schon über ihn gelegt hatte, bevor dieses Gespräch seinen Lauf nahm.

Erneut fiel Noahs Antwort kurz aus, war jedoch für alle etwas Neues. „Weil ich dabei war.“

Er hatte sich wirklich mit den Herrschern der Vampirwelt… unterhalten? Das war ein unvorstellbarer Gedanke für die Hexe. Lucinia wusste doch, dass er sie hasste. So sehr hasste. Konnte der Hass denn überhaupt an zweite Stelle gestellt werden, um ein halbwegs vernünftiges Gespräch zu führen? „Wieso hast du das überhaupt gemacht?“, fragte sie.

„Es ist schon viele Jahre her, sehr viele. Ein guter Freund war davon überzeugt, dass man doch irgendwie mit den Vampiren verhandeln könnte. Er bestand darauf, es wenigstens zu versuchen, bevor noch mehr Chaos diese Welt heimsuchen würde. Obgleich dieser Tatsache, war ich nicht wirklich davon überzeugt“, sprach Noah. Sein Gesichtsausdruck sah gequält aus – ganz offensichtlich waren es keine schönen Erinnerungen, die er zu berichten hatte. „Dennoch habe ich mich ihm angeschlossen und zusammen haben wir den Vampiren einen „Besuch“ abgestattet. Zuerst verlief auch alles einigermaßen gut. Sie haben uns angehört, erst als mein Freund von den Gründen, wieso wir eine Vereinbarung haben wollten, anfing, wurden sie sauer. Sie sagten, dass sie sich von niemandem würden sagen lassen, was sie tun. Und dass sie so lange und so viel Blut trinken würden, wie sie Lust und Laune dazu hätten. Sie fühlten sich in ihrer Ehre so sehr gekränkt, dass sie meinen Freund vor meinen Augen töteten. Das war schlimm, doch ich konnte nichts dagegen tun. Ich war alleine, sie in der eindeutigen Überzahl.

Ich dachte, dass sie mich genauso töten wollten, doch dem war nicht so. Eine Vampirin sagte mir, ich solle dahin gehen, wo ich herkäme, und es nie wieder wagen, auch nur irgendeinem Vampir unter die Augen zu treten. Sonst würde es mir genauso ergehen wie meinem Freund, nur noch viel schlimmer. Die Vampire verstehen sich auf Folter und mit ihren Opfern gehen sie nie zimperlich um. Damals ließ ich mich von dieser Übermacht einschüchtern und schwor mir selbst, das Ganze einfach zu vergessen.

Das klappte vielleicht ein paar Monate, bis meine Vergangenheit mich einholte. Ich hatte die Vampire nie gemocht, aber wenn sie erst mal jemanden töten, den du liebst, dann lernst du ganz schnell das Hassen.“

Joel schien zu bemerken, wie Lucinia sich verkrampfte, doch er tat oder sagte geschickt nichts. Sie selbst musste an sich halten, um nicht ein Zittern durch ihren ganzen Körper gehen zu lassen. Noahs Worte hätten auch die ihren sein können. So voller Verbitterung und altem Hass.

Die anderen drei schienen ebenso überrascht, wenn auch aus anderen Gründen. Sie alle hatten gerade den Grund dafür erfahren, wieso ihr Boss Vampire ausrottete.

„Und du bist dir sicher, dass sie ihre Meinung nicht ändern würden?“, fragte Tiffany. Sie war trotz allem, was geschah, eine unverbesserliche Optimistin.

„Ganz sicher würden sie nicht“, erwiderte Noah tonlos. „Sie sind eiskalte Killer.“

Jeder teilte seine Meinung, lediglich Zac musste nach einer – offensichtlich für ihn zu langen – Redepause humorlos auflachen und sagen: „Aber sind wir nicht genau dasselbe? Eiskalt und Killer? Ich seh da keinen Unterschied.“

Niemand ging darauf ein und Noah würdigte ihn nicht mal eines Blickes. „Um wieder auf das eigentliche Problem zurückzukommen: Dieser Vampir treibt immer noch sein Unwesen da draußen.“

Bei diesem Gedanken durchflutete Lucinia eine nicht unbekannte Wut, die sie nicht zurückdrängen konnte. Noahs Worte hatten etwas in ihr ausgelöst, etwas nach oben gespült. Ihm war es ähnlich ergangen wir ihr selbst. Und in ihm brodelte derselbe Hass, der auch in ihr inne wohnte. „Ich will das übernehmen“, hörte sie aus ihrem eigenen Mund sagen. Ihre Stimme aber klang seltsam fremd.

„Was?“ Sie war sich nicht sicher, ob Noah sie einfach akustisch nicht verstanden hatte oder ob er verwundert war.

„Lass mich das machen“, wiederholte Lucinia ihre zuvor ausgesprochenen Worte.

Keiner widersprach und diesmal nickte er. „Gut, aber Joel begleitet dich.“

Durch diese Aufforderung schaute der Angesprochene verwundert auf. „Wieso gerade ich?“

Das erste Mal, seit Noah den Raum betreten hatte, überkam ihn der Hauch eines Grinsens. „Frag doch nicht so blöd. Hier wissen alle, dass ihr beiden das perfekte Team seid.“

Lucinia wagte einen kurzen Blick zu Joel, der, so schien es ihr, plötzlich viel zu nahe neben ihr saß. Ihre Augen trafen sich auf halber Strecke und bevor sie es verhindern konnte, trat ein rosa Schimmer auf ihre Wangen.

Um es zu vertuschen, stand sie hastig auf und richtete ihre Kleidung. „Draußen ist es mittlerweile dunkel geworden. Am besten wir machen uns gleich auf Weg.“

Es gab keinen Grund, wieso Joel hätte widersprechen sollen. Jetzt, im Schatten der späten Stunde, würde man sie am ehesten antreffen. Unfreiwillig, ja, aber man hätte die beste Chance. Er stand behände auf und schien entschlossener denn je, sich dieses Auftrags anzunehmen. Das war aber auch kein Wunder, wie Lucinia nur zu gut wusste.

„Joel?“

Der Angesprochene drehte sich zu seiner Schwester. „Ja?“

Ilona schaute ihn für einen kleinen Augenblick einfach nur an, ohne jemanden der anderen an ihren Gedanken Teil haben zu lassen. „Viel Glück.“

Lucinia war sich sicher, wie in jenem Moment ein Gedanke zwischen den beiden Geschwistern ausgetauscht wurde. Ein Gedanke, den keiner der anderen nur ansatzweise zu erraten vermochte. Nicht einmal sie selbst wusste, welche Erinnerung in den beiden wie ein kleines Leuchtfeuer aufgeblitzt war.

Der Moment verstrich, ein Grinsen legte sich auf Joels Züge und er entgegnete selbstsicher: „Als ob ich das noch nötig hätte. Aber danke.“

Dann nickte er Lucinia zu, die sofort verstand.

„Ich bewundere euer stilles Verständnis wirklich“, merkte Noah an, der zuvor still gewesen war. „Joel, du hältst dich vorerst im Hintergrund. Es ist besser, wenn Lucinia sozusagen Rückendeckung hat, als wenn du einfach drauflos stürmst. Ich hoffe, du kommst dem nach?“

„Aber sicher doch“, nickte Joel.

Bei einigen anderen Leuten wäre er vielleicht nicht gerne im Hintergrund geblieben – beispielsweise bei Zac oder Ruby – aber bei Lucinia sah er ganz gewiss keinen Grund, wieso er sich beschweren sollte. Sie wusste, dass ihm klar war, er würde weitaus nützlicher sein, wenn er sich eher zurück hielte.

Und diesmal wäre es besser gewesen, er hätte auf seinen Boss gehört.

Nicht bei der Sache

Eiskalter Regen fiel herab. Lucinia war bereits so durchnässt, dass sich ihr Mantel schwerer anfühlte, als er eigentlich war und ihr schwarzes Haar sich zu triefenden Strähnen geformt hatte. Der Wind hatte sie ihr davor ins Gesicht geweht, und nun musste sie dem Drang widerstehen, sie zurückzustreichen. Deutlich spürte sie, wie der Regen niederprasselte und auf ihrer Haut landete. In kleinen Rinnsalen verfolgte er ihre Gesichtskonturen. Einzig das Gewicht an ihrem Gürtel versicherte ihr überdeutlich, dass ihr Schwert dort war, wo es hingehörte. Jederzeit greifbar.

Der Boden war übersät mit Pfützen, die sich durch den Dauerregen bildeten. Es fühlte sich unter Lucinias Füßen rutschig an, während die Steinplatten im Mondlicht, das durch die Wolken brach, verdächtig glänzten. Links von ihr verlief die Wand eines langen Gebäudebaus, rechts eine hohe Mauer. Sie wusste, auf der anderen Seite würden sich nichts als Sackgassen befinden.

Sie bewegte sich langsamer durch das schmale Gässchen, als sie es eigentlich sollte. Die düsteren Wolken hoch über ihr sahen aus wie graue Wattebausche, weil das stetige Lüftchen sie immer wieder auseinander riss und den Blick auf die strahlende Scheibe am Himmel freigab. Lucinia war trotz der kühlen Nachtluft nicht kalt, denn das Adrenalin, das ihr in den Adern pochte und durch die Aufregung hervorgerufen wurde, erhitzte ihren Körper zur Genüge. Sie erhöhte ihr Tempo und achtete darauf, im Schatten der Mauer zu laufen. Ihr war klar, dass sie mit dieser vollständig verschmolz, aber Vampiraugen waren perfekt für die Sicht bei Nacht, also bei tiefster Finsternis, geeignet und so könnte ihr Zielobjekt sie rein theoretisch immer noch sehen.

Lucinias Aufmerksamkeit galt weder den Geräuschen der Nacht noch dem leicht peitschenden Wind oder dem kalten Regen. Sie rief sich zur Besinnung oder zumindest versuchte sie es. In ihrem Kopf pochte es unangenehm. Es erschien ihr, als schlüge immer wieder jemand mit einem Hammer gegen ihre Stirn. Vor ihren Augen sah Lucinia die verlasse Seitengasse, doch hinter ihnen war die Szenerie anders. Am liebsten hätte sie die unheilvollen Gedanken einfach verdrängt, aber das tat sie nun schon so lange.

Anfangs lief es sogar noch einigermaßen gut. Wenn schaurige Albträume sie im Schlaf heimsuchten, schluckte sie verschiedene Mittel, nur um ja ruhig schlafen zu können. Wurde sie tagsüber von den Erinnerungen gequält, griff sie zu Dingen wie Alkohol – einfach, um für einige Zeit zu vergessen. Von härterem Zeug ließ sie dennoch die Finger.

Das Ganze lief einige Monate so, nachdem Lucinia Amerika den Rücken gekehrt hatte. Ihre Umgebung wurde ihr egal, sie selbst wurde sich egal. Mit der Zeit legten sich die schlimmen Erinnerungen ein wenig. Mittlerweile hatte sie gelernt, sie besser in die hinteren Ecken ihres Gedächtnisses zu verbannen. Ein paar Jahrzehnte lang ging das so von statten, dann verließ sie Europa und kam schließlich zurück nach Kalifornien. Sie selbst wollte es sich nicht eingestehen, wollte es nicht wahrhaben, aber die Geister der Vergangenheit suchten sie erneut heim.

Und während Lucinia noch mit diesen immer wieder kehrenden Schatten kämpfte, fiel ihr etwas anderes auf. Ein anderes Gefühl, das in ihrer Brust hauste. Eines, das genug Ausmaß hatte, um Gestalt anzunehmen.

Die Mauer zu ihrer Seite bog plötzlich nach rechts ab. Lucinia kam in einer etwas größeren Straße raus. Flackernde Lampen zu beiden Seiten beleuchteten den Boden, auf dem man nun das Prasseln des stärker werdenden Regens hören konnte. Das Pochen in ihrem Kopf wuchs noch, und unwillkürlich dachte sie an Noahs Worte. ‚Wenn sie erst mal jemanden töten, den du liebst, lernst du ganz schnell das Hassen.‘ Lucinia senkte missmutig den Kopf, fasste sich mit einer Hand an die nasse, aber dennoch warme Stirn und rührte sich für ein paar Sekunden keinen Millimeter mehr.

Sie schüttelte resigniert den Kopf. Das hatte doch alles eh keinen Sinn. Ihre Aufgabe war es, diesen Vampir zu töten, und nicht, in alten, ohnehin nie wieder zurückkommenden Erinnerungen zu versinken.

Gerade wollte sie wieder aufschauen und in die Realität zurückkehren, als ein eisiger Hauch ihren Rücken wie eine Welle streifte. Lucinia nahm ihre Hand wieder von ihrer Stirn und ließ ihren Arm langsam sinken. Ehe sie es wirklich bemerkte, glitt ein weiterer Luftzug an ihr vorbei. Etwas Kühles berührte sie an der Schulter und ihre triefnassen Haarsträhnen wurden noch mehr durcheinander gebracht. Mit einem Mal war sie wieder auf dem Boden der Tatsachen. Die Vergangenheit war nunmehr überflüssig.

„Verdammt“, zischte Lucinia und hob langsam den Kopf. Sie warf zu beiden Seiten einen abschätzenden Blick in die verlassene Gegend. Keine Menschenseele weit und breit; wie erwartet.

Sie schaute sich langsam um, verteilte Blicke auf den Dächern der Gebäude. Ihre rechte Hand suchte den glitschigen Griff ihres Schwertes und als sie ihn fand, umklammerte sie ihn mit wilder Entschlossenheit. Lucinia bewegte sich langsam vorwärts, durch die fallenden Wassertropfen hindurch.

Gute zehn Meter vor ihr huschte ein Schatten über den Weg, ebenso schnell war er wieder weg. Lucinia biss sich auf die Unterlippe, schmeckte Blut und musste den aufkommenden Schrei unterdrücken, der ihren Hals erklomm.

Reiß dich zusammen!, herrschte sie sich selbst an. Sie hörte ihr Schwert klirren, als sie es zur Hälfte aus der Scheide an ihrem Gürtel zog.

In Lucinias Kopf machte es ungewollt Klick, als sie einen kalten Atem in ihrem Nacken spürte, und sie riss das Schwert mit voller Wucht heraus. Sie schwang herum, wollte die unbekannte Gefahr angreifen, doch der Hieb ging ins Leere. Entrüstet senkte sie den Arm, und die spitze Klinge schabte über den Boden.

Das altbekannte Gefühl stieg wieder in ihr auf. Inzwischen war es ihr so vertraut geworden wie kein anderes. Es begleitete sie fast jede Nacht, bevor sie einschlief. Ein stetiger und trotzdem verhasster Begleiter. Lucinia war so dumm gewesen, so unvorsichtig. Sie hätte nicht so schutzlos hier herumlaufen sollen. Wahrscheinlich hätte sie nicht mal diesen Auftrag annehmen sollen.

Hass war ein schlimmes Gefühl, aber Wut? Wie machtvoll konnte Wut sein?

„Verdammt, spiel keine Spielchen mit mir!“, schrie Lucinia in die Nacht hinaus. Das wäre jetzt unweigerlich ein Stichwort gewesen.

Die Antwort fiel zuerst als ein Lachen aus. Es war ungewöhnlich laut, aber klar und völlig verständlich. „Aber wenn es doch so viel Spaß macht?“, rief eine Stimme. Sie klang mehr als einfach nur amüsiert.

Lucinias blieb mit einem Satz auf der Stelle stehen. Sie blickte nach oben, sah die Wolkendecken, die genau in diesem Moment aufbrachen. Der leuchtende Mond strahlte sie an, als sie versuchte, die Stimme zu orten.

Die Erkenntnis traf sie eiskalt. Sie war weder bei der Sache noch fähig, ihren Feind auszumachen. Plötzlich erschienen ihr die Häuserwände viel zu nah an ihr dran, die Straße an sich zu schmal und die Luft fühlte sich auf einmal drückend heiß an. Sie atmete langsam ein und aus, wog im Kopf die Möglichkeiten ab, die ihr zur Verfügung standen. Und sie wusste dabei ganz genau, dass sie längst nicht mehr konzentriert wirkte.

Ihr Körper zuckte zusammen, als sie etwas im Rücken berührte, und dann hörte sie eine raue Stimme sagen: „Ich bin hinter dir, Süße.“

Mit noch mehr Präzision drehte sie sich diesmal um, doch anstelle ihres Schwertes regte sie die freie Hand von ihrem Körper weg. Grelle Flammen züngelten auf Kommando über ihren Arm nach vorne, alles innerhalb vielleicht zwei Sekunden, doch erneut war Lucinia zu langsam für den Vampir.

„Du bist zu langsam“, bestätigte dieser ihre eigene Einschätzung.

Das Feuer erstarb wieder, und sie verengte die Augen, um die Umgebung genauer abzusuchen. Nirgends eine Spur – es war zum Verrücktwerden. Nicht nur, dass der Regen ihre Sicht trübte, ihr ging auch noch etwas anderes durch den Kopf. Lucinia wusste nicht, ob sie es sich bloß einbildete, aber die Stimme erschien ihr irgendwoher bekannt… Der Klang… Doch so sehr sie in ihren Gedanken nach einer Antwort wühlte, sie fand keine.

Sie schob das Thema beiseite und fühlte, wie ein bekanntes Gefühl ihren Körper erwärmte. Als ob sie den Spott dieses Vampirs auf sich sitzen lassen würde. Sie erhob ihr Schwert etwas, bereit für jeden Angriff. „Weißt du, eigentlich stehe ich eher auf Männer, die sich nicht verstecken“, rief sie, wohlwissend, dass ihr Zielobjekt sie hören würde.

„Na ja, Vorsicht ist besser als Nachsicht“, bekam sie fast sofort eine Antwort. „Das solltest du doch eigentlich am besten wissen.“

Nervös knirschte Lucinia mit den Zähnen. Sie konnte das Gefühl nicht loswerden, dass diese Worte ihr irgendeine Botschaft übermitteln sollten… Doch welche? Sie entgegnete nichts, sondern zerlegte die einzelnen Wörter in ihren Gedanken. Eine Antwort schien ihr nah und doch unerreichbar.

Und dann durchfuhr es sie wie eine eiskalte Klinge, die sich mitten in ihr Herz bohrte. Der Vampir von damals. Aber wieso sollte das der Fall sein? Während sie so nachdachte, fiel ihr gar nicht auf, wie der im Moment aktuelle Feind sich ihr wieder näherte.

„Also wirklich, sag bloß, du hast mich vergessen? Das ist aber nicht nett, und dabei hab ich dich gemocht…“, sprach die fremde und zugleich seltsam vertraute Stimme. Lucinia fiel nicht mal auf, dass sie nun aus einer anderen Ecke zu ihr getragen wurde.

Stattdessen hing ihr Blick starr nach vorne gerichtet in das mit Dunkelheit getränkte Ende der Straße. Ihr ganzer Körper war angespannt. „Inwiefern… gemocht?“, stotterte sie hervor, das Zittern klar verständlich.

„Gemocht halt. Wie man einen guten Freund eben mag. Oder vielleicht auch mehr.“

Dieses Mal konnte Lucinia Schritte hinter sich vernehmen, und sie war sich sicher, hätte sie sich jetzt umgewandt, hätte sie den Vampir gesehen. Erkannt. Aber sie traute sich nicht. Mit einem Schlag war aller Mut verflogen. Vor ihren Augen tauchten unangenehme Bilder auf. Bilder, deren Anblick nicht schön war.

Sie zuckte nicht mal zusammen, als der Vampir ihr plötzlich eine Hand auf die nasse Schulter legte.

Ihr Körper hatte sich vor Panik, Entsetzen und Ungläubigkeit total verspannt, dennoch ließ sie den Arm, der ihr Schwert hielt, schlaff herab hängen. Die Klinge berührte den Boden. Eben war ihr Blick noch zum Straßenende gegangen, aber nun senkte sie langsam den Kopf. Nasse Haarsträhnen fielen ihr ins bleiche Gesicht.

Tief in ihrem Inneren kam Lucinia sich auf einmal schrecklich leer vor. Sie wollte nicht wahrhaben, dass das wahr war, dass das hier die Realität war. Sie wollte nicht mit ihr konfrontiert werden.

Die Stimme war nun direkt neben ihrem Ohr und wieder so rau wie schon mal, als sie ihr so nah gewesen war. „Ich hab allerdings so meine Zweifel, ob du mich auch gemocht hast…“, flüsterte der Vampir.

In dem inneren Zwiespalt vermochte Lucinia nicht zu sagen, welche Gefühle dabei mitschwangen.

Der Atem, der ihren Nacken streifte, war eiskalt und verleitete sie wieder zum Zittern.

Sie hätte nicht einmal zu einer Antwort ansetzen können, wenn sie gewollt hätte. Ohne Vorwarnung schlug ein kräftiger Windstoß von links gegen die beiden. Er sorgte nicht nur dafür, dass kurzzeitig der Regen wie eine Eimermenge gegen sie prallte, sondern auch, dass der Griff auf Lucinias Schulter sich ruckartig löste. Doch während diese heftige, unvorbereitete Windböe sie lediglich auf die Knie zwang, wurde der Vampir hinter ihr in die Schatten der nächsten Mauer geschleudert.

Sie hielt sich den Kopf, in dem nun wieder Kopfschmerzen tobten, und schaute sogleich auf. Als Allererstes schoss ihr Blick in die Ecke, wo der Vampir anscheinend gelandet war. Ganz offensichtlich war er von der Attacke ebenso überrascht wie Lucinia selbst. Es war vielmehr ein Schatten, der sich regte und auf die Beine zwang. Sie meinte, dunkelblondes Haar aufblitzen zu sehen, als ein wenig Licht auf ihn fiel, aber alles war furchtbar nass und ungenau. Sie schluckte, doch da verlangte schon wieder etwas anderes nach ihrer Aufmerksamkeit. Sie blickte nach rechts hoch zu einem der Dächer, wo gerade in diesem Moment eine Gestalt über den Rand rutschte. Der Flug durch die Luft war kurz und geschmeidig landete sie auf beiden Füßen.

Lucinia musste nicht lange raten, um zu erkennen, dass es Joel war.

Doch er achtete nicht auf sie, sondern preschte zu dem Vampir, der dabei war abzuhauen. Das hätte er bei seiner Schnelligkeit sicher auch geschafft, hätte Joel sich nicht regelrecht auf ihn geworfen.

Und Joel war groß, kräftig und sicher auch noch bewaffnet. Zudem hatte Lucinia anhand des Funkelns in seinen Augen, das kurzzeitig aufgeblitzt war, erkennen können, dass er wohl echt sauer sein musste.

Als sich etwas in ihrem Magen unangenehm zusammenzog, wurde ihr Blick abwesend, ihre Gedanken schweiften in die Ferne und jegliche Geräusche um sie herum wurden überflüssig. Joel und dieser Vampir waren nur noch irgendwelche Gestalten und sie selbst ein Häufchen Elend, das in den nimmer enden wollenden Regengüssen hockte. Bis auf einen entfernten Knall nahm Lucinia nichts mehr wahr. Stattdessen ging sie jedes einzelne Wort durch, das der Vampir gesagt hatte, zermarterte sich ihr Hirn über dessen Stimme. Aber sie war sich nicht sicher. Täuschte sie sich? Hatte sie recht? Konnte sie überhaupt recht haben?

Sie hatte sich nicht getraut, sich umzudrehen, aber nun wünschte sie, sie hätte es getan. Wieso war sie eigentlich immer so ein Feigling, wenn es darauf ankam? Sie hatte sich doch wirklich kein bisschen geändert.

Es bedurfte wirklich nur einer kleinen Erinnerung und sie knickte ein. Wurde wieder so schwach wie damals. Schwert und Feuer waren nutzlos, wenn sie nicht mit sich selbst im Reinen war.

„Oh Gott, geht es dir gut?“

Die erschrockene Stimme holte Lucinia wieder in die Gegenwart und verdutzt hob sie den Kopf. Vor ihr stand Joel. Er war etwas blass um die Nase, von oben bis unten völlig durchnässt, die triefenden Locken klebten ihm an der Stirn.

„Ja, alles okay“, erwiderte sie matt. Aber sie fühlte sich keineswegs so, als wäre alles okay. Gar nichts war okay – sie hatte ein ganz komisches Bauchgefühl, der Vampir ging ihr auf unheimliche Weise nicht mehr aus dem Kopf und dann war da immer noch die Frage, ob er war, für wen sie ihn hielt…

„Du bist verletzt“, fiel ihr plötzlich auf. Joel stemmte die linke Hand in die Seite. Sie bemerkte erst jetzt, dass er ein leicht schmerzverzerrtes Gesicht machte. Ihr Blick fixierte seine Hand und bei genauerem Hinsehen konnte sie tatsächlich erkennen, dass seine Jacke teilweise blutgetränkt war und zwischen seinen Fingern etwas Blut hervor sickerte, das sich mit dem Regenwasser mischte. Der Anblick gefiel Lucinia ganz und gar nicht. Misstrauisch beäugte sie die Stelle.

Joel hingegen zog eine Miene, mit der er ihr wohl ganz klar signalisieren wollte, dass es nur ein Kratzer sei, nichts weiter. „Ja, dieser Feigling hat gemeint, ich könnte einen ordentlichen Messerstich gebrauchen.“

Sie warf einen Blick hinter ihn.

„Keine Sorge, der ist weg“, sagte Joel missmutig. „Dieser verdammte Mistkerl. Wenn ich ihn das nächste Mal erwische…“ Er brach ab, gab ein leises Zischen von sich und beugte sich etwas zur Seite. Der leicht schmerzhafte Ausdruck auf seinem Gesicht verrutschte dabei noch mehr.

Lucinia wurde klar, dass sie noch immer auf dem Boden saß, also stand sie schnell auf und schnappte sich auch ihr Schwert, das zuvor zu Boden gefallen war. Sie steckte es in die Scheide zurück, bevor sie sich ihrem Freund zuwandte. „Komm, du bist verletzt. Wir sollten so schnell wie möglich zu den anderen zurück“, stellte sie entschieden klar. Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch.

„Wenn du meinst…“

Sie schnappte sich Joels freie Hand und zog ihn weg vom Ort des Geschehens. Er konnte ja so grimmig gucken wie er wollte, aber mit so einem Messerstich sollte man besser nicht spaßen. Und außerdem war Lucinia froh, wenn sie, wenn auch nur für einen kurzen Moment, vergessen konnte, was vorgefallen war. Ganz abgesehen davon, dieser Vampir hatte Joel verletzt, und das war sicher kein kluger Schachzug gewesen.



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