Filiale Zero von Votani ================================================================================ Kapitel 2: - 2 - ---------------- VI Die Wände der Restaurants waren mit geschmackvollen Kunstwerken beschmückt, die sich farblich an die Teppiche und Stuhlpolster anpassten. Es war nicht das erste Mal, dass Sephiria ein solch vornehmes Restaurant besuchte, doch für gewöhnlich versuchte sie es zu vermeiden. Alles hier stand im starken Kontrast zu dem Shiroaki, in dem sie nach all der Zeit Stammkundin geworden war. Hier war es laut, gut besucht und das Ambiente zu überladen für Sephirias Geschmack. Obwohl sich das Shiroaki ebenfalls in der Innenstadt einer Metropole befand, hatte das japanische Restaurant immer eine angenehme Ruhe auf sie ausgestrahlt. Es ließ einen Platz zum Atmen und hatte eine Stille, in der man die Gedanken wandern lassen konnte. Die Mitarbeiter kannten sie zudem bereits und anstatt in einem Saal mit anderen Besuchern zu speisen, hatte man den Raum für sich alleine. Es bot sich besonders für Geschäftsgespräche an, die sie auch gerne dorthin verlegte. Das letzte war mehrere Monate her und mit Rinslet Walker persönlich gewesen, daran erinnerte sich Sephiria genau. Doch obgleich ihrer Hoffnung das ungestüme Temperament der Auftragsdiebin mit dem friedlichen Ausblick auf den Garten zu besänftigen, war es damals zu einer Auseinandersetzung gekommen. Allerdings hegte Sephiria keinen Gräuel. Am Ende hatte sie dennoch bekommen, was sie gewollt hatte und Miss Walker war mit Cerberus nach Stalk Town gereist, um Creeds Unterschlupf auszukundschaften. Dass das nicht nach ihren Erwartungen abgelaufen war und letztendlich sogar Belugas Leben gekostet hatte, spielte dabei keine Rolle. Das war ihr Fehler. Einer, mit dem sie leben musste, da sie Creed und seine Leute unterschätzt hatte. Nicht einmal sie selbst war stark genug gewesen, um Creed Diskenth den Gar ausmachen zu können. Nein, es hatte Train Heartnet gebraucht, der seine eigene Schwäche überwunden und damit Creeds Leben am Ende sogar verschont hatte. Bis heute konnte Sephiria nicht sagen, ob sie an seiner Stelle auf ihre Rache an dem Tod eines wichtigen Menschen verzichtet hätte. „Träumst du, Sephiria?“, fragte ihr Vater. Blinzelnd schaute sie ihn an. Er saß ihr gegenüber und löffelte seine Suppe, den kleinen Finger elegant in die Luft gestreckt. „Nein“, erwiderte sie, während ihr Blick sich von ihrem Vater löste und durch den Innenraum des Restaurants wanderte. Fast jeder einzelne Tisch war besetzt und Stimmengewirr lag in der Luft, von dem Sephiria hin und wieder einige Fetzen aufzuschnappen vermochte. „Ich frage mich nur, was du dir hiervon erhoffst.“ Zandine schenkte ihr ein schiefes Lächeln und betrachtete sie einen Augenblick schweigend. Für Sephiria sah es aus, als wog er seine folgenden Worte ab, genauso wie sie es zu tun pflegte. Auch das schien er ihr vererbt zu haben, obgleich sie, bis auf die Augen, ihrer verstorbenen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. So manches Mal war ihr während ihrer Jugend der Gedanke gekommen, dass das der wahre Grund war, weshalb ihr Verhältnis zueinander von Anfang an so zerrüttet gewesen war. „Die Frage ist wohl eher, was du dir von unserem Treffen erhoffst, Sephiria“, antwortete ihr Vater schließlich. „Oder suchst du nicht mehr nach Marakion?“ Ein schmales Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, zeichnete sich daraufhin auf Sephirias Lippen ab. „Was würde der Ältestenrat wohl darüber denken, dass du die Zerstörung einer wichtigen Filiale wie dieser als nicht mehr als ein Spiel ansiehst?“ Mit dieser Gegenfrage nahm Sephiria die Gabel in die Hand und wandte sich zum ersten Mal ihrem Salat zu. Zandine ließ ein raues Lachen ertönen, das Sephiria einen kalten Schauer über den Rücken jagte und die Damen und Herren an den Nachbartischen herübersehen ließ. „Ich war schon ein enger Vertrauter von Wilzark, da warst du noch nicht einmal gezeugt, meine liebe Sephiria. Die Loyalität von jemandem in meiner Position stellt man nicht in Frage. Und ich glaube, das wissen wir beide.“ Das Grinsen war noch immer nicht aus seinem Gesicht gewichen, auch dann nicht, als er seine Hand über den Tisch streckte und auf Sephirias legte. „Abgesehen davon weiß selbst ich, wie ernst die Lage ist. Aber man kann einem Vater wohl kaum einen Strick daraus ziehen, dass er Zeit mit seinem einzigen Kind verbringen will. Oder was meinst du?“ Sephiria spürte in ihrem Inneren den Drang, ihre Hand unter der ihres Vaters wegzuziehen, doch widerstand ihm. Genau diese Art von Schwäche erwartete er, dessen war sie sich sicher. Zwar konnte Sephiria nicht sagen, was ihr Vater plante, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sie dahinter kommen würde. Als Sephiria nicht reagierte, zog ihr Vater schweigend seine Hand zurück und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Essen zu. „Wie kommst du überhaupt darauf, dass Marakion etwas mit dem Massaker zu tun haben könnte?“, fragte er im gesprächigen Ton. „Bei der Mordwaffe handelte es sich eindeutig um eine Klinge. Wenn man sich Neils Wunden anschaut, liegt es sogar nahe, dass es zwei waren. Marakion Shiroyama ist laut Akte der einzige, der zwei Klingen führt - aber das muss ich dir wohl nicht sagen, Vater. Zudem ist er der einzige, der nicht unter den Toten identifiziert worden und dessen Aufenthaltsort ungewiss ist.“ „Und das macht ihn schuldig, Chronos verraten zu haben?“, hakte Zandine interessiert nach und begegnete dem Blick seiner Tochter. „Nein.“ Darüber musste Sephiria nicht nachdenken. „Aber es fällt mir schwer zu glauben, dass du uns nur aus Sorge um den Jungen wichtige Informationen enthältst.“ Abermals lachte ihr Vater auf, leiser diesmal. „Du bist ein schlaues, Mädchen. Frau, ich meine natürlich Frau.“ „Also?“ „Es ist vielleicht auch ein bisschen Eigenschutz“, gestand ihr Vater plötzlich mit belegter Stimme. Er griff zur Serviette und wischte sich vornehm den Mund ab. „Marakion hat zwar Potenzial gezeigt, aber war anfangs unwillig mein Angebot für eine bessere Zukunft anzunehmen. Seine Schwester stand ihm im Weg. Ein krankes Ding, das nur aus Haut und Knochen besteht. Du weißt wohl am besten, dass ich kein Samariter bin, Sephiria. Aber das ein oder andere Opfer bringe ich gerne für Chronos.“ Sephirias Gabel gefror auf den Weg zum Teller und sie sah auf. „Was hast du getan?“ Daraufhin warf ihr Vater ihr einen irritierten Blick zu, der erste, den sie an diesem Tag von ihm sah. „Was soll ich getan haben?“, fragte er und zog die grauen Augenbrauen zu einem skeptischen Ausdruck zusammen. „Ich schicke ihr jeden Monat Geld.“ Es war nicht leicht, Sephiria die Sprache zu verschlagen, doch für einen Moment wusste sie tatsächlich nicht, was sie darauf sagen sollte. Genauso wenig, ob ihr Vater ihr überhaupt die Wahrheit sagte und ihr nicht doch nur etwas vormachte. Stellte es am Ende überhaupt einen Unterschied dar? „Das Geld könnte ich für andere Dinge viel besser gebrauchen, das kann ich dir sagen“, setzte Zandine unterdessen fort. „Aber ich habe selten jemanden mit so viel Talent wie Marakion gesehen, so viel ist sicher. So jemand will man auf Chronos’ Seite wissen, Sephiria.“ „Ob er auf unserer Seite steht ist fragwürdig“, erwiderte sie. Anschließend legte sie ihre Gabel beiseite und winkte den Kellner für die Rechnung heran, obwohl sie kaum etwas zu sich genommen hatte. „Aber das werden wir erst wissen, wenn wir ihn gefunden haben. Die Adresse, Vater...“ Sephirias Höflichkeit hatte ein Ende gefunden und auch ihr Vater schien das zu bemerken, denn er schob seufzend seine Hand in die Innentasche seines schwarzen Jacketts und überreichte ihr einen Zettel. VII Auch der letzte Körper krachte mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Baldors Fuß kam auf seiner Brust zum Ruhen, so dass er einen Teil seines Gewichts auf dem Feind abstützte. Davon bekam dieser allerdings nichts mehr mit, denn das Leben hatte längst seine Augen verlassen. Sie sahen starr zu Baldor hinauf, der jedoch nur seinen Heimdall in der Hand hin und her wiegte. „Das war wohl der Letzte...“, entrann es ihm grinsend, als sein Blick durch die mit Leichen bestückte Halle wanderte. Kranz stand zwischen ihnen. Die Hand, die sein Messer hielt, hing locker an seiner Seite herunter, während seine Lippen zu einer neutralen Linie verzogen waren. Plötzlich ertönten jedoch Schritte hinter ihnen. Baldor fuhr mit einem Mal herum und seine Finger festigten sich um seinen Heimdall. Der Daumen der anderen Hand schwebte über dem Knopf der Steuerung, der am Ende der Orichalkumkette des Heimdalls angebracht worden war. Ein einziger Knopfdruck würde genügen, um den Kampf fortzusetzen. Alles in Baldor schrie danach, ihn betätigen zu können. Er brauchte nur einen Grund. Einen klitzekleinen Grund! Gerade als ein Schatten auf der anderen Seite der Halle auftauchte, schob sich Kranz in Baldors Sichtfeld. „Es ist kein Feind.“ Die Gewissheit in seiner Stimme ließ keinen Zweifel zu und Baldor ließ enttäuscht die Hand mit dem Kontroller sinken. „Mister Fanghini, Mister Maduke!“, rief die Stimme eines ihrer Agenten aus. Er blieb am Rand des Leichenfeldes stehen und schluckte schwer. „Ich habe euch doch gesagt, dass ihr gefälligst draußen warten sollt!“, brummte Baldor. Mit einem Mal war die Euphorie des Kampfes erloschen. „Tut mir leid, Sir...“, entwich es dem Agenten. Seine Finger strichen sein schwarzes Sakko glatt, während er offensichtlich versuchte seine Nerven zu stählern. So jemand wie er würde es deshalb niemals in die Numbers schaffen, so viel stand für Baldor fest. „Es ist nur, dass uns eine Nachricht über eine sogenannte Filiale Zero erreicht hat und es von äußerster Wichtigkeit zu sein scheint. Nur können wir uns daraus keinen richtigen Reim machen, Sir.“ Baldor hob kaum merklich eine Augenbraue. Seine braunen Haare hingen ihm wild ins Gesicht und er pustete sie aus dem Weg. „Was ist mit Filiale Zero?“, fragte er irritiert. „Rück’ schon raus mit der Sprache!“ Abermals schluckte der kümmerliche Agent. „S-Sie soll zerstört sein, Sir. Alle sind tot.“ Für einen Moment herrschte Stille, in der die Grimmigkeit von Baldors Gesicht abfiel und blanke Fassungslosigkeit offenbarte. „Filiale Zero, Baldor?“, fragte Kranz. Wahrscheinlich hatte er mit seinem Gehör selbst Baldors stockenden Atem vernommen. So nützlich wie er im Kampf war, legte er für einen Blinden zu viel Wert auf Details. „Die Nachricht kam auf einer sicheren Leitung, ansonsten hätte ich es für einen Scherz gehalten“, wagte der Agent verlauten zu lassen. „Filiale Zero existiert laut der Computerdatenbank nicht und-“ Aber er verstummte, als er Baldors scharfen Blick auf seiner Gestalt bemerkte. „Sag mir, was die Nachricht sonst beinhaltet hat!“, forderte er. Gleichzeitig angelte Baldor nach der Kaugummipackung in seiner Jacketttasche und schob sich einen davon in den Mund. Der Geschmack von Kaffee explodierte auf seiner Zunge und besänftigte seine Angespanntheit. „N-Nichts. Nur das Foto von einer Zielperson und eine Adresse, Sir.“ Kranz’ Kopf drehte sich in Baldors Richtung, obgleich dieser ihn nicht sehen konnte. Doch Baldor konnte schwören, dass Kranz ihm ansonsten direkt in die Augen gesehen hätte. „Das klingt nicht danach, als ob der Auftrag von Sephiria oder Belze kommt“, stellte Kranz fest. „Der Absender ist unbekannt“, warf der Agent ein. Seine Stimme war inzwischen nichts weiter als ein Wispern. „Aber sie kommt eindeutig von jemandem der Chronos angehörig ist, Mister Maduke. Niemand anders hat diesen Zugang.“ „Willst du diese Sache verfolgen, Baldor?“, hakte Kranz nach, anstatt seinen Partner abermals nach Filiale Zero zu fragen. Baldor hätte ihm sowieso nicht geantwortet. Filiale Zero war als geheim eingestuft und selbst wenn Baldor bereit gewesen wäre, Kranz einzuweihen, galt dasselbe nicht für diesen Wurm, der sich einen Chronosagenten schimpfte. Stattdessen setzte er sich in Bewegung, stieg über die Leichen hinweg und steuerte den Ausgang an. „Haben wir einen offiziellen Auftrag erhalten?“, fragte er, als er aus dem Augenwinkel sicherging, dass Kranz sowie der Agent, dessen Name Baldor ebenfalls entfallen war, ihm folgten. „Nein, bisher nicht“, erwiderte jener rasch. Daraufhin zog ein Grinsen an Baldors Mundwinkel. „Gut, dann steht diesem kleinen Umweg wohl nichts im Wege.“ „Obwohl wir nicht wissen, von wem diese Nachricht kommt?“, fragte Kranz von der Seite. „Wir gucken uns ja nur um...“ In dem Ton, in dem Baldor es sagte, wusste Kranz wahrscheinlich sowieso, dass es dabei nicht bleiben würde. Umschauen war schließlich die Definition von Monotonie. VIII „Ist es das?“, fragte Sephiria, als Naizer ihr die Tür öffnete und sie aus dem schwarzen Wagen stieg. Obwohl ihre Augen noch immer an dem heruntergekommenen Apartmentgebäude hingen, bemerkte sie in den Augenwinkeln wie Naizer nickte. „Definitiv.“ Er schob eine Hand in die Hosentasche und richtete mit der anderen die Sonnenbrille auf seiner Nase. „Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass hier jemand wohnen soll, der uns nützlich sein kann“, gestand er seine Bedenken. Sephiria lächelte ihn an. Er kannte die Ereignisse nicht, die sie hierher geführt hatten, wie sollte er da auch verstehen? Allerdings hielt sie es für besser, niemandem das Geheimnis um Filiale Zero aufzubürden. Es war kein schönes, keines auf das man stolz sein konnte. Nein, es war viel eher ein Schandfleck, so förderlich wie er sein mochte. „Das Umfeld sagt nicht immer alles aus, Naizer“, sagte sie stattdessen. Anschließend wandte sie sich wieder dem Gebäude zu. Die Farbe blätterte von den Wänden ab und Müll sammelte sich vor dem Eingang. Doch wenn Sephiria die Straße heruntersah, wirkte die nähere Umgebung kein Stück besser. Im Moment war sie, bis auf eine ältere Dame auf der anderen Straßenseite, verlassen. Nachts würden jedoch wieder die Gangs aus ihren Löchern gekrochen kommen, das konnte Sephiria mit Gewissheit sagen. Sie war schon oft in Rockmat City gewesen, dass sie sich bewusst war, dass hier Reichtum mit Armut kollidierten. Während das Stadtzentrum erhalten war und gut betuchte Geschäftsleute sowie eine Chronos-Filiale beherbergte, waren die Außenbezirke verdreckt und hatten eine hohe Verbrechensrate. Doch für kleine Fische wie diese interessierten sich nicht einmal die meisten Sweeper. Anstatt also Marakion Shiroyamas Schwester Geld zu schicken, hätte ihr Vater ihr lieber eine Wohnung in einer anständigen Gegend besorgen sollen. Einer, die einem kränklichen Mädchen wenigstens etwas Seelenfrieden verschaffte. Andererseits war dieses Wort vermutlich nicht Teil seines Wortschatzes. „David, warte bitte hier“, richtete sie das Wort an den Schwarzen. Dieser saß noch immer auf dem Beifahrersitz des Wagens und hatte lediglich das Seitenfenster heruntergelassen. „Wenn wir zu viele sind, erschrecken wir unsere Gastgeber nur unnötig“, fügte sie hinzu und bedachte die Number IX ebenfalls mit einem Lächeln. Ein Grinsen breitete sich auf Davids Lippen aus, als er mit den Fingern ein OK-Zeichen formte. „Alles klar! Ich halte dann mal hier die Stellung.“ „Danke.“ Damit zog Sephiria ihr Schwert vom Rücksitz. Christ wog schwer in ihren Armen, doch fühlte sich gleichzeitig wie ein enger Vertrauter an, dessen Nähe ihre Entschlossenheit noch verstärkte. Sie wollte es ungern zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung kommen lassen, doch ihre Intuition verriet ihr, dass sie dem eventuell nicht entgegen halten konnte. Gemeinsam mit Naizer stieg sie die Stufen hinauf, die in den Hausflur führten. Fehlende Fenster tauchten den langen Gang in Dunkelheit, doch auch als Naizer den Lichtschalter an der Wand betätigte, wich sie nicht. „So etwas wie Strom scheinen die hier nicht zu kennen...“, erklang Naizers raue Stimme hinter ihr. Sephiria schwieg. Das einzige Geräusch waren ihre Schritte auf dem Boden, die dumpf von den Wänden wiedergegeben wurden, als sie die Treppe zum ersten Stock erklommen. Sie kamen an einigen offenstehenden Haustüren vorbei, die einen Blick in verlassene und kahle Apartments gewährten. Bevor sie jedoch die Wohnungsnummer erreichten, die Sephirias Vater auf dem Zettel notiert hatte, stahl sich ein altbekannter Geruch in ihre Nase. Kurz wanderten ihre Augen in Naizers Richtung, um festzustellen, dass auch er es bereits wahrgenommen hatte. Sie tauschten einen Blick aus. Selbst im Dunkeln konnte Sephiria erkennen, wie sich Naizers Gesicht zu einer Grimasse verzog. Doch sie war nicht sonderlich erstaunt darüber. Auch Naizer war niemand, der den Tod als eine Banalität ansah, obgleich er im Leben schon so oft Zeuge seiner geworden war und selbst Unmengen an Blut vergossen hatte. Aber besonders die Tode seiner beiden Partner hatten Spuren auf seiner Seele hinterlassen. Nicht nur, weil er ein freundschaftliches Verhältnis zu ihnen gepflegt hatte, sondern auch weil er nicht in der Lage gewesen war, Creed zu eliminieren und den Job, den er sowohl mit Ash als auch mit Beluga angefangen hatte, zu vollenden. Dabei hatte nicht einmal Sephiria als seine Kommandantin die Stärke besessen, es zu einem Ende zu bringen. Aus diesem Grund war Naizer der Letzte, der sich dafür die Schuld geben musste. Allerdings war es vollkommen gleich, ob und was Sephiria ihm sagen würde, ihre Worte würden ohnehin auf taube Ohren stoßen. Manche Schuld konnte man nicht ablegen, obwohl sie einem nicht gehören mochte. Dies wusste Sephiria aus eigener Erfahrung. Genauso, dass ein Säugling nicht schuldig an dem Tod seiner Mutter war, wenn es während der Geburt zu unvorhergesehenen Komplikationen kam. Trotzdem würde es mit einem Loch im Herzen aufwachsen, was nichts im Leben zu schließen vermochte. Es wuchs nur, wenn man nicht auf es Acht gab. Neil Donovan hatte ihres ausgenutzt, um direkt in ihr Herz, in ihre Seele, zu schauen und Säure hineinzugießen. Seine geflüsterten Worte hatten sich in Sephirias Gehirn eingebrannt; selbst heute träumte sie noch so manches Mal von ihm. „Deine Mutter hat dich nicht gewollt, deswegen hat die Geburt sie so mitgenommen“, hauchte Neil ihr diese Worte als Erinnerung ins Ohr. So leise, dass kein anderer am Tisch sie vernehmen konnte. Sie waren alleine für Sephiria bestimmt, die den Teller kaum merklich von sich schob. Der Appetit, den sie nie gehabt hatte, war ihr vergangen. Neils Atem, der sie von der Seite traf, stellte Sephiria die Nackenhaare auf. Ihr Gesicht zeigte die Angst und die Schuld und die Ungeliebtheit, die sie fühlte, wie ein aufgeschlagenes Buch. Erst Jahre später sollte sie lernen, dass sich Neil an diesen Emotionen nicht satt zu sehen vermochte. „Sie hat sich dagegen gesträubt, dich auf die Welt zu bringen, Sephiria. So sehr, dass ihr Körper es nicht länger mitgemacht hat.“ Ein Lachen drang über die spröden Lippen ihres Ausbilders, während seine Augen sie noch festhielten, als Sephiria den Stuhl zurückschob und rückwärts davon stolperte, um von ihm und seinen Worten wegzukommen. Der Schuld zu entfliehen, die sich mit eisigen Fingern um ihre Kehle schloss und ihr die Luft abdrückte. Langsam, unaufhaltbar, bis sie jedes Mal alleine in ihrem Bett erwachte und feststellte, dass es nur ein Traum, eine Erinnerung, gewesen war. Neil und Filiale Zero gehörten ihrer Vergangenheit an, die sie jedoch auch in der Gegenwart noch immer verfolgten. Allerdings hatte sich Sephiria nie eingeredet, dass es anders wäre. Sie wusste, dass man die Vergangenheit nicht einfach hinter sich zurücklassen konnte, sondern sie einen immer wieder einholte, weil sie einen zu der Person gemacht hatte, die man war. Sie war ein Teil der Persönlichkeit und den musste man unweigerlich akzeptieren. Der Geruch des Todes wurde stärker, als sie vor der Wohnungstür von Marakions Schwester, Amerila Shiroyama, zum Stehen kamen. Sephirias Finger schlossen sich fester um ihr Schwert, als sie mit der anderen Hand den Türknauf erfasste. Wie sie bereits vermutet hatte, war die Tür abgeschlossen. „Naizer...“, sagte sie und entfernte sich einen Schritt. Dieser zögerte nicht lange, sondern holte kurzerhand mit dem Bein aus. Mit einem Krachen knallte die Tür an die hintere Wand und erlaubte Sephiria Eintritt. Zudem verstärkte sich der Gestank um ein Vielfaches. Anstatt Ekel wurde auf Sephirias Gesicht jedoch Härte sichtbar. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich gepresst, als sie sich ins Innere der Wohnung schob. Hinter ihr hörte sie wie Naizer seine Pistole entsicherte, die er stets bei sich trug, wenn er Sephiria begleitete. Allerdings begann sie zu bezweifeln, dass sie diese hier benötigen würden. Das kleine Apartment war verwüstet. Schränke standen offen und Schubladen waren herausgerissen, während der Inhalt teilweise zerbrochen auf dem Teppich verstreut lag. Sephiria stieg über ein Buch hinweg, das achtlos neben den Bruchstücken einer Vase lag. Ihre Sinne waren unterdessen auch weiterhin auf ihre Umgebung gerichtet. Diese war jedoch in Stille getaucht und lag verlassen vor ihr. Kurz warf sie einen Blick in die Küche des Apartments, in der sie verfaultes Obst in einem Korb entdeckte. „Captain!“, rief Naizer zu ihr herüber. Die Pistole war auf den Boden gerichtet, während er mit der anderen Hand in das Zimmer deutete, aus dem er gerade getreten war. „Das solltest du dir ansehen.“ Anhand des eindringlichen Untertons in Naizers Stimme konnte sich Sephiria beinahe denken, was für ein Anblick sie erwarten würde. Das Laken des Bettes war blutrot gefärbt und in seiner Mitte lag der leblose Körper einer jungen Frau. Obgleich die zwei tiefen Wunden in ihrem Brustkorb zusätzlich auf ein gewalttätiges Ende hinwiesen, lag sie dennoch mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen auf der Matratze. Wären da nicht das Blut, der Geruch und die Maden gewesen, die Sephiria selbst vom Türrahmen aus wahrnehmen konnte, hätte sie genauso gut schlafen können. „Ist das das Mädchen, dem wir einen Besuch abstatten wollten?“, fragte Naizer, aber Sephiria schloss lediglich ihre brennenden Augen. IX Die Tasse dampfte, als Sephiria den Teekessel beiseite stellte und mit ihr in das Wohnzimmer der kleinen Suite wanderte. Dort ließ sie sich auf dem Sofa nieder. Ihre blauen Augen glitten durch den Raum, der mit einer Standardeinrichtung ausgestattet war, aber nichts Persönliches von ihr beherbergte. Die dreizehnte Filiale von Chronos gehörte allerdings auch nicht zu denen, denen sie häufig einen Besuch abstattete. Deswegen waren die ihr zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten nicht mit Bilderrahmen und anderen Kleinigkeiten ausgestattet, wie Sephiria es mit ihrem eigenen Apartment und oft besuchten Außenstellen handhabte. Da war nur ihr schwarzer Mantel, den sie inzwischen ausgezogen hatte und der nun sauber über der Stuhllehne des Sessels hang. Mit ihm legte sie auch jedes Mal einen Teil ihrer Maske ab, die sie als Kommandantin der Chronos Numbers für wichtig hielt. Es war leicht eine Einheit anzuführen, aber nur unter einer starken Hand vermochte jedes einzelne Mitglied sein volles Potenzial zu erreichen. Dazu waren Respekt, vor allem aber Vertrauen nötig. Ohne diese beiden Faktoren würden sie anfangen an ihr als Anführerin zu zweifeln und es genügte schon, wenn Sephiria oftmals selbst von Zweifeln geplagt wurde. Mit ausdruckslosem Gesicht stellte Sephiria die Teetasse auf dem Glastisch ab, um stattdessen das schnurlose Telefon in die Hand zu nehmen. „Guten Abend. Was kann ich für Sie tun, Miss Arks?“, erklang die Stimme eines Chronos-Agenten. „Bitte sei so gut und stelle mich zu Belze durch.“ „Sehr wohl.“ Mit diesen Worten begann klassische Musik Sephirias Ohrkanal herauf und herunter zu spielen. Unterdessen erhob sie sich und schlenderte zu dem breiten Fenster des Zimmers herüber. Die Sonne war längst untergegangen. Von hier oben hatte Sephiria dennoch eine brillante Aussicht auf die Stadt. Autoscheinwerfer zerschnitten das Dunkel der Straßen und bunte Leuchtreklamen kennzeichneten einige Bars und Gaststätten. Doch Sephirias Blick wanderte unwillkürlich in die Ferne, wo die Laternen und sonstigen Lichter weniger wurden und sie das Apartment von Amerila Shiroyama wusste. Das Agententeam, das sie hingeschickt hatte, dürfte längst mit ihrer Aufräumarbeit fertig sein. Morgen früh würde sie wahrscheinlich bereits der Autopsiebericht erwarten. Allerdings sprachen die Wunden, die Sephiria gesehen hatte, für sich und ließen nicht viele Interpretationsmöglichkeiten übrig. „Belze hier“, meldete sich ihr Vize-Kommandant unterdessen am Telefon. Sephiria schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. „Von Marakion Shiroyama war keine Spur“, sagte sie anschließend mit fester Stimme. Am anderen Ende der Leitung herrschte kurzzeitiges Schweigen. Doch Sephiria lauschte ihm genau und spürte unwillkürlich wie sich die Anspannung aus ihren Schultern löste. „Hast du etwas anderes erwartet?“, fragte Belze schließlich. Damit sprach er Sephirias vage Ahnung aus, die sie schon gehegt hatte, als ihr Vater ihr die Adresse überreicht hatte. Es war zu einfach gewesen. „Wohl nicht“, bestätigte sie. Gleichzeitig kehrte sie zu dem Sofa zurück und setzte sich. Ihr Tee dampfte noch immer, an ihre Lippen setzte sie ihn aber trotzdem kurzzeitig. „Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass das Mädchen tot ist. Die Wunden... sehen aus wie von den Klingen von Zwillingsäxten.“ „Marakion Shiroyama?“ Diesmal war es an Sephiria in ein Schweigen zu verfallen. „Gibt es etwas Neues?“, fragte sie anstelle einer Antwort. Ihre Finger lösten derweil den Knoten ihrer Krawatte, während sie die Augen schloss. „Ja, ich wollte dich sowieso gleich deswegen anrufen“, erwiderte Belze. Der ernste Unterton verriet Sephiria, dass es von Wichtigkeit sein musste. „Vor einigen Stunden kam Meldung herein, dass Number IV und Number VIII ihren Auftrag erfolgreich abgeschlossen haben. Allerdings haben sie sich danach abgesetzt.“ Das überraschte Sephiria nicht sonderlich. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass Baldor und Kranz auf eigene Faust agierten, anstatt zur Hauptzentrale zurückzukehren oder auf einen neuen Befehl zu warten. „Das ist jedoch nicht das Merkwürdige an der Sache“, fügte Belze hinzu. Er klang nachdenklich. Sephiria kannte Belze lange genug, um die verschiedenen Emotionen in seiner Stimme herauszuhören. Besonders da auch er stets eine ausdruckslose Miene aufsetzte und selten seine Gefühle und Gedanken aussprach. Nicht einmal, wenn er mit Sephiria alleine war und sie all das mit ihm teilte. „Laut der Meldung hat die Neuigkeit über Filiale Zero sie längst erreicht.“ „Aber das ist unmöglich...“, entrann es Sephiria. Ihre Augenbrauen zogen sich zu einem kritischen Ausdruck zusammen. „Der Agent hat mir geschworen, dass es auf einer sicheren Leitung kam“, teilte ihr Belze mit. „Es gibt nicht viele mit dem Zugriff auf die Daten von Filiale Zero.“ Da konnte Sephiria nicht widersprechen. „Ich nehme an, du teilst meine Vermutung.“ „Wie gesagt, es gibt nicht viele Möglichkeiten“, erwiderte Belze. „Allerdings kann man den Ursprung nicht zurückverfolgen. Scheinbar wusste derjenige, was er tut. Ich habe schon einige Agenten darauf angesetzt, doch sie scheinen nichts dagegen unternehmen zu können.“ „Und, wie ist der Status von Number IV und Number VIII?“, hakte Sephiria nach. „Der letzte ist einige Stunden alt“, erklärte Belze. Im Hintergrund konnte Sephiria inzwischen das Klappern einer Computertastatur vernehmen. Sie konnte es sich bildlich vorstellen, wie Belze in seinem Büro saß, das Telefon auf Lautsprecher geschaltet hatte und konzentriert auf den Bildschirm starrte. Es trieb ihr ein Lächeln auf die Lippen. „Es sieht so aus, als seien sie ungefähr zwei Stunden von dem Southern Tip Park in Rozan entfernt. Diese Adresse und ein Foto kam von dem Agenten, der mit Baldor und Kranz unterwegs war. Er war es auch, der uns über die mysteriöse Nachricht informiert hat. Ihre Zielperson scheint niemand anders als Marakion Shiroyama zu sein. Soll ich eine Number hinschicken, um sie aufzuhalten?“ „Nein“, antwortete Sephiria und erhob sich. Ihre Teetasse stand längst vergessen auf dem Glastisch. Sephiria trat herüber zu ihrem Mantel. Mit dem Telefon zwischen ihrem Ohr und ihrer Schulter geklemmt, zog sie ihn sich über und schloss die unzähligen Knöpfe mit ruhigen Fingern. „Ich bin schon auf den Weg zur Tür. Mach dir keine Sorgen, Belze.“ „Das tue ich schon nicht“, erwiderte dieser. „Dafür kenne ich dich zu gut.“ X „Du bist sauer.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, die keinerlei Emotionen beinhaltete. Baldor warf Kranz einen Blick aus den Augenwinkeln heraus zu. Seine untere Gesichtshälfte, die als einzige nicht von seinem Helm verdeckt war, war jedoch genauso ausdruckslos wie seine Stimme zuvor. „Kannst du jetzt schon Gedanken lesen, huh?“, gab Baldor genervt zurück. Die Kette seines Heimdalls war mehrmals um seinen Oberkörper geschlungen, während er den schweren Orichalcumball in der Hand trug. Desinteressiert starrte er zu dem Southern Tip Tower hinauf, der sich vor ihnen aufgebaut hatte und in der Dunkelheit von Scheinwerfern erleuchtet wurde. Er war einer von vier Türmen, die für die vier Himmelsrichtungen standen und an den äußersten Rändern der Rozan Republik erbaut worden waren. Allerdings hatten Sehenswürdigkeiten Baldor noch nie sonderlich interessiert. Nein, der Southern Tip Tower war fast genauso langweilig wie der Park, der ihn umgab. Sie hatten ihn gerade durch eine Lücke zwischen einer dichten Hecke betreten. Vom Flugplatz hierher war es ein kurzer Fußmarsch gewesen, der Baldors Laune nicht gehoben hatte. Aber vielleicht würden die Agenten, die sie begleitet hatten, dort ausnahmsweise auf sie warten, anstatt hinter ihnen her gerannt zu kommen. Ansonsten würde Baldor ihnen vielleicht doch eine Lektion erteilen, die sie ihr Lebtag nicht vergessen würden. Zumindest, wenn er sie nicht gleich gänzlich aus dem Verkehr zog. Aber auch dieser Gedanke vermochte Baldors Wut nicht zu stillen. „Das nicht“, erwiderte Kranz inzwischen, der neben ihm herging, „aber ich kann dich mit den Zähnen knirschen hören.“ „Manchmal geht mir dein Gehör tierisch auf die Nerven, Kranz!“ Doch Kranz unternahm nicht einmal den Versuch, beeindruckt oder gar eingeschüchtert auszusehen. „Du willst mir immer noch nicht sagen, was es mit Filiale Zero auf sich hat?“ „Nein!“, knurrte Baldor und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Würde ich es dir sagen, wäre das wie Hochverrat.“ Genauer wollte und konnte Baldor nicht werden, doch Kranz hakte nicht mehr nach. Der Grund, weshalb sie ein so unbezwingbares Team abgaben, war dass Kranz wusste, wann Schluss war. Sie hinterfragten die Entscheidungen des anderen nicht. Vielmehr wussten sie, wo die Grenzen ihres Partners lagen und welchen Part sie zu spielen hatten. Sie waren Kämpfer, die zwar Seite an Seite kämpften, aber unabhängiger nicht sein konnten. Im Gegensatz zu Jenos Hazard, der mit jedem anzubändeln versuchte, und Naizer Bruckheimer, der seine Partner als stets mehr als nur Kameraden ansah, würden sie einander keine Träne nachweinen. Gleichzeitig war sich Baldor jedoch sicher, dass sie die Numbers sein würden, die als Letztes standen. Es lag ihnen im Blut; es war ein Teil ihrer DNA. Sie waren zum Kämpfen geboren, obwohl Baldors Vergangenheit im Gegensatz zu Kranz’ enger mit Chronos verknüpft war. „Weißt du, Baldorias, deine Mama hat dich gegen Geld getauscht“, erzählte Neil und wuschelte dem neunjährigen Jungen durch das braune Haar. Die Hitze ließ die Luft auf dem Trainingsplatz flimmern, doch vor Sonnenuntergang würden sie ihn nicht verlassen. Schweißperlen klebten an Baldors Schläfen, innerlich spürte er jedoch Zorn in sich hochsteigen, der sein Blut zum Brennen brachte. Mehr noch, als ihn das Lachen der anderen Jungs um ihn herum erreichte. „Ihr solltet nicht lachen, meine Lieben“, sprach Neil weiter, obwohl Baldor Belustigung aus seiner Stimme heraushören konnte. „Das ist eigentlich sehr traurig. Baldorias’ Mutter wollte sich lieber schicke Klamotten leisten können, statt ihr eigen Fleisch und Blut durchzufüttern.“ Baldor biss die Zähne aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten, doch Neil schien davon nichts zu bemerken. „Wie würdet ihr euch fühlen, wenn niemand auf der Welt euch wollen würde.?“ Die Blicke der anderen bohrten sich daraufhin in ihn hinein, als wollten sie schwarz auf weiß sehen, wie ein nutzloser, ungeliebter Mensch aussah. Es fühlte sich an, als hätte man ihn unter ein Mikroskop gepackt, damit man jede noch so kleine Emotion aufs Genauste miterleben konnte. Und Baldor riss sich von Neil los und rannte, als sei er von etwas gestochen worden, über den Trainingsplatz davon. Es war ihm gleich, wohin er rannte. Er wollte nur weg von den Blicken und dem Mitleid und dem Teil in ihm, der einsam, vor allem aber verletzt, war. Neil Donovans Worte hatte er jedoch nicht abhängen können, ganz egal, wie schnell er gelaufen war. Sie verfolgten Baldor auch heute noch. Manchmal, wenn es ganz still um ihn herum war, konnte er die leise Stimme in seinem Kopf vernehmen, die ihn fragte, wie es sich anfühlte, von niemand gewollt zu werden. Die drei Gestalten, die sich plötzlich in sein Sichtfeld schoben, lenkten Baldors Aufmerksamkeit auf sich und damit weg von diesen unsinnigen Gedanken. Baldor hielt augenblicklich in seinem Schritt inne; Kranz tat ihm gleich. „Denkt ihr, dass jeder hier rumlaufen kann?“, fragte der Kerl in der Mitte. Er trug eine verschlissene Lederjacke und für Baldor wirkte er wie der Anführer dieser Möchtegerngang. „Das ist unser Park. Wir wollen keine Freaks hier haben, also dreht am besten um und verschwindet dahin, wo ihr hergekommen seid!“ Diese hingespuckte Drohung klang in Baldors Ohren viel mehr nach einer Einladung zu Ärger. Solche Einladungen verwandelten den Zorn in seinem Bauch immer in Adrenalin. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, während sich ein Grinsen auf seinen Lippen auftat. „Ihr kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.“ „Was ist mit unserer Zielperson?“, lenkte Kranz von der Seite ein. Baldors Blick verweilte auch weiterhin auf diesen armseligen Schlägern. Sie sahen genauso wild auf einen Kampf aus wie er selbst, weshalb sollte er ihnen diesen also vorenthalten? „Der Junge wird uns schon nicht wegrennen. Außerdem wird das hier keine fünf Minuten dauern. Also mach’ dir nicht ins Hemd, Kranz.“ Zusammen mit diesem Ausspruch verkrampften sich Baldors Finger um seinen Heimdall, die andere Hand begann derweil die Kette von seinem Oberkörper abzuwickeln. „Wie bitte?“, entwich es einem der Kerle. „Seid ihr noch ganz bei Sinnen?“, zischte ein anderer und hob den Baseballschläger, den er in der Hand trug. „Sucht ihr etwa Ärger mit uns, ihr Freaks!?“ Das Grinsen auf Baldors Gesicht wuchs an. „Endlich habt ihr es begriffen.“ Im selben Moment sauste der Heimdall aus Baldors Hand auf sie zu. Zwei ihrer Feinde sprangen zur Seite, den dritten erwischte der Heimdall direkt in der Brust. Er landete mit einem Platschen in dem Springbrunnen, der sich im Zentrum des Parks befand. Aus den Augenwinkeln bemerkte Baldor den Schemen, der dort von einer der Bänke aufsprang. Er starrte zu ihnen herüber, nur sichtbar durch das Licht einer der Laternen. Hellbraune Haare umrahmten das Gesicht des Bengels - ein Gesicht von dem Baldor schwören konnte, dass er es schon mal gesehen hatte. Ehe er näher darüber nachdenken konnte, wurde der Baseballschläger ihm in den Magen gehauen. Baldor taumelte rückwärts, kurzzeitig geschockt über seine eigene Unaufmerksamkeit. Doch seine Hand war noch immer um den Kontroller geschlossen. Es brauchte nur eine Daumenbewegung, um den Heimdall zu sich zurückfliegen zu lassen. Als der Kerl vor ihm erneut mit dem Baseballschläger ausholte, traf ihn Baldors Waffe in die Seite und beförderte ihn mit einem Schrei aus seinem Sichtfeld. Baldor achtete nicht darauf, wo er landete, sondern fing lediglich seinen Heimdall auf. Abermals war sein Blick auf den unerwünschten Zuschauer gerichtet, anstatt sich dem letzten Mitglied der kleinen Gang zu widmen. Allerdings konnte Baldor den verlorenen Mut förmlich auf seiner Zunge schmecken. Dieser Typ würde ihnen keinen Kampf mehr liefern, so viel stand fest. Dabei hatte es gerade angefangen Spaß zu machen, ging es Baldor durch den Kopf, als er sich die pochende Magengegend hielt. Ihr Beobachter stand noch immer stocksteif zwischen der Bank und dem Springbrunnen, wandte sich jedoch plötzlich ab und rannte davon. „Da rennt unsere Zielperson...“, sagte Baldor in Kranz’ Richtung. Dieser hatte sich die gesamte Zeit über keinen Millimeter bewegt, doch Baldor kannte ihn zu lange, um davon überrascht zu sein. Kranz stand gerne an der Seitenlinie, anstatt sich gleich mit ins Gemetzel zu stürzen. Das konnte Baldor jedoch nur recht sein, umso mehr ihrer Gegner hatte er dann nämlich für sich selbst. Wer nicht wollte, der hatte bekanntlich schon. „Verfolgen wir ihn, Baldor?“ „Ich hasse es, jemandem hinterher rennen zu müssen!“ Tbc Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)