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Finera - Dawn of the Dark

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Eineinhalb Jahre ist "Finera - New Adventures" nun schon beendet. Ich weiß, damals habe ich gesagt, dass es keine Fortsetzung geben wird, aber nachdem Grace in "The Crystal Palace" weiterhin auftaucht, dachte ich mir, dass Faiths Töchter auch ihre Fortsetzung verdient haben.
Finera DotD und TCP spielen somit zeitlich mehr oder weniger parallel, aber die Storys sind so unterschiedlich, dass man sie eigentlich nicht ins gleiche Universum packen kann. Aus diesem Grund wundert euch bitte nicht, wenn hier einige Dinge anders geschildert werden als in TCP :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und schon ist das 1. Kapitel da :)
Ich hoffe, die alten Finera-Hasen unter euch erinnern sich noch an Caleb Frost. Henry ist sein Sohn und besitzt - ebenso wie sein Vater - ein Nachtara. Allerdings ein eigenes und nicht das von Caleb. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel widme ich Yurippe, damit sie so kurz vor ihrem Abflug nach Japan noch ein Kapitel zum Lesen hat :) Komplett anzeigen

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Prolog

Ende September
 

- Rain -
 

Die See war unruhig, das spürte Rain mit einer Gewissheit tief in ihrem Körper, die es unnötig machte, dass sie aufstand und aus dem Fenster schaute. Es war wie ein unruhiges Kribbeln tief in ihrem Inneren, das sich immer dann verstärkte, wenn es draußen stürmte. Jetzt, bei einem Gewittersturm wie diesem, war es besonders schlimm.

Schlaflos wälzte sie sich von einer Seite zur anderen, starrte in die Dunkelheit ihres Zimmers und hörte dem Wind zu, der die Dachbalken ächzen ließ. Die Villa der Familie Light war schon alt und die Wände dick, trotzdem vermochte der Wind so einen Krach zu machen, wenn er durch die kleinsten Ritzen ins Innere fegte. Nichtsdestotrotz liebte sie diesen Teil des umgebauten Dachbodens mit dem großen Buntglasfenster an der Seite. Dieses Zimmer war ihr Reich, ihr persönlicher Rückzugsraum, der Ort, an dem sie allem und jedem für einige Stunden entkommen konnte.

Rains Blick wanderte von der hohen Dachschräge zu ihrem Nachttisch aus dunklem Holz, auf dem sich eine kleine Lampe und ein Pokéball befanden. Ein einziger Pokéball, obwohl sie fast zwei Monate lang mit ihrer Zwillingsschwester Summer durch die entlegene Region Turfu gereist war.

Zwei Monate, in denen sie sich viel Zeit gelassen hatten, um insgesamt drei Städte zu erkunden.

Zwei Monate, in denen Summer nicht nur ihr Startpokémon Onix, das sie von der Professorin der Region Turfu erhalten hatte, trainiert hatte, sondern auch mit Hilfe von Onix und einem selbst gefangenen Jurob zwei Orden erkämpft hatte.

Zwei Monate, in denen Rain diesen Pokéball nur geöffnet hatte, um ihr Pokémon einmal am Tag mit der notwendigen Nahrung zu versorgen.

Ihr Gesicht verfinsterte sich. Bis heute verstand sie nicht, wieso Professor Palm ihr ausgerechnet ein Karpador zugeteilt hatte. Angeblich hatte der ausführliche Fragebogen, den sie damals im Vorfeld hatten ausfüllen müssen, gezeigt, dass ihre Persönlichkeit ausgezeichnet zu der des Karpadors passte, aber Rain hatte nie den Wunsch verspürt, es auszuprobieren. Ein Karpador war nun wirklich nicht das, was sie sich vorgestellt hatte. Ihre Mutter Faith betonte zwar immer, dass sie selbst mit ihrem Starter Bibor – damals noch ein Hornliu – zu Anfang sehr unglücklich gewesen war, dass sie aber später ein starkes Team wurden, das es bis zur Liga geschafft hatte.

Was ein Glück, dass die ohnehin stark naturbelassene Region Turfu nach diesen zwei Monaten für Jungtrainer geschlossen wurde, weil es starke Wetterprobleme gab und eine Weiterreise zu gefährlich war. Eine Brücke war eingestürzt und ein Magnetzug ausgefallen, damit war das zweimonatige Debüt der Region auch schon beendet. Rain und Summer hatten ihre Sachen gepackt und waren bei der nächsten Gelegenheit zurück nach Finera gereist. Das war nun vier Wochen her.

Vier unendlich langweilige Wochen.

Summer maulte den ganzen Tag rum, dass sie sich um ihre Chance betrogen sah, dass sie eines Tages Champion der Pokémonliga werden würde. Rain trauerte lediglich dem verpassten Semesterbeginn an der Stratos-Universität nach. Jetzt würde sie fast ein halbes Jahr warten müssen, bis sie von Finera nach Einall ziehen konnte, um diesem verrückten Haufen zu entkommen. Nicht, dass sie ihre Mutter und Summer nicht mochte, aber die beiden waren viel zu oft viel zu aufgedreht.

Seufzend setzte Rain sich auf. Es war drei Uhr nachts und sie hatte noch keine Minute Schlaf bekommen. Der Wind heulte durch die Fensterläden und ließ sie klappern. Sie fröstelte leicht und fuhr sich über die nackten Arme, wobei sie den Gedichtband bemerkte, den sie vor einigen Jahren begonnen hatte. Nicht, dass sie sonderlich talentiert war, aber es hatte ihr immer Spaß gemacht, die Geschichten, die ihre Mutter von ihrer eigenen Zeit als Jungtrainerin erzählte, in Reime zu fassen.

Rain stand auf, ging zum Schreibtisch und blätterte ein wenig darin herum. Direkt am Fenster reichte das Licht gerade so aus, dass sie die Wörter entziffern konnte. Sie stoppte bei einem Gedicht, das von Team Dark handelte, der Organisation, die einst skrupellose Experimente an wehrlosen Pokémon durchgeführt und mit der DNA von Legendären experimentiert hatte. Team Dark existierte nicht mehr und von Milena Mai, der einstigen Gründerin, hörte man nichts mehr, auch wenn sie ihre Haftstrafe mittlerweile verbüßt haben musste.

Das Gedicht beschrieb Milenas Vision einer besseren Welt, ihre unbändige Kraft, mit der sie ihre Ziele erreichen wollte, auch wenn sie dafür die völlig falschen Mittel gewählt hatte. Rain spürte beinahe so etwas wie Mitleid, wenn sie an Milena Mai dachte. Hatte sie nicht einfach nur das tun wollen, was ihr richtig erschien? Hatte sie mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht vielen anderen helfen wollen? Irgendwann war sie von ihrem Weg, allen Pokémon helfen zu können, abgekommen und der Morallosigkeit verfallen.

Sie klappte den Gedichtband zu, stand jedoch noch einige Minuten länger still am Schreibtisch und starrte auf das kleine Büchlein. Milena Mai hatte Großes vorgehabt und Rain wusste ganz genau, dass sie nicht so enden würde, wenn sie Milenas Potenzial hätte. Die Vorstellung einer Welt, in der alle Krankheiten von Pokémon geheilt werden konnten, in der alle Pokémon stark und besonders waren, war eine wirklich starke, verlockende Vorstellung.

Als Rain sich zurück in ihr Bett legte, hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie konnte nicht mehr ändern, dass sie ein so schwächliches, unbedeutendes Pokémon wie Karpador bekommen hatte, aber ihr stand die Welt offen und sie konnte viel erreichen. Es gab Wichtigeres als Orden und die Pokémonliga. Sie wollte Teil von etwas wirklich Bedeutendem werden – und es gab nur eine Person, die ihr einfiel, die ihr zeigen konnte, wie das möglich war: Milena Mai.

Besuch aus Lapidia

Ende September
 

- Summer -
 

Summer gähnte herzhaft und streckte die Arme durch, wofür sie von Rain einen tadelnden Blick bekam. „Was denn?“

„Man gähnt nicht einfach so am Frühstückstisch und reißt dabei den Mund wie ein Scheunentor auf.“

Summer rollte mit den Augen und löffelte weiter ihr Fruchtmüsli. Dass Rain sie auch ständig wegen ihres Benehmens verbessern musste, dabei war ihre Schwester keinesfalls ihre Anstandsdame.

„Deine Schwester hat Recht, so etwas gehört sich nicht“, schaltete sich nun auch ihre Mutter Faith ein, die einen vierten Teller aus der Küche geholt hatte, da sie noch Besuch erwarteten. Henry, ein Freund der Familie, hatte sich für heute Vormittag angekündigt.

Sie seufzte, gab sich geschlagen und entschuldigte sich für ihr Gähnen, doch ihre Laune wurde dadurch keinesfalls getrübt, denn sie konnte schon seit Tagen nur noch an Henry denken – natürlich nicht, weil sie in ihn verliebt war oder dergleichen, sondern weil der drei Jahre ältere Henry ein Nachtara besaß, das der perfekte Trainingspartner für ihre Pokémon war. Ihre Mutter nutzte ihre Pokémon schon lange nicht mehr zum Kämpfen und war auch nur selten zu Hause und Rain … Nun, Rains Trainerambitionen waren in dem Augenblick verschwunden, in dem sie vor drei Monaten ihr Karpador erhalten hatte, dementsprechend konnte Summer auch nicht mit ihrer älteren Zwillingsschwester trainieren. „Wieso hast du Henry eigentlich so dringend einladen wollen?“

„Ich muss etwas mit ihm besprechen.“ Faith lächelte verschwörerisch, erzählte ihren Töchtern jedoch kein Wort. Summer vermutete, dass es etwas Wichtiges war, sonst hätte sie sich nicht das ganze Wochenende von ihrer Arbeit frei genommen.

In diesem Moment läutete es an der Tür und ihr Hausmädchen eilte zum Vordereingang.

„Das wird er sein.“ Sie warteten kurz und als Henry eintrat, erhob sich Faith von ihrem Stuhl, ging zu dem jungen Mann herüber und umarmte ihn kurz. „Es ist schon, dass du so kurzfristig kommen konntest. Setz dich doch.“

Henry winkte einmal in die Runde, während er seinen schwarzen Parka auszog und dem Hausmädchen in die Hand drückte. Seine Haare klebten feucht an seiner Stirn von dem Regen, der schon seit Stunden gleichmäßig gegen die Fenster klatschte. „Schöne Grüße von meinem Dad. Er lässt ausrichten, dass du ihn mal wieder besuchen kommen sollst.“

„Das würde ich gerne, aber ich habe so viel zu tun“, antwortete Faith, während sich beide gegenüber an den Tisch setzten und sie ihm etwas zu trinken und zu essen anbot, was er dankend annahm. „Lapidia liegt zurzeit nicht auf meiner Flugroute.“

„Ach, das macht doch nichts. Er versteht das schon. Also, warum wolltest du mich so dringend sprechen, Faith?“ Wie immer redete Henry nicht lange um den heißen Brei herum, sondern kam direkt zur Sache.

Gespannt lehnte Summer sich in ihrem Stuhl zurück und konnte auch in den Augen von Rain die Neugierde aufblitzen sehen. Henrys Vater, Caleb Frost, war einst ein Mitglied von Team Dark gewesen und hatte ihrer Mutter Faith viele Probleme beschert, doch da er gegen Ende geständig und reumütig war, kam er mit einer kurzen Haftstrafe davon. Caleb hatte der Polizei und Faith daraufhin bei der Aufklärung der Straftaten geholfen und irgendwie waren die beiden gute Freunde geworden. Henry kam schon als Kind oft in den Ferien zu Besuch und wuchs gemeinsam mit Summer und Rain auf. Für die beiden war er so etwas wie ein großer Bruder.

„Ich hoffe, eure Geschäfte laufen gut?“, erkundigte Faith sich.

Henry nickte bekräftigend und lachte leise. „Ja. Unsere Pizzeria brummt, jeden Abend ist der Laden voll. Dad und ich streiten ständig, weil wir unterschiedliche Ideen für neue Pizzen und Nachspeisen haben, aber du weißt ja, wie er ist.“

Summers Mutter stimmte in das Lachen mit ein. „Ja, ich weiß, dass ihr beide euch sehr ähnelt. Zwei Sturköpfe, wenn es ums Kochen geht. Aber meinst du nicht, dass ein eigenes Restaurant für dich viel besser wäre?“

Henry rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Wie meinst du das?“

Sie wartete einige Sekunden, in denen ihre Augen zu leuchten schienen, dann holte sie einen Schlüssel aus ihrer Hosentasche und schob ihn Henry zu. „Ich meine das genau so, wie ich es sage. Du solltest ein eigenes Restaurant aufmachen. Meine Eltern sind vor kurzem in Rente gegangen und haben unser Familienrestaurant geschlossen, weil es für sie zu viel Arbeit ist. Sie und ich würden uns freuen, wenn du dem alten Fischrestaurant mit deinen Kochkünsten und Pizzen neues Leben einhauchst.“

„Aber …“

„Oh nein, ich werde ein Nein nicht dulden.“ Faith zwinkerte ihm zu. „Mit deinem Vater habe ich schon gesprochen, er unterstützt meine Idee. Du kannst mietfrei in der Wohnung über dem Restaurant wohnen und falls es Probleme gibt, sind meine Eltern direkt nebenan. Mit ihnen hast du bestimmt deine ersten Stammkunden. Bitte, Henry, wenn du nicht willst, muss ich das Restaurant einem Fremden verpachten und ich würde mich freuen, wenn es in der Familie bleibt. Du gehörst doch quasi zu uns.“

Summer quietschte vergnügt los. „Henry, das ist unglaublich! Dein eigenes Restaurant, davon hast du doch immer geträumt! Wir können die Wände neu streichen und neue Sitzecken einrichten und eine neue Speisekarte schreiben!“

„Finanzielle Absicherung ist aber auch wichtig“, murmelte Rain und hob eine Augenbraue in die Höhe. „Zuerst solltest du einen Finanzplan erstellen und dir Preise überlegen, um deine Ausgaben zu kontrollieren. Außerdem wirst du Personal brauchen, du kannst schließlich nicht gleichzeitig kochen und kellnern und hinter dem Tresen stehen.“

„Ach Rain, sei doch mal fünf Minuten nicht so negativ!“, murrte Summer sogleich und streckte ihrer Schwester die Zunge raus.

„Ich bin nicht negativ!“, erwiderte diese empört und starrte auf ihr Buttercroissant.

„Mädchen, hört auf zu streiten. Also, Henry, was sagst du? Für den Anfang kann Joel dir einen zinslosen Kredit geben, du musst also nur noch loslegen.“

„Ich …“ Henry stammelte vor sich hin und wirkte sichtlich geplättet, doch dann nahm er den Schlüssel und steckte ihn ein. „Vielen Dank, das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Ich werde das Restaurant in Ehren halten, das verspreche ich.“

„Oh nein, du sollst es nicht in Ehren halten, du sollst es ganz nach deinen Wünschen umgestalten und das Beste daraus machen. Fahr doch nachher mal mit der Fähre nach Litusiaville rüber und schau es dir in Ruhe an.“

„Ja, das werde ich machen.“

„Und ich komme mit!“ Summer sprang auf, umarmte Henry von hinten und tänzelte schon zur Tür. „Ich packe eine Farbkarte ein, dann können wir uns schon ein neues Design überlegen.“

Rain seufzte, stand ebenfalls auf und folgte ihrer Schwester. „Wir brauchen nicht lange, versprochen. Ich passe besser mal auf, dass Summer nicht gleich den ganzen Tapetenkatalog einsteckt.“

Summer hörte ihre Schwester, als sie zur Treppe spazierte, ignorierte die Worte jedoch und steuerte gleich ihr Zimmer an, um alles einzupacken, was sie gebrauchen könnten. Henry würde nach Litusiaville ziehen und das Restaurant übernehmen! Sie spürte ihr Herz vor Freude schneller schlagen. Das bedeutete, dass nicht nur ein Freund, sondern auch ein Trainingspartner immer in Reichweite war.

Renovierungsarbeiten

Ende September
 

- Rain -
 

„Hach ist das toll!“, hörte Rain ihre Schwester sagen, während Summer sich überschwänglich über die Reling der Fähre von Honey Island nach Litusiaville beugte und sich den Wind in die langen Haare wehen ließ. „Ich finde Mottorestaurants toll, willst du nicht etwas in der Richtung machen?“

„Bloß nicht“, entgegnete Henry mit hochgezogenen Augenbrauen. Er saß kopfschüttelnd auf einer Bank und blätterte in dem Einrichtungsjournal, das Summer ihm zu Beginn der Fahrt in die Hand gedrückt hatte. „Es sei denn, du verstehst Pizza als Motto.“

Rain rollte mit den Augen und nahm neben Henry Platz. „Ignorier sie einfach. Willst du etwas wie das da machen?“ Sie deutete auf die aufgeschlagene Seite, auf der diverse Tapeten mit Wasserpokémon dargestellt waren.

„Na ja“, sagte er und kratzte sich dabei am Kinn, „eventuell schon. Immerhin hatten eure Großeltern ein Fischrestaurant und die Erinnerung daran sollte schon erhalten bleiben. Es wird zwar eine Pizzeria, aber ich möchte diverse Pizzen anbieten, die daran angelehnt sind. Thunfischpizza, Scampipizza, Meeresfrüchtepizza, Muschelpizza, so in der Richtung eben.“

„Das klingt toll. Ich mag die Tapete.“

„Die hier? Ja, die ist hübsch.“ Sowohl Henry als auch Rain schauten auf ein hellblaue Tapete, die von der Farbe her an das türkisblaue Meer der Orange Inseln erinnerte. Mittig war eine dunkelblaue Bordüre mit gold-silbernem Rand und darin waren in regelmäßigen, aber keinesfalls überladenen Abständen diverse Wasserpokémon zu sehen. „Vielleicht nehme ich die und dazu dann den Stuhlbezug in derselben Farbe.“

„Oder in Gold, damit nicht alles so blau ist“, schlug Rain vor, doch Henry zog unschlüssig die Schultern nach oben. „Summer, was meinst du?“

Sofort kam die Angesprochene zu ihnen herüber geweht und beugte sich über das Magazin. „Ja, sieht super aus! Schade nur, dass du kein Wasserpokémon hast, das könnte dann das Maskottchen sein. Rains Karpador können wir ja schlecht nehmen.“

Obwohl Rain wusste, dass Summer den letzten Satz nicht böse gemeint hatte, presste sie beleidigt die Lippen aufeinander. Musste ihre Schwester ihr denn noch unter die Nase reiben, wie nutzlos so ein Karpador war?

„Aber ich habe die perfekte Idee, du fängst dir heute Nachmittag einfach ein Wasserpokémon und dann können wir zusammen trainieren! Onix und Jurob freuen sich bestimmt darüber.“ Voller Enthusiasmus und mit leuchtenden Augen sprang Summer auf und ab wie ein kleines Kind. „Oh bitte, Henry! Du brauchst ein Maskottchen, so etwas lieben die Kinder.“

„So etwas liebst wohl eher du“, gab er lachend zurück, schien dem Gedanken jedoch nicht ganz abgeneigt zu sein. „Wir werden sehen. Heute schaue ich mir erst einmal den Laden an, spreche mit euren Großeltern und dann werde ich den Rest mit meinem Vater bereden. Für ein neues Pokémon ist dann immer noch später Zeit.“

„Wie du meinst.“ Summer schnitt ihm eine Grimasse und verzog sich wieder an die Reling, bis die Fähre in den Hafen von Litusiaville einlief und sie von Bord gehen konnten.

Über die schmale Strandpromenade liefen sie bis zu dem Geburtshaus ihrer Mutter Faith, neben dem sich auch das Fischrestaurant der Familie befand. Während Summer vollkommen begeistert von dem Wiedersehen mit ihren Großeltern war und sich sogleich mit Kakao und Keksen eindecken ließ, obwohl es erst später Vormittag war, beließ es Rain bei einer kurzen Begrüßung und ging mit Henry rüber in das Restaurant und die darüber gelegene Wohnung, die er in Zukunft bewohnen sollte.

„Also, was sagst du dazu? Die Wohnung hier oben ist nicht so sehr groß, aber drei Zimmer müssten für eine Person doch mehr als ausreichend sein.“

„Dir kommt sie nur so klein vor, weil du in einem halben Palast wohnst“, tadelte Henry sie, zog die Vorhänge auf und genoss den direkten Blick auf das Meer. „Das ist … wundervoll. Ich kann noch gar nicht glauben, dass Faith mir so ein großartiges Geschenk gemacht hat. Eure Mutter hat wirklich ein Herz aus Gold.“ Lächelnd knuffte er Rain in die Seite und schlenderte über eine schmale Treppe runter in das Restaurant. „Die Küche ist erst vor einigen Jahren renoviert worden und hier drinnen würde ich ohnehin alles neu einrichten.“

„Klingt doch perfekt, wirst du das Angebot annehmen?“

„Ja … Ja, ich denke schon.“

Ein ehrliches, zufriedenes Lächeln machte sich auf Rains Gesicht breit. „Das freut mich, dann sehen wir uns in Zukunft öfter. Summer wird bestimmt mindestens einmal in der Woche bei dir essen wollen.“

„Na das hoffe ich doch, Stammkunden braucht jedes Restaurant. Und nun werde ich noch ein paar Details mit deinen Großeltern besprechen.“

Henry und Rain gingen zurück in das Haus nebenan und kamen gerade richtig zu dem Mittagessen, das Rains Großmutter gekocht hatte. Viele dicke Hefeklöße standen in einer Schüssel auf dem Tisch und daneben dampfte eine Kanne mit selbstgemachter Vanillesoße. „Ah, Summers Lieblingsessen“, sagte Henry grinsend und verzog sich mit den Großeltern in das Wohnzimmer, während Rain sich zu ihrer Schwester gesellte und gleich vier Klöße auf ihren Teller lud.

„Henry ist begeistert, er wird das Angebot annehmen.“

„Oh, das dachte ich mir schon“, sprach Summer mit vollem Mund. „Oma findet ihn total sympathisch und freut sich schon auf seine Pizzen und Nachspeisen. Wir wollen gleich alle zusammen in den Baumarkt gehen, damit Henry sich schon ein paar Dinge im Katalog bestellen kann.“

Nickend begann Rain zu essen und kurz darauf stießen gut gelaunt auch die anderen drei zu ihnen, sodass sie das Mittagessen mit regen Gesprächen verbringen konnten. Anschließend machten sie sich gemeinsam zu Fuß auf den Weg an den Stadtrand, wo sich der Baumarkt befand.

„Du solltest Summer den Gefallen tun und heute Abend noch einen kurzen Trainingskampf mit ihr machen, bevor du morgen wieder fährst. Sie wird sonst keine Ruhe mehr geben.“

Henry musterte sie von der Seite. „Wieso kämpfst du eigentlich nicht mit ihr? Wenn du dein Karpador regelmäßig trainierst, hast du bald ein starkes Garados.“

Skeptisch zog Rain eine Augenbraue in die Höhe. „Nein, danke. Besieg du sie lieber mit deinem Nachtara, dann gibt sie endlich Ruhe.“

„Hey, worüber redet ihr beiden?“ Summer hatte ihre Schritte verlangsamt und sich zwischen Henry und Rain gedrängt.

„Henry macht mit dir heute Abend einen Übungskampf.“

„Wirklich? Das ist so lieb von dir, danke!“ Sofort umarmte Summer den einen halben Kopf größeren Henry begeistert, packte ihn dann am Handgelenk und zerrte ihn mit eiligen Schritten in Richtung Baumarkt.

Stirnrunzelnd beugte ihre Großmutter sich zu Rain rüber. „Die beiden sind doch kein Pärchen oder? Manchmal wirken sie so vertraut miteinander, dass ich mir denke …“

„Nein, sind sie nicht“, funkte Rain sofort dazwischen und unterbrach ihre Oma, wobei sich augenblicklich ein Klumpen in ihrem Magen bildete. Doch wenn sie Henry und Summer so ansah, könnte man wirklich auf den Gedanken kommen, dass die beiden sich sehr, sehr gut verstanden. „Er ist wie ein großer Bruder für uns, das ist alles“, fügte sie noch bekräftigend hinzu, dann fuhr sie sich durch die kurzen, dunkelgrünen Haare und ließ ihren Blick schweifen. Henry, Summer und sie waren von klein auf wie Geschwister aufgewachsen und daran würde sich auch nichts ändern. Ganz bestimmt.

Zukunftspläne

Ende September
 

- Summer -
 

„Oh Gott, ich bin fix und alle!“ Summer streckte sich auf der Wolldecke auf dem Boden der Länge nach aus und starrte an die Decke des Restaurants, die so ziemlich das einzige war, was sie in den letzten zwei Wochen nicht renoviert hatten. Neben ihr lag ein Pizzakarton, der noch immer herrlich duftete, aber keinen Inhalt mehr besaß, denn der war vollständig und in Rekordgeschwindigkeit in Summers Magen gelandet.

„Du liegst jetzt im Fresskoma, hm?“

Sie streckte Rain die Zunge raus, rollte sich zur Seite, dann wieder hoch in eine sitzende Position und ließ ihren Blick stolz über die fertig tapezierten Wände gleiten. Henry hatte sich tolle Farben ausgesucht, das ganze Restaurant wirkte frisch und einladend mit den Farben Blau, Sand und ein wenig Gold an den Borten. „Und wie findest du es, Henry?“

Henry, der gerade die leeren Pappkartons aufsammelte und in die Küche zum Mülleimer brachte, drehte sich um und strahlte überglücklich. „Das ist toll, ich freue mich schon so, wenn es endlich losgeht und die Gäste kommen. Aber einen Eröffnungstermin habe ich mir noch nicht überlegt.“

„Du kannst trotzdem bis dahin bei uns wohnen, wenn du willst. Dann bist du auch nicht so alleine hier und Mom freut sich bestimmt auch total.“

„Jetzt dränge ihn doch nicht so, Summer!“

„Nein, schon okay. Ich glaube, ich bleibe hier, komme euch aber hin und wieder besuchen.“

„Oh“, sagten die Zwillinge wie aus einem Mund und nachdem Henry in die Küche verschwunden war, stand ihnen beiden die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Rain nagte an ihrer Unterlippe und Summer zog einen Flunsch wie bei zehn Tagen Regenwetter.

Dann war die gute Stimmung irgendwie vorbei und auch Rain stand auf, um den restlichen Müll, den sie im Laufe des Wochenendes fabriziert hatten, wegzuräumen. Sie sagte nichts, sondern starrte nur vor sich hin, nahm anschließend den Besen in die Hand und fegte durch den Gästebereich.

Summer schaute ihrer Schwester eine Weile zu, dann erhob am Ende auch sie sich seufzend, klopfte die Decke vor der Tür aus, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie auf einen der Tische. Sie hatten zu dritt wirklich viel geleistet und ihre Großeltern waren in den vergangenen zwei Wochen immer wieder rüber gekommen, um auch mitzuhelfen. Nun, nach zwei Wochen harter Arbeit, war das Restaurant fertig renoviert und auch die Finanzierung mit Joel geklärt. Er hatte Henry einen zinslosen Kredit gewährt und ihm gleichzeitig ein äußerst großzügiges Willkommensgeschenk überwiesen. Da hatte es zwar etwas Krach zwischen den beiden gegeben, aber nun war wieder alles gut und alles, was Henry noch tun musste, war, sich in seiner neuen Wohnung über dem Restaurant gemütlich einzurichten.

Hin und wieder hatte sie Henry zu einem kleinen Trainingskampf genötigt, wenn sie abends nicht beide zu erschöpft gewesen waren. Natürlich hatte sein Nachtara stets gewonnen, doch Summer konnte zusehen, wie ihre beiden Pokémon stärker wurden und das freute sie. Nur, dass Rain ihr Karpador so gar nicht trainieren wollte, verstand sie nicht. Sie hatte ihr schon oft gesagt, dass sie ihm dann wenigstens die Freiheit schenken sollte, doch das wollte ihre sture Schwester auch nicht. „Blöde Kuh“, murmelte Summer leise, streckte den Rücken durch und wartete, bis Henry wieder aus der Küche kam.

„Du stehst hier ja so rum“, witzelte dieser und lachte. „Wenn nicht schon alles sauber wäre, würde ich dir jetzt den Besen in die Hand drücken.“

„Das macht Rain schon.“

Henry wandte sich zu der Ecke um, in der Rain gerade mit dem Putzen fertig geworden war. „Hey, das hättest du wirklich nicht machen müssen, das bisschen Staub bringt uns nicht um.“

„Nein, ein Restaurant muss immer blitzeblank sein, außerdem mag ich es ordentlich.“

Er nickte. „Da fällt mir ein, ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen, wann genau es mit deinem Studium losgeht. Du willst nach Einall, nicht wahr? Dann werden wir uns wohl nur noch in den Ferien sehen.“

Rain stellte den Besen fort, dann lehnte sie sich gegen einen der Tische. „In fünf Monaten beginnt das nächste Semester und dann werde ich nach Stratos City ziehen, ja.“

Summer spürte genau den Seitenblick, den Rain ihr zuwarf. „Guck mich nicht so an, ich kann auch nichts dafür, dass du den Semesterbeginn verpasst hast. Wir hätten nicht wissen können, dass die Turfu-Region für neue Trainer gesperrt wird. Ich leide da genauso drunter, schon vergessen? Jetzt habe ich zwei Orden ganz umsonst erkämpft und muss in einer anderen Region neu anfangen.“ Gefrustet verschränkte sie die Arme vor dem Körper. Ihre Mutter hatte die Orden der Finera-Region erkämpft, ganz genau wie ihr Vater, aus diesem Grund war Summer nicht gerade motiviert, es ebenfalls hier zu versuchen. Sie wollte sich nicht ständig mit ihren Eltern vergleichen müssen, sondern unabhängig von ihnen erfolgreich werden.

„Ich habe dir nie die Schuld daran gegeben“, erwiderte Rain sofort und ihr Blick sah aus, als wäre sie tödlich beleidigt.

„Stopp, hört auf damit“, schaltete Henry sich sofort ein und stellte sich zwischen die beiden Streithähne. „Schluss jetzt. Ihr habt beide noch immer alle Möglichkeiten offen. Wieso reist ihr in den nächsten Monaten nicht wieder zusammen? Rain, du musst sowieso noch fünf Monate warten und Summer, du willst doch am liebsten so schnell wie möglich aufbrechen. Ich glaube, dass es euch gut tun würde, wenn ihr so ein Abenteuer zusammen bestreitet. Und wenn Rain dann nach Einall geht, bist du schon stark genug, um alleine klar zu kommen.“

Summer fand die Idee gar nicht mal so schlecht, sie wusste ja selbst nicht, wieso sie sich in letzter Zeit immer mit Rain streiten musste. „Ich mag die Idee, was meinst du?“

„Ich weiß nicht. Eigentlich habe ich dazu keine Lust.“

Henry rollte mit den Augen und packte Rain bei den Schultern. „Nun komm schon und spring mal über deinen Schatten. Das wird dir im Studium bestimmt nützlich sein, wenn du schon so viele Erfahrungen gesammelt hast.“ Als Rain sich noch immer nicht rührte, zwickte Henry ihr spielerisch in die Wange. „Ich begleite euch auch die ersten Wochen, na, was sagst du jetzt?“

„Du begleitest uns?“ Sofort begann Summers Herz schneller zu schlagen und mit leuchtenden Augen schaute sie zu ihrer Schwester. „Rain?“

Auch sie strahlte in gewisser Weise von innen heraus, bekam sogar den Hauch von roten Wangen und nickte schließlich. „Gut, aber nur, bis mein Studium anfängt.“

„Das ist toll!“, jubelte Summer und zog an Henrys Arm, damit sie ihn umarmen konnte. Sie würde ihn also doch öfter sehen – mehr noch, er würde sie bei ihrem Abenteuer begleiten, da rückte das Restaurant, das Henrys Zukunftsplan war, für Summer komplett in den Hintergrund. „Lasst uns sofort mit dem Planen anfangen!“

Die Tombola zum Glück

27. September
 

- Rain -
 

Manchmal war Summer einfach total unmöglich. Rain schnaubte verächtlich und sah zu, wie ihre Schwester über und über mit Mehlstaub bedeckt quer durch das Esszimmer lief und kleine Weidenkörbe durch die Gegend trug, die randvoll mit unterschiedlichen Kekssorten gefüllt waren. „Du staubst alles mit Mehl voll!“, sagte sie verärgert und schlug die Broschüre der Universität in Stratos City zu. „Summer!“

„Mach dir nichts aus dem Mehl, gegen den Dickschädel der Familie Loraire kann man nichts machen.“ Lachend trat ihr Vater Joel hinter sie und drückte ihr kurz die Schulter, ehe er seine Krawatte lockerte und mit einem Aktenstapel und einigen Keksen verschwand.

Rain schaute ihm hinterher und hatte wie so oft das Gefühl, dass ihr Vater Summer einfach alles durchgehen ließ, weil sie wie ihre Mutter ein kleiner Wirbelwind war. Rain hingegen kam eindeutig nach ihrer Tante Trixi und ihrem Vater Joel. Sie war ruhig, dachte viel über Gott und die Welt nach und tat nie etwas Unüberlegtes. War vielleicht genau das der Grund, weshalb sie sich schon als Kind fehl am Platz in dieser Familie gefühlt hatte? Summer stand immer im Mittelpunkt, war der kleine Sonnenschein und sie übersah man einfach. Rains augenblicklich entstehende schlechte Laune wurde auch nicht dadurch gemindert, dass ihre Mutter ihr einen Teller mit Vanillekipferln brachte. „Mom? Wir haben nicht Weihnachten.“

„Oh, aber das ist doch egal, Kekse kann man das ganze Jahr über essen.“

„Genau!“, pflichtete Summer ihr sofort bei und kramte Geschenkband aus einer Schublade hervor. „Wir haben für insgesamt dreißig Körbchen Kekse gebacken, damit dürfte für die Tombola heute Abend ausgesorgt sein.“

„Wie ihr meint.“ Rain grummelte noch ein wenig vor sich hin, räumte ihren Kram zusammen, schnappte sich den Keksteller und marschierte nach oben in ihr Zimmer. Wenigstens hier hatte sie ihre Ruhe, denn wie jedes Jahr fand ein Charityevent in der Stadt zu Gunsten des Pokémoncenters und des Krankenhauses statt. Ihre Mutter saß im Vorstand und liebte es bei den ganzen Tombolapreisen mit anzupacken, auch wenn sie jedes Jahr betonte, wie viel Arbeit dies doch sei und wie wenig Zeit sie habe.

Rain knabberte auf einem der Vanillekipferl herum, seufzte schließlich und ging rüber zu ihrem Kleiderschrank, um sich ein Outfit für den Abend auszusuchen. Eine gute Sache hatte es ja, dass sie charakterlich mehr nach der Familie Light kam: Ihre Tante Trixi liebte es sie mit hübschen Kleidern und verspielten Blusen auszustaffieren und für so einen Anlass waren die Sachen allemal geeignet, auch wenn sie sie sonst ignorierte.
 

„Das wird großartig, ich bin schon ganz aufgeregt!“ Summer wippte auf ihrem Stuhl auf und ab, während vorne auf der Bühne eine Rede gehalten wurde und Schwester Joy sich für die große Spendenbereitschaft bedankte. „Gleich ist der formelle Teil fertig und dann können wir uns Lose kaufen. Hast du gesehen, dass dieses Jahr auch ein Züchter aus einer anderen Region dabei ist? Vielleicht gewinne ich ja ein Pokémon, das wäre der totale Wahnsinn.“

„Pst, sei leise, ich kann nichts hören.“ Rain verdrehte die Augen und nippte an ihrem Wasserglas. Kurz darauf war dann auch die Rede fertig und die Anwesenden applaudierten höflich, ehe sie sich in alle Winde verstreuten und die unterschiedlichen Stände inspizierten. Der ganze Platz um das Pokémoncenter wirkte beinahe wie ein kleiner Jahrmarkt, in dessen Zentrum die Bühne stand.

Genau wie ihre Schwester streunte Rain zuerst ein wenig ziellos umher, kaufte sich etwas Zuckerwatte und fühlte sich dann doch von dem großen Tombolastand angezogen, in dem einige der Preise präsentiert wurden.

„Kommt herbei, liebe Leute! Werfen Sie einen exklusiven Blick auf die Hauptpreise der heutigen Tombola!“, rief ein Mann mit weißem Rauschebart und Rain entdeckte Summers hellgrünen Haarschopf ganz vorne in der Menschentraube, die sich um den Stand bildete. Sie selbst schaute lieber ein wenig aus der Distanz zu, wo sie nicht mitten im Gedränge stehen musste.

Der Mann und Schwester Joy, die ihm assistierte, enthüllten ein großes Plakat, auf dem für eine Flugreise nach Kalos und die dortigen Sehenswürdigkeiten geworben wurde. „Doch das ist noch nicht alles, neben dieser umwerfenden Reise für zwei Personen können sie auch die drei Starter der Kalos-Region gewinnen!“

Die Menschen gaben begeisterte „Ohs“ und „Ahs“ von sich und auch Rain wurde hellhörig und ging einige Schritte näher heran.

„Hier haben wir Fynx, ein wirklich aufgewecktes und neugieriges kleines Kerlchen. Dann darf natürlich Froxy nicht fehlen, der ruhige und intelligente Wasserfrosch. Zuletzt noch Igamaro, unser Exemplar ist mit einem gesunden Kampfeswillen und großem Magen ausgestattet.“ Nacheinander flimmerten die Bilder der drei Pokémon über einen Bildschirm und wieder waren die Zuschauer ganz entzückt und begeistert. „Diese drei Pokémon sind die Hauptpreise unter den Pokémon, doch es gibt noch insgesamt sieben andere Pokémon in dieser Tombola zu gewinnen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, werte Damen und Herren! Die Preise werden gesponsert vom Fremden- und Verkehrsamt der Kalos-Region.“ Damit endete die kleine Demonstration.

Summer kam mit leuchtenden Augen zu Rain gestürmt und rannte sie dabei beinahe um, sodass Rains Zuckerwatte zu Boden fiel und dort eine klebrige, pinke Masse bildete. „Hast du das gesehen? Das ist so spannend, ich muss unbedingt mitmachen und ein Pokémon gewinnen! Igamaro würde super in mein Team passen, aber die sieben Überraschungspokémon sind auch toll. Ob Mum wohl weiß, welche Pokémon verlost werden? Ganz sicher weiß sie es, aber sie verrät es mir bestimmt nicht, wenn ich sie Frage.“

„Die Tombola ist dieses Jahr wirklich spannender als sonst“, stimmte Rain zu und achtete darauf, dass sie nicht in die Überreste ihrer Zuckerwatte trat. „Ich werde mir auf jeden Fall ein Los kaufen.“

„Aber wehe, du schnappst mir Igamaro weg.“ Summer kicherte und knuffte ihre Schwester in die Seite. „Die Kalos-Region macht jedenfalls ganz schön viel Werbung.“

„Mhm.“ Rain hörte ihrer Schwester nur halb zu, denn in Gedanken ging sie bereits durch, was sie mit einem neuen Pokémon alles anfangen könnte. Natürlich würde sie ihr Karpador ersetzen und es in dem See auf ihrem Grundstück zurücklassen, wenn sie mit Henry und Summer in eine andere Region reiste. Fynx gefiel ihr ganz gut, so ein Feuerpokémon hatte Temperament und war bestimmt ein guter Kämpfer. Aber vielleicht gab es unter den anderen Pokémon welche, die noch besser dafür geeignet waren, dass sie die Demütigung mit Karpador endlich hinter sich lassen konnte.

Die restlichen Stunden bis zur Ziehung der Tombolagewinner vergingen schnell, was vor allem daran lag, dass es hier gutes Essen gab und sie mehrere Runden mit dem Riesenrad gefahren war. Als es dann endlich so weit war, stand sie zusammen mit vielen anderen Leuten auf dem Platz vor dem Pokémoncenter. Schwester Joy stand neben einer großen Glasvase, in der sich alle Losnummern befanden. Zuerst wurden ein paar kleinere Preise gelost wie ein Set Pokébälle oder ein Shampooset für Pokémon.

Als dann endlich die Hauptpreise drankamen, spürte Rain die Aufregung. Bisher war ihre Losnummer noch nicht gezogen worden, sodass sie entweder Glück hatte oder einen Trostpreis bekam. In den letzten Jahren waren das Beste, das sie gewonnen hatte, ein Notizset mit Dratini-Figuren und ein Schlüsselanhänger gewesen. Vor zwei Jahren hatte Summer einen Federhut gewonnen, ansonsten war sie jedoch auch leer ausgegangen und hatte Trostpreise erhalten.

„Kommen wir nun zu den zehn Pokémon aus der Kalos-Region.“ Der alte Mann bat Schwester Joy zehn Zettel zu ziehen. Sie ließ sich sehr viel Zeit, aber am Ende lagen zehn Zettel auf einem Projektor und die Ziffern wurden direkt auf den Bildschirm übertragen. „Na, wo haben wir die glücklichen Gewinner?“ Nach und nach ertönten Jubelrufe aus der Menge.

Rain ging Los für Los durch und auf einmal sah sie ihre eigene Nummer. Schnell kontrollierte sie den Zettel, dann klopfte ihr Herz schneller und sie strahlte über das ganze Gesicht. „Ich habe gewonnen!“ Sie eilte an Summer vorbei nach vorne und gab ihr Los ab, wobei sie Summers enttäuschten Gesichtsausdruck in den Augenwinkeln wahrnahm und beinahe so etwas wie Genugtuung verspürte. Schwester Joy und der Mann gratulierten ihr zum Gewinn, ermahnten sie jedoch das Pokémon nicht direkt in der Menge aus dem Pokéball zu lassen. Rain nickte, nahm den Pokéball entgegen und drückte ihn wie einen kostbaren Schatz an ihren Bauch. Dann ging sie zurück zu ihrem Platz.

„Glückwunsch, Schwesterherz“, sagte Summer, aber sie sah wirklich traurig aus.

In diesem Moment tat ihr Summer leid. „Hey, ich… also… danke für die Glückwünsche.“ Sie hoffte inständig, dass sie nicht Igamaro erwischt hatte, sonst würde das nur zu Streit führen. Summer mochte unbedarft wirken, aber Rain kannte sie gut genug, um zu erkennen, wie viel ihr der Gewinn des Pflanzenstarters bedeutet hätte.

„Und nun die zwei Tickets nach Kalos!“, tönte es von dem Stand aus und die Gewinnernummer wurde durchgegeben.

Rain starrte nach wie vor ihren Pokéball an, wurde jedoch aus ihren Gedanken gerissen, als Summer neben ihr anfing zu kreischen und zu dem Stand zu rennen. „Was?“ Das gab es doch nicht, Summer hatte die Tickets gewonnen! Mit großen Augen sah sie zu, wie Summer von allen Seiten beglückwünscht wurde und mit den beiden Flugtickets in der Hand zurück kam.

„Ich habe die Tickets, das ist total unglaublich!“ Der Verlust über den Gewinn eines Pokémon war wie weggeblasen. „Das heißt, es geht in die Kalos-Region! Das ist so aufregend, wir werden ganz neue Orte sehen! Wir… oh.“

„Was ist?“

„Es sind zwei Tickets.“ Summer machte ein sehr betrübtes Gesicht und Rain erkannte schlagartig, wo das Problem lag.

Es gab genau zwei Tickets, doch Henry, Summer und sie waren zu dritt. Henry oder sie, einer von ihnen würde zurückbleiben müssen und Rains Herz durchzuckte ein kalter Stich, weil sie genau wusste, wen ihre Zwillingsschwester lieber mitnehmen würde.

Falscher Stolz

27. September
 

- Summer -
 

Summers Herz schlug ihr vor Aufregung bis zum Hals, als sie die beiden Tickets in ihren Händen betrachtete. Oh Arceus, das war genau das, was sie jetzt brauchte. Rain und sie waren in die Region Turfu aufgebrochen, hatten ihre Reise dann jedoch nach nur zwei Monaten beenden müssen, da die Region vorerst für Trainer geschlossen wurde. Die Natur dort war wilder und ungezähmter als in anderen Regionen und für Neulinge wie sie eine Herausforderung – eine zu große Herausforderung, hatte es geheißen.

Doch nun hielt sie die Tickets in den Händen, die sie nach Kalos bringen würden. Überglücklich legte sie die Tickets auf den großen Tisch im Esszimmer. Gleich nach der Tombola war sie nach Hause gelaufen, hatte sich immer wieder freudig im Kreis gedreht und ihre Großeltern in Litusiaville angerufen. Sie würde die Kalos-Region bereisen! Summer Light, Champion der Kalos-Region!

Die Haustür schlug krachend zu, im Flur ging das Licht an. Dann war zu hören, dass sich jemand in der Küche ans Werk machte und nach kurzem Rascheln öffnete Rain die Tür zum Esszimmer. Sie trug ein Tablett mit einer Tasse Tee, dazu ein Schälchen mit Schokoladenpudding und Vanillesoße und Keksen. „Mom hat dich schon gesucht. Du bist einfach wie der Blitz abgehauen, nachdem du die Tickets gewonnen hast.“

Summer lächelte selig und winkte ihrer Zwillingsschwester mit den Tickets zu. „Das ist super, findest du nicht? Bei Arceus, es läuft gerade alles so perfekt! Morgen früh muss ich gleich Henry anrufen und ihm alles erzählen.“ Sie wollte unbedingt, dass Henry gleich am nächsten Morgen davon erfuhr. Am liebsten hätte sie ihn auch jetzt gleich angerufen, aber ihre Großmutter hatte ihr gesagt, dass Henry den ganzen Tag im Restaurant renoviert hatte und früh schlafen gegangen war. Bei ihrem Anruf brannte in seiner kleinen Wohnung über dem Restaurant bereits kein Licht mehr. „Er wird sich total freuen.“

„Schon möglich“, gab Rain kurz angebunden zurück, drehte Summer den Rücken zu und war bereits halb durch die Tür durch, als Summer sie mit einem „Hey, Rain“, zurückhielt.

„Ist alles in Ordnung? Du wirkst irgendwie ziemlich zerknirscht. Was für ein Pokémon hast du eigentlich gewonnen?“

„Froxy.“

„Wow, das ist ein Starter aus der Kalos-Region! Dann hat Karpador ja endlich einen richtigen Trainingspartner. Wir könnten auch mal einen Doppelkampf machen, wenn du willst. Oder wir …“

„Danke, kein Interesse. Ich bin müde und gehe jetzt in mein Zimmer. Wenn Mom mit dem Aufräumen fertig ist, will sie nachher noch kurz mit dir reden. Wegen der Tickets.“

Summer schaute ihrer Schwester stumm mit großen Augen hinterher. Sie spürte ganz genau, dass Rain sich wegen irgendetwas aufregte, doch wie immer war Rains Miene kühl wie ein Regenschauer, der nicht erkennen ließ, was im Verborgenen vor sich ging. „Na schön“, sagte Summer mehr zu sich selbst, streckte sich und ging in die Küche, um sich eine große Tasse Kakao zu machen und zu warten, bis ihre Mutter nach Hause kommen würde.

Aus Erfahrung wusste sie, dass es manchmal spät werden konnte, da ihre Mutter im Komitee saß und viele Leute etwas von ihr wollten, ehe sie dann selbst nach Hause gehen konnte. Schulterzuckend zog sie sich mit dem Kakao in ihr eigenes Zimmer zurück, das früher einmal das Zimmer ihrer Tante Trixi gewesen war. Das Zimmer war großzügig geschnitten mit einem eigenen Badezimmer, dazu eine helle, freundliche Tapete mit Rosenblüten und -knospen an den Wänden, aber insgeheim war Summer neidisch auf Rains Zimmer unter dem Dach. Dort oben hatte sie ihre Ruhe und das ganze Stockwerk für sich, da es sonst nur noch den alten Speicher und ein Atelier gab, das jedoch nicht genutzt wurde.

Gerne hätte sie die tollen Neuigkeiten sofort mit Onix und Jurob geteilt, doch da sie ihr Starterpokémon Onix schlecht mitten im Haus aus dem Pokéball lassen konnte, begnügte sie sich mit Jurob, das ihr zur Begrüßung erst einmal die Zunge herausstreckte. Ausführlich berichtete Summer ihrem Pokémon von dem Abend, der Tombola und ihrem Gewinn, ehe sie wieder die Tickets begutachtete und zum ersten Mal an diesem Abend bekam ihre Euphorie einen Dämpfer verpasst.

Zwei Tickets. Summer musste schlucken. Als sie mit Rain nach Turfu aufgebrochen war, hatte es an dieser Entscheidung nie Zweifel gegeben, doch Rain war nicht Feuer und Flamme für das Trainerdasein, ganz im Gegensatz zu Summer. Rain wollte studieren, in Bibliotheken sitzen und irgendwann einen wichtigen Beruf haben, mit dem sie etwas erreichen konnte. Summer hingegen wollte ihre Jugend genießen und Pokémontrainerin sein; Gedanken an ein Studium oder eine Berufsausbildung rückten in weite Ferne. Und gab es nicht auch Trainer, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienten?

Seufzend zog sie Jurob in den Pokéball zurück und warf sich auf ihr Bett, das zur Hälfte mit großen, flauschigen Motivkissen bedeckt war. „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, murmelte sie, schloss die Augen und öffnete sie wieder.

Das Problem hatte sie bereits kurz nach dem Gewinn bemerkt, dann jedoch von sich geschoben, da Rain beteuert hatte, wie sehr sie sich für sie freute. Alles war so schnell gegangen und irgendwie beschlich Summer das Gefühl, dass sie die Gefühle ihrer Schwester verletzt hatte. Nur womit? Sie würde Rain ohne zu zögern mitnehmen, aber sie glaubte nicht, dass das das war, was Rain wirklich wollte. Henry hingegen war ein guter Trainer. Sein Nachtara war stark und bis zur Eröffnung seines Restaurants würden noch einige Wochen vergehen, in denen er angeboten hatte, dass er sie begleiten würde.

Summer hatte kein Problem damit, dass sie alleine in eine Region starten würde, doch wenn sie sich einen Begleiter wünschte, dann jemanden, der auch Freude daran hatte. Vielleicht … Nein, sie konnte doch nicht ihre Schwester zurücklassen. Oder doch? Immerhin wusste sie doch, wie sehr Rain sich das Studium gewünscht hatte, wie wenig sie mit Karpador anzufangen wusste und auch über Froxy schien sie sich kaum zu freuen. Das war eine Entscheidung, die sie nicht treffen wollte, ohne dass sie vorher mit Rain darüber gesprochen hatte.

Also machte Summer sich kurzerhand auf den Weg, durchquerte den Flur, ging zum Treppenhaus und nach oben, wo sie an Rains Tür klopfte und keine Antwort erhielt. Noch einmal klopfte sie, dann trat sie ein und fand ihre Schwester am Schreibtisch sitzend vor.

„Was ist?“

„Ich möchte etwas mit dir besprechen“, sagte Summer, schloss die Tür hinter sich und ließ sich auf der Bettkante nieder. „Es geht um die Tickets. Ich habe ein echt schlechtes Gefühl deswegen.“

„Wieso?“ Jetzt drehte Rain sich auf dem Drehstuhl zu ihr um und zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. „Tu nicht so, als würde dir die Entscheidung, wen du mitnehmen willst, schwerfallen.“

„Natürlich tut sie das!“, erwiderte Summer und verschränkte die Arme vor dem Körper. „Du bist meine Schwester und Henry mein bester Freund und ich kann euch nicht beide mitnehmen.“

„Aber du hast dich trotzdem schon längst entschieden. Wir wissen beide, dass du Henry fragen wirst, weil du dich an ihn hängst wie eine Klette!“

Summer zuckte zusammen, als sie merkte, wie giftig Rain diese Worte ausspuckte. „Das stimmt doch überhaupt nicht!“

„Doch, das tut es! Weißt du, was Mom zu mir gesagt hat? Sie hat gesagt: ‚Ich freue mich ja so für Summer, sie hat sich das wirklich verdient. Summer ist so ein liebes Mädchen und wird einmal eine gute Trainerin sein.‘ Kein Wort zu Froxy. Immer geht es nur um dich, Summer. Immer machen die Leute alles für dich und du kriegst immer genau das, was du willst.“

Summer stand empört auf. „Rain, das ist totaler Schwachsinn! Du bist doch diejenige, die studieren will und kein einziges Mal mit ihrem Pokémon trainiert hat. Jeder weiß, dass du keine Trainerin sein willst, also hör auf dich so aufzuregen!“

„Woher willst du wissen, dass ich keine Trainerin sein will? Ich wäre die bessere Trainerin von uns, weil ich mit Taktik kämpfen würde, doch leider lässt sich mit einem Karpador nichts anfangen.“

„Das Problem liegt nicht bei Karpador, das Problem liegt bei dir!“, spuckte Summer aus und in diesem Moment wusste sie nicht einmal mehr, wieso sie überhaupt daran gedacht hatte Rain mitzunehmen.

Rain starrte sie an, dann rümpfte sie die Nase, packte Summer am Arm und warf sie aus ihrem Zimmer raus.

Direkt hinter Summer wurde die Tür von innen abgeschlossen. Sie schlug noch einmal dagegen, dann stürmte zu ihrem eigenen Zimmer davon und wollte diesen blöden Streit einfach nur vergessen. Vor Wut hatte sie Tränen in den Augen, die sie wegblinzeln musste, um etwas sehen zu können. Doch dann, auf halbem Weg, blieb sie wie angewurzelt stehen. Es war ihr zuerst nicht aufgefallen, aber jetzt war sie sich sicher, dass sie neben dem Bett Rains Reiserucksack gesehen hatte. Und wenn schon, diese blöde Ziege nahm sie bestimmt nicht mit nach Kalos! Summer schnaubte, setzte sich wieder in Bewegung und hörte auch schon, dass unten ihre Mutter nach ihr rief. Na der würde sie liebend gerne sofort erzählen, dass sie mit Henry auf Reisen gehen wollte.

Verletzte Gefühle

27. September
 

- Rain -
 

Wütend starrte Rain aus dem Fenster hinaus. Sie würde sehr wohl eine gute Pokémontrainerin sein, aber daran dachte niemand, weil sie nicht die Aufmerksamkeit auf sich zog wie ihre Schwester Summer. Immer ging es nur um die liebe, aufgeweckte, kleine Summer, die schon ihr ganzes Leben lang herum posaunte, was für eine großartige Trainerin sie einmal sein würde. Von Rain hatte man stets erwartet, dass sie die ruhige, kluge Schülerin blieb, die sie immer gewesen war. Aber sie würde es Summer, Henry und ihren Eltern schon noch zeigen!

Rain wartete nicht länger, zog sich feste Wanderschuhe und eine Regenjacke an, schnallte den Rucksack auf ihrem Rücken fest und nahm die beiden Pokébälle in die Hand. Karpador war schwach und Froxy noch jung, aber beide Pokémon besaßen großes Potenzial. Wenn Summer unbedingt nach Kalos wollte, um dort in den Arenen zu kämpfen, dann konnte Rain das ebenfalls. Sie würde die Orden gewinnen und allen zeigen, was in ihr steckte. Danach konnte sie studieren, einen guten Job finden und ihr eigenes Leben führen. Großes vollbringen.

Die beiden Pokébälle wanderten in ihre Jackentasche, deren Reißverschluss sie zuzog. Dann schloss sie ihre Zimmertür wieder auf, lauschte auf den Flur hinaus und stahl sich lautlos über das Treppenhaus nach unten ins Erdgeschoss. In der Küche hörte sie Summer und ihre Mutter reden. Einzelheiten verstand sie nicht, aber an der Stimmlage ihrer Mutter konnte sie erahnen, dass sie Summer zu beruhigen versuchte.

Ihre Schwester war ihr im Moment egal, aber sie brachte es einfach nicht über sich, wortlos zu verschwinden. Was würden ihre Eltern nur denken? Also kehrte sie noch einmal um und ging in das Büro ihres Vaters. Auf seinem besten Briefpapier schrieb sie mit sauberer Handschrift eine Nachricht:

Vater, ich weiß, dass Mutter und du enttäuscht von mir seid, wenn ihr das hier lest und merkt, dass ich weg bin. Ich habe das Gefühl, dass ich das hier tun muss, weil es das Richtige für mich ist. Macht euch keine Sorgen, ich werde euch jede Woche schreiben. Mein Weg führt mich nach Kalos, wo ich trainieren werde, um eine starke Trainerin und eine starke Persönlichkeit zu werden. Hier in Finera gibt es nichts mehr, was mich hält. Ich liebe euch und denke jeden Tag an euch. Lasst mich euch stolz machen. Rain

Tief durchatmend legte sie den Kugelschreiber zurück, platzierte den Brief gut sichtbar in der Mitte des Schreibtischs und verließ das Anwesen durch den Dienstboteneingang hinter der Küche. Da sie immer sparsam gewesen war, hatte sie eine schöne Summe Taschengeld auf ihrem Konto angehäuft, damit würde sie die Fahrt nach Kalos bezahlen können. Mit der Trainerlizenz, die sie sich damals in Turfu besorgt hatte, würde sie in den Pokémoncentern kostenlos schlafen und essen können, es gab also nichts, was diesem Abenteuer im Weg stand. Vielleicht war es ja sogar gut, dass sie ihr Zuhause hinter sich ließ und endlich keine Erwartungen mehr zu erfüllen hatte – ausgenommen der Erwartungen, die sie an sich selbst stellte.

Es war später Abend, als sie die Touristeninformation von Honey Island erreichte, an der man auch Tickets für Fernreisen kaufen konnte. Die Dame am Schalter wirkte überrascht, winkte sie jedoch noch herein. „Du hast Glück, ich wollte gerade schließen. Was kann ich für dich tun?“

„Ich hätte gerne ein Ticket nach Kalos.“

„Kalos?“ Die Dame runzelte die Stirn. „Du bist doch die Kleine von Faith, nicht wahr?“

„Ja“, erwiderte Rain knapp und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf dem Tisch herum. „Wie sieht es jetzt mit dem Ticket aus? Oneway, Zielort ist egal, Hauptsache Kalos. Und ich würde gerne noch heute Abend los.“

„Na meinetwegen.“ Sie tippte einen momentan auf der Tastatur ihres PCs herum, dann schien sie etwas gefunden zu haben und drehte den Monitor ein Stück in Rains Richtung. „In einer halben Stunde legt die Schnellfähre nach Orania City, Kanto, ab. Die Fahrt dauert eineinhalb Tage, du wärst also übermorgen sehr früh am Morgen da. Von dort kannst du mit dem Fernzug nach Illumina City in Kalos reisen.“

„Perfekt.“ Eigentlich hatte Rain auf eine Direktverbindung gehofft, aber es gab mit Sicherheit schlechtere Umsteigeorte als Kanto. Sie bezahlte den vollen Preis mit ihrer Kreditkarte, steckte das Ticket ein und rannte von der Innenstadt zum Hafen, um die Fähre nicht zu verpassen.

Vollkommen außer Atem kam sie am Steg an, zeigte ihr Ticket vor und konnte gerade noch rechtzeitig das Schiff besteigen. Man wies ihr eine Mehrbettkabine zu und informierte sie über das Bordrestaurant, das nicht im Preis inbegriffen war. Wunderbar, sie hatte natürlich gar nicht an ausreichend Proviant gedacht und die Wucherpreise würden ihr Bargeld im Handumdrehen fressen. Trotzdem blieb Rain nichts anderes übrig und setzte sich an einen freien Tisch, um sich ein belegtes Brötchen, Saft und etwas Pokémonfutter zu bestellen.

Die Sonne ging über dem Meer unter, tauchte alles für einige Minuten in orangefarbenes Licht, dann wurde es dunkel und die schummrige Deckenbeleuchtung sprang überall an. Irgendwie vermisste Rain ihr Zimmer, das bequeme Bett und das gute Essen. War es womöglich doch eine falsche Entscheidung gewesen? Normalerweise handelte sie nie kopflos und dann ausgerechnet das hier …

Sie schüttelte den Kopf, aß auf und nahm das Pokémonfutter mit in den Schlafsaal, um dort ihre beiden Pokémon zu füttern. Froxy hatte die Ruhe weg, mampfte still vor sich hin und beobachtete seine neue Trainerin hin und wieder aus den Augenwinkeln. Karpador hingegen sprang einige Male aufgeregt auf dem glatten Boden auf und ab.

„Reg dich ab, Fisch.“ Genervt hielt Rain ihrem Starterpokémon das Futter hin und wartete, bis auch Karpador seine Portion gegessen hatte. Es hatte sich dieses mickrige Dasein immerhin nicht selbst ausgesucht. „Wenn wir erst einmal in Illumina City sind, wird alles besser werden.“

Als eine ältere Dame zusammen mit ein paar Freundinnen den Schlafsaal betrat, zog Rain ihre beiden Pokémon in die Bälle zurück. Zum Schlafen zog sie nur ihre Jacke und die Schuhe aus, da sie die dünne Matratze nicht nur unbequem fand, sondern auch daran zweifelte, dass die Decke sie über Nacht wirklich warm halten würde. Mit zweifelnden Gedanken schlief sie jedoch kurz darauf ein und erwachte erst wieder am nächsten Morgen.

Das Blinken ihres ComDex‘, einem neumodischen Gerät für Pokémontrainer, das Pokédex und Mini-Computer vereinte, verriet mehr als nur eine neue, ungelesene Kurznachricht. Summer hatte ihr gleich mehrmals geschrieben, ihre Mutter zweimal und in der Nacht war eine Nachricht ihres Vaters angekommen. Natürlich war ihr Verschwinden schnell bemerkt worden, damit hatte sie gerechnet. Während sie sich aufsetzte und die Schuhe anzog, spielte sie die erste Voicemail von Summer ab: „Rain, wo steckst du? Bist du nochmal in die Stadt gegangen?“ Dann, eine halbe Stunde später: „Das ist nicht lustig, du könntest mir wenigstens antworten. Es tut mir leid, dass wir uns gestritten haben.“

Sie band die Schnürsenkel zu und löschte beide Nachrichten. Gegen 22 Uhr war eine Nachricht ihrer Mutter gekommen. „Rain, Schatz, so langsam machen wir uns Sorgen um dich. Summer hat mir von eurem Streit erzählt. Melde dich.“

Kurz darauf wieder Summer: „Rain? Ich gehe dich jetzt suchen. Ist was passiert?“

Noch einmal Summer: „Wir haben fast Mitternacht und es regnet. Mom ist total aufgelöst und hat Dad bei der Arbeit angerufen; er macht mal wieder Überstunden.“

Um zwei Uhr nachts noch einmal ihre Mutter: „Schatz, ich habe deinen Brief gefunden. Ich verstehe, das du sauer bist, aber einfach abzuhauen ist falsch. Dein Vater kommt gleich nach Hause. Melde dich, wenn du das hier hörst.“

Rain bekam ein ganz schlechtes Gewissen, spielte jedoch auch noch die letzte Voicemail ab, diese war von ihrem Vater, der mit erstaunlich ruhiger Stimme sprach. „Rain, du weißt bestimmt selbst, dass es keine Option ist deine Mutter so zu ängstigen. Sie ist krank vor Sorge. Darüber reden wir morgen, ich erwarte, dass du anrufst.“ Es folgte eine längere Pause. „Aber ich kann nicht behaupten, dass ich wütend bin. Damals, als ich in deinem Alter war, habe ich es genau so gemacht. Du bist mir ähnlicher, als mir manchmal lieb ist. Versprich mir einfach, dass du dich jeden Abend kurz meldest und immer auf dich aufpasst. Wir lieben dich, Schatz.“

Sie hatte Tränen in den Augen und spielte die letzte Nachricht noch ein weiteres Mal ab. Von allen Menschen stand ausgerechnet ihr Vater auf ihrer Seite und unterstützte sie. Es war zwar der falsche Weg gewesen, den sie gewählt hatte, aber er verstand, dass sie das hier tun musste. Alleine. Noch vor dem Frühstück rief sie ihn an und sprach länger mit ihm als in den ganzen Monaten zuvor.

Orania City

29. September
 

- Rain -
 

Orania City sah schon von Weitem wunderschön aus. Rain mochte die Stadt und die kleinen Häuser mit den orangeroten Dächern, die von der Sonne angestrahlt wurden. Wingull und ein fettes Pelipper kreisten über dem Steg, an dem die Fähre gerade anlegte. Während der Fahrt hatte Rain sich viele Gedanken darüber gemacht, was genau sie in Kalos tun wollte, aber zu einem richtigen Ergebnis war sie nicht gekommen. Sie wollte eine starke Pokémontrainerin werden, um Summer ein für allemal zeigen zu können, dass sie mit Taktik und Intelligenz weiter kam als mit ungestümen Verhaltensweisen.

Nachdem sie von Bord gegangen war, schaute sie sich in der Stadt um und entdeckte eine Gruppe Kindergartenkinder, die von ihrer Gruppenleiterin zum Meer geführt wurden, um sich mit der dortigen Flora und Fauna auseinander zu setzen. Die meisten Kinder interessierten sich jedoch nur für die Pokémon und kreischten begeistert, als das Pelipper von vorhin sich in ihre Nähe setzte und mit Brot füttern ließ.

Lächelnd ging sie weiter, entdeckte ein kleines Café und steuerte darauf zu. Das Frühstück auf der Fähre war überteuert und klein ausgefallen, für eine Flasche Sprudel und ein belegtes Brötchen hatte sie eintausend Pokédollar bezahlen müssen, so viel wie fünf Pokébälle im Markt kosteten. Wucher.

Das Café war klein und urig, aber gemütlich eingerichtet mit Bänken draußen vor der Tür, die freie Sicht auf den Hafen boten. Bereits so früh am Morgen herrschte reges Treiben und der Geruch von Kakao und Kaffee erfüllte die Luft. Ein junges Mädchen mit braunen, langen Zöpfen hatte Schwierigkeiten ihre Bestellung auf einem Tablett mit dem Elfun zu ihren Füßen zu koordinieren und gerade, als Rain ihr Hilfe anbieten wollte, geriet das Mädchen ins Straucheln und verschüttete ihren Kakao.

„So ein Mist!“

„Warte, ich helfe dir.“ Rain nahm ihr das Tablett ab, stellte es auf einem freien Tisch ab und wartete, bis auch Elfun sich dorthin bequemt hatte. Das Pflanzenpokémon gähnte träge, blinzelte und kletterte auf den Stuhl, wo es sich einen Keks vom Tablett angelte und daran knabberte.

Die Fremde wischte sich hektisch mit Papierservietten über den Pullover, konnte aber nichts mehr ausrichten. „So etwas muss auch ausgerechnet mir passieren.“ Stöhnend hob sie ihr Pokémon hoch, setzte sich auf den Stuhl und platzierte Elfun auf ihrem Schoß. „Danke für’s Tragen.“

„Kein Ding.“ Dann drehte sich Rain wieder um und ging zur Kasse, neben der sich die Warenauslage befand. Obwohl es noch recht früh war, entschied sie sich für Erdbeerkuchen, Kakao und hausgemachte Orangenpralinen, auf denen der Orden von Major Bob abgebildet war. Das Problem bestand nun allerdings darin, dass es keinen freien Tisch mehr gab. Überall hatten sich ältere Herren und Damen, Kinder oder Jugendliche auf dem Weg zur Schule hingesetzt und unterhielten sich angeregt. Aus der Not heraus kehrte Rain zu der braunhaarigen Trainerin von gerade eben zurück. „Hey, kann ich mich vielleicht zu dir setzen? Alle anderen Plätze sind schon belegt.“

„Klar, natürlich.“ Freundlich lächelnd schob sie ihr Tablett zur Seite und tätschelte Elfuns Kopf. „Kommst du aus Orania City?“

„Nein, ich bin nur auf der Durchreise.“

„Schade.“ Die Fremde lachte. „Ich dachte, du könntest mir ein paar Tipps geben, wie ich den Tag überstehen kann. Der Zug nach Illumina fährt erst heute Mittag ab.“

Rain horchte auf. „Du fährst auch nach Kalos? Ich auch.“

„Das passt doch perfekt, dann können wir uns zu zweit den Weg suchen. Ich bin übrigens Camille.“ Sie hielt Rain die Hand hin. „Camille Foster.“

„Rain Light. Freut mich, dich kennenzulernen. Von wo kommst du?“

„Ich bin gestern mit der M.S. Aqua aus Oliviana City in Johto angekommen, komme aber eigentlich aus Viola City. Die meiste Zeit im Jahr bin ich hier in Kanto in Prismania City an der Universität, aber weil mir das Studium auf die Nerven geht, bin ich zurück nach Hause gefahren. Du weißt schon: Immer ist alles total theoretisch, aber ich möchte raus an die frische Luft und etwas erleben. Mein Dad war einer der besten Schüler von Professor Eich an der Prismania Universität und erforscht jetzt die Alph Ruinen. Die Arbeit ist ziemlich cool, deshalb studiere ich auch Altertumswissenschaften, aber immer vergleichen mich alle mit meinem Dad und das nervt. Oh, entschuldige bitte, ich rede zu viel.“ Camille steckte sich einen Keks in den Mund und reichte einen weiteren an Elfun weiter.

Rain hatte ihr schmunzelnd zugehört. Sie mochte Camille bereits jetzt, da sie genau so aufgeweckt wie Summer zu sein schien, aber viel angenehmer in der Gesellschaft war. „Ich möchte auch studieren, aber zuerst werde ich ein wenig meine Pokémon trainieren.“

„Also bist du Pokémontrainerin?“

„Nein. Ja. Ach, ich weiß nicht so genau.“ Rain nippte an ihrem Kakao. „Ich habe zwar ein Karpador und ein Froxy, aber eine richtige Trainerin bin ich noch nicht.“

Camille nickte verständnisvoll. „Möchtest du dich auf Wasserpokémon spezialisieren? Dann könntest du auch nach Azuria City zur Arena gehen.“

„Nee, das ist nur Zufall. Wie sieht es eigentlich bei dir und Elfun aus?“

„Auch nur Zufall, wenn man das so sagen will.“ Noch ein Keks wanderte in Camilles Mund. „Als es noch ein Waumboll war, hat es in unserem Garten gelebt, weil mein Dad es von einer seiner Forschungsreisen mitgebracht hat. So kam eins zum anderen. Eigentlich möchte ich antike Pokémon erforschen, aber irgendwie ist Elfun mein Partner geworden und ich möchte dieses kleine Kuschelmonster auch nicht missen.“

„Wenn ich das richtig verstehe, hast du also auch noch kein konkretes Ziel in Kalos?“

„Ja, das stimmt. Ich bin davon überzeugt, dass es überall etwas Interessantes zu entdecken gibt und da mein Vater nicht in Kalos forscht, gehe ich dorthin. Möchtest du mich vielleicht begleiten?“

„Ich glaube nicht, dass Ausgrabungen und solche Sachen etwas für mich sind.“

Camille zuckte mit den Schultern. „Na schön. Aber wenigstens fahren wir zusammen hin, dann wird die Fahrt nicht ganz so langweilig.“

Während sie ihr kalorienreiches Frühstück aufaßen, hing Rain ihren Gedanken nach und war froh, dass Camille sie mit weiteren Gesprächen in Ruhe ließ. Stattdessen blätterte diese in einem Magazin über Gesteinspokémon, das von einem kleinen Verlag aus Marmoria City herausgegeben wurde. Rain hingegen grübelte über ihr Pokémonteam nach. Bisher besaß sie zwei Wasserpokémon, was nur so danach schrie, dass sie sich ein drittes Pokémon mit einem anderen Typ fing, um bessere Chancen zu haben. Vielleicht würde sie ja direkt in Illumina City fündig werden.

Nach dem Frühstück gingen sie gemeinsam im Markt einkaufen und sonnten sich dann noch eine Weile am Strand, bis sie zu dem kleinen Bahnhof aufbrachen, der neu gebaut und etwas außerhalb der Stadt war. Vor einigen Jahren hatte es ein regionsübergreifendes Projekt gegeben, um die Regionen verkehrstechnisch besser aneinander anzuschließen. Auch ihre Mutter Faith war im Planungsrat für Luftfahrt gewesen.

Die beiden zeigten dem Kontrolleur ihre Fahrkarten und bekamen ein eigenes Abteil zugewiesen. Glücklicherweise schienen nicht viele Leute diese Strecke zu nutzen und so war es angenehm ruhig. Elfun döste auf einem Fensterplatz, daneben saß Camille und laß weiter in ihrer Zeitschrift.

Rain tippte eine Kurznachricht an ihren Vater in ihren ComDex ein: Hey Paps, alles läuft gut. Sitze jetzt im Zug von Orania City nach Illumina City und habe schon eine neue Bekanntschaft gemacht: Camille Foster. Sie scheint ziemlich nett zu sein und ihr Vater ist Forscher. Mal schauen, was sich in Illumina ergibt. Ich freue mich schon auf mein eigenes Abenteuer.

Ein Flug mit Turbulenzen

2. Oktober
 

- Summer -
 

„Ich habe mir das Flugzeug irgendwie … größer vorgestellt.“ Summer stellte ihren großen Reiserucksack auf dem Rollfeld ab, während ihre Mutter ein paar Worte mit dem Piloten wechselte, der für die gleiche Gesellschaft flog wie Faith. Die beiden lachten, redeten über das Wetter und den neuen Flughafen von Illumina City. Mit dem Projekt, das die verschiedenen Regionen verkehrstechnisch stärker miteinander verband, hatten sich auch die regionstypischen Pokémon über die Grenzen ihrer Regionen hinweg verbreitet, aber das Ziel, dass es alle Arten in allen Regionen gab, war noch lange nicht erreicht.

„Wozu brauchen wir ein riesiges Flugzeug, wenn die kleine Maschine die wenigen Passagiere sicher von Finera nach Kalos bringt?“, merkte Henry an. Auch er hatte einen Reiserucksack gepackt und der Pokéball von seinem Nachtara hing wie immer lässig am Gürtel. „Faith hat uns doch schon erklärt, dass das hier nur eine wenig ausgelastete Route ist, weil nicht viele neue Besucher nach Finera kommen und gehen. Schade, dabei ist unsere Region so schön.“

„Und hier gibt es die beste Pizza!“ Summer zwinkerte ihrem Begleiter grinsend zu. Am Tag nach Rains Abgang hatte sie sich lange mit Henry unterhalten und ihn davon überzeugt, dass er sie in den ersten Wochen in Kalos begleiten sollte. Ihre Zwillingsschwester hörte zwar nicht auf sie, aber Henrys Worten würde sie bestimmt Glauben schenken, wenn er ihr sagte, dass sie zurück nach Hause kommen und den Trainer-Quatsch lassen sollte. Nun, jedenfalls war Summer davon überzeugt, dass es in Bezug auf Rain Quatsch war, denn ihre Schwester hatte sich bisher nie mit Karpador beschäftigt und passte besser in jede Unibibliothek als in die Arenen.

Der Pilot klopfte ihrer Mutter noch einmal auf die Schulter, dann wandte er sich an seine Passagiere. „Wir wären dann soweit.“ Über eine fahrbare Treppe mit Rollen konnten sie ins Innere der Maschine steigen. Da es keine festen Sitzplatznummern gab, suchte Summer sich einen Fensterplatz ganz vorne, neben ihr nahm Henry Platz. Außer ihnen gab es noch einige andere Passagiere, aber ein paar Plätze blieben frei.

„Passt gut auf euch auf!“

„Ja doch, Mom.“

„Und melde dich jeden Abend, Summer. Henry, lass dich nicht von ihr ärgern.“

„Mom!“

Faith kicherte, dann trat sie zurück, verschloss von außen die Tür und winkte ihnen von draußen zu.

Einige Minuten nachdem der Pilot in sein Cockpit verschwunden war, ertönte knackend seine Stimme aus den Lautsprechern: „Herzlichen Willkommen an Bord der FinAir F772 nach Illumina City. In wenigen Minuten werden wir unsere Startposition einnehmen. Schnallen Sie sich während des Startvorgangs bitte an. Einen Getränke- und Snackautomaten finden sie im hinteren Bereich gegenüber von den Toiletten. Ich wünsche einen angenehmen Flug.“ Dem folgten, während sie in Position rollten, die technischen Daten des Flugzeugs.

Als der Pilot das Signal bekam, startete das Flugzeug durch. Summer wurde leicht in den Sitz gedrückt und im nächsten Moment hoben sie auch schon von der Rollbahn ab. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann sah sie den kleinen Flughafen von Honey Island unter sich. Die türkisfarbenen Haare ihrer Mutter stachen ins Auge, wurden immer kleiner. Einzelne Bäume wurden zu einer grünen Fläche, dann kam das Meer und die ganze Insel lag unter ihnen.

„Wow.“

„Es ist wunderschön“, bestätigte Henry, der ihr über die Schulter schaute. Sobald sie die Flughöhe erreicht hatten, kramte er aus seinem Rucksack eine Tüte mit gerösteten Nüssen und eine Bento-Box hervor. Fein säuberlich hatte er auf der einen Seite Reis, auf der anderen Gemüse und Soße.

Summer holte ebenfalls ihr Frühstück raus, das allerdings weitaus chaotischer zusammengepackt war. „Dein Essen sieht köstlich aus, genau wie im Kochkanal.“ Als sie bemerkte, dass Henry bei dem Kompliment minimal rosafarbene Wangen bekam, zog sie ihn lachend damit auf. „Das muss dir doch nicht peinlich sein, Henry! Du bist der beste Koch, den ich kenne. Kein Wunder, dass du bald dein eigenes Restaurant hast.“

„Mag schon sein, aber deswegen musst du mir das nicht unter die Nase reiben.“

„Was ist daran denn schlimm? Nur, weil dein Bento wie das von einem Mädchen aussieht?“ Sie deutete auf die pinke Box. „Steh ruhig zu deiner femininen Seite.“

„Das ist die einzige Box, die bei euch noch frei war“, knurrte er zurück und widmete sich seinem Essen.
 

Summer erwachte aus ihrem Dämmerschlaf, als der Pilot eine Durchsage machte und der Flieger bereits wackelte. Er sprach von vorübergehenden Turbulenzen aufgrund eines Gewitters und das Lämpchen mit dem Symbol zum Anschnallen blinkte auf. „Wieso hast du mich nicht geweckt?“

Henry drehte sich zu ihr um. „Du hast geschlafen, außerdem sind wir gleich schon wieder durch das Gewitter durch.“

Sie zog eine Grimasse und überprüfte, ob die beiden Pokébälle noch fest an ihrem Gürtel saßen. In der Reihe hinter ihr saß ein junger Mann mit dem Logo einer Sportmannschaft. Sein Gesicht war kreidebleich, fast schon grünlich, und er murmelte vor sich hin, dass Arceus ihm beistehen solle. Kopfschüttelnd schaute Summer aus dem Fenster, als in dem Moment ein Blitz an ihnen vorbeizuckte und das Flugzeug ein Stück nach unten sackte. „Ah!“ Geblendet kniff sie die Augen zusammen, doch das gleißende Licht wollte nicht verschwinden. „Verdammt, ich sehe nichts!“

Wieder sackten sie nach unten. Der Mann hinter ihr schrie auf, als die Atemmasken aus ihren Vorrichtungen fielen und vor ihren Gesichtern baumelten. Von einem angenehmen Sinkflug konnte nicht die Rede sein. Stück um Stück rasten sie der größer werdenden Landschaft entgegen und allmählich bekam auch sie es mit der Panik zu tun. Summer wurde in ihren Sitz gedrückt und griff nach Henrys Arm. „Henry!“, schrie sie mit schriller Stimme und auch er sah auf einmal sehr blass aus.

„Meine verehrten Passagiere … es ist alles … unter Kontrolle.“ Die Stimme des Piloten knackte immer wieder, dann konzentrierte er sich. Pause. „Wir befinden uns in Turbulenzen, aber das ist kein Grund zur Sorge.“

„Kein Grund zur Sorge?“, wiederholte Summer und begann zu schwitzen. „Das da hinten am Horizont ist Illumina City oder?“

„Aber wir drehen ab“, fügte Henry hinzu.

Unter ihnen kamen die Bäume immer näher und näher, dann drosselte der Pilot das Tempo. Fast schienen sie die Baumspitzen zu streifen, dann stiegen sie wieder ein Stück auf. Ein Blick nach hinten verriet Summer, dass der Mann mit dem Sport-T-Shirt ohnmächtig geworden war. Sie drehte sich zurück nach vorne und krallte sich in den Sitz. Hoffentlich ging alles gut! Nur warum flogen sie so tief?

Ein Ruck ging durch die Maschine, dann setzten sie auf einer einsamen Piste auf und wurden nach vorne geschleudert. Rucksäcke flogen durch die Gegend und nur die Sitzgurte hielten die Passagiere zurück. Der Pilot vollführte eine Vollbremsung, brachte sein Flugzeug schlingernd zum Stehen und meldete sich kurz darauf zu Wort. „Wir sind gelandet.“ Er räusperte sich. „Leider mussten wir spontan den Kurs ändern und sind nun in der Nähe von Nouvaria City gelandet. Machen Sie sich keine Sorgen, es besteht eine ausgezeichnete Busverbindung nach Illumina City, die Sie selbstverständlich auf Kosten von FinAir nutzen können. Bitte warten Sie auf weitere Anweisungen.“

Über ihnen tobte noch immer das Gewitter, aber zumindest standen sie auf festem Boden. Summer schaute mit rasendem Herzen hinaus in den strömenden Regen, der in den letzten Minuten immer stärker geworden war. „Nouvaria City liegt in der Nähe von Illumina City oder?“

Henry nickte, sah aber noch immer sehr blass aus.

Es dauerte noch eine Weile, bis sie ihre Sachen nehmen konnten. Wie sich herausstellte, gehörte die leere Strecke, auf der sie gelandet waren, zu einem Neubaugebiet, mit dessen Bauarbeiten bald begonnen werden sollte. Einige Bauarbeiter hatten ihre Notlandung gesehen und kamen nun mit Regenschirmen zu ihnen. Der Pilot klärte alles mit dem Tower in Illumina City, dem Bauunternehmer und seinem Chef ab, dann konnten sie gemeinsam das Flugzeug verlassen.

Der Weg nach Nouvaria war matschig und mit tiefen Pfützen übersät, aber wenigstens mussten sie nicht länger im Flugzeug ausharren. „Ich werde nie wieder fliegen“, raunte Summer ihrem Begleiter zu, doch der Schock verflog schnell angesichts der neuen, unbekannten Region. Sie war endlich in Kalos! Es konnte nur besser werden.

Grün und Blau

3. Oktober
 

- Summer -
 

Hatschi! „Ich möchte mich nicht erkältet haben!“ Summer verzog das Gesicht und putzte sich wieder einmal an diesem Morgen die Nase. Man hatte sie im Pokémoncenter von Nouvaria City einquartiert und ihnen Busfahrkarten bis nach Illumina City gegeben, aber Henry und sie wollten nicht noch am Abend direkt nach der Notlandung des Flugzeugs aufbrechen. Stattdessen hatten sie die Nacht hier verbracht und nun quälte Summer sich mit einem Schnupfen durch den Morgen.

„Du hättest nicht im Regen rumlaufen sollen“, sagte Henry und schaute von seiner Müslischale auf. „Aber du wolltest ja nicht auf mich hören und dir im strömenden Regen die Stadt ansehen.“

„Das war doch nur kurz“, murrte Summer, nieste erneut und griff nach der Packung Taschentücher, die Schwester Joy ihr gegeben hatte. „Ich nehme gleich ein schönes Erkältungsbad, besorge mir was in der Apotheke und dann wird das schon wieder.“

„Du könntest dich auch einfach den Tag über ausruhen und wir fahren erst morgen. Der eine Tag macht nun wirklich keinen Unterschied.“

Summer streckte ihm die Zunge raus. „Vielleicht ist das ja auch eine Henry-Allergie.“

Er schüttelte mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf und widmete sich wieder seinem Müsli, während Summer über einem Stadtplan brütete und die Apotheke suchte, die sie direkt neben dem Supermarkt fand und dann auch gleich aufbrechen wollte.
 

„Eigentlich müssten wir schon da sein“, murmelte sie und schaute noch einmal auf den Stadtplan. „Oder sind wir falsch abgebogen?“ Summer schaute sich um, entdeckte jedoch weder den Supermarkt noch die Apotheke. Stattdessen standen sie vor der Arena, aus der gerade ein braunhaariger Junge mit Brille kam. „Hey, du!“

Der Fremde blickte auf und schob seine Brille ein Stück weiter nach oben. „Ja?“

„Wir suchen die Apotheke, weißt du, wo wir lang müssen?“

„Ehm … ich kenne mich hier nicht so gut aus, aber ich glaube, ihr müsst dort in die Straße und dann rechts.“

Freudig strahlend steckte Summer den Stadtplan weg. Erst dann fiel ihr auf, dass der Junge einen Orden in der Hand hielt und etwas geschafft aussah. Hatte er gerade den Orden von Nouvaria City erkämpft? „Oh wow, du bist auch ein Trainer? Herzlichen Glückwunsch zum Orden!“

„D-danke“, antwortete dieser verlegen und steckte den Orden in eine ansonsten noch leere Metallbox, auf deren Oberseite das Symbol von Kalos eingraviert war. „Möchtest du auch gegen Viola um den Krabbelorden kämpfen?“

Henry trat zu ihnen und nickte dem anderen Jungen freundlich zu. „Eigentlich sind wir nur auf der Durchreise, aber jetzt hast du der Madame hier bestimmt einen Floh ins Ohr gesetzt.“

„Hey!“ Empört knuffte Summer ihrem Begleiter in die Seite, dann verabschiedeten sie sich von dem Jungen und gingen zur Apotheke, die sie dieses Mal ohne Probleme fanden. Summer bekam eine Packung mit Tabletten und ein Nasenspray, Henry holte sich Honigbonbons. Danach schlenderten sie noch eine Weile durch die Stadt und kehrten anschließend zum Pokémoncenter zurück.
 

Die beiden Orden aus Turfu lagen vor Summer auf der Bettdecke und ihre metallische Oberfläche glänzte. Noch immer fand sie es schade, dass sie die Region hatte verlassen müssen, aber diese beiden Orden würde ihr niemand mehr nehmen können. Onix, Jurob und sie hatten viel trainiert und hart gekämpft, aber jetzt waren sie in Kalos und hier bedeuteten diese beiden Orden nichts. Wenn sie sich wirklich als Trainerin in Kalos beweisen wollte, würde sie noch einmal von vorne anfangen müssen.

Nouvaria City war eine schöne, große Stadt mit der ersten Arena der Region. Sie hatte sich informiert und wusste nun, dass Viola Käferpokémon einsetzte. Onix‘ Gesteinstyp war im Angriff ein Vorteil, sein Bodentyp ein Nachteil, weshalb sie nur mit Gesteinsattacken würde angreifen können. Jurob hatte weder einen Vor- noch einen Nachteil. Das sah nach einer soliden Grundlage aus, um gegen Viola antreten zu können.

Einige Minuten überlegte Summer noch, dann stand ihr Entschluss fest. Sie wollte die Orden der Region Kalos erkämpfen und es bis zur Top Vier schaffen, so wie ihre Eltern einst die Orden von Finera gewonnen und in der Liga gekämpft hatten. Der Zufall hatte sie hier her in diese Region geführt, aber sie würde ihre Siege nicht vom Zufall abhängig machen.

Gut gelaunt sprühte sie sich das Nasenspray in die Nase und machte sich auf die Suche nach Henry, den sie unten im Foyer vermutete, doch stattdessen saß dort der Junge von heute Morgen mit einem Enekoro, dessen Fell er bürstete.

„Hallo.“

Er schaute auf und lächelte sie schüchtern an. „Hey. Hast du die Apotheke gefunden?“

„Ja und mir geht’s auch schon viel besser.“ Summer ließ sich ihm gegenüber in einen der weichen Clubsessel fallen. „Dein Enekoro sieht richtig stark und elegant aus.“

Bei der Erwähnung seines Pokémon schien die Schüchternheit von ihm abzufallen und er lächelte stolz. „Danke. Wir haben viel in der Pokémon Tec gekämpft und das macht sich jetzt bezahlt. Viola war zwar eine harte Nuss, aber am Ende haben wir klar gewonnen.“

„Moment mal, du warst auf der Pokémon Tec? Der Pokémon Tec in Kanto?“ Ihre Augen wurden groß. Die Pokémon Tec war eine Technische Universität zwischen Azuria City und Orania City und bekannt für die vielen Ass-Trainer, die sie hervorbrachte. Aufnahmeprüfung und Training waren hart, aber der ganze Aufwand lohnte sich, denn mit einem Abschluss der Pokémon Tec war man automatisch für die Liga von Kanto qualifiziert und musste nicht erst alle acht Orden sammeln. „Aber wieso hast du ein Eneco bekommen, ich dachte, in Kanto werden noch die klassischen Regionsstarter verteilt?“

Der Junge nickte. „Mein erstes Pokémon war Schiggy, danach kam Eneco.“

„Wow, das ist sowas von cool! Dann bist du ein richtiger Ass-Trainer, ja? Darf ich mal gegen deinen Starter kämpfen? Jurob kann bestimmt viel von ihm lernen.“

Er senkte den Blick. „Turtok habe ich zu Hause in Azuria City gelassen. Es ist sehr stark geworden, irgendwann habe ich gemerkt, dass es nicht mehr auf mich gehört hat. Zwar habe ich den Abschluss der Pokémon Tec, aber was für ein Trainer bin ich, wenn nicht einmal mein Starter meine Anweisungen befolgt?“ Traurig schüttelte er den Kopf. „Zusammen mit Enekoro möchte ich hier neu beginnen und wenn ich stark genug bin, wird Turtok mich wieder als seinen Trainer akzeptieren.“

Summer kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Wie würde sie sich fühlen, wenn Onix auf einmal nicht mehr ihr Partner war? Die beiden mussten viel miteinander durchgemacht haben, bis Turtok irgendwann zu stark wurde. „Du musst aber ein guter Trainer sein, wenn Turtok einen so hohen Level erreicht hat. Wie heißt du eigentlich?“

„Bryce Dearing.“

„Ich bin Summer Light und mein Begleiter von vorhin ist Henry Frost. Wo er sich gerade herumtreibt, weiß ich allerdings auch nicht.“ Summer zuckte mit den Schultern. „Aber ich habe beschlossen, dass ich ebenfalls die Orden von Kalos haben möchte. Das macht uns zu Rivalen, nicht wahr?“

Bryce verzog das Gesicht.

„Kleiner Scherz. Wir könnten bestimmt viel voneinander lernen.“ Oder eher sie von ihm. Summer war ganz begeistert davon, dass Bryce offiziell den Abschluss als Ass-Trainer hatte, jetzt musste er seinem Titel nur gerecht werden. Sie lehnte sich vor und schaute ihm tief in die Augen. „Na, was meinst du?“ Dann fiel ihr etwas an seinen Augen auf, was sie stutzen ließ. Sie waren grün. Nein, blau? Beides? „Deine Augen haben ja unterschiedliche Farben!“

„Das nennt man Heterochromie“, erklärte er und schob seine Brille ein Stück hinauf. Es schien ihm unangenehm zu sein so im Mittelpunkt der Unterhaltung zu stehen. Sein rechtes Auge hatte ein fröhliches Maigrün als Farbe, sein linkes Auge war himmelblau.

„Oh man, du bist so toll!“ Summer kicherte, als Henry gerade zur Tür herein kam. Sie winkte ihm zu. „Henry, das ist Bryce Dearing, er ist ein waschechter Ass-Trainer aus Kanto und kämpft ebenfalls hier in Kalos um die Orden.“

„Ebenfalls?“

Summer gluckste. „Oh, stimmt, das weißt du ja noch gar nicht. Ich habe beschlossen, dass ich die Orden von Kalos sammeln möchte.“ Henry seufzte ergeben, doch Summer ließ sich davon überhaupt nicht beirren. „Das ist so klasse, dass wir uns getroffen haben, Bryce! Du musst mir unbedingt von deinem Kampf gegen Viola erzählen. Ich möchte alles wissen. Welche Pokémon hat sie eingesetzt?“

„Jetzt lass ihm doch Luft zum Atmen“, mischte Henry sich kopfschüttelnd ein und zog Summer an den Schultern hoch. „Du bist noch immer erkältet und brauchst Ruhe, um deinen Arenakampf kannst du dich morgen kümmern.“

Schmollend ließ sie sich von ihm hochziehen. „Bryce, bist du morgen beim Frühstück da?“ Als er nickte, hellte sich ihre Miene schlagartig wieder auf. „Großartig, dann sehen wir uns morgen!“ Mit diesen Worten gab sie Henry nach und kehrte auf ihr Zimmer zurück – allerdings nur, um sich Gedanken über ihre Kampfstrategie zu machen.

Mit Schirm, Charme und Melone

4. Oktober
 

- Summer -
 

Am nächsten Morgen fühlte Summer sich ausgeschlafen und wieder ganz gesund. Gleich nach dem Aufstehen wählte sie ein trendiges Oberteil, packte den Rest in den Rucksack zurück und verschwand im Gemeinschaftsbadezimmer der Etage, das sie blockierte, bis Henry energisch an die Tür klopfte.

Unten in der Kantine des Pokémoncenters entdeckte sie Bryce Dearing beim Frühstück, wie er über seinem ComDex saß und augenscheinlich in Gedanken versunken war. Sein ComDex hatte exakt dieselbe Farbe wie ihr eigener und passte gut zu Bryce‘ grünem Auge. „Guten Morgen“, begrüßte sie ihn und setzte sich zu ihm an den Tisch.

Bryce schaute verwirrt auf, brauchte einen Moment, bis er Summer zuordnen konnte, dann nickte er ihr zu. „Summer, richtig? Wie geht es deiner Erkältung?“

„Danke der Nachfrage, es ist alles wieder in Ordnung.“ Stolz hielt sie ihm ihren linken Arm hin, an dem sich ihr eigener ComDex befand und wie eine etwas klobige Uhr wirkte. „Wir haben uns für das gleiche Modell entschieden, cool oder?“ Da bemerkte sie, dass das kleine Symbol für Nachrichten am oberen Bildschirmrand blinkte. Sie hatte den Benachrichtigungston ausgestellt und gar nicht darauf geachtet. „Ups, meine Mom hat mir gestern geschrieben. Sie ist bestimmt sauer, weil ich ihr noch nicht geantwortet habe.“

„Dann solltest du das schnell nachholen.“

Sie nickte grinsend, stand auf und ging zum Frühstücksbüffet, während sie die Nachricht las: Rain geht es gut, sie ist auch in Illumina City. Vielleicht könnt ihr euch dort treffen? Viel Spaß, Mom + Dad

Ihre Eltern wussten ja noch gar nicht, dass sie eine Notlandung machen mussten und Henry und sie in Nouvaria City waren! Summer tippte eine kurze Antwort ein, dann bediente sie sich am Büffet und nahm wieder neben Bryce Platz. „Was machst du da eigentlich?“

„Ich überlege mir eine neue Strategie für Enekoro. Bisher habe ich es eher defensiv kämpfen lassen und ich stelle den Trainingsplan um.“

„Apropos Enekoro, ich würde zu gerne mal gegen dich kämpfen.“

Er nippte an seinem Mineralwasser und zog die Augenbrauen nach oben. „Du bist noch Jungtrainerin oder?“

„Aber nicht so schwach, wie du vielleicht denkst!“ Lächelnd fuchtelte sie mit dem Messer vor ihm herum. „Jurob und Onix sind nicht zu unterschätzen.“

Bryce schien zwar nicht wirklich begeistert zu sein, aber da Summer ihn nervte, stimmte er zu und erklärte, dass er direkt nach dem Kampf Richtung Illumina City aufbrechen wollte. Als auch Henry zu ihnen stieß, begrüßte er ihn höflich, brachte dann sein Tablett weg und zog sich in eine ruhige Ecke im Foyer zurück.
 

Als Bryce und sie sich auf dem Trainingsfeld hinter dem Pokémoncenter gegenüber standen, überlegte Summer, ob sie sich wirklich mit einem ausgebildeten Ass-Trainer messen wollte – und entschied sich natürlich dafür. Bryce wollte, dass sie ihre beiden Pokémon benutzte, während er nur Enekoro hatte, aber Summer wollte ihm zeigen, dass er ihr nicht überlegen war.

Henry nickte ihnen zu, stellte sich an die Seitenlinie und eröffnete als Schiedsrichter den Kampf.

Summers Onix materialisierte sich auf ihrer Hälfte des Feldes, brummte einen tiefen Basston und rollte sich zusammen. Die Felsnatter war beinahe neun Meter groß und so gigantisch und schwer, dass Summer ihren Starter nie im Haus hatte herauslassen dürfen. Doch hier auf dem Kampfplatz störte Onix niemanden.

Enekoro war elegant, besaß seidiges, gepflegtes Fell und leckte sich eine Pfote, während es Onix kritisch musterte. Dann gab Bryce auch schon den ersten Befehl. „Charme!“ Das Normalpokémon plusterte sein Fell auf, machte Onix schöne Augen und dessen Angriffskraft sank.

„Onix, lass dich nicht beirren, setz Härtner ein!“ Ihr Pokémon verstärkte seine Verteidigung, indem es sich Zeit nahm, um seine Gesteinshaut zu härten.

Doch Enekoro war keinesfalls untätig. Auf Bryce‘ Befehl hin sprang es auf Onix zu, nutzte einen passenden Moment und benutzte Finte. Zwar verursachte die Unlichtattacke nur einen neutralen Schaden auf Onix‘ Typen, doch Enekoro besaß ein höheres Level, war besser trainiert und stärker, sodass Onix schmerzhaft das Gesicht verzog und sich aufbäumte.

„Los, Klammergriff!“

„Ausweichen!“

Onix versuchte das schnellere Enekoro zu packen, brauchte jedoch mehrere Versuche, bis es den zierlichen Körper erwischte und zudrückte, woraufhin Enekoro aufschrie und sich verbittert zu befreien versuchte. Allerdings schien es sich eher der Bewegungsfreiheit wegen aus seiner Lage befreien zu wollen, denn großen Schaden nahm Enekoro durch diese Attacke nicht.

„Beende es mit Eisstrahl!“

Erschrocken riss Summer die Augen auf, als Enekoro die Eis-Attacke abfeuerte und ihr Onix besiegt in sich zusammen sank. Sie zog ihren Starter zurück und betrachtete nachdenklich den Pokéball. Dass Bryce ein starker Gegner war, hatte sie gewusst, aber dass er an TM-Attacken gekommen war, wusste sie nicht. Nun, jetzt war sie auf jeden Fall schlauer. Bekam man diese seltenen Attacken in der Pokémon Tec zur Verfügung gestellt? Bereits leicht gefrustet entließ sie ihr Jurob und befahl eine Kopfnuss.

Zeitgleich griff Enekoro mit Stromstoß an und die Runde war schnell vorbei. Jurob wurde schwer getroffen, sank zuckend zu Boden, während Enekoro den Rückstoßschaden einsteckte und leichtfüßig zu Bryce trottete.

Kopfschüttelnd zog Summer auch ihr zweites Pokémon zurück. „Ich habe mich immer für eine gute Trainerin gehalten, aber du bist eindeutig besser. Viel besser.“

Bryce schien das Kompliment unangenehm zu sein. Statt zu antworten kümmerte er sich um sein Pokémon und zog es in einen Mondball zurück.

„Er hat einfach mehr Erfahrung als du“, versuchte Henry sie zu besänftigen. „Lass den Kopf nicht hängen. Du hast zwei Orden in Turfu erkämpft, du bist gut.“

„Ja, weil ich den Typenvorteil hatte“, erwiderte Summer achselzuckend und wandte sich wieder an Bryce. „Benutzt du viele TMs? Die sind doch recht teuer und gar nicht überall zu haben.“

„Eine TM haben wir alle während der Schulzeit erhalten. Stromstoß habe ich dann zum Abschluss von meinen Eltern geschenkt bekommen. Turtok kann keine TM-Attacken.“

„Aber es ist noch stärker als Enekoro, nicht wahr?“ Wie sollte sie denn alle Orden von Kalos erkämpfen und anschließend in der Liga besser sein als Bryce? Er hatte einen Vorsprung, der ihr wie eine unüberwindbare Hürde vorkam.

Bryce räusperte sich und schob seine Brille zurecht. „Nun ja … ja. Es ist noch stärker, aber deswegen gehorcht es mir ja nicht mehr. Ich bin kein so toller Trainer, wie du denkst. Wie dem auch sei.“ Sein Blick wanderte in den wolkenverhangenen Himmel. „Ich werde jetzt losziehen. Sieht ganz nach einem Regenschauer aus. Zum Glück habe ich meinen Regenschirm dabei und genug Proviant. Schwester Joy hat eine riesige Lieferung an Melonen bekommen, ihr solltet euch auch etwas davon nehmen, schmeckt köstlich.“

„Ja, mal schauen.“ Summer verabschiedete sich von Bryce und lehnte sich an Henry, als der andere Trainer verschwunden war. „Das ist sowas von frustrierend.“

„Seit wann lässt du dich so schnell unterkriegen?“ Henry knuffte sie in die Seite,

„Tue ich gar nicht“, antwortete Summer und zog eine Grimasse. „Ich muss einfach mehr trainieren und den Krabbelorden erkämpfen, dann geht es mir bestimmt besser.“

Henry nickte. „Aber zuerst wirst du deine Pokémon bei Schwester Joy abgeben. Heute Nachmittag stelle ich dir gerne Nachtara als Trainingspartner zur Verfügung.“

„Nee, lass mal. Ich suche mir ein paar wilde Käferpokémon und die müssen dann ausbaden, dass ich jetzt verloren habe.“ Summer zwinkerte, kicherte dann und ging durch die Hintertür zurück ins Pokémoncenter, um sich für die nächste Trainingseinheit zu wappnen.

Der Krabbelorden

5. Oktober
 

- Summer -
 

Henrys Nachtara gähnte lautlos und machte es sich zu Füßen seines Trainers auf der Tribüne gemütlich. Seine schwarzen Ohren zuckten hin und wieder in verschiedene Richtungen, was darauf schließen ließ, dass es aufmerksam seine Umgebung scannte, doch seine Augen waren geschlossen und der Kopf sanft auf die Vorderpfoten gebettet. Sein Nachtara war stumm und konnte keinen Laut von sich geben, doch Henry wusste trotzdem immer, wie es seinem Pokémon ging.

Summer streckte den Daumen ihrer rechten Hand in die Höhe und Henry erwiderte diese Geste, dann drehte sie sich zu der Arenaleiterin Viola um. „Ich bin bereit.“ Der erste Orden aus Kalos sollte ihrer Meinung nach kein Problem sein, immerhin hatte sie in Turfu bereits zwei Orden erkämpft und den gestrigen Tag zum Trainieren genutzt. Ihr Onix mochte zwar nicht so wendig sein, aber es hatte Masse und einen starken Angriff.

„Gut, dann fangen wir an.“ Viola besaß zwei Pokémon, genau wie Summer. Ihre erste Wahl war ein Geweiher, das mit nervösen Schritten über Violas Hälfte des Kampffelds huschte und Summer nicht aus den Augen ließ. Diese schickte ihr Onix in den Kampf.

Onix baute sich vor dem kleinen Käferpokémon auf, warf seiner Trainerin jedoch einen schüchternen Blick zu, woraufhin diese auf Onix den Daumen hoch zeigte.

Summer atmete tief durch, dann begann der Kampf. „Katapult!“

Während Geweiher eine Ladung Blubber direkt in das Gesicht von Onix spritzte, schlug dieses einen Brocken aus dem Boden und schleuderte ihn direkt auf seinen Gegner. Geweiher quietschte und wurde von dem Aufprall über das halbe Kampffeld geschleudert, wo es unter dem Brocken liegen blieb und verzweifelt mit den Beinen in der Luft strampelte. Der Anblick hatte etwas ziemlich Lustiges an sich, sodass Summer grinsen musste. Da Gesteinsattacken gegen Geweiher doppelt effektiv waren, musste es bereits stark geschwächt sein. „Und jetzt beende es mit einem Klammergriff!“

Ihr Onix walzte sich auf den viel kleineren Gegner zu und zerquetschte es förmlich. Noch ein letztes Zucken der Beinchen, dann zog Viola ihr Pokémon mit einem gequälten Gesichtsausdruck zurück und entließ stattdessen ein Vivillon mit pinkem Flügelmuster in die Luft.

Vivillon hatte sogar eine Vierfachschwäche gegen Gesteinsattacken. Summer war sich sicher, dass Onix nur einmal mit Katapult einen guten Treffer landen musste und sie dann den Orden in der Tasche hatte. Siegessicher wies sie die Attacke an und sah zu, wie ihr Starter den Schmetterling mühelos auf den Boden pinnte.

Mit einem strahlenden Lächeln nahm sie den Krabbelorden entgegen, dann zog sie Onix zurück und marschierte mit erhobenem Kinn zu Henry. „Na, das war ein Spaziergang.“

„Viel zu einfach, hm?“ Henry grinste ebenfalls und tätschelte Nachtaras Kopf, woraufhin sich das Pokémon erhob. „Du hast Onix wirklich gut trainiert, sein Angriff ist stark geworden. Ein Glück, dass du damals auf Rain gehört und ein EV-Training durchgeführt hast.“

„Ja, das stimmt wohl.“ Summers Lächeln verschwand, als sie an ihre Zwillingsschwester dachte. Rain kannte sich mit diesen Dingen immer viel besser aus als sie, wälzte nächtelang Bücher und entwickelte Pläne und Strategien, wie man das Beste aus einem Pokémon herausholen konnte. Wäre es damals nach Summer gegangen, hätte sie sich einfach gegen die nächstbesten Pokémon in den Kampf gestürzt. Was Rain jetzt wohl gerade in Illumina City machte?

Als hätte Henry ihre Gedanken erraten, klopfte er ihr tröstend auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen um sie. Rain kommt alleine klar, sie ist schließlich ein ziemlich cleveres Mädchen.“

„Ich mache mir keine Sorgen“, log Summer und winkte das Thema ab. „Lass uns gleich unsere Sachen aus dem Pokémoncenter holen und nach Illumina City aufbrechen. Es ist noch nicht einmal Mittag, wenn wir uns beeilen, können wir die Route 4 bis zum Nachmittag schaffen. Schwester Joy hat erzählt, dass man diese Route auch Parterre-Weg nennt und es dort viele kleine Gärten und einen großen Springbrunnen gibt. Das müssen wir uns unbedingt gleich ansehen.“

Henry folgte ihr aus der Arena, aber Summer dachte gar nicht weiter an die hübsch gestaltete Route, die sie gleich sehen würden. Rain und sie hatten sich nun schon eine ganze Woche nicht mehr gesehen, das war eine Ewigkeit, wenn man bedachte, dass sie früher immer alles gemeinsam gemacht hatten.
 

Schwester Joy hatte ihnen nicht zu viel versprochen; der Parterre-Weg war wunderschön. Überall gab es bunte Blumenfelder mit Flabébé und junge Trainer aus Nouvaria City trainierten dort.

„Willst du dir kein Flabébé fangen? Ein Feen-Typ würde dein Team gut ergänzen.“

„Nee.“ Summer verzog das Gesicht. „Guck dir die doch mal an, das passt gar nicht zu mir. Flabébé sind so zerbrechlich.“

„Ich dachte, du willst kein Pokémon nach seinem Aussehen beurteilen?“ Prüfend zog Henry die Augenbrauen hoch, doch als Summer lediglich mit den Schultern zuckte, beließ er es dabei und wechselte das Thema.

Am Mittag hatte die Sonne ihren höchsten Stand erreicht und es wurde so heiß, dass sie sich nur noch im Schatten aufhielten und eine Pause einlegten. Der Spätsommer in Honey Island war stets sehr angenehm, da vom Meer immer eine kühlende Brise kam, aber hier schien die Luft zu stehen und beide waren schnell durchgeschwitzt, dabei hatten sie gerade erst den halben Weg hinter sich.

Eine Weile saßen sie einfach nur auf dem Boden und aßen ihr Lunchpaket, aber dann hörten sie die Stimmen der Trainer auf der Route, die aufgeregt durcheinander redeten.

„Oh mein Gott, ja, sie ist es!“, quietschte ein Mädchen ganz in ihrer Nähe und verschickte hastig einige Nachrichten mit ihrem Comdex. Sie trug einen Minirock, ein modisches, schwarzes Oberteil und darunter trotz der Hitze eine dünne, weiße Bluse mit einer rosafarbenen Schleife. Auf der Route hatten sie schon mehrere dieser Mädchen gesehen und Henry hatte Summer erklärt, dass es sich dabei um eine Trainerklasse namens Göre handelte.

„Hey, warum die ganze Aufregung?“ Summer stand auf und schirmte ihren Blick mit der Hand gegen die Sonne ab, als die Göre sich zu ihr umdrehte.

„Lebst du hinter’m Mond oder was? Da hinten ist Mila, die Mila.“ Sofort geriet das blonde Mädchen ins Schwärmen. „Sie sieht umwerfend aus. Ich muss mir sofort ein Autogramm von ihr holen!“

Summer verstand nur Bahnhof. „Und wer ist Mila?“ Daraufhin wurde sie von der Göre angeschaut, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank.

„Verarsch mich nicht. Du kennst Mila nicht?“ Die Blonde schüttelte den Kopf, wandte sich ab und rannte zu dem Pulk von Trainern, der sich unweit ihres Standortes gebildet hatte.

„Kennst du Mila?“

Henry schüttelte ebenso ratlos den Kopf. „Keine Ahnung, wer das sein soll. Lass uns mal zu den anderen gehen, dann wissen wir mehr.“

Gemeinsam näherten sie sich den jungen Trainern, die vollkommen verzückt um ein Mädchen standen, das mit Engelsgeduld allen Autogramme gab. Die Fremde, vermutlich diese Mila, hatte langes, hellblondes Haar mit Strähnen in verschiedenen Blautönen, dazu trug sie ein luftiges, weißes Sommerkleid mit Blumendruck.

Summer stupste einen kleinen Jungen an, der gerade mit einem Autogramm in der Hand die Gruppe verließ. „Hey, Kleiner. Kannst du mir sagen, wer genau Mila ist?“

Selbst dieser Grundschüler musterte sie entgeistert, doch dann schien er froh zu sein mit seinem Wissen punkten zu können. „Jeder kennt Mila, sie ist ein richtiges, echtes Idol. Früher war sie nur eine Schönheit, aber als Cousine der Kampf-Châtelaines hat sie es im Fernsehen zu ihrer eigenen Sendung gebracht. Sie ist ja so berühmt in Kalos!“ Bis über beide Ohren strahlend rannte der Knirps weg.

Henry nahm Summer bei Seite und sie ließen den Aufruhr hinter sich. „Schönheit und Idol sind ebenfalls Trainerklassen, aber ich wusste gar nicht, dass es auch hier Idole gibt. Von den Kampf-Châtelaines habe ich schonmal gehört. Ich glaube, sie heißen Soir, Journée, Matin und Nuit.“

Ratlos blickte Summer über die Schulter zurück. Ihr kam der ganze Trubel um den Fernsehstar verrückt vor. Da hätte sie es schon eher verstanden, wenn es sich um einen berühmten Pokémontrainer wie zum Beispiel Ash Ketchum gehandelt hätte. „Die spinnen hier wohl alle.“ Noch eine ganze Weile grübelte sie über Mila, das Idol, nach, doch dann erreichten sie auch schon die Stadtgrenze von Illumina City und ganz andere Gedanken machten sich in ihr breit.

Obdachlos?!

5. Oktober
 

- Summer -
 

„Wie soll man sich in dieser Stadt bitte jemals zurechtfinden können?“ Verzweifelt seufzend drehte Summer sich einmal um die eigene Achse und schirmte ihre Augen gegen die tief stehende Nachmittagssonne ab, die noch gerade so über den Dächern der Hochhäuser zu sehen war.

„Ich habe dir gleich gesagt, dass wir zuerst ins Pokémoncenter hätten gehen sollen und danach die Stadt erkunden.“

„Ach sei doch still“, murrte Summer ungehalten. Als sie vor gute zwei Stunden von der Route 4 in die Metropole gelangt waren, hatten sie den Weg zum Pokémoncenter ohne Probleme gefunden, aber sie hatte sich unbedingt zuerst den berühmten Prismaturm ansehen wollen. Nun standen sie mitten in einer der unendlichen Straßen Illuminas und wussten nicht, wo es zurück ging. „Lass uns einfach zurück zum Prismaturm und dann fragen wir uns durch, in Ordnung?“

Henry nickte schweigend und ging voraus. Überall um sie herum herrschte geschäftiges Treiben. Menschen und Pokémon liefen wild durcheinander und immer wieder sah man Chevrumm, die Kunden der Taxigesellschaft von einem Ort zum anderen transportierten. Kurzerhand fragte Henry bei einem Passanten nach dem Weg zum Pokémoncenter. Sowohl Summer als auch er waren überrascht, dass es in Illumina City sogar drei Center gab, das nächste befand sich am Place Rose, dann huschte der Mann genervt weiter.

„Das hilft uns auch nicht weiter. Mir tun die Füße schon weh.“

Genervt drehte Henry sich zu der Jüngeren um. „Summer, reiß dich zusammen. Bei Arceus, wir sind doch bald da.“

Da sie ihn selten sauer erlebt hatte, schaute Summer beschämt zu Boden und schwieg. Sie überließ Henry das Fragen nach dem Weg, bis sie in einer ruhigeren Seitenstraße den Place Rose fanden und – endlich! – ein Pokémoncenter, vor dem sich eine Traube an jungen Menschen gebildet hatte. Vor dem Eingang zum Center stand Schwester Joy und versuchte die Menge zu beruhigen.

„Bitte bleiben Sie ruhig, meine Damen und Herren. Die Techniker arbeiten bereits fieberhaft an einer Lösung des Problems.“

Vorsichtig schoben Summer und Henry sich in der Menge weiter nach vorne, um mehr als nur den rosa Haarschopf von Schwester Joy sehen zu können. Sie standen seitlich von ihr, konnten nun jedoch erkennen, dass sie nicht ihre Uniform trug, sondern in normalen Klamotten umherlief. Ihr Gesichtsausdruck war gar nicht so gelassen, wie man es von den Joys kannte. Statt freundlich zu lächeln schaute sie verkrampft umher, kaute auf ihrer Unterlippe und nestelte an ihrem T-Shirt, auf dem ein grinsendes Lektrobal abgebildet war.

„Das ist unerhört, mein Pokémon braucht jetzt eine Versorgung nach dem Kampf!“, rief ein erboster Junge, doch seine Worte gingen im allgemeinen Gemurmel und Gezeter der Menschenmenge unter.

Schwester Joy fuhr sich durch die offenen, rosafarbenen Haare und warf einen beinahe panischen Blick durch die Glastür hinter sich. „Es tut mir wirklich leid, aber der Computerserver hat einen Totalcrash. Heutzutage läuft alles über die Elektronik, die Maschinen im Center funktionieren bis auf Weiteres nicht mehr.“

„Als ob es nur die Maschinen wären, mein ganzer Rucksack ist nass!“ Ein Mädchen neben Summer rollte wütend mit den Augen und wandte sich an sie, als diese sie fragend anschaute. „Heute früh ist der Server ausgefallen und hat nicht nur das ganze Computersystem lahm gelegt, sondern auch die Rauchmelder anschlagen lassen. In jedem verdammten Raum hat’s von der Decke gepisst wie aus Eimern. Voll die Scheiße!“ Sie hielt ihr einen Reiseführer unter die Nase, der zwar mittlerweile getrocknet war, aber so gewellt war, dass man ihn kaum noch gebrauchen konnte. „Scheißdreck!“

Henry tippte Summer auf die Schulter und beugte sich zu ihr runter, damit sie ihn überhaupt richtig verstehen konnte. „Es sieht nicht danach aus, dass wir hier heute noch ein Zimmer bekommen. Lass uns zurück zum Pokémoncenter am Südring gehen.“

„Meine armen Füße“, war alles, was Summer erwiderte. Sie schulterte ihren Rucksack und folgte Henry vom Place Rose zurück zum Prismaturm. „Warum nehmen wir uns nicht einfach ein Taxi?“

„Die sind zu teuer.“

„Du hast noch gar nicht nach dem Preis geguckt.“ Sie wusste, dass Henry nicht so viel Geld zur Verfügung hatte wie sie, aber Summer wollte am liebsten keinen einzigen Meter mehr laufen. „Ich lade dich auf die Fahrt ein. Komm schon, Henry.“ Als er nicht antwortete, stellte sie sich vor ihn und zog eine Schnute. „Bitte.“

Er seufzte ergeben und schüttelte den Kopf. „Du kannst ganz schön anstrengend sein. Na schön, dann eben mit dem Taxi.“

Freudig rannte Summer – ungeachtet ihrer schmerzenden Füße – zum nächsten freien Taxi und winkte Henry zu sich. „Zum Pokémoncenter am Südring.“ Henry nahm neben ihr auf der Rückbank Platz, dann ging es auch schon los. So eine entspannte Methode von einem Ort an den anderen zu kommen, war Summer eindeutig lieber als das ständige Laufen.

Gemütlich ließen sie sich von dem Taxifahrer durch die Straßen der Stadt chauffieren, bis sie nach einer guten Viertelstunde das Pokémoncenter am Südring erreichten. Summer zahlte den gewünschten Betrag, stellte dabei allerdings fest, dass dies ihr letztes Bargeld gewesen war und sie morgen unbedingt mit ihren Eltern telefonieren musste, damit diese ihr Geld zukommen ließen.

„Wir hätten wirklich laufen können“, sagte Henry noch einmal und schaute sie mit einem durchdringenden Blick an. Sein Vater Caleb hatte nach seinem Ausstieg bei Team Dark lange Zeit keine richtige Arbeit gefunden und sich schließlich als Pizzabäcker selbstständig gemacht. Henry hatte es als Kind zwar an nichts gefehlt, aber er hatte auch nie so viel gehabt, wie das bei anderen Kindern der Fall war. Sein Zimmer war klein, aber seine Eltern hatten sich stets liebevoll um ihn gekümmert, auch wenn das Geld stets knapp war. Summer hingegen war eine Light und Geldsorgen waren ihr fern. Genau dieses leichtfertige Verhalten störte ihn von Zeit zu Zeit, was Summer auch wusste.

Summer zuckte mit den Schultern und ging durch die automatischen Glastüren ins klimatisierte Innere des Pokémoncenters. Schwester Joy stand am Schalter und lächelte ihnen zur Begrüßung freundlich zu. Sie machte einen viel kompetenteren Eindruck als die Joy am Place Rose.

„Guten Abend, wie kann ich euch helfen?“

„Wir hätten gerne zwei Plätze für die nächsten Tage. Am liebsten Einzelzimmer, aber wenn die schon belegt sind, nehmen wir auch den Schlafsaal.“

Schwester Joy wiegte ihren Kopf leicht hin und her. „Oh, das tut mir wirklich leicht, aber wir sind ausgebucht.“

„Wie bitte?“ Summer wurde blass. Sie musste sich verhört haben! „Wie kann ein Pokémoncenter ausgebucht sein?“

„Nun, Illumina City ist eine Großstadt, hat die Arena, viele Sehenswürdigkeiten und ist die kulturelle Metropole von Kalos. Wir sind immer gut belegt.“ Schwester Joy lächelte matt und tippte etwas auf die Computertastatur, auch wenn sie bereits sicher war, dass kein Bett mehr frei war. „Wie gesagt, wir sind leider bereits vollkommen ausgebucht. Das Pokémoncenter am Place Rose ist momentan geschlossen, deshalb sind heute alle freien Betten blitzschnell vergriffen gewesen.“

„Das kann doch nicht wahr sein!“ Summer stöhnte genervt und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tresen. „Wir können auch im Schlafsack im Schlafsaal schlafen oder so.“

„Ah, das wird leider nicht möglich sein.“ Betrübt schaute die Joy auf ihre gepflegten Hände. „Wir haben Vorschriften wegen Brandschutz und so weiter, deshalb dürfen wir nicht mehr Trainer aufnehmen, als Betten zur Verfügung stehen. Im Pokémoncenter am Nordring sieht es auch nicht besser aus. Es gibt einige günstige Hotels in den Nachbarstraßen, wenn ihr euch umschauen geht. Vielleicht werdet ihr ja dort fündig.“

„Aber wir müssen irgendwo schlafen“, schaltete sich nun auch Henry ein und trommelte mit den Fingern auf dem Tresen herum. „Gibt es hier denn wirklich keine Möglichkeit?“

Schwester Joy schüttelte den Kopf. „Nein, es tut mir wirklich sehr leid. In ein paar Tagen wird das Pokémoncenter am Place Rose wieder offen sein, bis dahin müsst ihr euch eine andere Unterkunft suchen.“

Summer und Henry sahen sich einige Sekunden lang schweigend an, dann bedankten sie sich für die Auskunft und gingen zurück nach draußen.

„Na toll.“ Summer schnaubte verächtlich. „Ich habe gerade mein letztes Geld für die Taxifahrt ausgegeben. Hast du genug mit, um uns ein Hotelzimmer zu bezahlen?“ Ihre Laune sank weiter in den Keller, als Henry zu Boden schaute. Natürlich hatte er kein Geld dafür übrig. „Die Sonne geht schon unter und wir haben keinen Ort, an den wir gehen können. Henry, wir sind obdachlos!“

Hoch Tiffany

1. Oktober
 

- Rain -
 

„Hoch Tiffany beschert uns auch in den kommenden Tagen strahlenden Sonnenschein und für diesen Monat ungewöhnlich hohe Temperaturen. Man mag es Anfang Oktober vielleicht nicht denken, aber holen Sie Ihre Badesachen wieder aus dem Schrank, es wird heiß, heiß, heiß. Damit schließen wir den Wetterbericht für diese Woche. Genießen Sie den zweiten Hochsommer.“ Die Wetterfee warf noch ein letztes, strahlendes Lächeln direkt in die Kamera, dann wurde sie ausgeblendet und das Logo von Kalos TV erschien, während die Maskottchen, ein Psiau, ein weibliches und ein männliches Psiaugon im Comic-Stil quer durch den Bildschirm liefen.

Rain wandte sich vom Fernsehgerät in der Lounge des Pokémoncenters ab und schaute nach draußen. Seit ihrer Ankunft in Kalos hatte sie kein einziges Mal etwas Langärmliges getragen und ihre Jeans war kurzen, weißen Shorts gewichen. Schade, dass sie ihre Sandalen zu Hause gelassen hatte, aber wer rechnete im Herbst auch mit solch hochsommerlichen Temperaturen?

Die Menschen draußen wirkten fröhlich und ausgelassen, flanierten über den Place Rose und aßen in den unzähligen Cafés Eis und Kuchen. Rain bevorzugte für den Moment das klimatisierte Pokémoncenter, denn sie brütete über einer Strategie für Froxy, mit dessen Training sie am liebsten noch heute beginnen wollte. Das Wasserpokémon der Art Blubbfrosch hatte eine gute Initiative, Angriff und Spezialangriff waren ausgeglichen. Später würde es ein Quajutsu werden und Rain schwankte zwischen einem speziellen und einem gemischten Movepool. Von ihrem Ersparten könnte sie ein oder zwei TMs kaufen, aber dann war ihr Taschengeld fürs Erste weg, das wollte sie nicht.

Seufzend nippte sie an ihrem Mineralwasser und schaute einer braunhaarigen Trainerin zu, die gerade durch die automatischen Glastüren eintrat. Sie trug trotz des Wetters schwarze Kleidung, nietenbesetzte Lederhandschuhe und hatte lange, schwarz lackierte Fingernägel. In der einen Hand hielt sie ein Magazin, auf dessen Titelblatt eine hellblonde, junge Frau mit blauen Haarsträhnen abgebildet war. In dicken, glitzernden Lettern stand darunter die Überschrift: Milas Geheimnis. Das Idol im exklusiven Interview über ihre Kette und ihre erste große Liebe. Klang ziemlich reißerisch.

„Was glotzt du so?“ Die Trainerin kam näher, kniff die Augen zusammen und baute sich vor Rain auf. „Haste ein Problem, hä?“

Rain hob tadelnd eine Augenbraue. „Nein, alles bestens.“

„Gut, kümmere dich um deinen Kram, du Null.“

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie die andere auf ihr unhöfliches Benehmen ansprechen sollte, beließ es jedoch dabei. Es hatte eben nicht jeder gute Manieren. Kopfschüttelnd widmete sie sich wieder ihrem Comdex, in dem sie die Attacken durchscrollte, die Froxy und später Quajutsu lernen konnten.

Nach ihrer Ankunft am neu gebauten Bahnhof hatte sie sich relativ schnell von Camille verabschiedet, allerdings hatten die beiden Mädchen ihre Trainer-IDs im Comdex der jeweils anderen eingelesen, sodass sie sich nun jederzeit Kurznachrichten schicken konnten. Sie würden beide eine Weile in Illumina City bleiben, vielleicht liefen sie sich ja noch einmal über den Weg. Rain hatte Camille eigentlich gemocht und ihre Gesellschaft genossen, aber sie verstand auch, dass die Ältere ihren eigenen Interessen nachgehen wollte.

Kurzerhand packte Rain ihre Sachen zusammen und ging nach draußen in die Hitze. Schon nach wenigen Metern begann sie zu schwitzen. Dieses Wetter war wirklich ziemlich ungewöhnlich. Den ganzen Sommer über hatte es nicht diese Temperaturen gegeben. Schnaufend bahnte sie sich ihren Weg zu einem der Kanäle, in denen das Wasser ruhig vor sich hin plätscherte.

In den Bäumen saßen einige Schwalbini und putzten ihre Gefieder. Auf der anderen Seite des Kanals hüpfte ein Dartiri herum und oben in der Luft kreisten Wingull, die versuchten sich mit ihrem Geschrei gegenseitig zu übertrumpfen. Mit der Umsiedlung der Pokémon in alle Regionen hatten die Wingull sich überall schnell einen Weg entlang der Gewässer gebahnt, aber Rain war es recht so, denn diese Pokémon erinnerten sie an ihr Zuhause.

„Also dann, Froxy. Los geht’s.“ Sie entließ ihr Froxy, das einmal herzhaft gähnte und sie dann erwartungsvoll anschaute. Nachdem sie ihr Pokémon ins Wasser geschickte hatte, ließ sie es dort einige Runden ziehen, damit es sich aufwärmen konnte. Es war nicht zu übersehen, dass dem Wasserpokémon der Kanal viel lieber war als die aufgeheizten Fußwege. Nach einiger Überlegung schickte Rain auch ihren Starter Karpador ins Wasser. Der Fisch blubberte vergnügt vor sich hin und sprang energiegeladen vor ihr auf und ab, doch sie ignorierte Karpador und bedeutete ihm mit einer Handbewegung sich selbst zu beschäftigen.

Nachdem Froxy seinen Spaß gehabt hatte, rief sie ihr Pokémon zu sich und zeigte auf ein Schwalbini, das am Boden nach Brotresten pickte. „Greif es mit Blubber an.“ Sogleich stellte Froxy sich breitbeinig hin, holte tief Luft und schoss eine Ladung der Blasen auf Schwalbini, die bei Körperkontakt explodierten.

Das Vogelpokémon kreischte erschrocken auf, flog in die Luft und krächzte aufgebracht.

„Noch einmal Blubber.“

Auch der zweite Angriff traf, doch dieses Mal ließ Schwalbini das nicht auf sich sitzen und holte zum Gegenangriff aus. Der Ruckzuckhieb war so schnell, dass Rain ihr Pokémon bereits durch die Luft fliegen sah. Mit einem heftigen Aufprall landete Froxy auf dem Steinboden und stand schwankend wieder auf. Das sah nach einem Volltreffer aus.

Gerade wollte sie wieder Blubber befehlen, doch Schwalbinis Freunde eilten dem Artgenossen zur Hilfe. In wenigen Sekunden hatten sich die Schwalbini und Dartiri zusammengetan und schnatterten wütend durcheinander. Selbst die Wingull weiter oben am Himmel kreischten vergnügt und beobachteten das Spektakel genau.

„Oh oh …“ Im nächsten Augenblick stürzten sich gleich fünf der Vögel auf Froxy. Rain konnte sich gerade noch ihr Pokémon schnappen und Karpador in den Pokéball zurückziehen, dann rannte sie die Straße entlang, direkt hinter ihr die wütende Meute, die ihr mit scharfen Schnäbeln und Krallen in die Haut piekten. „Hey, lasst das!“ Sie bog um eine Ecke, rannte über die Straße und hielt erst keuchend an, als ihre Verfolger sie in Ruhe ließen und zurück zum Kanal flogen. Erleichtert atmete sie aus. Der Place Rose war ganz in der Nähe und Froxy brauchte nach diesem Angriff erst einmal eine Heilung, also zog Rain auch ihr zweites Pokémon in den Ball zurück und ging wieder zum Pokémoncenter.

Während sie darauf wartete, dass Schwester Joy fertig mit Froxy war, schrieb sie eine kurze Nachricht an Camille: Erste Trainingseinheit am Kanal. Keine gute Idee, alles voller Vogelpokémon.

Nur wenige Sekunden später kam die Antwort. Immerhin keine Sleima, die leben zwischen Kanal und Abwasserrohren und deren Geruch bekommt man so schnell nicht mehr weg ;-) Lächelnd schaute Rain ihren dunkelgrauen Comdex an. Eigentlich war es schade, dass Camille nicht hier war, mit ihr hätte sie sich gerne über das Training unterhalten.

Sie schrieb auch ihren Eltern eine Nachricht, erkundigte sich, wie es zu Hause lief und wie es Summer ging. Mit Sicherheit würde ihre Schwester jeden Moment nach Kalos aufbrechen, die Flugtickets wollte sie garantiert sofort nutzen. Vielleicht würden sie sich in den nächsten Tagen ja hier in Illumina City treffen, aber vielleicht auch nicht. Rain war nicht besonders scharf auf die Gesellschaft ihrer Zwillingsschwester.
 

Am Abend kam die Antwort ihrer Mutter. Ihnen ging es gut und Rain wollte am nächsten Morgen zusammen mit Henry nach Kalos aufbrechen. Natürlich hatte sie Henry mitgenommen, das war Rain von Anfang an klar gewesen. Außerdem schrieb ihre Mutter, dass sie Kontakt zu ihrer Cousine aufnehmen würde, die vor einigen Jahren nach Illumina City gezogen war.

Rain wusste nicht viel von der Familie mütterlicherseits. Ihr Vater, Joel Light, hatte eine Zwillingsschwester, Trixi, aber seine Eltern waren beide Einzelkinder gewesen, daher gab es auf der väterlichen Seite nur noch Trixis Kinder Grace und Julius. Ihre Mutter war ebenfalls Einzelkind, hatte allerdings noch einige Tanten und Onkels, die Rain nie kennen gelernt hatte. Es gab ein paar Familienfotos von der Hochzeit ihrer Eltern, aber das war es dann auch schon. Dass ihre Mutter daher ausgerechnet jetzt Kontakt zu einer ihrer Cousinen aufnehmen wollte, überraschte sie.

Karpador und Froxy ging es gut, beide hatten von dem Angriff nicht viel abbekommen und ruhten nun nach der Fütterung in ihren Pokébällen. Wenn sie sich als Trainerin verbessern wollte, musste sie sich morgen dringend einen anderen Trainingsplatz suchen, zum Kanal würde sie kein zweites Mal gehen. Eine der Routen außerhalb der Stadt war mit Sicherheit besser geeignet. Aus diesem Grund las Rain in ihrem Reiseführer und schaute nur kurz hoch, als die braunhaarige, schwarzgekleidete Trainerin von heute Mittag einen Streit mit einem anderen Trainer anfing.

„Ich hab dir schon mal gesagt, dass das mein Sitzplatz in der Kantine ist, Pisskopf.“

Der Junge schluckte, drehte jedoch seine Cappi nach hinten und schaute das Mädchen trotzig an. „Glaub bloß nicht, dass du dich hier aufspielen kannst, Schweinegesicht.“

„Wie hast du mich genannt?!“ Fassungslos starrte sie ihn an und ihre Wangen nahmen eine dunkelrote Färbung an. Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie ihm mit der bloßen Faust eine runterhauen wollen, doch dann packte sie ihn nur am Kragen und zog ihn näher zu sich heran. „Na warte, ich verpasse dir eine Abreibung, die sich gewaschen hat. Meine Pokémon werden dich fertig machen.“

„Das werden wir ja sehen.“

Gefolgt von einigen anderen Schaulustigen gingen die beiden nach hinten, von wo eine Tür zum sandigen Trainingsplatz des Pokémoncenters führte. Eigentlich interessierte sich Rain nicht für die Streitigkeiten anderer, doch da sie das Mädchen schon die ganze Zeit unhöflich fand und sie eine Abreibung verdient hatte, folgte sie dem Pulk nach draußen.

Mit einem frechen Grinsen entließ der Junge ein Igastarnish, doch sein Grinsen verschwand sofort, als seine Gegnerin ein Fiaro in den Kampf schickte. Kalkweiß starrte der Junge sie an. „D-du hast ein voll entwickeltes Pokémon?“

„Natürlich, Pisskopf“, sagte die Braunhaarige und spuckte auf den Boden. „Oder glaubst du, mir sind die ersten vier Orden im Schlaf zugefallen?“

Da klar war, wer gewinnen würde, wandte Rain sich wieder von dem Kampf ab. Das ganze Geschehen dauerte noch nicht einmal eine Minute, dann kehrten auch die anderen Schaulustigen ins Pokémoncenter zurück und verstreuten sich in der Lounge und der Kantine. Die Braunhaarige kam als letzte und grinste selbstgefällig. Sie hatte Igastarnish dermaßen frisiert, dass der Junge nun heulend mit seinem bewusstlosen Pokémon am Schalter von Schwester Joy stand. Ein Bein stand in einem unnatürlichen Winkel vom Körper des Pokémon ab.

Rain verengte die Augen ein wenig, als sie das sah. Man musste sich nicht alles gefallen lassen, vor allem nicht von Trainern, die offenkundig schwächer waren. Aber das Verhalten dieses Mädchens war schlichtweg unfair und vollkommen übertrieben. Ihr Fiaro hätte so oder so gewonnen, doch sie hatte ein Exempel statuieren wollen und das Pokémon dieses Jungen mit gebrochenen Knochen zurückgelassen. Irgendjemand musste sie in ihre Schranken verweisen. Gab es denn niemanden in diesem Pokémoncenter, der es mit ihr aufnehmen konnte?

Schwarzer Tag

3. Oktober
 

- Rain -
 

Die folgenden beiden Tage verbrachte Rain auf den an Illumina City angrenzenden Routen, um Froxy zu trainieren. Am Anfang hatte sich das Training noch als kompliziert herausgestellt, doch nachdem sie den Dreh raus hatte und Froxy ihre Anweisungen zielgenau umsetzte, hatte ihr Pokémon in relativ kurzer Zeit die Attacken Ruckzuckhieb und Aquawelle gelernt. Für Rain bedeutete das nicht nur, dass ihre Methode schnellen Erfolg zeigte, sondern auch, dass Froxy seiner Entwicklung zu Amphizel ein gutes Stück näher gekommen war. Während sie mit ihrem Pokémon beschäftigt gewesen war, hatte Rain ihr Karpador in Tümpeln und anderen Gewässern schwimmen lassen. Zwar trainierte sie ihren Starter nicht, aber in den Pokéball wollte sie ihn auch nicht mehr einsperren.

Weitaus anstrengender als die täglichen Trainingseinheiten in der brütenden Hitze empfand sie jedoch das Frühstück und Abendessen im Pokémoncenter, was hauptsächlich an der braunhaarigen Trainerin lag, die schon seit Tagen alle mit ihrer schlechten Laune malträtierte und die jüngeren Trainer bei Kämpfen in den Boden stampfte – nun, zumindest jene Trainer, die sich überhaupt noch trauten gegen sie zu kämpfen. Rain gehörte nicht dazu, auch wenn Froxy einen Typenvorteil gegen das Fiaro der Trainerin hatte. Sie wusste, dass sie trotzdem keine Chance hatte.

Am dritten Abend war der absolute Gefrierpunkt der Stimmung erreicht. Die Trainerin hatte zum zweiten Mal in Folge gegen den Arenaleiter der Stadt verloren, was bei den übrigen Trainern für hämische Blicke sorgte, die Stirn der Braunhaarigen jedoch mit einer tiefen Zornesfalte überzog. Ihr Fiaro mochte stark genug sein, um die durchreisenden Trainer zu besiegen, aber es war nicht stark genug, um alleine einen Elektroarenaleiter zu besiegen.

Als besagte Trainerin die Kantine betrat, wanderte ihr Blick über die besetzten Tische und blieb an Rain hängen, die alleine einen Tisch für sich hatte. „Du da“, bellte die Braunhaarige und kam mit großen Schritten näher. „Los, verzieh dich.“

Rain funkelte sie an. „Wie bitte?“

„Das ist jetzt mein Tisch, also hau ab.“

„Ich sehe hier keine Reservierung auf deinen Namen“, konterte Rain. Die anderen Trainer begannen aufgeregt zu tuscheln. „Abgesehen davon, solltest du deinen Ton ändern, wenn du mit mir sprichst.“ Während sie das sagte, fühlte Rain einerseits Angst, aber auch Mut in sich aufkeimen.

Lange Sekunden starrte die andere Trainerin einfach nur zurück, dann knirschte sie so stark mit den Zähnen, dass ihre Kieferknochen hervortraten. „Wie du meinst, Grünkopf.“ Sie drehte sich um, stapfte zum Buffet und klatschte sich einen Teller voll mit Curryreis, dann nahm sie ihr Tablett und verschwand.

Erleichtert atmete Rain aus und merkte erst jetzt, dass sie ihre Finger die ganze Zeit über in die Tischkante gekrallt hatte. Ja, sie hatte Angst vor dieser Trainerin, die viel stärker war und trotzdem nicht den Orden erkämpfen konnte, den sie so sehr wollte.

„Oh man, das war krass“, sagte ein Junge am Nachbartisch und grinste von einem Ohr zum anderen. „Mit Kitty ist echt nicht zu spaßen. Du hast Glück, dass ihr Fiaro gerade von Schwester Joy verarztet wird. Ohne ihr Pokémon ist ihre Klappe zwar immer noch groß, aber da ist nichts mehr dahinter.“ Kichernd stimmten ihm einige andere Trainer zu.

Kitty, so hieß sie also. Ein harmloser Name für ein viel zu hartes Mädchen, fand Rain. Vielleicht war sie noch nicht immer verbittert und aggressiv gewesen. Nachdenklich schlürfte sie an ihrer Erdbeermilch und vertiefte sich wieder in den Trainingsplan, den sie für Froxy erstellt hatte.
 

Super Tag heute und bei dir? Rains Comdex gab ein Ping von sich, als Camilles Nachricht auf dem Display erschien. Rain saß in der Lobby des Pokémoncenters und hatte es sich auf einem der Lounge-Sessel bequem gemacht. Von draußen klatschte ein leichter Sommerregen gegen die Scheiben und in der Dämmerung des Abends gingen die ersten neonfarbenen Reklametafeln an. Sie tippte eine kurze Antwort ein: Alles bestens. Was hast du heute gemacht?

Keine Minute später kam Camilles Antwort. Mein Dad lässt gerade Pokémon-DNA aus einem Fossil extrahieren und will das Pokémon dann ausbrüten lassen. Rate mal, wer die glückliche Trainerin sein darf :-)

Rains Gesicht erhellte sich. Alte Fossile waren selten und nicht immer gelang der Prozess der Extraktion. Camilles Vater war ein bekannter Forscher auf dem Gebiet der antiken Pokémon. Für ihn und Camille musste das ein richtiges Highlight sein. Gratuliere! Sie schrieben noch ein wenig hin und her und vereinbarten ein Treffen für den kommenden Tag.

Gerade hatte sie ihren Comdex zur Seite gelegt, als wieder der Benachrichtigungston erklang. Dieses Mal war es ihre Mutter, die ihr mitteilte, dass Summer wohlbehalten in Nouvaria City angekommen war und morgen um den Orden kämpfen wollte. Das sah Summer ähnlich, immer nur Orden, Orden, Orden. Rain verdrehte die Augen. Wenn Summer gewann – und daran zweifelte Rain nicht –, würde sie wohl noch morgen weiter nach Illumina City reisen. Schon morgen Abend würde sie Summer wiedersehen.

Die Vorfreude hielt sich in Grenzen. Stattdessen räumte Rain ihre Sachen zusammen und wollte gerade zur Treppe gehen, als von oben ausgerechnet Kitty nach unten gestürmt kam. Kitty nahm immer zwei Stufen auf einmal und konnte gerade noch abbremsen, bevor sie Rain umgeworfen hätte.

„Hey, pass doch auf!“

„Pass du besser auf!“, schnauzte Rain zurück und drückte die Loseblattsammlung dicht an ihren Körper.

Kitty schnaubte verächtlich, machte Rain jedoch Platz und knöpfte sich den nächstbesten Jungen vor. „Was glotzt du so?“

Zu Rains Entsetzen reckte der Junge keck das Kinn in die Höhe. Es war der Junge, der beim Abendessen an ihrem Nachbartisch gesessen hatte und der nun eindeutig einen Schritt zu weit ging. „Ach komm schon, Kittylein. Große Klappe, nichts dahinter, hä? Hättest mal besser trainieren sollen, dann hättest du nicht schon wieder gegen Citro verloren.“ Er begann böse zu grinsen. „Aus der kleinen Kitty wird nie eine gute Trainerin werden, hm?“

Bei diesen Worten ging ein Ruck durch Kittys Körper. Für einen winzigen Moment flackerte Verletzlichkeit über ihr Gesicht, dann wich der Ausdruck der harten Miene, die Rain bereits von Kittys Kampf mit dem Igastarnish-Trainer kannte.

Rain wusste nicht, wieso sie das tat, aber sie drehte sich zu Kitty um. „Ich bin sicher, er meint das nicht so“, versuchte sie zu schlichten. Kitty sollte ihr nicht leid tun. Sie war eine unangenehme Person, aber trotzdem empfand Rain auf einmal Mitleid. In diesem kurzen Moment, in dem Kitty unendlich gekränkt und verletzlich aussah, hatte Rain das Bedürfnis empfunden ihr die Schulter zu tätscheln.

„Natürlich meine ich das so.“

Stille. Verräterische Ruhe. Alle hielten den Atem an. Dann explodierte Kitty. „Du Pissbirne, ich werde dir zeigen, wie stark ich bin!“ Sie riss den Trainer am Kragen herum, drückte ihn gegen die Wand und kassierte im Gegenzug einen Fausthieb in den Magen, der sie schnaufend einknicken ließ.

Alarmiert eilte Schwester Joy herbei. „Aufhören! Sofort!“

Der Trainer riss sich von Kitty los, zückte einen Pokéball und entließ ein Sichlor, das fauchend seine rasiermesserscharfen Klingen aneinander rieb. Kitty konterte, indem sie Fiaro rief.

„Keine Kämpfe innerhalb des Pokémoncenters!“ Schwester Joy wurde zuerst blass, dann puterrot und fuchtelte wild mit den Armen. „Schluss jetzt!“ Doch der Junge drückte sie einfach zur Seite und die herbeiströmenden Trainer drängten Schwester Joy immer weiter nach hinten.

Augenblicklich bellten die Trainer ihre Befehle. Sichlors Klingen und Fiaros Flammen prallten immer wieder erbittert gegeneinander. Mehr als einmal duckte die Menge sich unter dem Flammenwurf oder dem Nachthieb weg. Rain krallte sich an das Treppengeländer und starrte wie hypnotisiert auf die kämpfenden Pokémon.

Zuerst hatte Fiaro die Oberhand, musste dann jedoch einen Volltreffer einstecken und krachte mit solcher Wucht gegen die Wand neben Rain, dass der Putz abbröckelte. Die Menge johlte, Schwester Joy krakeelte im Hintergrund. Kitty ließ nicht locker. In ihren Augen loderte pure Wut. Immer und immer wieder trieb sie ihr Fiaro an und die Querschläger seiner Nitroladung ließen die Blumen auf dem Tresen in Flammen aufgehen. Sichlor wirbelte wie ein Akrobat durch die Luft, Fiaro kämpfte wie ein wildes Tier. Beide ließen nicht locker, bissen, kratzten, schnitten und verbrannten sich.

Allmählich gewann Fiaro mehr Luftraum für sich. Sichlor wurde auf den Boden geschleudert, flog im nächsten Moment gegen die Decke. Ein letztes Aufblitzen seiner Klingen, dann krallte Fiaro sich – aufgestachelt durch Kittys wütende Schreie – an seinem Gegner fest. Eine letzte Nitroladung. Alles, was Fiaros Körper noch zu bieten hatte. Die ganze Kraft. Alles.

Rain hörte nicht, wie Sichlor vor Schmerzen kreischte. Das Blut rauschte in ihren Ohren wie ein lauter Sturm. Sie sah nur, wie das Pokémon sich krümmte und seinen Trainer flehend anschaute. Wieso half ihm denn niemand? Wieso holte der Junge sein Pokémon nicht in den Pokéball zurück? Es hatte doch schon verloren. Schrie. Todesschreie.

„Hört endlich auf!“ Rain merkte nicht einmal, wie sie sich von der Treppe gelöst hatte. Tränen liefen ihre Wangen herunter, dann mehr und mehr Wasser. Von oben? Rauch stieg von Schwester Joys Maschinen auf, die Sprinkleranlage war angesprungen und panisch rannten alle durcheinander. Nur der Junge und Kitty waren erstarrt. Sie hielt Fiaro im Arm. Matt hingen seine Flügel herab, aber es atmete noch. Sichlor nicht. Seine Augen waren friedlich geschlossen, doch die Körperhaltung verriet die Qualen, die es in den letzten Sekunden seines Lebens durchlitten hatte. An manchen Stellen war sein Panzer so geschwärzt und verkohlt, dass die einzelnen Chitinschichten abblätterten.

Sichlor war tot.

Kitty

4. Oktober
 

- Rain -
 

In der Nacht war zweimal die Sprinkleranlage angegangen, ohne dass es einen Brand gab. Schwester Joy war vollkommen überfordert und hantierte mit einem Werkzeugkasten herum, während sie versuchte die Trainermeute zu beruhigen, die sich murrend und meckernd um sie versammelt hatte. Mittlerweile dürfte es im Pokémoncenter keinen trockenen Fleck mehr geben und zusammen mit einigen anderen Trainern hatte Rain in den frühen Morgenstunden ihr Zeug gepackt und war gegangen. Das Pokémoncenter würde ohnehin für die nächsten Tage gesperrt werden, hatte Schwester Joy gestresst verlauten lassen.

Ziellos zog Rain durch die Straßen von Illumina City. Es war noch dunkel, aber der Himmel änderte bereits langsam seine dunkle Farbe zu einem helleren Ton, der das baldige Morgengrauen ankündigte. Die ersten Menschen huschten mit verschlafenen Gesichtern durch die engen Gassen und breiten Alleen, aber Rain schenkte ihnen keine Beachtung. Sie war übermüdet und trotzdem hellwach. Ihre Gedanken kreisten um den Kampf zwischen Kitty und Rocco, so lautete der Name des Sichlor-Trainers. Nachdem allen Anwesenden klar gewesen war, was in dem Kampf geschehen war, hatte Schwester Joy sich endlich einen Weg zu den beiden bahnen können. Sie war vollkommen außer sich gewesen – noch nie hatte Rain erlebt, dass eine Schwester Joy dermaßen austicken konnte. Das Ende vom Lied war, dass Kitty und Rocco ihre Trainerlizenz verloren, ein Hausverbot für alle Pokémoncenter in Illumina City und ein lebenslanges Verbot für den Wiedererwerb der offiziellen Lizenz bekamen. Beide würden nie wieder gegen Arenaleiter kämpfen und Orden gewinnen können. Rain fand die Strafe angemessen.

Als die ersten Cafés öffneten, kaufte Rain sich von ihrem Ersparten eine große Tüte mit Marzipancroissants, heißer Schokolade und Tamotbeerenplunder. Billig war der ganze Spaß nicht, aber nach dieser Nacht brauchte sie einfach etwas, was sie aufmunterte. Während sie das erste Croissant verspeiste, schlenderte sie durch die Straßen und bemerkte im Augenwinkel etwas. Nein, nicht etwas – jemanden. Ihre Augen wurden groß, als sie ausgerechnet Kitty auf einer Parkbank kauern sah. Ohne dies willentlich zu beeinflussen, steuerten ihre Beine bereits auf die braunhaarige Trainerin zu.

Kitty schluchzte bitterlich, zitterte am ganzen Körper und presste den dunklen Rucksack fest an ihren Bauch. „Hier.“ Rain hielt ihr die Papiertüte mit dem Frühstück hin, doch Kitty reagierte nicht. „Hey, Kitty, ich rede mit dir.“

Die Trainerin blickte auf. Ihre Augen waren knallrot und verquollen, was einen gruseligen Gegensatz zu ihren giftgrünen Iriden schaffte. Noch einmal schluchzte sie, griff dann nach einem Taschentuch und schnäuzte lautstark. „Was willst du?“ Jegliche Angriffslust war aus ihrer Stimme verschwunden. „Wenn du dich über mich lustig machen willst, verschwinde.“

Rain blickte einen Moment lang gen Himmel, dann ließ sie sich neben Kitty auf der Parkbank nieder, angelte ein Plunderstück aus der Tüte und drückte es ihr in die Hand. „Du siehst ziemlich scheiße aus, wenn ich das mal so sagen darf.“

Kitty beäugte das Essen misstrauisch, biss dann jedoch davon ab, kaute und nahm einen noch größeren Bissen. Durch die Tamotbeere schmeckte das süße Gebäck zusätzlich scharf, doch das Brennen auf Lippe und Zunge hielt nur kurz es. Es schien Kitty zu schmecken.

„Hast du die ganze Nacht hier draußen auf der Bank verbracht?“ Als Kitty stumm nickte, schaute Rain zu Boden. Sie hatte Kitty nicht gerade als freundlich erlebt, aber jetzt sah sie einfach nur aus wie ein Häufchen Elend, das Hilfe brauchte. Ihre Hilfe. „Also gut, ich sag dir jetzt mal was. Das, was du und Rocco gemacht haben, war verantwortungslos, unreif und es ist nur recht und billig, dass Schwester Joy euch beiden die Lizenz entzogen hat. Trainer lassen ihre Pokémon niemals bis aufs Blut oder sogar bis zum Tod kämpfen. Niemals.“ Bei ihren Worten zuckte Kitty zusammen und neue Tränen landeten mitten auf dem Plunderstück, doch Rain fuhr unbeirrt fort. „Aber – und ich hätte vor ein paar Tagen nicht gedacht, dass ich das mal so sagen werde – ich denke, dass du eigentlich eine sehr gute Trainerin bist. Du hast Fiaro sehr gut trainiert und es so stark gemacht, dass du nur mit ihm die ersten vier Orden von Kalos erkämpfen konntest. Wieso also hast du zugelassen, dass Sichlor stirbt? Wieso hast du Fiaro nicht zurückgehalten? Das war nicht einfach nur ein Kampf, weil Rocco blöde Sachen zu dir gesagt hat, da steckt mehr dahinter oder?“

Es dauerte noch einige Minuten, bis Kitty aufgegessen hatte. Sie rieb die Krümel von ihren Händen ab, klopfte auf ihre schwarze Hose und schaute Rain direkt an. „Rocco und ich kennen uns schon seit dem Kindergarten. Er ist so ein Arschloch. Immer war er besser als ich. Immer hat er auf mir herumgehackt. Sichlor hier, Sichlor da. Dartiri und ich haben Tag und Nacht trainiert, aber als ich mir sicher war, dass wir eine Chance hatten, war er bereits losgezogen, um die Orden zu sammeln. Weißt du, wie es ist, wenn man das jüngste von sieben Kindern ist und nie die Chance bekommt, sich zu beweisen?“ Ein Funken von dem Kampfeswillen kehrte in ihren Blick zurück. „Meine Geschwister waren immer älter, größer, besser als ich und dann auch noch Rocco. Ich wollte doch einfach nur zeigen, dass in mir mehr steckt, dass ich auch eine gute Trainerin sein kann – die beste, wenn es sein muss.“

Rain nickte. Mittlerweile knabberte sie an ihrem zweiten Croissant. „Ob du es glaubst oder nicht, aber ich verstehe, wie du dich fühlst. Ich habe eine Zwillingsschwester, die immer im Mittelpunkt steht. Immer geht es um sie, nie um mich. Nicht, dass mir das wichtig wäre, aber ich möchte, dass mein Name auch etwas wert ist. Irgendwann wird man sagen: ‚Da kommt Summer Light, die Profi-Trainerin.‘ Und was sagt man über mich?“

Kitty erwiderte ihren Blick. „Ich wollte nie, dass Sichlor stirbt. Alles, was ich wollte, war zu gewinnen. Mehr nicht. Rocco zeigen, dass ich besser bin als er“, sagte sie leise und mit brüchiger Stimme. „Wenn ich könnte, würde ich es sofort rückgängig machen. Ich bin nicht das Monster, das die anderen Trainer in mir sehen.“

„Ich weiß, Kitty.“

Eine Weile saßen sie noch schweigend nebeneinander, teilten das Frühstück und verabschiedeten sich, als sie getrennte Wege gingen. Rain wusste nicht, was Kitty jetzt tun würde, aber sie dachte noch lange darüber nach. Was würde sie an ihrer Stelle tun? Jedenfalls würde sie nicht zurück nach Hause gehen zu sechs älteren Geschwistern, denen sie gestehen musste, dass sie ihre Trainerlizenz verloren hatte. Kitty war keine Versagerin und genau das war auch Rain nicht. Sie würde etwas aus ihrem Leben machen, was Bestand hatte. Etwas, was so groß und bedeutend war, dass man sich immer an Rain Light erinnern würde. Rain wusste nicht, was dieses große und bedeutende Etwas war, aber sie wusste, dass die Chance dafür kommen würde.

Familie kann man sich nicht aussuchen

5. bis 6. Oktober
 

- Rain -
 

Camille und Rain saßen nebeneinander am Kanal und ließen ihre Beine baumeln. Eine frische Brise wehte durch ihre offenen Haare und wirbelte sie Camille ständig ins Gesicht, doch diese schien sich nicht daran zu stören. Gerade hatte Rain ihre Reisebekanntschaft über die aktuellen Geschehnisse informiert und mit ihr über Kitty und Rocco diskutiert, nun ließen sie sich sprichwörtlich die Sonne auf den Pelz scheinen und hörten den schreienden Wingull zu, die sich ein Stück entfernt um ein Stück Kuchen stritten.

„Was wirst du jetzt tun?“, fragte Camille und blinzelte der Sonne entgegen. Noch immer bescherte das Hoch Tiffany Zentralkalos Anfang Oktober einen zweiten Hochsommer.

Rain zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter hat mir geschrieben, dass sie Kontakt zu ihrer Cousine hier in Illumina City aufnehmen möchte. Irgendeine Überraschung für Summer und mich, die wir uns bei ihr abholen sollen.“

„Eine Überraschung?“ Camille drehte den Kopf und ihre Augen leuchteten wie bei einem kleinen Kind. „Klingt aufregend.“

„Näh, mal sehen, was meine Mutter sich da ausgedacht hat. Manchmal greift sie bei Überraschungsgeschenken richtig daneben. Zu meinem letzten Geburtstag habe ich von ihr eine XXL-Packung Sinelbeerenschokolade bekommen, dabei mag ich die gar nicht. Hat dann alles Summer gegessen.“

„Schokolade!“ Camille strahlte. „Ich könnte sterben für Schokolade! Beim nächsten Mal denkst du an mich, ja?“

Rain grinste. „Klar.“ Die Pokémoncenter der Stadt waren nun, da das dritte Center geschlossen hatte, überfüllt. Rain hatte keinen Platz mehr bekommen, konnte aber in Camilles kleinem Hotelzimmer auf der Couch schlafen, bis sie einen anderen Platz gefunden hatte. Nun wusste sie zumindest, was sie Camille als kleine Wiedergutmachung kaufen konnte.

„Hast du auch so einen Hunger wie ich? Komm, lass uns Abendessen gehen.“

„Es ist noch nicht einmal sechs Uhr.“

„Ach, komm schon, Rain.“ Camille zog sich an der Brüstung hoch, klopfte sich den Dreck von der Kleidung und rief ihr Elfun zu sich, das wie immer außerhalb seines Pokéballs war und verträumt durch die Gegend schwebte. Das kleine Pflanzen-Feen-Pokémon liebte die Sonne und kostete jeden einzelnen Sonnenstrahl voll aus, ließ sich nun jedoch auf Camilles Schultern nieder und kuschelte sich in ihre braunen Haare.

Rain ließ sich nicht zweimal bitten, holte Froxy und Karpador, die beide im Kanal ihre Runden drehten, zurück in die Pokébälle und schloss sich Camille und Elfun an. „Du ziehst Elfun nie in den Pokéball zurück oder?“

„Ziemlich selten.“ Camille kraulte das Pokémon auf ihrer Schulter, das einen wohligen Seufzer ausstieß. Dort, wo Camilles Finger das flauschige, helle Fell berührten, fielen ein paar der baumwollartigen Fasern aus und landeten auf dem Boden. „Elfun ist lieber an der frischen Luft. Außerdem ist es relativ klein und leicht und fällt dadurch nicht auf.“

„Kann man von Karpador nicht behaupten, der Fisch braucht Wasser.“

Camille warf ihr einen undefinierbaren Seitenblick zu. „Vielleicht solltest du aufhören immer nur das Negative an Karpador zu sehen. Ich bin sicher, dass es sich freuen würde, wenn du ihm mehr Aufmerksamkeit schenkst.“

Rain ließ das unkommentiert und wechselte stattdessen lieber das Thema. „Wo wollen wir denn essen gehen?“ Ihr Bargeld neigte sich dem Ende zu, aber ihr Vater wollte sich in den nächsten Tagen um die Formalitäten kümmern, damit sie auch in den Banken von Kalos auf ihr Konto zugreifen konnte. Bestimmt hatte Summer nicht daran gedacht und verzweifelte bereits, so wie sie ihre Schwester einschätzte.

„Wie wäre es mit Pizza?“

„Klar, gerne. Ich liebe Pizza.“ Vor allem die von Henry. Ach ja, Henry … Der Gute war jetzt mit Summer unterwegs und die beiden müssten schon hier in Illumina City angekommen sein. Wie sie zusammen lachten, sich die Auslagen in den Schaufenster anguckten … Moment! Rain blieb wie angewurzelt stehen und hielt Camille am Arm zurück.

„Hey, was ist los?“

„Psst!“ Schnell huschte Rain hinter einen Baum und spähte vorsichtig um den Baumstamm herum. „Ich fasse es nicht, das sind sie wirklich!“

„Wer denn?“ Camille kauerte sich neben sie, ohne zu wissen, was eigentlich los war.

„Das da vorne ist meine Schwester Summer und der schwarzhaarige Junge daneben ist Henry. Ich habe dir doch von den beiden erzählt. Kaum zu fassen, dass sie mir ausgerechnet jetzt über den Weg laufen müssen.“

„Wow, ziemlich muskulöse Schulterpartie. Aua!“ Camille hielt sich die Stelle, an der Rain sie mit dem Ellbogen erwischt hatte. „Sollen wir nicht einfach zu ihnen gehen?“

Rain zischte: „Nein, bloß nicht.“ Dann stellte sie sich gerade hin. „Weißt du, mir ist doch nicht nach Pizza. Lass uns Nudeln essen.“

„Aber der Nudelladen liegt in einer ganz anderen Richtung.“

„Ganz genau“, erwiderte Rain und ihr Lächeln hatte etwas Haifischartiges an sich.
 

Am nächsten Morgen frühstückte sie mit Camille im Hotel und studierte die Adresse, die ihre Mutter ihr an den Comdex gesendet hatte. Ihre Mutter und deren Cousine Ivy Loraire hatten kaum Kontakt, aber irgendetwas gab es, was Ivy Summer und ihr dringend überreichen sollte. „Ich mache mich gleich jetzt auf den Weg, dann verpasse ich Summer vielleicht.“

„Melde dich, wenn du die Überraschung hast, ich bin gespannt.“

„Mache ich.“ Rain verabschiedete sich mit einer kurzen Umarmung von Camille, schulterte dann ihren Rucksack und lief einmal quer durch die Stadt zur Frühlingsallee. Über dem Salon PicoBello wohnte ihre Großcousine Ivy. Sie klingelte, wartete eine Minute, klingelte dann erneut und drückte die Haustür auf, als der Summer ertönte.

Das Treppenhaus war hell und mit Blumen dekoriert. Es gingen zwei Wohnungen ab. An der, die zur Allee zeigte, klebte das gesuchte Namensschild und die Tür stand einen Spalt breit offen. „Komm rein, ich bin gleich soweit“, rief eine Frauenstimme von drinnen, also trat Rain ein und schloss hinter sich die Tür. Weißer Parkettboden, weiße Wände, helle Möbel und an jedem freiem Platz der Wand ein großer Bilderrahmen mit Fotoaufnahmen.

Eine weitere Tür schwang auf und eine große, schlanke Frau mit denselben grünen Haaren wie sie trat in den Flur. „Du musst Rain sein, ja?“

„Ja, genau. Und Sie sind Ivy?“

„Du musst mich doch nicht siezen!“ Die Frau lachte, kam auf sie zu und umarmte sie herzlich, dann ließ sie Rain wieder los und zeigte auf einen halbleeren Kleiderständer. „Leg deine Sachen am besten hier ab.“

„Eigentlich wollte ich nicht so lange bleiben.“

„Unsinn, wir werden auf jeden Fall zusammen mit deiner Schwester zu Mittag essen.“

„Werden wir das?“ Rain streifte nur widerwillig ihre Sandalen ab. „Also du bist die Cousine meiner Mutter, ja? Du siehst viel jünger aus als sie.“

„Tja, so ist das.“ Ivy lächelte, band die langen, dunkelgrünen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz und winkte Rain zu sich ins Wohnzimmer, das durch bodenlange Fenster einen perfekten Blick auf das geschäftige Treiben in der Frühlingsallee bot. „Keine Angst, die Fenster sind von außen verspiegelt und nahezu schalldicht. So, möchtest du etwas trinken? Orangensaft? Wasser? Wasmelcola?“

„Wasser, danke.“

„Kommt sofort.“ Summend verließ Ivy das Wohnzimmer und Rain nutzte die Zeit, um sich genauer umzuschauen. Auch hier war alles sehr hell eingerichtet und unzählige Fotografien hingen an den Wänden.

„Du magst Fotos oder?“

„Ich bin Fotografin“, antwortete Ivy ihr aus dem Nachbarraum, der Küche. „Hauptsächlich fotografiere ich Architektur und Panorama, aber ich mache auch Portraitaufnahmen.“ Als sie wiederkam, hielt sie zwei Gläser mit Wasser in den Händen und hatte eine Mappe unter den Arm geklemmt. „Hier, bitte.“ Dann reichte sie Rain die Mappe. „Das sind meine aktuellen Serien. Das da ist Illumina City bei Nacht und hier ist Mila Mayham, das war für eine Zeitungsausgabe letzten Monat.“

„Mila Mayham?“ Rain betrachtete die junge Frau mit den hellblonden, langen Haaren, den türkisblauen Augen und dem freundlichen Lächeln.

„Ja, kennst du sie nicht? Ach, ich vergaß, dass sie in anderen Regionen nicht so bekannt ist wie hier in Kalos. Milas Cousinen sind die Kampf-Châtelaines. Mit vierzehn hat Mila eine Reportage über das Familienleben hinter den Kulissen moderiert und kam dabei so gut an, dass sie kurzerhand eine eigene kleine Sendung bekam. Die Menschen lieben sie. Wenn sie ein Kleid im Fernsehen trägt, ist es kurz danach in allen Läden ausverkauft. Was Mila mag, mögen die Leute. Sie ist ein richtiges Idol geworden. Letztes Jahr hat sie dann einen Selbstfindungstrip gemacht und war ein Jahr lang von der Bildfläche verschwunden. Seit sie zurück ist, ist sie noch gefragter als vorher. Die Menschen wollen wissen, wo sie war und was sie erlebt hat, aber sie schweigt beharrlich.“ Ivy zwinkerte Rain verschwörerisch zu. „Manche behaupten, dass sie einen Freund hat, den sie vor den Kameras verstecken möchte. Siehst du diesen Anhänger hier?“

„Der sieht aus wie ein Meisterball.“

Ivy nickte. „Genau. Mila trägt diesen Anhänger immer und überall unter ihrer Kleidung. Man kann diese Anhänger jetzt auch überall in der Stadt kaufen, achte mal darauf. So, genug davon.“ Ivy klappte das Album wieder zu. In diesem Moment klingelte es erneut an der Tür. „Ah, perfektes Timing.“

Sobald die Wohnungstür geöffnet war, hörte Rain die Stimmen von Summer und Henry. Beide klangen ziemlich müde und ließen sich gleich auf die weiße Sofalandschaft im Wohnzimmer fallen.

„Mann, Rain, du hättest echt nicht einfach abhauen dürfen“, sagte Summer, schnappte sich Rains Wasserglas und trank es in einem Zug leer. „Wir haben ja so viel erlebt, seit wir hier in Kalos sind. Soll ich dir meinen neuen Orden zeigen?“

„Nein, danke.“ Rain funkelte ihre Schwester an, ging dann zu Ivy in die Küche und trug mit ihr drei weitere Gläser zum Couchtisch, von denen sie sich eins für sich nahm. „Henry, wie geht es dir?“

„Danke, alles bestens.“ Henrys aquablaue Augen musterten Rain von oben bis unten. „Du hast deinen Eltern einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Aber mir war klar, dass du auch gut alleine zurechtkommen würdest. Hast du Farbe bekommen? Sieht gut aus.“

„Ja, kann sein, ich war in den letzten Tagen viel in der Sonne.“ Rain lächelte und merkte, wie sie ein bisschen rot wurde. „Du siehst auch gut aus. Also, ich meine, nicht dass du sonst nicht gut aussehen würdest, du siehst immer gut aus. Also, ich, ich meinte, dass du wie immer gut aussiehst.“ Schnell trank sie einen Schluck Wasser und wandte sich an Ivy. „Du hast eine Überraschung für Summer und mich?“

„Genau.“ Ivy grinste und zog zwei Pokébälle aus ihrer Hosentasche. „Mein liebes Cousinchen Faith hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das hier von Professor Gary Eich aus Alabastia zu bekommen. Als sie in eurem Alter war, hat sie ein genmanipuliertes Glumanda vor Team Dark gerettet. Das kleine Ding hat Entei-Gene in sich. Na ja, jedenfalls befinden sich hier drin zwei direkte Nachkommen von ihrem ehemaligen Glumanda und der Professor ist der Meinung, dass die beiden bei Trainern besser aufgehoben sind als bei ihm, weil es zwei kleine Raufbolde sind. Das hier soll ich euch geben. Ein Glumanda für jeden von euch.“

„Glumanda?“, quietschte Summer und ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie wippte aufgeregt auf der Sofakante auf und ab, doch als sie nach den Bällen ihre Hand ausstreckte, zog Ivy ihre zurück und steckte die Pokébälle zurück in ihre Hosentasche. „Hey, du hast gesagt, wir kriegen jeder eines!“

„Ja, das tut ihr auch.“ Ivys Grinsen wurde noch breiter. „Aber zuerst werden wir alle zusammen Mittagessen gehen und ihr erzählt mir, was ich alles von meiner Familie in Finera verpasst habe.“

Restaurant de Luxe

6. Oktober
 

- Rain -
 

Pünktlich zur Mittagszeit saßen Ivy Loraire, Summer, Henry und Rain im Restaurant de Luxe, dem teuersten und exklusivsten Restaurant der ganzen Stadt. Dunkles Eben- und Teakholz war auf jedem Quadratmeter verarbeitet und die Polster auf den bequemen Stühlen stammten aus einer kleinen Weberei auf den Orange Inseln, die mit Käferpokémon-Seide arbeitete. Rain kannte solche Etablissements und wusste, wie sie sich zu verhalten hatte, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihr Vater führte die Familie zu besonderen Anlässen wie dem Hochzeitstag mit ihrer Mutter auf Honey Island in ein ebenfalls luxuriöses Restaurant aus, aber das Restaurant de Luxe war noch eine ganz andere Klasse.

Sie nahmen an einem runden Tisch für vier Personen Platz und der Kellner scherzte mit Ivy, bevor er ihnen die in schwarzes Leder gebundenen Speisekarten brachte. Ivy wiederum klopfte dem Kellner lächelnd auf den Unterarm. „Jorge, du bringst mich jedes Mal zum Lachen.“ Er erwiderte dies mit einem strahlenden Lächeln, das jeder Zahnpastawerbung Konkurrenz machen konnte, dann verschwand er.

„Du isst öfter hier?“, fragte Summer ganz ungeniert und blätterte in der Karte, wobei sie bei jedem zweiten Gericht das Gesicht verzog. „Ganz schön teuer hier, wie kannst du dir das als Fotografin leisten?“

Sowohl Henry als auch Rain warfen Summer einen Blick zu, der sie zum Schweigen bringen sollte, doch wie üblich ignorierte Summer dies. Ivy hingegen schien sich nicht an der direkten Art ihrer Großcousine zu stören und breitete die weiße, quadratische Serviette mit dem goldenen Rand auf ihrem Schoß aus. „Der Besitzer des Restaurants ist einer meiner Stammkunden. Ich habe schon oft Fotoreihen für ihn geknipst und daraus ist eine Freundschaft entstanden.“ Mit verschwörerischem Blick beugte sie sich nach vorne zur Tischmitte. „Es ist nie verkehrt, wenn man einflussreiche Freunde hat.“ Dann kicherte sie und als Jorge zurückkehrte, bestellten sie Getränke und ließen sich von ihm etwas von der Tageskarte empfehlen.

„Schaut mal, dort drüben wird gekämpft.“ Ivy deutete auf einen abgetrennten Bereich des Restaurants, der viel größer war als der gesamte Rest. Einige kleinere Tische standen entlang der Wand und in der Raummitte hatte eine Trainerin mit blondem Pferdeschwanz gerade ihren Hyperball gezückt. „Man kann hier Kampfmenüs bestellen. Die Zuschauerplätze sind immer weit im Voraus ausgebucht, das sind die Tische dort am Rand. Zwischen den einzelnen Gängen kämpft man gegen das Personal des Restaurants und manchmal auch gegen den Besitzer höchstpersönlich. Für jeden Kampf, den man gewinnt, erhält man Boni und ein nettes Preisgeld, allerdings ist so ein Kampfmenü auch nicht gerade billig.“

Summers Augen leuchteten sofort und sie sah aus, als würde sie am liebsten aufspringen und sich die Nase an der dicken Glasscheibe plattdrücken. „Wie viel kostet das denn?“

„Zu viel für dein Taschengeld, nehme ich an“, erwiderte Ivy grinsend. „100.000 Pokédollar.“

Henry verschluckte sich an seinem Mineralwasser, Summer wurde bleich im Gesicht und selbst Rain merkte, wie sie Ivy fassungslos anstarrte. Illumina City war nicht nur eine Stadt der Stars und Sternchen, sondern auch der Reichen und Super-Reichen. Enttäuscht sank Summer zurück auf ihren Stuhl.
 

Als Vorspeise hatte es eine Beerensuppe gegeben, dann Trüffel-Aprikoko-Rumpsteak vom Miltank und schließlich eine Zitronen-Enigmabeeren-Creme. Alles sehr teuer und unwahrscheinlich köstlich. Rain hätte sich in den Nachtisch hineinlegen können, doch die kleine Portion war viel zu schnell aufgegessen. Satt und zufrieden saß sie also nun am Tisch, während Summer ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte trommelte.

„Sei nicht so ungeduldig“, ermahnte sie ihre Schwester, doch Summer schnaubte nur.

„Tu nicht so, als würdest du nicht auch nur wegen Glumanda mitgekommen sein. Ich möchte mein Pokémon endlich haben, dann ab auf die nächste Route und trainieren.“ Nach kurzem Zögern fügte sie noch hinzu: „Willst du mitkommen? So ganz alleine ist es bestimmt langweilig in der Stadt.“

„Wie kommst du darauf, dass ich alleine unterwegs bin?“, antwortete Rain und zog die Augenbrauen zusammen. Die Furche auf ihrer Stirn wurde nur noch tiefer, als Henry und Summer diesen Blick austauschten. „Was?“

„Na ja, wir wissen doch alle, dass du ein Einzelgänger bist“, sagte nun Henry und versuchte mit einem milden Lächeln die Wogen zu glätten. „Summer möchte nur nicht, dass du dich auch alleine fühlst. Du kannst jederzeit mit uns reisen.“

„Oh, ich bin aber nicht alleine. Ich habe schon Freunde gefunden.“ Bekräftigend nickte Rain. „Unmengen von Freunden, wenn ich wollen würde. Es fällt mir durchaus leicht neue Kontakte zu knüpfen.“

„Du und Freunde?“, platzte es aus Summer heraus, die sich im nächsten Moment auf die Lippe biss. „Hey, so meinte ich das nicht.“

Beleidigt verschränkte Rain die Arme vor dem Körper. „Du traust mir auch gar nichts zu oder? Ich kann mit vielen Trainern reisen, wenn ich will. Camille, Rocco und Kitty zum Beispiel.“ Sie zählte die drei Namen auf, die sie kannte.

Ivy bezahlte bei Jorge, natürlich nicht den vollen Preis, und scheuchte ihre Verwandtschaft nach draußen in die Mittagshitze. „Keine Streitereien bei Tisch, klar? Oh man, Faith hat echt nicht übertrieben, als sie gesagt hat, dass ihr beide schnell aneinander geraten könnt.“

„Das hat Mom gesagt?“, fragten Summer und Rain sogleich aus einem Mund, warfen sich dann jedoch finstere Blicke zu.

Ivy zuckte mit den Schultern. „Mir kann das doch egal sein. Also ihr Lieben, ich habe gleich noch einen Termin, deshalb bringen wir den Rest einfach schnell über die Bühne.“ Sie holte die beiden Pokébälle hervor. „Beide Glumanda sind Männchen, beide ein knappes Jahr alt und wie gesagt kleine Wirbelwinde. Professor Eich hat noch etwas von Zuchtattacken und Entei-Vererbung gesagt, aber ich hatte nie ein Pokémon und habe mich auch nie sonderlich dafür interessiert, also müsst ihr das bei den beiden Wundertüten wohl alleine herausfinden. Hier.“ Sie drückte wahllos den beiden Schwestern jeweils einen Ball in die Hand. „Ach und noch etwas.“ Erneut kramte Ivy in ihrer Hosentasche – dieses Mal der anderen – und beförderte zwei Steine ans Tageslicht. Beide waren etwa daumengroß und rund geschliffen wie Murmeln. Ein Stein war blau und im Inneren besaß er eine blau-schwarze Färbung, die entfernt an eine Flamme erinnerte. Der andere Stein war orange und sah im Inneren gelb-rot aus.

„Megasteine“, erklärte Ivy. „Alleine funktionieren sie nicht, dafür braucht man irgendeine Technik, die ihr wohl auch an euren ComDex aufrüsten könnt, aber hier in Illumina City habe ich noch nicht davon gehört. Na ja, also die hier heißen wohl Gluraknit X und Gluraknit Y.“ Sie schaute zwischen Summer und Rain hin und her. „Da du das Gemüt einer Regenwolke zu haben scheinst, kriegst du den dunklen Stein hier.“ Ivy drückte Rain den Gluraknit X in die Hand, den anderen Megastein bekam Summer. „So, dann muss ich jetzt auch los. Bestellt meinem Cousinchen liebe Grüße von mir, ja? Tschüssi!“ Wie ein grüner Wirbel fegte Ivy durch die Straße davon und war binnen weniger Sekunden in der Menschenmasse verschwunden.

Rain starrte zuerst den Pokéball mit Glumanda an, dann den Gluraknit X. Was sollte das heißen, sie hatte das Gemüt einer Regenwolke? Vorsichtig verstaute sie den Ball an ihrem Gürtel und den Megastein in ihrem Rucksack. Summer wollte gerade den Mund aufmachen, doch Rain hob die Hand und unterbrach ihre Zwillingsschwester. „Nein, ich kämpfe nicht gegen dich.“ Summers Mund schloss sich wieder. „Ich möchte auch weiterhin ohne dich durch Kalos reisen.“

Einige Sekunden lang schwieg Summer, dann veränderte sich ihr Blick. „Gut, dann mach doch, was du willst. Da bist du ja mittlerweile Profi drin. Henry, wir gehen.“

Henry schaute Summer hinterher, die bereits losmarschiert war. „Rain, entschuldige dich bei ihr. Bitte.“

„Wieso soll immer ich mich entschuldigen?“ Sie sah Henry direkt in die blauen Augen und schmolz förmlich dahin. Wie konnte sie ihm diesen einen Wunsch abschlagen? „Also schön, aber nur, weil du mich darum gebeten hast. Summer, warte!“ Eilig holte sie ihre Schwester ein und packte sie an der Schulter. „Es tut mir leid, dass ich einfach von zu Hause abgehauen bin. Ich wollte dich nicht ärgern und Mom und Dad erst recht nicht. Einmal im Leben möchte ich etwas alleine erleben, verstehst du? Wir haben immer alles gemeinsam gemacht, aber das reicht mir nicht mehr.“

Summer zögerte, schwieg und schloss Rain dann in eine kurze Umarmung. „Du bist keine Regenwolke, sondern eine ganze Gewitterfront, weißt du das? Beim nächsten Mal, wenn du so eine blöde Aktion planst, antwortest du mir wenigstens auf meine Nachrichten, klar? Ich habe mir wirklich Sorgen um dich gemacht.“

Peinlich berührt schaute Rain auf ihre Schuhe, spürte dann Henrys kräftige Hand auf ihrer Schulter und kurz darauf auch seine Umarmung, die ihren ganzen Körper mit einem warmen Schauer durchfuhr. „Ich halte dich auf dem Laufenden, versprochen. Viel Erfolg beim nächsten Orden.“

„Danke“, sagte Summer grinsend und ließ Rain los. „Und wenn du dich endlich traust, gegen mich zu kämpfen, bin ich jederzeit zu einem Kampf bereit.“ Sie winkte Rain zu, hakte sich dann bei Henry unter und ging mit ihm die Straße hinab.

Rain schaute den beiden noch eine Weile hinterher, selbst dann, als sie sie schon nicht mehr sehen konnte. Sie wollte keine Trainerin werden, nicht so wie Summer. Aber was wollte sie dann?

Pension Papinella

6. Oktober
 

- Summer -
 

So viel zum Thema Unabhängigkeit. Summer stand zerknirscht hinter der kleinen, nicht einmal zwei Meter breiten Theke der Pension, die noch einige Zimmer frei hatte und in einer unscheinbaren Seitengasse vom Place Cyan lag. Zumindest war der Weg zur Arena gut zu Fuß zu erledigen und das Frühstück war im Preis inklusive.

„Du hättest gleich zu Hause anrufen sollen.“

Summer verdrehte bei Henrys Bemerkung die Augen. Sie wollte unabhängig sein und sich nicht auf das finanzielle Polster ihrer Eltern verlassen, aber da noch immer ein Pokémoncenter geschlossen war, hatte sie keine andere Möglichkeit gehabt. Ihr Vater Joel hatte seine Position als Vizebankdirektor genutzt, um mit ein paar Telefonaten Kalos-Konten für Rain und sie einzurichten, als er von der Situation erfahren hatte. „Wie auch immer, noch eine Nacht im Freien halte ich nicht aus.“

Aus den Augenwinkeln konnte sie Henrys Grinsen und seine zuckenden Mundwinkel sehen. „Prinzessin auf der Erbse.“

Sie wirbelte zu ihm herum, stemmte die Hände in die Hüften und wollte ihm gerade mindestens ein Dutzend Gründe aufzählen, wieso sie nicht in die Kategorie Prinzesschen fiel, als die dicke, kleine Besitzerin der Pension eine knarrende, schmale Holztreppe nach unten ging.

„Entschuldigt die Wartezeit.“ Auf ihrer linken Schulter saß ein Papinella, das träge mit seinen Flügeln schlug, sich in die Luft erhob und hinter der Theke neben einer mit Nektar gefüllten Futterschale wieder landete. „Die Betten sind jetzt bezogen. Willkommen in der Pension Papinella.“ Mit ihren dicken Wurstfingern reichte sie zwei Schlüssel mit pinken Schlüsselbändern über die Theke. „Frühstück gibt es zwischen sieben und neun.“

„Alles klar, vielen Dank.“ Summer reichte einen der beiden Schlüssel an Henry weiter, dann ging sie ihm voran die Treppe nach oben und wartete, bis sie außer Hörweite waren. „Ich dachte immer, dass es keine übergewichtigen Käferpokémon geben kann – wegen der Panzer und so.“

Henry zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Papinella hat keinen Chitinpanzer.“

„Nein, dafür aber eine Speckschicht, die es doppelt so dick macht. Wie kann es damit überhaupt fliegen?“

„Fliegen würde ich diesen Gleitflug zur Futterschale nicht nennen.“ Beide tauschten ein Grinsen aus, dann trennte sich vorerst ihr Weg, denn Summer hatte ein Zimmer auf der linken Seite des Gangs und Henry gegenüber auf der rechten Seite.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, warf Summer ihren Rucksack vor dem Bett auf den Boden und ging zum Fenster. Keine drei Meter weiter befand sich die Hauswand des Nachbarhauses, unter ihrem Fenster standen zwei halbvolle Müllcontainer. „Na lecker.“ Damit war klar, dass sie bei dieser spätsommerlichen Hitze nicht lüften würde. Sie drehte dem Fenster den Rücken zu, setzte sich auf die Bettkante und betrachtete die rosafarbene Bettwäsche, die schon bessere Zeiten erlebt hatte. Zum Schlafen würde es reichen und besser als sich noch eine zweite Nacht auf Parkbänken um die Ohren zu schlagen war es allemal.

Gähnend trennte sie die Pokébälle von ihrem Trainergürtel, legte sie auf den Nachttisch und drehte den Gluraknit Y in ihrer Hand. Der Stein war glatt und rund wie eine Murmel, hatte einen Durchmesser von gut vier Zentimetern und schimmerte im Licht. Ivy hatte ihr nicht viel darüber verraten und sie selbst hatte von den Megasteinen noch nicht viel gehört. Vielleicht wusste eine der Schwester Joys mehr.

Der Stein wanderte zurück in ihre Hosentasche und Summer nahm Glumandas Pokéball. Sie kannte natürlich die Geschichte, wie ihre Mutter Faith damals an ihr Glumanda gekommen war, aber dass sie jetzt einen Sohn von genau diesem Glumanda besaß, erfüllte sie mit Stolz. „Wenn du Gene von Entei in dir trägst, musst du etwas ganz Besonderes sein, mein Kleiner.“ Lächelnd drückte sie den Knopf in der Mitte des Balls, woraufhin er faustgroß wurde, dann nach einem zweiten Drücken zischte ein roter Strahl in die Mitte des kleinen Zimmers und Glumanda formte sich.

Die kleine, rote Echse blinzelte, schaute Summer von Kopf bis Fuß an, drehte ihr den Rücken zu, legte sich hin und … begann keine zwei Sekunden später zu schnarchen.

„Hey!“ Sie stupste Glumanda mit der Fußspitze an, woraufhin das Pokémon ein leises Fauchen von sich gab und wieder aufstand. „Ich bin Summer, deine neue Trainerin.“

„Manda?“ Hätte es Augenbrauen, hätte es diese nun skeptisch verzogen. Sein spöttischer Blick sprach Bände.

„Du vermisst bestimmt deinen Bruder, nicht wahr? Wenn ich meine Schwester Rain das nächste Mal treffe, könnt ihr beiden zusammen spielen. Bis dahin werde ich dich trainieren und du wirst irgendwann ein großes, starkes Glurak, mit dem ich in den Arenen von Kalos kämpfen kann.“

„Glll …“ Glumanda verzog das Gesicht und die Flamme an seinem Schwanz züngelte ein kleines Stückchen höher, während sein Schwanz hin und her peitschte.

„Etwas mehr Siegeswillen bitte, Kleiner.“ Summer erntete noch einen letzten, arroganten Blick, dann tapste Glumanda auf sie zu, drückte den Knopf auf dem Pokéball und beförderte sich selbst zurück ins Innere. „Wundervoll …“ Da bekam sie ein Pokémon geschenkt und dieses zog die Einsamkeit des Pokéballs der Gesellschaft seiner Trainerin vor. Vielleicht konnten Onix und Jurob zwischen ihnen vermitteln.

Kopfschüttelnd legte die Jungtrainerin den Pokéball zu den beiden anderen auf den Nachttisch. Sie gähnte, dachte an die schlaflose Nacht und kuschelte sich unter die Bettdecke. Nur ein kleines Nickerchen …
 

Das Klopfen an ihrer Zimmertür holte Summer unsanft aus ihrem Schlaf, doch als ihr schläfriger Blick zum Fenster wanderte und sie draußen keine Sonne mehr sah, sprang sie sofort aus dem Bett. „Wie? Was?“ Sie taumelte, fing sich wieder und rieb sich die Augen. „Ja bitte?“

Henry trat ein, schloss hinter sich die Tür und setzte sich auf die Bettkante. „Gut geschlafen, Schlafmütze?“

„Wie spät ist es?“

„Kurz nach acht. Ich dachte mir, dass ich dich jetzt besser wecken komme, weil du sonst irgendwann in der Nacht wach wirst und nicht mehr einschlafen kannst.“

Summer ließ sich neben ihm auf dem Bett nieder und gähnte herzhaft. „Ich wollte nicht so lange schlafen.“

„Habe ich mir gedacht. Als ich nach dir gucken wollte, hast du schon tief und fest geschlafen, deshalb habe ich mich auch für ein paar Stunden hingelegt. Aber im Gegensatz zu dir bin ich von alleine wieder aufgewacht.“

„Hm, hier riecht es nach Essen.“ Summer rieb sich den letzten Rest Schlaf aus den Augenwinkeln. „Hast du was zu essen besorgt?“

Henry lächelte und holte hinter seinem Rücken eine braune Papiertüte hervor. „Ein kleines Abendessen.“

Sie erwiderte sein Lächeln, nahm ihm die Tüte ab und öffnete sie. Im Inneren standen zwei quadratische, dampfende Plastikkartons, die sie vorsichtig auf die Bettdecke stellte. „Riecht nach Nudeln.“ Neugierig öffnete Summer die beiden Packungen und schnappte sich eine der beiliegenden Plastikgabeln.

„Diese hier sind mit Beerenpesto und die mit Gemüse gebraten. Welche willst du?“

„Die mit den Beeren.“

Henry reichte ihr Servietten und die Packung mit den Beerennudeln, dann schnappte er sich die andere Packung. Schweigend hörte er zu, wie Summer ihm von der ersten Begegnung mit Glumanda berichtete. Sie redete so viel, dass er mit seiner Portion fertig war, als sie gerade einmal die Hälfte gegessen hatte und die Nudeln schon kalt wurden. „Jetzt iss du auf und ich erzähle dir, was deine Mutter mir am Telefon gesagt hat.“

Überrascht hielt Summer in der Bewegung inne und riskierte, dass zwei Nudeln auf dem Laken landeten. „Du hast mit meiner Mutter telefoniert?“

„Ja, vorhin.“

„Wieso?“

„Sie hat angerufen, weil die Handwerker im Restaurant waren, um die neuen Anschlüsse zu legen. Deine Oma regelt während meiner Abwesenheit zwar alles, aber das letzte Wort habe ich. Es gibt Probleme mit ein paar alten Kabeln, die erneuert werden müssen. Außerdem muss die endgültige Fassung der Speisekarte bald in den Druck gegeben werden und die Zeitung möchte ein Interview mit mir, damit sie Werbung für die Neueröffnung drucken können.“

Summer ahnte, was er ihr damit sagen wollte. Ihre Laune stürzte schlagartig ab und lustlos stocherte sie in den restlichen Nudeln herum. „Und was machst du jetzt?“

„Hey, guck nicht so traurig. Du wusstest doch, dass ich nur kurz mit dir reisen kann.“

„Ich dachte, dass es wenigstens zwei oder drei Wochen sind“, murrte Summer enttäuscht, räumte die Kartons zusammen und stapelte alles mit solcher Sorgfalt, dass sie ihm nicht in die Augen gucken musste. „Die Eröffnung ist doch erst in einem Monat.“

„Ich bin der Geschäftsführer und der Chefkoch, ich kann nicht erst ein paar Tage vor der Eröffnung zurück sein.“

„Doch, wenn du wolltest, könntest du.“

Henry schluckte, kratzte sich am Kinn und stand auf. „Du kommst prima ohne mich zurecht. Du brauchst meine Begleitung nicht, Summer.“ Als er sah, wie sie sich ein paar kleine Tränen aus den Augen blinzelte, schnürte sich seine Brust zusammen. Summer und Rain waren wie seine kleinen Schwestern, er wollte sie nicht verletzen. „Faith hat mir einen Rückflug gebucht. Sie sagte, dass meine Entscheidungen dringend vor Ort gebraucht werden.“

Summer drehte sich weg, stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster und starrte die gegenüberliegende Hauswand an. „Wann?“

„Morgen früh.“

Sie schluckte, biss sich auf die Unterlippe und riss sich zusammen. „Gut.“ Als sie sich zu ihm umdrehte, zierte ein Lächeln ihr Gesicht, das jedoch nicht die Augen erreichte. Sie ging zu Henry, umarmte ihn kurz und drückte seine Schulter. „Ich bin todmüde und würde jetzt gerne wieder schlafen. Du musst mich morgen früh nicht extra wecken kommen. Hab einen guten Flug und grüß Mom von mir. Gute Nacht, Henry.“

Er zögerte, nickte dann jedoch und wünschte ihr ebenfalls eine gute Nacht, ehe er ging.

Summer wartete, bis sie hörte, wie sich seine Zimmertür schloss, dann warf sie sich in ihr Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Noch nie hatte es sie so sehr geschmerzt sich von Henry trennen zu müssen, gerade jetzt, als sie Rain ebenfalls schmerzlich vermisste.

Omelett des Grauens

7. Oktober
 

- Summer -
 

Henry war in den frühen Morgenstunden abgereist, ohne Summer zu wecken, ganz so, wie sie es sich am Vorabend gewünscht hatte. Trotzdem hatte sie wach in ihrem Bett gelegen und gelauscht, wie Henry seine Zimmertür abschloss und dann die knarrende Treppe runter ins Erdgeschoss der kleinen Pension ging. Summer hatte noch einmal einschlafen wollen, doch sie war hellwach und die Traurigkeit erklomm ihren Höhepunkt, als sie unter der Dusche stand und dicke Ganovilstränen ihre Wangen herunterliefen. Sie wollte nicht traurig sein, warum auch, sie brauchte Henry nicht! Trotzdem nagte diese Trennung an ihr und sie beschloss, dass sie den kompletten Tag mit der bestmöglichen Ablenkung füllte, die es gab: Training!

Frisch geduscht und mit noch feuchten Haaren, die sie wie fast immer zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, ging sie nach unten in den schmalen Empfangsraum, von dem eine Tür in die Küche und eine Tür in den quadratischen Speisesaal abging, der die Bezeichnung Saal aber keinesfalls verdient hatte.

An der Wand waren zwei klapprige Tische zusammengeschoben und auf ihnen befanden sich silberne Platten mit Brötchen, Käse, Marmelade, Kannen mit Getränken und eine Warmhalteterrine, aus deren schmaler Öffnung heißer Dampf emporstieg. Gut, luxuriös kam ihr diese Pension von der ersten Sekunde an nicht vor, aber selbst das kleinste Pokémoncenter hatte ein besseres Frühstücksbuffet.

„Guten Morgen, junge Trainerin“, rief die Besitzerin der Pension quer durch den Raum und grinste sie mit ihrer Zahnlücke breit an. Vor ihr lag die Tageszeitung und auf der Stuhllehne hockte Papinella, das träge seine Flügel hängen ließ.

Summer grüßte zurück, schnappte sich einen Teller, schob den Deckel der Terrine zur Seite und fand ein riesiges Omelett mit undefinierbaren, zerkochten Bröckchen, die wohl einmal saftige Beeren gewesen waren. Unten schwappte das Fett hin und her, verhärtete sich am Löffel neben der Terrine bereits und wurde bröckelig und orange. Summer verzog das Gesicht und bemerkte darüber nicht, wie die Pensionsleiterin neben sie getreten war.

„Problemchen?“

„Ehm, nein. Alles bestens.“ Eilig schloss sie den Deckel und ging weiter zu dem Brötchenkorb. Wenn sie bis zum Abend trainieren wollte, brauchte sie drei, besser vier Brötchen als Proviant, dazu zwei zum Frühstück. Gerade griff sie nach dem dritten Brötchen, als die alte Frau mit der Zunge schnalzte.

„Gibt’s nicht.“

„Was?“

„Eh-eh, zwei Brötchen maximal pro Person, mehr nicht.“

„Aber das Buffet ist im Preis enthalten und so wie es aussieht, bin ich Ihr einziger Gast.“

„Eh!“ Die Alte hustete und nahm Summer den Korb weg, ging zurück zu ihrem eigenen Tisch und klemmte sich hinter die Zeitung.

„Unerhört“, murmelte Summer, nahm sich etwas Butter und Marmelade und verzog sich an den Tisch, der von der Alten am weitesten entfernt lag. Gleich als erstes würde sie sich in den beiden Pokémoncentern nach einem freien Platz erkundigen, vielleicht machte ja auch das dritte Center im Laufe des Tages wieder auf. In der Gesellschaft dieser schrulligen Frau wollte sie keinen weiteren Morgen verbringen.
 

Route 5, auch bekannt als Coteau-Weg, war das erklärte Ziel von Summer, als sie nach dem schnellen Frühstück und einem Stopp beim Supermarkt und Pokémoncenter zum Training aufbrach. Die Route, die sich südwestlich von Illumina City befand, bot nicht so starke Pokémon wie die nördlichen Routen, aber Summer wollte es locker angehen lassen, zumal Glumanda bisher noch nie trainiert worden war und deshalb vermutlich ein ziemlich geringes Level hatte.

„Also dann“, sagte sie zu sich selbst und entließ zeitgleich ihre drei Pokémon auf eine der kurzgemähten Wiesen abseits vom hohen Gras. Etwas weiter entfernt trainierte ein junges Mädchen ihr Rattfratz und zwischen den Bäumen lief ein Junge umher, der mit seinem Psiau Fangen spielte.

Onix, Summers Starterpokémon, gab ein tiefes, grollendes Oooniiiix von sich, senkte dann sein steinernes Haupt herab und ließ sich mit schüchternem Blick von seiner Trainerin den Kopf tätscheln. Dazu schlug Jurob klatschend in die Flossen und streckte seine Zunge zu Glumanda raus, das sofort zu knurren begann und die kleine Flamme an seiner Schwanzspitze stärker aufleuchten ließ. Noch ehe Summer begriff, was sich da zwischen den beiden Pokémon abspielte, sprang Glumanda auf Jurob zu und kratzte ihm einmal quer über das Gesicht, was das Wasserpokémon mit einem empörten Blick und einer Kopfnuss quittierte, die Glumanda gute vier Meter weit schleuderte.

„Oh, scheiße!“, fluchte Summer, ließ von Onix ab und nahm Jurob auf den Arm, das bereits wieder auf Glumanda zu robbte. „Aufhören, alle beide!“ Doch Glumanda ließ sich nichts sagen, schon gar nicht von jemandem, der den Feind in den Armen hielt, weshalb statt Jurob nun Summer die Glut-Attacke abbekam. Überrascht und auch nicht wenig geschockt ließ sie Jurob fallen und klopfte auf die kokelnden Stellen an ihrer Kleidung. „Hör auf, Glumanda!“ Sie zückte den Pokéball und bekam gerade noch mit, wie sich in Glumandas Maul bläulich-goldenes Feuer bildete, dann zog sie ihr neustes Pokémon auch schon zurück. Erleichtert ließ sie den Arm sinken, froh darüber, dass sie zumindest nicht auch noch der Zuchtattacke ausgesetzt war, die Glumanda offensichtlich gerade gegen sie einsetzen wollte. Das könnte ja noch heiter werden …

Passend dazu hörte sie ein abschätziges Schnauben schräg hinter sich. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie gut zehn Meter entfernt einen Trainer mit kupferfarbenen Locken und dunkler Hornbrille, der ganz offensichtlich über sie den Kopf schüttelte. „Was guckst du so, hast du ein Problem?“ Summer steckte den Pokéball zurück an ihren Gürtel und machte einige Schritte auf den Trainer zu, der ebenfalls einen Trainergürtel mit Pokébällen trug.

Augenblicklich versteifte der Junge, der nur wenig älter sein konnte als sie, sich. Er schob seine Brille einige Millimeter auf dem Nasenrücken nach oben, dann räusperte er sich geräuschvoll. „Im Gegensatz zu dir laufe ich nicht mit verbrannten Shorts durch die Gegend.“

Gut, der Punkt ging an ihn. Peinlich berührt schaute Summer an sich hinab und entdeckte die Brandflecken, die sich an einer Stelle sogar durch den Stoff gefressen hatten und ihre nackte Haut zeigten. „Glumanda muss sich erst an mich gewöhnen“, räumte sie nach kurzem Zögern ein.

Er nickte. „Das ist offensichtlich.“ Dann winkte er ab. „Aber anstatt sich an dein Niveau zu gewöhnen, könntest du es in die Hände eines Trainers geben, der sich mit dem Training auskennt.“ Seine Betonung ließ keinen Zweifel daran, dass er Summers Niveau auf Kellerhöhe einschätzte.

„Ach ja?“ Zerknirscht verschränkte sie die Arme vor dem Körper und nahm wahr, wie sich Onix ein wenig hinter ihr aufbaute, da sein Schatten nun ihren überlagerte. Gut, ihre Felsennatter war ein schüchterner Geselle, aber wenn es hart auf hart kam, konnte sie sich auf Onix verlassen. „So wie du, meinst du?“

Als hätte sie ihm einen Schlag in die Magengrube verpasst, wich alle Farbe aus seinem Gesicht und der arrogante Ausdruck in seinen Augen verschwand – wenn auch nur für einige Sekunden, die es brauchte, bis er sich wieder gefangen hatte. „Ja, zum Beispiel. Aber ich trainiere nicht mehr.“

„Erst große Töne spucken und dann den Schwanz einziehen, schon klar“, spottete Summer und entspannte sich ein wenig. „Was für ach so tolle Pokémon schleppst du in den Bällen wohl mit dir rum, großer Meister? Vielleicht ein kleines Taubsi?“ Sie deutete auf seinen Gürtel, an dem zwei Pokébälle hingen. Was konnte er mit zwei Pokémon schon groß gegen sie ausrichten? Er hatte mit Sicherheit kein Dragoran. Hoffte sie.

Dort, wo eben noch pure Arroganz war, flackerte nun Wut auf. Er machte einen drohenden Schritt auf sie zu. „Halt dich aus Sachen raus, von denen du keine Ahnung hast, Noob!“

Hatte er sie gerade einen Noob genannt? „Pass auf, was du sagst! Wenn du dich traust, kannst du ja gegen mich kämpfen!“

Seine Hand zuckte zu dem vorderen der beiden Pokébälle, doch wenige Zentimeter über dem Gürtel erstarrte er mitten in der Bewegung und das Feuer in seinen kirschholzfarbenen Augen, die je nach Lichteinfall beinahe rötlich wirkten, erlosch. Er straffte seine Schultern, wandte sich dann von ihr ab und ging. „Man sieht sich. Ciao, Noob.“

„Ja, lauf nur weg!“ Summer wollte ihm noch eine Reihe wüster Beschimpfungen hinterher rufen, drehte sich dann jedoch ebenfalls um und gab Onix und Jurob erste Befehle zum Kämpfen. Wenn sie diesen arroganten Idioten das nächste Mal sah und er sie wieder so behandelte, würde sie ihm und seinen Pokémon die Hölle heißmachen.

Tageszeitung

7. Oktober
 

- Summer -
 

Summer hätte vor Freude weinen können, als sie am späten Nachmittag nach ihrer Trainingseinheit an dem geschlossenen Pokémoncenter vorbeiging und erfuhr, dass es zur Nacht hin wieder öffnete. Die Elektronik war neu gemacht worden und die Zimmer der Trainer hatte Schwester Joy notdürftig von dem Wasserschaden gesäubert. Sie fluchte zwar noch immer über die ganze Sache, was Summer für eine Joy unangemessen fand, aber sie beschwerte sich nicht und checkte sogleich für eine Woche ein. Damit hatte sich ihr Aufenthalt in der Pension Papinella erledigt.

Eilig durchquerte sie die Straßen, schnappten sich ihren gepackten Rucksack in der Pension, gab den Schlüssel ab und flüchtete wieder hinaus in den Trubel der engen Gassen und breiten Alleen. Eigentlich war Illumina City eine wirklich hübsche Stadt, wie sie fand. Nur die vielen Touristen, die bunten Reklametafeln und die vielen Menschen verpassten dem Charme einen Dämpfer.

Zurück im Pokémoncenter nahm sie den Schlüssel für ihr Zimmer entgegen. Die begehrten Einzelzimmer waren natürlich schon alle belegt und Summer kannte das Mädchen, mit dem sie sich ihr Doppelzimmer teilen musste, nicht, aber alles war besser als eine weitere Nacht mit Frühstück bei der alten Pensionsbesitzerin. „Sie wissen gar nicht, wie froh ist bin, dass Sie wieder geöffnet haben“, flötete sie gut gelaunt, doch Schwester Joy grunzte nur und ihre dunklen Augenringe ließen vermuten, dass sie die ganze Sache anders sah. Summer hatte noch nie so eine schlecht gelaunte Joy gesehen. Lernten die in ihrer Schwesternschule nicht das übliche Dauerlächeln?

Mit einem schmalen Grinsen auf den Lippen ging sie die Treppe nach oben in den ersten Stock, wo sich alle Schlafräume befanden. Sie musste in den linken Flur, dann bis ganz ans Ende. „Nummer 25, perfekt.“ Das Schloss klemmte ein wenig, doch dann sprang die Tür auf und ein Mädchen schrak von ihrem Bett hoch. „Oh, hey, ich wollte dich nicht erschrecken. Tut mir leid.“

„Nein, schon gut.“ Die Fremde rang sich ein schüchternes Lächeln ab und setzte sich wieder auf ihr Bett. Ihre kurzen, blonden Zöpfe hüpften aufgeregt auf und ab, wenn sie sich bewegte, und ihr Gesicht war kindlich und rund. Sie konnte kaum älter als dreizehn oder vierzehn sein. Sobald sie wieder saß, griff sie nach der Tageszeitung, dem Illumina Kurier, und vertiefte sich in einen Artikel.

„Ich bin Summer.“ Summer grinste noch immer, ließ ihren Reiserucksack auf das freie Bett fallen und sich gleich daneben. „Wie heißt du?“

„Hm?“ Die Blonde schaute von ihrer Zeitung auf. „M-Marie.“

„Schön, freut mich.“ Wieso klemmte schon wieder der verdammt Reißverschluss? Etwas ungehalten zog Summer an dem Verschluss herum, bekam ihn dann mit einem Ruck auf und legte ihren kurzärmligen, dünnen Sommerpyjama auf das Kopfkissen. „Bist du schon lange hier in Illumina City? Ich bin erst vorgestern angekommen und die Stadt erschlägt mich.“

„Ja, Illumina ist wirklich riesig.“ Maries schüchternes Lächeln kehrte zurück und sie faltete ihre Zeitung einmal zusammen – unschlüssig, ob sie sich mit Summer unterhalten oder weiter lesen sollte.

Summer nahm ihr die Entscheidung sofort ab und quatschte einfach weiter. „Stimmt. Der totale Wahnsinn! Überall hängen Plakate oder Bildschirme mit Werbung. Ich habe einen Werbespot mit den Kampf-Chatelaines gesehen und so eine schlanke, blonde Frau winkt ständig von den Zeitschriftencovern. Ah und dann gibt es da noch dieses Relaxo, das für diesen einen Bettenladen Werbung macht. Relaxen wie ein Relaxo oder Geld zurück.“ Ein kurzer Blick huschte über Marie. „Bist du hier, um den Arenaleiter herauszufordern?“

Marie zuckte mit den Schultern. „Ja, eigentlich schon. Citro soll wirklich stark sein, ich weiß nicht, ob ich schon soweit bin.“

„Aber braucht man nicht vier Orden, um gegen ihn antreten zu können?“ Als Marie nickte, stahl sich ein breites, zuversichtliches Lächeln auf Summers Gesicht. „Dann kannst du gar nicht so schlecht sein. Wann hast du deine Reise angetreten?“

„An meinem dreizehnten Geburtstag, das war vor vier Monaten.“

Das machte im Schnitt einen Orden pro Monat. Entweder glaubte Marie wirklich nicht an sich selbst oder sie tat nur so, jedenfalls wusste Summer, dass sie nicht zu unterschätzen war. Egal wie gut oder schlecht man war oder aus welcher Region man kam, die Leiter der Arenen verschenkten die Orden nicht einfach so. „Ich denke, dass du ziemlich gut sein musst. Was für Pokémon hast du?“

Für einige Sekunden huschte Stolz über Maries Gesicht. „Mein Starter hat sich kürzlich zu einem Fennexis entwickelt. Es ist mein stärkstes Pokémon. Dann habe ich noch Wonneira und Girafarig.“

„Kein schlechtes Team für den Anfang.“

„Nein, sicher nicht.“ Marie sprach nun ohne den ängstlichen, nervösen Unterton. „Ich habe mir schon von Anfang an eine Strategie ausgesucht und fange nur Pokémon, die dazu passen. Eine richtige Strategie ist wichtig, sonst kommt man nicht weit. Gut, ein paar Kämpfe kann man auch mit einer normalen Hau-Drauf-Taktik gewinnen, aber spätestens bei den letzten Arenaleitern oder in der Vorauswahl für die Liga braucht man was im Köpfchen. Entschuldige mich jetzt, ich treffe mich noch mit jemandem.“

Etwas verdattert schaute Summer ihr hinterher, als Marie das Zimmer verließ. Die Kleine war nicht nur drei Jahre jünger als Summer, sondern besaß auch schon mehr Orden und legte großen Wert auf Taktik. „Vielleicht sollte ich sie mit Rain bekanntmachen“, murmelte sie mit einem Anflug von Frust. Was Marie so abfällig Hau-Drauf-Taktik genannt hatte, war für gewöhnlich genau der Kampfstil, den Summer verfolgte.

Sie schnappte sich die Zeitung, die Marie auf ihrem Bett zurückgelassen hatte, und blätterte durch die ersten Seiten. Zwei Artikel auf einer Doppelseite zogen dann jedoch ihre Aufmerksamkeit auf sich und mit gerunzelter Stirn begann sie quer zu lesen.

[…] sind die Registrierungen von offiziellen Trainer-IDs in den letzten zehn Jahren um 37% angestiegen. Die Studien zeigen auch eine erhöhte Auslastung der Pokémoncenter und Arenen, was zu höheren Ausgaben führt. Aus diesem Grund hat Bürgermeister Webber im Parlament von Kalos den Vorschlag eingebracht, dass die Pokémon-Steuer zum kommenden Jahr um 2% erhöht wird. Dies muss jedoch noch von einem Ausschuss geprüft und mit den anderen Regionen koordiniert werden. In einem Infokasten neben dem Artikel standen die Hauptpunkte, die von der Pokémon-Steuer finanziert wurden: Pokémon-Center, offizielle Arenen und Turniere, staatliche Reservate und geschützte Parkanlagen samt dazugehöriger Ranger, Verwaltung des gesamten Trainer-Apparates, Auswilderungs- und Umsiedlungsprogramme. Zusätzlich dazu gab es eine Teilförderung von Zuchtpensionen, Forschungseinrichtungen und Schulen.

Summer las sich den anderen Artikel durch. […] Augenzeugen zufolge handelt es sich bei den Einbrechern, die unerkannt mit ihrer Beute fliehen konnten, um Mitglieder von Team Dark, das vor über zwanzig Jahren in Finera sein Unwesen trieb und unter der Leitung von Dr. Milena Mai, einer berühmten Wissenschaftlerin, stand. Die Polizei bittet um Hinweise, wenn Sie etwas zum Verbleib der Diebe oder möglichen Aktivitäten der Untergrundorganisation wissen. Officer Rocky ruft zu Besonnenheit und Vorsicht auf. Noch besteht keine Gewissheit, ob es sich wirklich um ein neues Team Dark oder Trittbrettfahrer handelt.

Bei dem zweiten Artikel lief es ihr eiskalt den Rücken runter. Die Menschen in Kalos mochten Team Dark nur für eine einfache, kleine Bedrohung aus einer anderen Region halten, doch die Geschichten, die ihre Eltern über Team Dark erzählten, klangen ganz und gar nicht ungefährlich. Team Dark hatte unter der Leitung von Milena Mai Pokémon gestohlen und mit ihnen qualvolle DNA-Experimente durchgeführt, wobei Dr. Mai sich damit rechtfertigte, dass sie nur helfen wollte und nach einer Lösung für Gendefekte und Krankheiten suchte.

„Das muss ich sofort Rain und Mom schicken.“ Summer tippte hastig in ihrem ComDex eine Kurznachricht an Rain, dann an ihre Mutter. Team Dark wurde vor über zwanzig Jahren zerschlagen, es konnte nicht plötzlich wieder auftauchen. Das konnte nicht sein. Oder etwa doch?

Marie

8. Oktober
 

- Summer -
 

Summer seufzte, als sie den letzten Bissen ihres Croissants hinunterschluckte, das zwar gut schmeckte, aber kein Vergleich zu den frischen, selbstgebackenen Croissants ihrer Haushälterin zu Hause war. Tja, manche Eigenschaften verwöhnter Gören legte wohl selbst sie nicht ab, obwohl sie das wollte.

Marie, die sich am Nachbartisch bei einigen anderen Trainern niedergelassen hatte, warf Summer schon den ganzen Morgen über undefinierbare Blicke zu. Sie spielte mit den drei Pokébällen an ihrem Trainergürtel herum und stand auf, sobald sie die Brötchen für unterwegs geschmiert hatte.

Zeitgleich mit Marie erhob sich auch Summer und beschloss, dass Marie ihr an diesem Tag Gesellschaft leisten sollte, worüber sie die andere Trainerin auch sogleich in Kenntnis setzen wollte. „Hey, Marie, was dagegen, wenn wir heute ein bisschen zusammen trainieren? Bevor zu Citro herausfordern kannst, musst du bestimmt noch ein wenig kämpfen üben.“

Maries kurze, blonde Zöpfe, die sie heute seitlich am Kopf trug, wippten auf und ab. „Na ja“, begann sie und warf ihren Freunden am Nachbartisch einen langen, bedeutsamen Blick zu. „Eigentlich schon. Ich liege mit meinem Training bereits im Zeitplan und heute schaue ich mir ein paar Sehenswürdigkeiten an. Morgen fordere ich Citro heraus.“

„Ach.“ Summer konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Die Schüchternheit, die Marie noch am Vortag ausgezeichnet hatte, schien wie weggeblasen zu sein und aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie zwei der Jungen Marie die Daumen hochstreckten. Hatte sie Fans? „Na dann hast du bestimmt nichts gegen einen kleinen Probekampf?“

Einen Augenblick zögerte Marie, dann reckte sie das Kinn in die Höhe. „Kein Bedarf, Summer Light.“

Was zum … Woher kannte sie ihren Nachnamen? Sichtlich überrascht drückte Summer ihr Tablett näher an sich. „Ich wusste gar nicht, dass ich dir meinen vollen Namen gesagt hatte.“

„Hast du auch nicht, aber wir haben auch so herausgefunden, wer du bist.“

„Wir?“

Marie deutete mit dem Kopf zum Nachbartisch und wie auf ein Kommando hin standen die drei anderen Trainer – die beiden Jungen und ein Mädchen mit langen, krausen Haaren – auf.

„Wir wissen immer über unsere Rivalen Bescheid“, begann das Mädchen und beim Sprechen blitzte ihre Zahnspange auf. „Du bist Summer Light, Tochter der Light-Dynastie aus Finera. Dein Vater und dein Großvater sind hohe Tiere bei der Privatbank von Finera. Du musst doch im Geld nur so schwimmen können, wieso suchst du dir also keine andere Region, in der du rumprotzen kannst, wie toll du und deine Pokémon doch seid?“

„Bitte?“ Summer blieb der Mund offen stehen. Zum ersten Mal fühlte sie sich in der Gegenwart anderer Trainer sehr unbehaglich. „Was hat mein Trainerdasein mit meiner Familie zu tun?“

„Wir wissen, wie das läuft“, schaltete sich nun Marie wieder ein. „Du bist eine reiche, verwöhnte Göre, wir kennen Leute wie dich, du bist hier in Kalos kein Einzelfall. Mit deinem Geld kannst du dir seltene, starke Pokémon kaufen und locker die Orden gewinnen, aber das ist nicht ehrenhaft.“

„Ganz und gar nicht“, bekräftigte das andere Mädchen und hakte sich bei Marie unter. „Und mit Leuten wie dir wollen wir nichts zu tun haben.“

„Ihr habt sie doch nicht mehr alle!“, stieß Summer zischend und gekränkt hervor. „Ich habe mein Starterpokémon wie jeder normale Trainer aus dem Pokémonlabor und trainiere sie jedes Level selbst!“

„Sonderbonbons musst du dir ja zu Hauf leisten können.“ Marie und das andere Mädchen verließen den Speisesaal des Pokémoncenters, die beiden Jungen folgten ihnen kaum ein paar Sekunden später und ließen Summer zurück.

Diese starrte dem Vierergrüppchen aufgebracht hinterher, knallte ihr Tablett auf den Ständer und wirbelte zum Tresen von Schwester Joy. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingerspitzen auf dem Tresen, bis die Joy sich ihr zuwandte. „Ja bitte?“

„Ich möchte ein Einzelzimmer haben“, platzte es sofort aus Summer heraus. „Meine Zimmernachbarin und ich verstehen uns nicht und es ist unzumutbar, noch eine Nacht mit ihr zu verbringen.“

„Marie Müller?“ Schwester Joy schaute auf den Bildschirm ihres Computers, auf dem die Zimmerbelegung aufflackerte. „Da musst du dir keine Sorgen machen.“

„Wieso?“

Schwester Joy lächelte. „Marie hat schon heute Morgen auf ein anderes Doppelzimmer umgebucht. Du hast dein Zimmer für dich, bis eine andere Trainerin eincheckt.“

Summer schnaubte, trat hinaus ins Freie und konnte sich nur schwer beherrschen. Noch nie hatte man ihr ihre Herkunft vorgeworfen, noch nie war ihr Familienname wie eine Beleidigung gewesen. Andererseits … Summer musste sich eingestehen, dass es dazu bisher auch keine Gelegenheit gegeben hatte.

Zuhause auf Honey Island lebte ihre Familie auf einem großen, schicken Anwesen und sie waren überall auf der Insel und in der Stadt geachtet. Der Kindergarten, den sie mit Rain besucht hatte, war ein kleiner Privatkindergarten gewesen und angegliedert an die Privatschule, die sie bis zum Erhalt ihrer offiziellen Trainerlizenz besucht hatte. Früher hatte man bereits mit zehn Jahren die Schule verlassen und die Trainer-ID beantragen können, doch nach einer Reform war beides erst mit vierzehn Jahren möglich, weil die Politik zu dem Schluss gekommen war, dass zehnjährige Kinder für diese Verantwortung zu jung waren.

Nach der Schule hätte sie also gleich ihre Trainerlizenz beantragen können, doch ihre Eltern hatten darauf bestanden, dass sie noch zwei weitere Jahre an der Privatschule dranhängte, was sie auch getan hatte. Mit sechzehn Jahren hatten ihr dann alle Möglichkeiten offen gestanden, doch sie hatte immer nur eine Pokémontrainerin sein wollen. Nie hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, dass das Geld ihrer Familie ihre Reisen, die vielen Restaurantbesuche und neuen Klamotten finanzierte.

Wütend fuhr Summer sich durch die Haare, ging die Straße entlang und suchte nach dem erstbesten Trainer, den sie in einer der Seitengassen herausfordern konnte.

Summer war geknickt, weil ihr bewusst geworden war, wie sehr sie sich immer auf den Status ihrer Familie und das Geld verlassen hatte. Gleichzeitig war sie froh, weil sie diese Möglichkeit nun einmal hatte. Außerdem hatten Onix und Jurob einen Doppelkampf gegen einen Punk gewonnen, mit Glumanda hatte sie es heute gar nicht erst versucht.
 

Als sie in das Pokémoncenter zurückkehrte, war sie noch immer frustriert, freute sich jedoch über ihr Doppelzimmer, das sie nun zumindest für die nächste Zeit für sich alleine hatte. Marie und ihre Freunde hatte sie seit dem Frühstück nicht mehr gesehen, aber das war ihr auch recht so. Sollten sie doch glauben, dass sie sich mit Geld gute Pokémon und Orden erkaufte. Solange sie an sich glaubte und wusste, dass sie eine ehrbare Trainerin war, konnte ihr niemand etwas tun. Trotzdem ließ Summer der Gedanke nicht los, dass sie den anderen und vor allem sich selbst beweisen musste, dass sie auch ganz ohne das Geld ihrer Familie ihren Traum verfolgen konnte. Sie war eine Light, ja, aber sie war auch viel mehr als nur das.

Die Leiden eines Pro-Trainers

9. Oktober
 

- Summer -
 

Zwei Tage war Summer bereits vollkommen auf sich alleine gestellt, doch etwas hatte sich verändert. Das Verhalten von Marie und ihrer Clique hatte ihr die Augen geöffnet und nach kurzer telefonischer Rücksprache mit ihren Eltern hatte sie ihren Standpunkt klar gemacht. Sie würde von ihren Eltern keinen Zuschuss mehr für ihre Pokémonreise bekommen und nur von ihrem Taschengeld leben. Ihr Taschengeld würde von nun an in wöchentlichen Beträgen auf ihrem Konto landen und insgesamt nur noch halb so hoch sein, denn die andere Hälfte wollte sie für Notfälle sparen. Ihr Vater war davon wenig begeistert gewesen, doch ihre Mutter fand die Idee gut und unterstützte sie dabei. Sollte sie in einer Woche doch mehr Geld ausgeben, hatte sie immer noch den Puffer und konnte sich einen Aushilfsjob suchen. War das nicht das, was das normale Leben ausmachte?

Gut gelaunt fand Summer sich nach einer Trainingseinheit im Pokémoncenter ein und stellte sich hinter einem braunhaarigen Jungen am Schalter an. Diese Größe, die Stimme … Dann drehte er sich um und Erkennen machte sich zeitgleich in beiden Gesichtern breit. „Bryce!“

„Summer …“

Sie grinste den Pro-Trainer, den sie in Nouvaria City kurz kennengelernt hatte, an. „So sieht man sich wieder.“

Er nickte ihr zur Begrüßung zu. „Dann hast du auch den Krabbelorden gewonnen? Glückwunsch.“

„Danke.“ Schwester Joy winkte sie zu sich und sie gab die Pokébälle von Onix und Jurob ab. Das Training der beiden ging stetig voran, doch mit Glumanda kam sie einfach nicht weiter. Ihr neues Teammitglied respektierte sie noch immer nicht und auch wenn sie nicht mehr bei jeder Begegnung Brandlöcher in der Kleidung hatte, ignorierte Glumanda jeden ihrer Befehle.

„Dein Begleiter ist gar nicht bei dir?“

„Henry? Nein, er ist vor zwei Tagen gegangen. Er wird bald sein eigenes Restaurant eröffnen.“ Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Es war diese unangenehme Mischung aus der Gewissheit, dass der Smalltalk noch nicht lange genug war, und der eigentlichen Fremdheit mit dem Gegenüber. „Und du hast fleißig trainiert, um zur nächsten Arena weiter zu reisen?“

„Na ja …“ Bryce ließ seinen Blick über die Trainer im angrenzenden Speisesaal schweifen. „Eigentlich war das der Plan, ja.“

Summer zog eine Augenbraue in die Höhe. „Aber?“

„Mir hat niemand gesagt, dass Citro der fünfte Leiter ist.“

Sie schaute ihn voller Unverständnis an. Sowohl Bryce als auch sie waren neu in Kalos und kannten sich noch nicht wirklich aus, aber spätestens in der Arena hätte er doch gemerkt, dass Citro eine Nummer zu groß für ihn war. Es sei denn … Als sie sich an den Kampf gegen sein starkes Enekoro erinnerte, dämmerte es ihr. „Oh nein.“

„Ich fürchte doch.“

„Du hast ihn besiegt?!“

Bryce deutete ein „Psst!“ an, nickte dann jedoch und kratzte sich verlegen am Nacken. „Er hat nach dem Kampf zu mir gesagt, dass Enekoro eigentlich viel zu gut ist. Ich habe ihm dann erklärt, dass ich Enekoro zusammen mit meinem Starter an der Pokémon Tec in Kanto trainiert habe, aber begeistert war er davon nicht. Jetzt besitze ich zwar seinen Orden, aber er will mich den anderen Arenaleitern melden und dadurch sichergehen, dass diese Region kein Spaziergang für mich wird. Eigentlich sollte ich darüber ja froh sein, aber ich wollte einen Neuanfang und nicht an meine Ausbildung als Pro-Trainer anknüpfen.“

Summer schüttelte fassungslos den Kopf. „Du hast einfach den fünften Orden erkämpft.“

„Hab ich doch gesagt, ja.“

„Ich wäre so stolz, wenn ich Pro-Trainer wäre, ganz ehrlich. An der Pokémon Tec werden doch nur die Jahrgangsbesten der Pokémonschulen aller Regionen zum Auswahltest eingeladen und von denen werden dann auch nur wenige angenommen. Damals wollte ich unbedingt mitmachen, aber meine Noten haben nicht gereicht.“ Sie grinste schief. „Tja, ich schätze, mit zehn Jahren waren mir andere Dinge wichtiger als Lernen.“ Summer nahm ihre beiden Pokébälle von Schwester Joy entgegen und als sie sich umdrehte, hatte Bryce ihr schon den Rücken zugewendet. „Hey, warte doch mal.“

Bryce blieb stehen und schaute sie über den Rand seiner grünen Brille hinweg an. „Ja?“

Sie warf ihm ein entschuldigendes Lächeln zu. „Ich treffe nicht jeden Tag jemanden, der offiziell zum Pro-Trainer ausgebildet wurde und sich den Ruf nicht erst mühsam erkämpfen musste.“

„Die Ausbildung an der Pokémon Tec ist also nicht mühsam?“ Bryce lachte trocken auf. „Dann solltest du dir mal meine alten Stundenpläne anschauen. Freizeit ist da ein Fremdwort.“

„So habe ich das nicht gemeint.“ Sie deutete auf die Loungesessel im Eingangsbereich, die als Wartebereich für Trainer gedacht waren, meistens jedoch belagert wurden, um Neuigkeiten auszutauschen oder Radio zu hören. „Ich würde mich gerne mit dir unterhalten. Bitte.“

Man sah Bryce deutlich an, wie wenig er davon hielt, doch er nickte und nahm Platz. „Na schön, stell mir deine Fragen.“

Glücklich und dankbar sah sie ihn an. „Du warst also vier Jahre auf der Pokémon Tec und hast dort deinen Starter bekommen?“

„Schiggy. Wir alle haben einen der klassischen Kanto-Starter bekommen, auch wenn die Pokémon nicht mehr auf ihre Ursprungsregion begrenzt sind. Die Pokémon Tec achtet sehr auf ihre Traditionen und die Indigo Liga unterstützt sie dabei.“

„Das ist so aufregend! Und was habt ihr dann gemacht? Wie hat man euch das Kämpfen beigebracht?“

„Wir hatten den normalen Schulunterricht, den andere auch haben, bis sie vierzehn sind. Zusätzlich dazu hat man uns nachmittags alles über Pokémon gelehrt. Wir mussten Attacken, Strategien, Entwicklungsarten und noch viel mehr auswendig lernen, haben uns mit der Pflege und dem Training beschäftigt. Jeden Tag stand die Arbeit mit unseren Pokémon auf dem Programm und am Wochenende gab es überwachte Kämpfe und kleine Turniere. Sobald sich der Starter dann zum ersten Mal entwickelt hat, haben wir ein zweites Pokémon bekommen, bei mir war das Eneco.“

„Dann hattest du also zwei Pokémon, konntest du dir Eneco denn aussuchen?“

Bryce schmunzelte. „Nicht so richtig. Man hat uns beigebracht, dass jedes Pokémon Stärken und Schwächen hat und man aus jedem Pokémon ein gutes Teammitglied machen kann. Trotzdem haben einige natürlich bessere Chancen mit ihren Pokémon gehabt als andere. Man wusste nie, was man bekommt, aber die Schulleitung hat darauf geachtet, dass sich das zweite Pokémon mit unserem Starter gut kombinieren lässt und das Team ausgewogen bleibt. Wirklich schlimm war aber niemand dran, denn die Pokémon, die die Pokémon Tec vergibt, stammen alle von regionalen Züchtern, dementsprechend gute Basiswerte haben sie.“

„Hatten manche der Pokémon auch Zuchtattacken?“

Er nickte. „Es war selten, aber es kam vor.“

„Wow. Es muss unglaublich sein, wenn man vier Jahre lang unter Trainern auf einem Internat lebt und jeden Tag mit seinem Pokémon zusammen sein kann. Wie ging es dann weiter, als du dein zweites Pokémon hattest?“

„Na ja, wir haben trainiert, was sonst? Nach vier Jahren kann man zur Abschlussprüfung antreten, aber ich habe mir viel Zeit gelassen und wollte lieber noch ein Jahr dranhängen, was auch möglich ist. In diesem Jahr habe ich dann Turtok und Enekoro trainiert und mit einem Jahr Verspätung die Prüfung bestanden. Die meisten hatten zu dieser Zeit schon weitere Pokémon gefangen und trainiert.“

„Das verstehe ich. Wenn man den Abschluss der Pokémon Tec hat, ist man automatisch Ass-Trainer und zur Teilnahme an der Indigo Liga qualifiziert. Hast du dort mitgemacht?“

Bryce‘ Blick verdunkelte sich. „Nein.“

„Wieso nicht? Das ist doch das Ziel oder nicht?“

Er rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her. „Ich glaube, ich hatte es dir schon in Nouvaria City gesagt, aber Turtok hört nicht mehr auf mich. Es hat während des Zusatzjahres einen zu hohen Level erreicht und respektiert mich deshalb nicht mehr als seinen Trainer. Wahrscheinlich denkt es, dass ich mich nicht genug weiterentwickelt habe. Außerdem hatte ich mich nie um andere Teammitglieder bemüht.“ Er zuckte mit den Schultern, als sei ihm dies egal, doch sein verbissener Gesichtsausdruck ließ etwas anderes vermuten. „Deshalb bin ich zurück nach Hause gegangen. Meine Eltern konnten meine Entscheidung nicht verstehen und haben lange auf mich eingeredet, weshalb ich einen Neuanfang wagen wollte.“ Dann seufzte er. „Aber den kann ich jetzt wohl vergessen, wenn Citro mich bei den anderen Arenaleitern verpetzt.“

„Du könntest Turtok wieder in dein Team aufnehmen. Weißt du, mein Glumanda hört auch nicht auf mich, aber deswegen gebe ich es noch lange nicht auf.“

Schweigend musterte er Summer und schob einen Krümel auf der kleinen, runden Tischplatte des Beistelltischs hin und her. „Mag schon sein.“ Bryce erhob sich und wechselte das Thema. „Waren das alle deine Fragen? Ich würde mich gerne in meinem Zimmer ausruhen, morgen reise ich weiter.“

Summer entließ ihn mit einem schiefen Lächeln und schaute ihm hinterher, wie er die Treppe hoch in den ersten Stock ging. Bryce hatte einen Abschluss der Pokémon Tec und war damit offiziell ein Pro-Trainer. Er besaß ein Turtok, das ihm nicht gehorchte, und ein Enekoro, das zwei TM-Attacken beherrschte. Sie wusste nicht, wieso Citro seinem Neuanfang einen so großen Stein in den Weg legte, aber sie glaubte den Arenaleiter zu verstehen. Bryce war ein Pro-Trainer, ob er wollte oder nicht. Er war der Trainer zweier sehr starker Pokémon, doch er wollte die Verantwortung dafür nicht mehr haben. Das war nicht in Ordnung.

Als sie aufstand und ihr eigenes Zimmer ansteuerte, wusste sie bereits, was sie als nächstes zu tun hatte. Bryce wollte ihre Gesellschaft vielleicht nicht, aber sie sah ihm an, dass er unter der Situation litt und genauso erging es vermutlich seinem Starter, der nun ohne ihn in der Ferne bei Bryce‘ Familie lebte. Er war Pro-Trainer, bei Arceus! Er sollte sich auch so benehmen.

Kampf um Schokolade

9. Oktober
 

- Rain -
 

Zwei Tage waren zwischenzeitlich vergangen, seit sie das Glumanda von ihrer Großcousine Ivy erhalten und sich von Henry und Summer verabschiedet hatte. Zwei Tage, in denen sie im Pokémoncenter über Strategien und Attackensets für ihre Pokémon gegrübelt hatte. Zwei Tage, in denen Camille ihre Freundin wurde, ohne dass sie es gemerkt hatte. Sie war froh gewesen, als Camille sich gemeldet und gefragt hatte, ob sie sich ein Zimmer im Pokémoncenter teilen wollten. Rain mochte Camille und hatte sofort zugesagt, als sie erfuhr, dass Summer sich eines der anderen beiden Pokémoncenter ausgesucht hatte. Somit bestand keine Gefahr, dass sie ihrer Zwillingsschwester über den Weg laufen musste.

Camille saß ihr auch an diesem Morgen gegenüber, schmierte sich ein Brötchen mit Pirsifmarmelade und summte dabei eine Melodie, die vorhin im Radio gelaufen war. „Seit zwei Tagen trainierst du und schmiedest Pläne, aber dabei kommt nichts raus. Du solltest dir einen der Trainer hier herauspicken und einen Probekampf machen.“

Rain schaute von ihrem Notizblock auf. „Ich weiß nicht, ob meine Pokémon schon soweit sind.“

Lächelnd zuckte Camille mit den Schultern und als sie in das Brötchen biss, quoll die Marmelade an den Seiten über und tropfte an ihrem Kinn herunter auf den Teller. Sie kicherte leicht beschämt, griff nach der Serviette und wischte sich das Gesicht sauber. „War wohl etwas viel Marmelade. Hey, wenn du nicht gegen die Trainer hier kämpfen willst, wie wäre es dann mit Elfun?“

„Dein Elfun?“

„Siehst du hier sonst noch eins?“ Camille schaute zu Elfun, das bei der Erwähnung seines Namens einmal in die Luft gesprungen war und nun langsam wie Watte zurück auf den Stuhl segelte, wobei es sich um die eigene Achse drehte wie bei einem Tanz ohne Musik. „Trainieren konnte ich Elfun nur während der Semesterferien, aber es dürfte ein paar Level auf dem Buckel haben. Na, was sagst du?“

Einen Moment zögerte Rain, dann klappte sie das Notizbuch zu. „Also schön, kämpfen wir.“

„Super!“ Ehrliche Freude ließ Camilles Gesicht strahlen und sie verspeiste schnell den Rest ihres Brötchens, klemmte sich dann Elfun unter den Arm und verließ gemeinsam mit Rain das Pokémoncenter. „Damit dieser Kampf ernst ist, würde ich sagen, dass wir einen Einsatz brauchen.“

„Und woran hast du gedacht?“

Camilles Augen leuchteten. „Schokolade! Der Verlierer kauft dem Gewinner eine Tafel.“

Rain konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und willigte ein. Dann suchten beide sich eine der leeren Gassen, die es überall in Illumina City gab und in der Trainer regelmäßig gegeneinander kämpften. Die Anwohner schienen sich nicht daran zu stören, solange ihre Hauswände nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden, aber wenn man etwas tiefer in das Labyrinth der Gassen eindrang, fand man nur noch verlassene Hinterhöfe, um die sich ohnehin niemand mehr zu kümmern schien.

Camille steuerte auf einen der Hinterhöfe zu, schob einen schwarzen Müllcontainer zur Seite und entließ anschließend ihr Elfun aus ihren Armen. Das Pokémon schwebte langsam zu Boden und wackelte mit seinem Köpfchen, wobei sein wolliges Fell hin und her schwabbelte und sich einige Fetzen lösten.

Rain musterte Elfun zum ersten Mal wie einen Gegner. Sie wusste, dass Camille keine richtige Trainerin war. Sie studierte schon einige Semester Altertumswissenschaften an der Prismania Universität und würde später einmal als Forscherin in die Fußstapfen ihres Vaters treten, nun aber gönnte Camille sich ein Urlaubssemester und reiste durch die Welt. Elfun war mehr ihre Gesellschaft als ein Pokémonpartner im Kampf, aber das war kein Grund, um sie zu unterschätzen, zumal Camille bald von ihrem Vater ein Fossilpokémon zum Training geschickt bekommen würde. Sie musste Erfahrung haben und nicht ganz schlecht sein, wenn ihr Vater ihr diese Verantwortung übertrug.

Rains Hand zuckte von Froxys Pokéball zurück. Sie entschied sich für Glumanda, das sie auf den Hof entließ. „Also dann, Glumanda, dein erster Kampf.“ Die Feuerechse blinzelte, streckte dann die kleine Faust in die Luft und rief: „Manda!“ Kampfbereit und mit breiten Beinen stellte es sich in eine federnde Position, um jede Anweisung seiner Trainerin wie ein Schwamm aufzunehmen. „Beginnen wir mit Glut!“

„Wolli, weich aus.“

Glumanda war schnell, aber Elfun war schneller. Es federte sich vom Boden ab, schoss in die Luft und schwebte dort zur Seite, was Glumanda nur mit einem verwirrten Blick zurückließ. Sogleich passte die Echse sich der Situation an und legte mit einer zweiten Salve Glut nach, doch auch dieser wich Elfun aus, indem es – anders als sonst – nicht träge zu Boden schwebte, sondern blitzschnell zur Seite schoss. Rain hatte Camilles Elfun noch nie mit so schnellen Bewegungen gesehen.

„Glumanda, wir wechseln die Strategie! Geh möglichst nah ran und dann direkt die Kratzer-Attacke!“

Auch dem ersten Kratzer konnte Elfun mühelos ausweichen, doch dann hatte es so viel Höhe eingebüßt, dass seine Ausweichmanöver nicht mehr richtig funktionierten. Es mochte zwar leicht sein und lange grazil schweben können, doch es konnte nicht fliegen und in der Windstille sank es nun auf den Asphalt. Der zweite Kratzer war ein Volltreffer und mit einem leisen Aufschrei hüpfte Elfun nach hinten.

„Keine Sorge, mach weiter mit Giftpuder.“ Camilles Lächeln war keinen Millimeter kleiner geworden und interessiert schaute sie zu, wie Elfun die giftigen Sporen aus seinem weißen Fell schüttelte. Glumanda krümmte sich kurz, als es am Rücken getroffen wurde und die betroffene Stelle nahm eine ungesunde, lilafarbene Färbung an, außerdem begann die Haut dort Blasen zu werfen. „Jetzt Windstoß.“ Die Attacke brachte Glumanda völlig aus dem Konzept, schleuderte es direkt gegen die Wand. Dort krümmte es sich erneut, denn die Vergiftung begann zu wirken und forderte stetig Kraft ein.

Hektisch ging Rain ihre möglichen Optionen durch. Sie wusste nicht genau, welche Zuchtattacken Glumanda beherrschte, denn der ComDex war ungenau. Laut ihrer Mutter lag dies daran, dass Glumandas DNA Anteile von Entei besaß, was so in der freien Natur nicht vorkam. Dementsprechend gab es dazu auch keinen Eintrag. „Glumanda, noch einmal Glut!“

„Energieball.“

Beide Attacken prallten aufeinander und obwohl sich einige Glutfunken bis zu Elfun durchschlagen konnten, steckte Wolli diese Attacke locker weg. Im Gegensatz dazu kippte Glumanda trotz Typenvorteil besiegt nach hinten.

Rain zog Glumanda sofort in den Pokéball zurück, dann schaute sie Camille, die Elfun den Kopf tätschelte, mit großen Augen an. „Du hast gesagt, du hättest Elfun ein paar Level trainiert, aber Energieball lernt ein Waumboll doch erst auf Level 35!“

Camilles Lächeln vermischte sich mit ihren roten Bäckchen und sie zuckte betreten mit den Schultern. „Na ja, ich habe Wolli auch schon einige Jahre. Gut, vielleicht sind es ein paar mehr Level. Es müsste Ende der Dreißiger sein.“ Dann setzte sie sich Wolli auf die Schulter und zwinkerte Rain zu. „Sieh es als Win-Win-Situation an: Glumanda braucht die Kampferfahrung und ich brauche Schokolade.“

Stöhnend verdrehte Rain die Augen, war ihrer Freundin jedoch schon nicht mehr böse. „Alles klar, dann gehen wir jetzt gleich zum nächsten Supermarkt.“

„Super! Und heute Nachmittag üben wir die Zuchtattacken von Glumanda, ja?“

„Heute Nachmittag?“

Camille hakte sich bei Rain unter. „Klar, mein Vorrat an Schokoladenhörnchen ist aufgebraucht.“ Sie wich einem spielerischen Schlag seitens Rain aus und die beiden Mädchen tauchten lachend in dem Trubel unter, den Illuminas Hauptstraßen und Alleen für alle bereithielt.

So gut wie pleite

9. Oktober
 

- Rain -
 

Am Abend hatten Camille und Rain es sich im Speisesaal des Pokémoncenters bequem gemacht. Die Tische, an denen normalerweise gegessen wurde, hatte man an die Seiten geschoben und in der Mitte bildeten die anwesenden Trainer insgesamt sieben Stuhlreihen. Vorne stand eine alte Dame mit graumeliertem Haar und mildem Lächeln, die sich schon zu Beginn der Aktion als ehemalige Schwester Joy vorgestellt hatte.

„Tante Gretchen hat jahrelange Erfahrung“, dozierte die aktuelle Schwester Joy und schaute dabei, wie meistens, eher gelangweilt drein. Sie gehörte wohl zu der seltenen Spezies von Joys, denen das strahlende Lächeln nicht permanent ins Gesicht geschrieben stand. Ob sie sich diesen Job überhaupt selbst ausgesucht hatte?

„Ich habe mich schon immer gefragt, wieso die Joys sich alle so verdammt ähnlich sehen“, raunte Camille Rain in diesem Augenblick zu. Beide saßen am Rand der vorletzten Reihe, weil sie sich verspätet hatten. Das Plakat, das einen Vortrag von Gretchen Joy zum Thema Zucht und Geburtshilfe bei Pokémon ankündigte, hatten sie beide bislang übersehen, aber soweit sie mitbekommen hatten, hatte Schwester Joy auch einen ziemlich ungünstigen Ort zum Aufhängen gewählt.

Rain zuckte leicht mit den Schultern und neigte ihren Kopf zu Camille. „Diese Familie muss verdammt dominante Gene haben. Ich habe noch nie eine Joy gesehen, die nicht die weichen Gesichtszüge und die rosa Haare geerbt hat.“

Camille nickte zustimmend. „Die Augenfarben sind schon unterschiedlich und die Statur manchmal auch, aber ansonsten gleichen sie wie ein Ei dem anderen.“

„Psst!“ Ein Junge vor ihnen drehte sich zu ihnen um. „Seid still, es geht los!“

Zusammen mit den gezischten Worten kehrte Ruhe im Raum ein und die alte Joy stellte sich vorne vor die versammelten Trainer. „Es freut mich, dass so viele junge Leute gekommen sind, die sich für das Thema interessieren. Die meisten von euch sind Trainer auf der Durchreise, aber zwei oder drei, mit denen ich mich bereits kurz unterhalten habe, möchten Züchter werden.“

In der ersten Reihe saßen ein Junge und zwei Mädchen, die sich offensichtlich angesprochen fühlten, denn sie streckten stolz die Brust raus und tuschelten leise miteinander.

Gretchen Joy fuhr mit der inhaltlichen Planung ihres Vortrags fort und Rain ahnte bereits, dass das Thema doch nicht so ganz ihren Geschmack treffen würde, als unvermittelt ihr ComDex zu piepen begann. Zwanzig Augenpaare wandten sich zu ihr um, darunter mehr als nur ein paar böse Blicke. Dazu kamen diejenigen, die hinter ihr saßen oder sich nicht umgedreht hatten.

„Entschuldigung“, sagte sie schnell, stand auf und zog sich in die Lounge im Eingangsbereich zurück. Noch immer piepte ihr ComDex lautstark und kündigte damit den sich leerenden Akku an. „Und ich dachte, das Ding hält mindestens ein bis zwei Wochen.“ War sie schon so lange von zu Hause weg? Grob überschlug sie die Tage. Heute war der 9. Oktober und am 27. September war sie von zu Hause abgehauen. Tatsächlich, der Akku hatte jeden Grund, um sich zu verabschieden. Sie fluchte leise, ging dann nach oben in das Doppelzimmer, das sie sich mit Camille teilte, und schloss den ComDex an das Ladekabel an. Während sie damit beschäftigt war, scrollte sie durch die Kurznachrichten, darunter war eine neue von ihrer Mutter, die um einen baldigen Rückruf bat.

Rain überlegte nicht lange, denn den Vortrag wollte sie sich nicht weiter antun. Also ging sie zurück nach unten ins Erdgeschoss zu der Ecke mit den Bildtelefonen. Zwei der roten Kästen hingen an der Wand gegenüber der Loungesessel und waren durch eine halbhohe Trennwand und einige große Pflanzen vom restlichen Geschehen abgeschirmt.

Nachdem es ein paar Mal getutet hatte, meldete sich ihre Mutter am anderen Ende und der schwarze Bildschirm erwachte flackernd zum Leben. „Rain, Schatz, da bist du ja!“

„Hey, Mom, was gibt’s?“

Ihre Mutter lächelte sie an und ihre türkisfarbenen Haare, in denen sich die ersten grauen Haare zeigten, hingen nass bis auf ihre Schultern. Sie musste gerade aus der Dusche gekommen sein. „Ich hatte vorhin ein sehr nettes Gespräch mit deiner Schwester. Summer hatte eine großartige Idee.“

Rain kniff die Augen leicht zusammen. Summer und großartige Idee gehörten ihrer Ansicht nach nicht zu den Dingen, die sie unbedingt in einem Satz miteinander kombinieren würde. „Und die wäre?“

„Sie hatte ein paar Probleme mit einem Mädchen, das sie wegen ihrer Herkunft ausgegrenzt hat. Summer hat vorgeschlagen, dass ihr auf die Hälfte eures Taschengeldes verzichtet und komplett auf unsere Unterstützungszahlungen. Auf diese Weise wärt ihr fast vollkommen auf euch selbst gestellt und könnt die Reise genau so erleben, wie es die meisten jungen Leute tun. Mir ging es damals nicht anders, nun ja, zumindest bis auf den Batzen, den ich mir extra dafür zusammengespart hatte.“ Kichernd erinnerte ihre Mutter sich an ihre Jugendzeit zurück. „Ich finde die Idee wirklich gut.“

„Hm“, brummte Rain. Wieso machte Summer sich ausgerechnet jetzt Gedanken über so etwas? In den sechzehn Jahren davor hatte sie sich schließlich auch nie mit der Herkunft des Geldes beschäftigt und wie sie damit auf andere wirken könnte. „Muss das sein?“

Am anderen Ende herrschte einige Sekunden lang Schweigen. „Ja, ich denke, das wäre eine gute Erfahrung für euch beide. Außerdem könnt ihr euch im Notfall natürlich immer noch an uns wenden.“

„Ich kann dich nicht umstimmen oder?“

„Versuch es wenigstens, ja?“

„Ja.“

„Du bist ein Schatz. Wir telefonieren bald wieder, ich hab dich lieb. Viel Spaß noch heute Abend!“

Rain verabschiedete sich von ihrer Mutter, wartete, bis der Bildschirm schwarz wurde und drückte dann den Aus-Knopf. Ausgerechnet ihre Schwester war also auf die Idee gekommen, dass sie auf einmal sämtliche Strapazen mit anderen Reisenden teilen sollten. Auf der einen Seite fand Rain diese Idee zwar gar nicht so schlecht, aber auf der anderen Seite … Sie kramte ihr Portemonnaie aus der Hosentasche, öffnete das Fach mit den Scheinen und zählte noch genau sechshundert Pokédollar, die sie als Bargeld dabei hatte. Eigentlich hatte sie morgen zur Bank gehen wollen, doch nun mussten die ausgiebigen Einkaufstouren und Cafébesuche mit Camille wohl kleiner und weniger ausfallen. Sie seufzte, steckte ihr Portemonnaie zurück und freundete sich nur langsam mit dem Gedanken an, dass sie aktuell so gut wie pleite war.

Am Tresen von Schwester Joy, die dem Vortrag ihrer Vorgängerin ebenfalls nicht mehr lauschte, erkundigte sie sich nach Aushilfsjob, doch die Joy zuckte nur gelangweilt mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen? Hier brauche ich jedenfalls niemanden.“

Enttäuscht kehrte Rain auf ihr Zimmer zurück und grübelte, wie sie die Angelegenheit am besten angehen sollte. Illumina City war eine teure Stadt, auch wenn Unterkunft und Essen im Pokémoncenter für Trainer mit offiziellen IDs dank der Finanzierung durch Steuergelder kostenlos war. Das Essen war immer dasselbe, von einem aktuellen Tagesangebot am Mittags- und Abendtisch einmal abgesehen. Camille liebte Schokolade, Pizza und andere Fertiggerichte, die sie grundsätzlich dazu kauften, außerdem gönnte Rain sich jeden Tag zumindest einen Milchkaffee mit Vanillesirup, den sie jeden Vormittag bei einer teuren Cafékette holte.

Sie war frustriert, weil sie sich schon wieder Summers Willen beugen musste, obwohl sie extra von ihrer Schwester getrennt reiste. Doch egal, wie sehr sie sich grämte, fiel die Entscheidung schnell, dass sie sich gleich am nächsten Tag nach einem Nebenjob umsehen musste, wenn sie weiterhin ihren Lebensstandard halten wollte.

Tief Engelbert

10. Oktober
 

- Rain -
 

Am nächsten Morgen verdeckten graue Wolken den bis dahin stets blauen Himmel und auch die Temperaturen waren von einem Tag auf den anderen um gute zehn Grad gesunken. Im Wartebereich des Pokémoncenters, der mit weichen Loungesesseln und kleinen, kreisrunden Beistelltischen ausgestattet war, liefen gerade die Nachrichten, als Rain und Camille nach dem Frühstück aus dem Speisesaal kamen.

„Kommen wir nun zum Wetter. Hoch Tiffany hat sich entgegen der Prognosen innerhalb der letzten Nacht aus Zentralkalos verabschiedet und schwächt sich von Stunde zu Stunde auf dem Weg nach Norden soweit ab, dass es gegen Abend aufgelöst sein wird. Stattdessen hat nun Tiefdruckgebiet Engelbert seine frostigen Hände fest um Kalos gekrallt. – Was ein Wortspiel, Sally, haha! – Danke, Simon. Die für heute zu erwartenden Tageshöchsttemperaturen liegen bei durchschnittlich zwölf Grad, also packt die Sandalen und Sommerkleider wieder ein, Leute, uns erwarten auch in den nächsten Tagen kalte Oktoberschauer und eisige Winde.“

Camille schüttelte den Kopf und ihre blasse Porzellanhaut wirkte ohne den strahlenden Sonnenschein kalt und fahl. „Schade, ich hatte mir doch gestern extra noch ein neues T-Shirt gekauft.“ Sie zog eine Grimasse und knöpfte ihre dunkle Strickjacke auf, unter der ein kanariengelbes T-Shirt zum Vorschein kam. Vorne war der Kopf eines Pikachu abgebildet und darüber der Spruch Harpy‘s got ya! in roten Lettern. „Ich sollte mir wohl besser einen Pullover anziehen gehen.“

Rain zog eine Augenbraue nach oben, als sie das T-Shirt sah. Sie konnte den Spruch nicht zuordnen, aber auf dem Weg zu ihrem Doppelzimmer erklärte Camille ihr, dass sich der Spruch auf das starke Pikachu von Major Bob bezog, der trotz seines hohen Alters noch immer Arenaleiter von Orania City war.

„Er ist so ein zäher Kerl, wahrscheinlich wird er auch in zehn Jahren noch Trainern das Leben zur Hölle machen.“ Camille grinste und drückte die Tür zu ihrem Zimmer auf. „In meiner Heimat Kanto sind er und sein Team berühmt-berüchtigt. Ich habe gehört, dass manche Trainer sogar erst nach Prismania City gehen, um dort den vierten Orden zu erkämpfen, damit sie bessere Chancen gegen Major Bob haben, obwohl er den dritten Orden vergibt.“

„Was ein Glück, dass man nicht zwingend an die Reihenfolge der Orden gebunden ist.“ Wobei es natürlich besser war, wenn man sich daran hielt, denn die Arenaleiter setzten von Orden zu Orden Pokémon auf höheren Leveln ein. Vermutlich war ihre Schwester Summer auch gerade auf dem Weg zur zweiten Arena von Kalos.
 

Nachdem sich die beiden Mädchen umgezogen hatten, traten sie hinaus in die Kälte und die Wetterfrau Sally hatte nicht gelogen. Der eisige Wind fuhr durch jede Kleidungsritze hinein und schon nach einer halben Stunde waren sowohl Camille als auch Rain durchgefroren, sodass sie sich in eines der vielen Cafés flüchteten.

„Man sollte meinen, dass so ein Wetter für Oktober vollkommen normal ist, aber bis gestern hatten wir noch sommerlichen Temperaturen. Das ist wirklich gemein.“ Camille bibberte vor sich hin und kaufte einen heißen Kakao, um sich daran aufzuwärmen.

Rain hingegen verzichtete auf einen Kakao, denn ein Blick in ihr Portemonnaie erinnerte sie daran, dass sie dank Summer nun mit weniger Budget auskommen musste. „Wie lange werden wir eigentlich hier in Illumina City bleiben?“

„Keine Ahnung“, stieß Camille zwischen zwei hastigen Schlucken hervor. „Ich kann reisen, wohin ich möchte, solange ich nächstes Semester wieder zurück an der Uni bin. Wie sieht es mit dir aus?“

Schulterzuckend verließ Rain neben Camille das Café und fand sich sogleich wieder in der Kälte wieder. „Da habe ich noch nicht drüber nachgedacht.“ Das stimmte sogar, denn als sie letzten Monat von zu Hause abgehauen war, wollte sie einfach nur weg. Sie wollte ihre Pokémon trainieren und stärker werden, aber zu den Orden der Region zog es sie nicht unbedingt. Sie wollte sich weiterbilden, Wissen sammeln und ihren Charakter weiter formen, nicht nur stumpfsinnig gegen die Arenaleiter antreten. „Meine Eltern haben mein Taschengeld gekürzt, ich werde mir vorerst irgendwo einen Aushilfsjob suchen müssen und dann … mal sehen.“

„Illumina City liegt praktischerweise sehr zentral. Von hier aus kann man ganz Kalos bereisen. Ich könnte mir vorstellen, dass ich von hier aus meine Exkursionen plane, dann sehen wir uns, wann immer ich hier bin – falls du vorhast, in den nächsten Monaten hier zu bleiben, versteht sich.“

Einen Moment lang dachte Rain darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß es wirklich noch nicht.“

Nachdenklich kaute Camille auf ihrer Unterlippe herum. „Die ganzen Sehenswürdigkeiten in Illumina habe ich schon gesehen, ich denke, mich wird es spätestens nächste Woche an einen anderen Ort ziehen. Cromlexia, denke ich. Die vielen Steine dort interessieren mich, außerdem forscht dort ein Bekannter meines Vaters. Ich werde ihm einen Besuch abstatten und vielleicht kann ich Paps dazu überreden, dass er mir endlich das Fossilpokémon schickt, von dem er ständig spricht. Komm doch mit?“

„Das ist lieb von dir, aber ich denke, ich bleibe vorerst hier. Mir gefällt Illumina City, die Stadt ist das genaue Gegenteil von Honey Island. Hier sind überall Menschen, an jeder Ecke ist etwas los, außerdem war ich noch gar nicht in der Stadtbibliothek und in den Museen.“

„Dann werden wir uns wohl vorläufig trennen.“ Einen Augenblick lang übermannte Traurigkeit Camilles hübsches Gesicht, doch dann hellte es sich wieder auf und sie begann eine Melodie aus einem Werbespot zu summen. „Ich bin echt froh, dass wir uns auf dem Weg nach Kalos getroffen haben, Rain. Du bist eine gute Freundin, aber wenn die Zeit kommt, muss jede von uns ihren Weg gehen. Ich bin nicht traurig, weil ich alleine weiterreisen werde, immerhin können wir uns jeden Tag via ComDex schreiben und wir sehen uns ja wieder. Bis dahin unternehmen wir einfach was zusammen.“

„Klingt nach einem guten Plan.“ Rain nickte, war jedoch gedanklich nur halb bei der Sache.

„Natürlich ist es ein guter Plan, schließlich ist der von mir!“
 

Am Nachmittag hatte Rain sich alleine auf den Weg in die Stadt gemacht. Camille hatte das Bildtelefon im Pokémoncenter in Beschlag genommen und telefonierte sämtliche Freunde und Bekannte ab, wovon sie eine Menge hatte, denn die Liste, die sie sich geschrieben hatte, war beinahe eine Seite lang. Mit einem neu gekauften Regenschirm bewaffnet kämpfte Rain sich durch die Straßen, die trotz des Wetters voll waren, auch wenn die Menschen nun hektischer und schneller liefen als sonst und auch kein schallendes Gelächter aus den Cafés nach außen drang. Alle schienen unter dem plötzlichen Wetterwechsel zu leiden und bekämpften die Stimmung jeder für sich.

Das Café, in dem Rain sich zuerst nach einem Nebenjob erkundigt hatte, brauche keine Aushilfe. Auch in zwei weiteren Cafés sah es nicht besser aus und bei der Tageszeitung ließ man sie gar nicht erst weiter als bis zur Rezeption. Trotzdem gab sie nicht auf und stapfte durch den Regen.

Am Anfang ihrer Suche war sie noch wählerisch gewesen, doch nach den ersten Stunden verflüchtigte sich dieses elitäre Denken und sie fragte in jedem Geschäft nach, das ihr halbwegs passend vorkam. Überall lehnte man sie ab, schickte sie fort und nur selten waren die Ladenbesitzer wirklich freundlich dabei. Es schien, als hätte der Regen die Gemüter getrübt.

Rain lief den gesamten Nordring der Stadt ab. Der Bahnhof von Illumina nahm keine jugendlichen Aushilfskräfte, seit es immer wieder zu Problemen mit örtlichen Gang-Streitigkeiten kam. Das Kunstmuseum wies sie ab und in das Grand Hôtel Pique Faîne traute sich Rain schon gar nicht mehr, da der Portier ihr einen dermaßen vernichtenden Blick zuwarf. Sie schaute an sich herab und konnte es ihm nicht verübeln. Trotz Regenschirm war sie durchnässt, ihre Schuhe schmatzten bei jedem Schritt und waren mit Wasser vollgesogen und ihre Jeans war dreckig. Trotzdem gab sie nicht auf, schlurfte weiter zum Südring.

In der Nähe des Pokémonlabors gab es mehrere Hochhäuser und fulminante Glasbauten und bei einem von ihnen blieb Rain einer inneren Eingebung folgend stehen. Das Gebäude schien einen nahezu quadratischen Grundriss zu haben, lag etwas versetzt zu den anderen Gebäuden und ein gut drei Meter hoher Stahlzaun umgab das gesamte Gelände. Alle der gut fünfzehn Stockwerke waren dunkel verglast, man konnte nicht erkennen, was sich im Inneren befand. Ein gut einen halben Meter breites Stahlschild neben dem Eingang nannte den Namen der Firma, die sich hier befand: Mai Technologies.

Mai … Konnte das sein? Rain benetzte ihre Lippen und starrte weiterhin auf das Schild. Vor knapp dreißig Jahren war Milena Mai die Anführerin von Team Dark und die Besitzerin von Mai Pharmaceutics gewesen. Ihre Forschungen hatten den Grundstein für Team Dark gelegt, auch wenn Milena Mai während der Gerichtsverhandlungen immer beteuert hatte, dass sie alles für einen höheren Zweck getan hatte. Rain hatte nie geglaubt, dass diese Frau so böse war wie einst Giovanni und Team Rocket. Milena Mai war eine brillante Wissenschaftlerin und hatte Pokémon von allen Krankheiten heilen wollen, nur ihr Weg war nicht der richtige gewesen.

Rain überlegte nicht länger. Sie spannte ihren Regenschirm zusammen und trat durch das schmale Eingangstor.

Mai Technologies

10. Oktober
 

- Rain -
 

„Du möchtest was?“ Die rothaarige Frau an der Rezeption warf Rain zum wiederholten Male einen prüfenden Blick zu.

Rain hatte fast nicht damit gerechnet, dass man sie überhaupt in das Gebäude ließ, doch nachdem sie durch das schmale Tor getreten und zum kameraüberwachten Eingangsbereich gegangen war, hatten sich die Glastüren automatisch geöffnet. Dahinter lag ein kleiner, rechteckiger Raum, in dem sich außer einer kleinen Sitzecke mit Wasserspender, der Rezeption und einem Fahrstuhl nur noch eine Tür an der Rückwand befand. „Das sagte ich doch bereits.“ Sie wollte freundlich klingen, konnte ihre Gereiztheit aber nicht verbergen. „Ich bin Trainerin und werde eine Weile hier in Illumina City bleiben, deshalb bin ich auf der Suche nach einem Nebenjob.“

„Und dann kommst du ausgerechnet zu uns?“ Nun wirkte die Frau eher belustigt. „Kind, du weißt doch, wo du dich hier befindest? Mai Technologies ist der führende Anbieter von Pokémon-Heilmaschinen und ganz sicher kein Spielplatz, um …“

Rain unterbrach die Rezeptionistin. „Das weiß ich. Es tut mir wirklich sehr leid, wenn ich Ihre kostbare Zeit in Anspruch nehme, Miss“, ein kurzer Blick auf das Namensschild der vollbusigen Rothaarigen, „Carter. Ich interessiere mich sehr für den wissenschaftlichen Bereich und möchte nächstes Semester ein Studium an der Stratos Universität aufnehmen.“

„Ein Studium? So, so.“

„Ich verstehe vollkommen, dass Sie nicht auf Aushilfskräfte wie mich angewiesen sind, dennoch wäre es mir eine Ehre, wenn ich in der Zeit, die ich hier in Kalos bin, einen Beitrag zum Firmenerfolg leisten kann, selbst wenn es nur ein kleiner Beitrag ist.“ Sie versuchte einen möglichst schmeichelhaften Tonfall zu treffen und fügte noch demütiger hinzu: „Einen sehr kleinen Beitrag.“

Einige Sekunden schwieg die junge Miss Carter, die etwa Mitte zwanzig sein musste, dann seufzte sie und spitzte die perfekt geschminkten Lippen. „Nun gut. Wie war noch gleich dein Name?“

„Rain Light.“

„Gut, Rain Light. Setz dich dort drüben hin und ich schaue, ob ich jemanden erreichen kann, der für dein Anliegen zuständig ist.“

„Vielen Dank.“ Rain schenkte ihr noch ein letztes Lächeln, dann drehte sie ihr den Rücken zu und ging zur Sitzecke, wobei ihre wassergetränkten Schuhe jeden Schritt betonten. Schmatz, schmatz, schmatz, schmatz. Nachdem sie sich hingesetzt hatte, konnte sie sehen, wie Miss Carter leise in ihr Headset sprach, dann brach das Gespräch ab und sie würdigte Rain keines Blickes mehr.

Wenige Minuten später glitten die Fahrstuhltüren zur Seite und zum Vorschein kam ein älterer Herr in einem weißen Laborkittel. Er winkte Rain zu sich, musterte sie von oben bis unten und drückte dann auf den Knopf für das zwölfte Stockwerk.

Nervös knetete Rain ihre Finger durch. Das hieß dann wohl, dass sie es geschafft hatte und jemand mit ihr sprechen wollte, der sie vielleicht einstellte?

Als sie oben ankamen, blieb der Fahrstuhl ganz sanft stehen und erneut gingen die Türen lautlos auf. Der Mann brachte sie zu einer Stahltür, drückte einen Knopf daneben und als ein Summer aus dem Inneren betätigt wurde, drückte er die Tür mit der Schulter auf und schob Rain hinein. Er selbst kam nicht mit, sondern verschwand gleich wieder im Fahrstuhl.

Rain befand sich in einem hellen, länglichen Raum. Die Deckenleuchten spendeten gleichmäßiges Licht und es gab keine Fenster, dafür standen mehrere breite Waschbecken an einer Wand. An der Wand gegenüber standen mehrere Regale mit Handtüchern, Laborkitteln und OP-Bekleidung, von denen Rain sich fragte, wofür sie gebraucht wurden. Mai Technologies war bekannt für die Heilmaschinen, die mittlerweile in allen Pokémoncentern benutzt wurden, aber was das Unternehmen noch produzierte, wusste sie gar nicht.

Zögerlich durchquerte sie den Raum und schaute durch das kleine Fenster der Stahltür am anderen Ende. Was auch immer dort drinnen war, konnte sie nur schemenhaft erkennen, denn das Licht dort drinnen war nur sehr dunkel eingestellt. Sie sah diverse Geräte, die im Halbkreis angeordnet waren. In der Mitte des Halbkreises stand ein großer Stahltisch, der sie an einen OP-Raum im Krankenhaus erinnerte, auch wenn sie so etwas nur im Fernsehen gesehen hatte. Mehrere Apparate in unterschiedlichen Größen und verschiedenen Bildschirmen standen in zweiter Reihe und an einem riesigen Schreibtisch an der Wand saß eine Frau, die so schmal war, dass sie in dem großen Ledersessel zu verschwinden schien.

Rain klopfte an, aber es kam keine Reaktion. Der Mann hatte sie extra hier hingebracht, also musste sie doch erwünscht sein? Kurzerhand drückte sie die Klinke herunter – unverschlossen – und trat in das Labor ein.

Die Frau am Schreibtisch schaute nicht auf, winkte Rain aber zu sich, wobei sie mit der anderen Hand weiterhin eifrig in ein dickes, in Leder gebundenes Notizbuch schrieb. Sie trug einen schneeweißen Laborkittel, den sie bis oben zugeknöpft hatte und der einen starken Kontrast zu dem schwarzen Sessel bildete. Dann, als Rain nur noch zwei Schritte vom Schreibtisch entfernt war, schaute sie auf und legte den Kugelschreiber aus der Hand. „Du bist also Rain Light, das Mädchen, das unbedingt für mich arbeiten möchte.“ Keine Frage, sondern eine simple Feststellung.

Die Frau drückte auf einen Knopf am Schreibtisch und im nächsten Moment änderten die Metalljalousien, die Rain bis dahin nicht aufgefallen waren, ihre Einstellung. Die Wand, die Rain für eine einfache Außenwand ohne Fenster gehalten hatte, stellte sich als verglaste Fassade heraus. Die Jalousien hatten den Raum verdunkelt, doch nun trat Licht von draußen herein und man konnte durch die nun waagerecht gestellten Jalousien den Regen sehen. Zeitgleich flammten Deckenleuchten auf und der Raum wirkte auf einen Schlag nicht mehr wie ein düsteres Labor, sondern wie ein heller Arbeitsraum, in dem sich zufällig unzählige Geräte befanden.

„Wie kommt es, dass du ausgerechnet bei uns nach einem Job fragst?“

„Es war Zufall, wenn ich ehrlich bin.“ Und Rain fand, dass sie ehrlich sein sollte. „Trotzdem finde ich die Arbeit von Mai Technologies sehr interessant.“

Aufmerksam musterte die Frau sie, dann huschte ein flüchtiges Lächeln über ihre schmalen Lippen. Ihre Finger glitten an ihren Hinterkopf, wo sie den Haarknoten löste und die graumelierten Haare sich in einem modernen Stufenschnitt bis auf ihre Schultern ergossen. „Deine Mutter ist eine sehr bekannte Person geworden, nachdem sie in ihrer Jugend ein großes Abenteuer erlebt hat. Die Jugend ist etwas Wunderbares. Man hat so viel Kraft, Idealismus und kann sich leidenschaftlich für etwas begeistern. Ich bin gespannt, ob diese Leidenschaft auch in dir brennt, Rain Light.“

Rain wusste nicht, wieso sie auf einmal das Gefühl hatte bis auf den Grund ihrer Seele gemustert zu werden, aber sie bekam eine Gänsehaut. „Also kann ich hier arbeiten?“

Die Frau legte den Kopf ein wenig schief, nickte dann aber. „Ja. Auch wenn du eine ungelernte Kraft bist und auch wenn wir eigentlich keine Aushilfskräfte nehmen. Ich werde dich als meine persönliche Assistentin einstellen. Du wirst viel arbeiten, aber ich bezahle dich gut und du kannst viel lernen.“

„Ist das hier Ihr persönliches Labor?“

„Ja, das ist es. Ich arbeite schon mein ganzes Leben an einem großen Traum und ich glaube, dass ich auf dem richtigen Weg bin. In deinem Blick kann ich Angst sehen. Angst, Unruhe, Neugier. Das ist wichtig, denn Neugierde treibt uns an. Ich bin neugierig und möchte verstehen, wieso manche Pokémon stärker oder schwächer sind als andere, wieso manche krank auf die Welt kommen oder krank werden, was die Legendären so besonders macht. Obwohl du Angst vor mir hast, möchtest du für mich arbeiten. Ich möchte, dass du dir ein eigenes Bild von meinen Forschungen machst, ohne die Vorurteile und den vernebelten Blick, den Faith der Welt aufgezeigt hat. Du weißt, wer ich bin, nicht wahr?“

Rain nickte. Sie hatte es von dem ersten Moment an gewusst und jedes Wort, das diese Frau zu ihr gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Sie hatte Angst vor dem, was diese Frau für ihren großen Traum bereits einmal getan und auf sich genommen hatte. Sie war unruhig, weil sie nicht wusste, ob sie wirklich ausgerechnet für sie arbeiten sollte. Was würden ihre Mutter und Summer, was würde die ganze Welt von ihr denken? Vor allem aber war sie neugierig, weil sie verstand, welches Potenzial die Idee einer Welt hatte, in der kein Pokémon mehr durch Erbkrankheiten leiden musste, in der die Legendären ihr Geheimnis mit der Forschung teilten.

Ja, Rain wusste nur zu gut, wer diese Frau war. „Milena Mai.“

Klatsch und Tratsch

10. Oktober
 

Summer
 

In den frühen Morgenstunden saß Summer mit ihrem Reiserucksack zwischen den Beinen im Foyer des Pokémoncenters und wartete auf Bryce, der um kurz vor acht auftauchte, seinen Zimmerschlüssel bei Schwester Joy abgab und dann die Augenbrauen leicht zusammenkniff, als er Summer erblickte. Anstatt etwas zu sagen, schulterte diese ihr Gepäck, strahlte Bryce an und folgte ihm nach draußen.

„Verfolgst du mich?“ Bryce hatte den Kopf ein wenig zwischen die Schultern gezogen und warf ihr nun einen skeptischen Seitenblick zu.

Summer grinste leicht. „Na ja, ich dachte mir, dass wir zusammen reisen könnten. Wir haben doch beide dasselbe Ziel.“

„Haben wir das?“ In seiner Stimme schwang bereits ein resigniertes Seufzen mit.

„Klaro“, bekräftigte Summer und passte ihr Tempo dem von Bryce an. „Du möchtest den zweiten Orden erkämpfen, ich ebenfalls, also müssen wir beide nach Relievara City. Von hier aus geht es über die Route 5 nach Vanitéa, dann weiter zur Route 7, durch die Geolinkhöhle und voilà, wir sind da.“

„Das erklärt aber noch immer nicht, warum du dich ausgerechnet an mich hängst.“ Bryce legte etwas mehr Strenge in seinen Blick und seine Stimme. „Ich reise eigentlich immer alleine.“

„Ach komm schon, Bryce. Bitte! Du bist Pro-Trainer und ich würde dir so gerne noch mehr Fragen stellen. Bitte, bitte.“

Er murmelte einige unverständliche Worte, gab sich dann aber geschlagen und akzeptierte, dass er Summer vor Vanitéa nicht mehr abschütteln konnte.

Gemeinsam liefen sie schweigend durch die Stadt, bis sie das Durchgangshäuschen zu Route 5 passierten. Mit dem Schließen der Türen wurde auch die Lautstärke der Stadt eingesperrt und Summer atmete, ebenso wie Bryce, einmal tief durch. Hin und wieder beäugte sie ihn von der Seite, fischte dann eine Papiertüte mit Muffins aus ihrem Rucksack und hielt ihm einen Schokomuffin hin. „Wenn ich dir schon auf die Nerven gehe, kann ich wenigstens für Nervennahrung sorgen.“ Dem folgte ein Zwinkern. „Nun nimm schon. Ich bin heute extra früh aufgestanden und war noch einkaufen. Dabei musste ich mir fast einen Kampf mit einem Mädchen liefern, das ebenfalls die erste Ladung Schokomuffins des Tages haben wollte. Um Haaresbreite hätte ihr Elfun mir die Tüte aus der Hand gerissen.“

Bryce zögerte, zuckte dann aber mit den Schultern, rückte seine Brille zurecht und nahm den Muffin entgegen. „Danke. Also, du hast noch Fragen, ja?“

„Jep, ganz viele, wenn ich genauer darüber nachdenke. Aber alles zu seiner Zeit.“ Ein zweiter Schokomuffin wanderte aus der Tüte in ihre Hand, dann biss sie herzhaft hinein und wischte sich einige Krümel aus den Mundwinkeln. „Ich habe gehört, wie sich ein paar Trainer beim Frühstück darüber unterhalten haben, dass das andere Pokémoncenter angeblich geschlossen war, weil sich zwei Trainer einen ziemlich bösen Kampf geliefert haben.“

Er nickte. Bryce war einen guten Kopf größer als Summer, schlank und sah mit seiner Brille ein wenig wie ein Nerd aus. Den Muffin verputzte er innerhalb von zwei Minuten restlos und als sein Blick zur Tüte in Summers Hand fiel, reichte sie ihm noch einen zweiten Muffin. „Davon habe ich auch gehört“, sprach er mit vollem Mund. „Ein Junge und ein Mädchen haben sich mitten im Pokémoncenter bekämpft und das Sichlor des Jungen ist ums Leben gekommen. Beide haben ihre Trainerlizenz verloren.“

„Krass. Dann dürfen sie keine Orden mehr sammeln und nicht in den Pokémoncentern übernachten.“ Für Summer war diese Vorstellung schrecklich. „Geschieht ihnen aber recht. Was ist mit dir, wirst du Turtok endlich wieder in dein Team holen?“

Bryce, der zuvor noch in Plauderlaune geraten war, schluckte den letzten Rest seines zweiten Muffins herunter und sein Gesicht verdüsterte sich. „Lassen wir das Thema.“

Summer verdrehte die Augen, widmete sich dann wieder ihrem süßen Frühstück und ließ ihn in Ruhe. Stattdessen schaute sie sich die Blumen an, die überall in den Wiesen blühten. Das, was sie bisher von Kalos gesehen hatte, war blumig, freundlich und sommerlich gewesen. Ihr gefiel diese Region und sie fragte sich, ob es Rain wohl ebenso erging. Dann, wie aus dem Nichts, verdrängte sie die Gedanken an ihre Zwillingsschwester, begann zu summen und schlang den Schal, den sie gegen den Kälteeinbruch um den Hals trug, enger um sich.
 

Gegen Mittag setzte Platzregen ein und innerhalb kürzester Zeit waren Summer und Bryce bis auf die Knochen durchnässt. Sie hatte natürlich keinen Regenschirm dabei und er nur einen Knirps, der zwar vor Regen schützte, sich aber bei jedem stärkeren Wind durchbog. Gemeinsam schafften sie es gerade noch vor dem aufkommenden Sturm in den Schutz der Bäume am Rand der Route zu fliehen. Sie kauerten sich an den Stamm einer riesigen Eiche, standen unter dem schmalen Schirm und warteten darauf, dass das Gröbste vorbei war und sie ihren Weg nach Vanitéa fortsetzen konnten.

„Hey, Bryce. Wieso hast du so viel Angst vor Turtok?“

„Wie kommst du darauf? Ich habe keine Angst vor ihm.“

„Hm.“

Einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann erklang ein Grunzen von Bryce. „Also schön, ich habe Angst davor, dass mir Turtok auch in Zukunft nicht gehorchen wird. Ich möchte ihm ein guter Trainer sein, aber die Arbeit, die vor mir liegt, wirkt wie ein unüberwindbarer Berg. Irgendwann werde ich wieder mit Turtok trainieren, aber im Moment konzentriere ich mich auf Enekoro und fange mir ein, zwei neue Pokémon.“

„Damit gehst du dem Problem aber nur aus dem Weg und löst es nicht. Du hast mir doch von den beiden Trainern erzählt, die ihre Lizenz verloren haben.“

„Und?“

„Na ja, die haben ihr Training vermutlich auch nicht richtig gemacht, sonst wäre es nie soweit gekommen, meinst du nicht? Wenn sie von Anfang an richtig gearbeitet hätten, würde das Sichlor jetzt noch leben.“

„Ich glaube nicht, dass das damit etwas zu tun hat. Mir wurde erzählt, dass die beiden sich kannten, da war mit Sicherheit irgendetwas Persönliches dabei. Aber … Ich glaube, ich verstehe, was du mir sagen willst. Trotzdem mache ich es in meinem Tempo und werde Turtok erst zu mir holen, wenn es mir verzeihen kann und ich stark genug für sein Training bin.“ Bryce schwieg, bis er plötzlich kurz kicherte. „Abgesehen davon bin ich hier der Pro-Trainer, schon vergessen?“

Summer boxte ihm in die Seite. „Soll das heißen, ich kann dir keine Tipps geben, weil ich schlechter bin als du?“

Aus Bryce‘ Kichern wurde ein amüsiertes, lautes Lachen. „Damit meine ich, dass du große Töne spuckst für jemanden, der an einem kleinen Glumanda verzweifelt.“

„Ich verzweifle nicht, ich lege eine kreative Schaffenspause in Glumandas Training ein!“

Einem erneuten Schlag wich Bryce geschickt aus und zog dabei den Schirm mit sich, woraufhin Summer von einer Windböe kalten Regen direkt ins Gesicht gepeitscht bekam. „Na warte, ich zeige dir, dass ich Glumanda sehr wohl trainieren kann.“

„Das will ich sehen, kleine Nicht-Pro-Trainerin.“

Summer bekam auf einmal den Verdacht, dass Bryce sie absichtlich reizte und damit nur bezwecken wollte, dass sie auf seine Forderung nach mehr Training für Glumanda einging, aber das war ihr im Moment egal. Bryce provozierte sie und das wollte sie sich von niemandem gefallen lassen, auch nicht von einem ausgebildeten Pro-Trainer. „Wenn ich es bis Ende der Woche schaffe, dass Glumanda mir im Kampf gehorcht, holst du dir Turtok und gibst es nicht mehr weg, einverstanden?“

Kurz zögerte Bryce, dann stellte er sich wieder neben sie und schützte sie mit dem Schirm vor weiterem Regen. „Einverstanden, die Wette gilt.“

Alt, älter, Raichu

19. Oktober
 

Rain
 

Bin schon ganz dreckig von den Ausgrabungen :-) Morgen bekomme ich das Fossilpokémon und dann mache ich mich auf den Rückweg nach Illumina. Kopf hoch, deine Arbeit kann nur besser werden. ;-)

Rain legte ihren ComDex zur Seite und breitete sich auf dem frisch bezogenen Bett aus. Als sie noch am Tag ihrer Bewerbung den Vertrag bei Mai Technologies unterschrieben hatte, hatte Milena Mai, die oberste Chefin, gesagt, dass sie sich persönlich um Rains Ausbildung kümmern würde. Dass Milena damit auch meinte, dass Rain ein Zimmer im Gästestockwerk bezog, hatte sie nicht vermutet. Zwei Tage hatte sie ihren Auszug aus dem Pokémoncenter aufschieben können, dann hatte Milena Mai sich durchgesetzt und Rain war mit Sack und Pack in das moderne Hochhaus der Firma gezogen. Das war nun eine Woche her.

Von Summer hatte sie in der ganzen Zeit nichts gehört und ihren Eltern hatte sie geschrieben, dass alles gut lief und sie einen kleinen Job gefunden hatte. Seither war sie weiteren Nachfragen aus dem Weg gegangen und hatte sich in die Arbeit gestürzt, von der Milena ihr nicht gerade wenig auftrug. Sie putzte das Labor, sortierte Petrischalen, spülte Erlenmeyerkolben und notierte jeden Tag, wie viel von welchen Chemikalien noch im Vorratsschrank stand, was nachbestellt werden musste und wer die Labormaschinen gerade brauchte.

Die meiste Zeit verbrachte sie in den normalen Arbeitslaboren, in denen die Techniker an Verbesserungen der Heilmaschinen tüftelten oder hin und wieder neue Präparate getestet wurden. Nur selten bekam sie Milena Mai zu sehen und noch seltener nahm diese sie in ihr privates Labor mit, das sie außer am Tag ihrer Bewerbung erst zwei weitere Male gesehen hatte. Einmal hatte sie einen Gast zu Milena gebracht – einen schick aussehenden Herrn mit teurem Designeranzug – und beim anderen Mal hatte sie ihr beim Auslesen verschiedener Gensequenzen assistiert, wobei Milena ihr nicht hatte sagen wollen, um welches Pokémon es ging.

Kurzum: Rain war frustriert. Sie hatte sich die Arbeit bei Mai Technologies besser vorgestellt und fühlte sich nur wie eine Putzkraft und billige Assistentin, die fast jeden Tag bis abends auf den Beinen war. Wenigstens war das Essen in der Personalkantine super und die einstündige Mittagspause das Highlight des Tages.

Heute hatte ihre Schicht früher geendet. Milena hatte sie wegen einer Konferenz entlassen, aber nach dem Abendessen sollte Rain ihr noch kurz im Labor helfen. Hoffentlich ging es dieses Mal um mehr als nur ein paar kleine Proben und Reagenzgläschen. Sie hatte für Milena arbeiten wollen, weil sie tiefer in die ganze Materie eintauchen wollte, aber bisher hielt Milena sie an der kurzen Leine.

Konnte es vielleicht sein, dass … Milena ihr nicht traute?

Rain lachte leise auf, rollte sich dann vom Bett und ging zum Schreibtisch, auf dem ein halbes Dutzend Fachbücher aus der firmeneigenen Bibliothek und ihr Trainergürtel mit den Pokébällen lagen. Niemand durfte während der Arbeitszeit einen Trainergürtel tragen oder anderweitig Pokébälle bei sich haben und auch sonst hatte Rain noch keine Pokémon oder Pokébälle auf dem Gelände gesehen. Ob die Angestellten hier überhaupt Pokémon besaßen? Oder machten sie es wie Rain und verzichteten mittlerweile völlig darauf, um sich ganz der Arbeit widmen zu können? Sie wusste es nicht, bekam aber ein schlechtes Gewissen und ging ins Badezimmer, wo sie die Badewanne zur Hälfte voll laufen ließ und dann Froxy und Karpador entließ.

„Frox! Ox!“ Froxy hüpfte vergnügt auf den Rand der Badewanne aus Marmor und sprang dann elegant ins Wasser, wo es zuerst untertauchte und dann einige schnelle Runden drehte. Rain wusste, dass eine Badewanne kein echtes Gewässer ersetzen konnte, aber das bisschen Wasser wollte sie ihren beiden Pokémon gönnen. Karpador ließ es etwas ruhiger angehen, ließ aus seinem Maul Luftblasen aufsteigen und strafte sie mit einem Blick, der auszusagen schien: Wieso sind wir hier?

Rain biss sich auf die Unterlippe, setzte sich dann an den Rand der Badewanne und hielt ihre Hand ins Wasser, die Karpador nach kurzem Zögern anstupste, dann aber wieder schmollte und sich erneut den Luftblasen widmete. „Tut mir leid, dass ihr mit der Wanne Vorlieb nehmen müsst. Morgen nehme ich euch mit zum Kanal, versprochen.“

Als es Zeit für das Abendessen war, zog Rain die beiden in ihre Bälle zurück und legte sie wieder auf den Schreibtisch. Dann ging sie in die Kantine, die sich direkt im ersten Stockwerk befand und freien Blick auf den Garten hinter dem Gebäude bot. Besonders viel bekam man dort nicht zu sehen, aber immerhin war es eine grüne Aussicht.

Außer Rain befanden sich noch etwa zehn andere Mitarbeiter hier; manche saßen bereits an den Tischen, andere standen an der Ausgabe und unterhielten sich leise. Keiner von ihnen beachtete Rain, die sich einmal mehr ausgeschlossen fühlte und sich mit ihrem Tablett alleine an einen freien Tisch setzte. Zur Mittagszeit waren drei- bis viermal so viele Menschen hier und manchmal stellte man Rain ein paar Fragen, aber abends war sie mit ihren Gedanken alleine. Was Milena wohl gleich noch von ihr wollte?

Das Essen – Brötchen mit Quark und Obst, dazu eine warme Suppe – schlang sie runter, dann fuhr sie mit dem Fahrstuhl nach oben auf die Etage, die, wie sie mittlerweile wusste, alleine von Milena genutzt wurde.

Die Tür zu Milenas Privatlabor war verschlossen und so wartete Rain geduldig, bis ihre Mentorin eine halbe Stunde später mit weißem Laborkittel und erschöpfter Miene zu ihr kam. „Rain.“ Milena nickte ihr zu, öffnete mit einer Schlüsselkarte die Tür und ließ ihre Assistentin eintreten.

„Wobei brauchen Sie heute Abend meine Hilfe, Milena?“ Milena hatte ihr erlaubt den Vornamen zu benutzen, doch Rain achtete stets auf einen respektvollen Ton und das Siezen, immerhin war Milena Mai nicht einfach irgendwer, sondern ein Genie. Selbst ihre Mutter hatte damals zugeben müssen, dass Milena zwar auf die schiefe Bahn geraten war, sie an sich aber große Visionen, viel Talent und Intelligenz besaß.

Milenas Mundwinkel zuckten leicht, was ihrer Art eines Lächelns nah kam, sonst reagierte sie jedoch nicht auf die Frage, sondern führte Rain in die Mitte des Labor, wo sich eine Maschine befand, die Rain bei ihren bisherigen Besuchen noch nicht aufgefallen war. Auf dem Boden war ein Feld mit einem Durchmesser von etwa zwei Metern, das mit diversen Elektroden und Kabeln verbunden war, die in eine Säule am hinteren Ende führten. Dort gab es ein Bedienungsfeld, einen kleinen Bildschirm und noch etwa zwei Dutzend weitere Knöpfe und Regler, von denen sie keine Ahnung hatte.

„Du bist doch Trainerin, nicht wahr, Rain?“

Sie zuckte leicht zusammen und nickte. „Ja, ich habe zwei Pokémon, aber sie sind nicht besonders stark.“

„Ist das so?“ Eine bedeutungsvolle Stille entstand, dann fuhr Milena fort. „Ich arbeite bereits seit langer Zeit an dieser Maschine und nun bin ich ihrer Vollendung sehr nahe. Sie mag simpel aussehen, aber darin stecken jahrzehntelange Arbeit und unzählige Fehlversuche.“

Rain hörte ruhig zu und wagte es nicht Milena zu unterbrechen.

„Bevor ich dir erkläre, wofür diese Maschine gut ist, möchte ich dir denjenigen vorstellen, der es mir ermöglicht hat den letzten Feinschliff durchzuführen.“ Aus der Tasche ihres Laborkittels holte Milena einen einfachen Pokéball, drückte auf den Knopf in der Mitte und sah zu, wie sich mitten auf der Plattform aus dem roten Lichtblitz ein Raichu formte.

Raichu gähnte einmal, schaute zu Milena hinauf und dann zu Rain. Die dunklen Knopfaugen sahen müde aus und der Schweif lag träge am Boden. Um die Schnauze herum war das Fell des Pokémon gräulich verfärbt, was für ein hohes Alter sprach. Wie alt mochte es wohl sein? Zehn Jahre? Zwanzig?

Als könnte Milena ihre Gedanken lesen, beantwortete sie ihr diese Frage. „Raichu ist bereits dreiundvierzig Jahre alt, was überdurchschnittlich viel für seine Rasse ist. Nagerpokémon haben für gewöhnlich eine kürzere Lebensdauer. Doch das, was dieses Pokémon nahezu einzigartig macht und meiner Forschung am meisten geholfen hat, ist sein Level.“ Milena legte eine Kunstpause ein. „Raichu ist eines der sehr seltenen Pokémon auf Level 100.“

Milenas Maschine

19. Oktober
 

- Rain -
 

„Level 100?“ Rain betrachtete das Raichu mit großer Ehrfurcht. „Unglaublich.“ Sie kannte niemanden, der ein Pokémon auf einem so hohen Level besaß oder überhaupt jemals getroffen hatte. Je höher die Level waren, desto schwieriger fiel das Training. Level 100 war die ultimative Stärke, die ein bestimmtes Pokémon erreichen konnte. Stärker konnte es nicht mehr werden. „Wer hat es trainiert? Woher kommt es?“

Milena griff in die Tasche ihres Laborkittels und holte einen knallroten Apfel hervor, den sie Raichu reichte. Das alte Pokémon beschnüffelte den Apfel kurz, klemmte ihn dann zwischen die Vorderpfoten und nagte daran herum. „Ich habe es vor einer Weile von seinem Trainer bekommen. Raichu hat sein Leben lang auf die Voltilamm-Herde eines Schäfers aufgepasst und Tag für Tag gegen die wilden Pokémon in der Umgebung gekämpft. Als es zu alt wurde, konnte er es nicht mehr gebrauchen und verkaufte es an einen Trainer. So wanderte es von Besitzer zu Besitzer und verlor allmählich die Lust am Kämpfen. Daraufhin habe ich es erworben und für meine Forschungen benutzt. Es kann bei mir bleiben, bis es stirbt.“

Rain nickte. Also hatte Raichu sein Zuhause verloren, weil es zu alt war, dabei war es stark. Konnte es wirklich auf diese Weise einen so hohen Level erreichen? Irgendwo tief im Hinterkopf nagten Zweifel an ihr, doch Rain ignorierte sie, immerhin fiel ihr selbst keine bessere Erklärung dafür ein. „Und wofür ist diese Maschine jetzt gut? Was hat sie mit Raichu zu tun?“

Anstatt darauf zu antworten, tätschelte Milena den Kopf des Pokémon und ging rüber zu ihrem Schreibtisch, wo einige Unterlagen offen ausgebreitet waren. Sie nahm eines ihrer Notizbücher und drehte sich erst dann wieder zu ihrer jungen, neugierigen Assistentin um. „Wenn Pokémon gegeneinander kämpfen, sammeln sie Erfahrungspunkte, die schließlich zu einem Anstieg ihres Levels führen. Im Grunde genommen sind Level nur eine Maßeinheit.“

Rain nickte. Das war nichts Neues. Jeder Pokémontrainer wusste das, doch sie unterbrach Milena nicht.

„Ich setze die Level der Pokémon gerne mit Energie gleich“, fuhr Milena fort und blätterte dabei in ihrem Notizbuch herum. „Je höher ihr Level ist, desto mehr Energie können die Zellen bereit stellen, was zu stärkeren Attacken und einer höheren Widerstandskraft führt. Durch das Training erlangen die Zellen also Stück für Stück einen höheren Energielevel. Irgendwann ist diese Energie auf einem Niveau, die die Zellen zur Veränderung anregt – es kommt zu einer Entwicklung.“

Rain nickte erneut. Das klang logisch und war eigentlich auch nichts Neues. Wenn Pokémon stärker wurden, entwickelten sie sich. „Was ist mit Entwicklungen, die durch Items wie beispielsweise den Wasserstein ausgelöst werden?“

„In diesem Fall gehe ich davon aus, dass die Zellen durch die chemische Struktur des Items in Schwingungen geraten. Schwingungen erzeugen wieder Energie, die wiederum zur Entwicklung führt.“

„Und was ist, wenn sich zum Beispiel ein Evoli durch Freundschaft oder Zuneigung entwickelt?“

Milena klappte ihr Buch zu. „Du passt sehr gut auf, Rain. Das gefällt mir. Ich habe noch nicht ganz genau entschlüsselt, wie diese Art von Entwicklung funktioniert, aber es muss ebenfalls eine Energieform ausgelöst werden, die die Zellen zur Entwicklung anregt. Womöglich sind hormonelle Vorgänge, die durch die chemische Veränderung im Gehirn bei großer Freundschaft oder Zuneigung ausgelöst werden, der Schlüssel.“ Sie kratzte sich an der Nasenwurzel und öffnete das Notizbuch dann auf einer ganz anderen Seite als zuvor. „Jedenfalls verstehst du das Prinzip der Entwicklung, nicht wahr?“

„Ja. Je mehr Energie die Zellen bereitstellen können, desto höher ist das Level eines Pokémon. Die Energie führt zu einer Entwicklung, sobald ein für die Pokémon-Art individuelles Niveau erreicht ist“, fasste Rain noch einmal zusammen und schaute dabei zu Raichu, das mittlerweile den Apfel verspeist hatte und mit den Resten des Stils spielte. Selbst ein so altes Pokémon war noch verspielt. Sie musste lächeln, als sie das sah.

„Genau. Machen wir nun einen Gedankensprung. Stell dir vor, dass ein Pokémon sehr, sehr viele Kämpfe gewonnen hat und mittlerweile einen sehr hohen Level hat. Level 90 zum Beispiel. Ein weiterer Anstieg des Levels wird immer schwieriger, weil die Zellen bereits ein hohes Energieniveau haben und das Training immer schwerer fällt. Trotzdem kann der Level von Zeit zu Zeit noch ansteigen. Das Pokémon erreicht Level 95, Level 98, Level 99. Was passiert dann?“

„Es …“ Rain zögerte. Ja, was dann? „Es erreicht Level 100?“

Milena nickte knapp. „Richtig. Irgendwann erreicht es Level 100. Und danach? Wieso ist bei Level 100 Schluss?“ Sie machte eine Kunstpause, in der sie geräuschvoll das Buch zuklappte und zurück auf den Schreibtisch legte. „Level 100 bezeichnet den Zustand der ultimativen Energiebereitstellung. Mehr kann ein Pokémon nicht erreichen. Mehr Energie können die Zellen eines Pokémon nicht produzieren. Bei Level 100 ist die natürliche Grenze gesetzt. Genau das habe ich erforscht. Mit Hilfe dieser Maschine ist es mir möglich die Zellen eines jeden Pokémon durch Energie von außen soweit anzuregen, dass eine Entwicklung ausgelöst wird. Im Moment schaffe ich es noch nicht, dass dieses Energieniveau dauerhaft in den Zellen gespeichert werden kann, doch das ist nur eine Frage der Zeit.“

„Also kann mit dieser Maschine künstlich eine Entwicklung herbeigeführt werden, ohne dass sich der eigentliche Level des Pokémon verändert?“

„So ist es.“

„Und dabei erleidet das Pokémon keine Schmerzen oder etwas in der Art?“, fragte Rain vorsichtig weiter. Sie dachte sofort an Team Rocket, das damals durch Radiowellen die Karpador im See des Zorns zu einer Entwicklung getrieben hat. Die Karpador wurden dabei gequält, weshalb sie als Garados nicht gerade friedliche Gesellen gewesen waren.

„Keinerlei Schmerzen oder Qualen. Das Pokémon entwickelt sich einfach.“ In Milenas Stimme schwang Stolz mit. „Das nächste Ziel wird sein, dass ich mit dieser Maschine auch den Level eines Pokémon erhöhen kann, ohne dass dafür Kämpfe notwendig sind. Allerdings werde ich daran noch eine Weile arbeiten müssen, denn diese Prozedur dürfte zum jetzigen Zeitpunkt noch sehr anstrengend für das Pokémon sein.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Genug davon, ich möchte dich nicht länger von deinem Feierabend abhalten.“

Rain sah zu, wie Milena sich die Notizbücher unter den Arm klemmte, das Raichu zurück in seinen Pokéball zog und sie dann zur Tür winkte.

„Wir sehen uns morgen.“

„Schönen Abend noch, Milena.“

Milena betrachtete sie ganz genau. „Ja, den wünsche ich dir auch.“ Gemeinsam eilten sie zum Fahrstuhl.

Erst als Rain in ihrem Zimmer auf dem Bett lag und ihre Gedanken weiter um die Maschine kreisten, die Milena entwickelt hatte, wurde ihr bewusst, welche Ausmaße diese Forschung hatte. Diese Maschine würde, sollte sie an die Öffentlichkeit gelangen, mit Sicherheit den Protest vieler Trainer mit sich bringen, die ihre Pokémon über Jahre in mühevoller Arbeit auf hohe Level brachten.

Und dann, etwas später, fiel Rain noch etwas auf. Milena hatte die Tür zum Labor nicht verschlossen. Sie setzte sich auf. Ein kleiner Blick konnte doch nicht schädlich sein, nicht wahr?

Ninja

19. Oktober
 

- Rain -
 

Die Maschine stand in der Dunkelheit von Milenas Privatlabor und verriet sich nur durch das gleichmäßige, schwache und pulsierende Leuchten der Steuerelemente. Warum hatte Milena ihr Labor nicht verschlossen, wie sie es sonst immer mit peinlicher Genauigkeit tat? Rain wusste die Antwort nicht, achtete aber darauf, dass sie nichts anfasste. Sie stand einfach nur in der Dunkelheit und schaute sich die Maschine mit ehrfürchtigem Abstand an.

Milena hatte es geschafft, dass Pokémon sich ohne Training entwickeln konnten. Womöglich war dies nur der erste Schritt, um später einmal Fehlbildungen oder Erbkrankheiten heilen zu können, sie wie Milena es schon damals in Finera wollte. Ihre Forschungen waren kein bösartiger Schwachsinn, sondern sinnvoll, wie Rain fand. Wenn doch damals in Finera nicht alles schief gelaufen wäre, wenn Milena niemals Team Dark gegründet hätte …

Rain dachte an die Geschichten ihrer Eltern, die kleine Berühmtheiten waren und auch heute noch von den vielen Kontakten profitierten, die sie damals im Zuge der Vernichtung von Team Dark gesammelt hatten. Zweifellos war es richtig, was ihre Eltern Faith und Joel vor bald dreißig Jahren getan hatten, aber wieso hatte niemand wirklich dabei zugehört, was Milena dazu zu sagen hatte? Das war unfair. Milena Mai war eine großartige Wissenschaftlerin, sie verdiente Anerkennung für ihre Arbeit. Die verbesserten Heilmaschinen ihrer Firma standen in allen Pokécentern von Kalos, aber ihr als Person wurde Verachtung entgegen gebracht, dabei stand hinter beiden Forschungsvorhaben dieselbe Person.

Vorsichtig machte Rain einen Schritt auf die Maschine zu und erschrak sich fürchterlich, als flirrend die Deckenleuchten zum Leben erwachten. Das musste der Bewegungsmelder sein, von dem Milena einmal gesprochen hatte. Verdammt, ob man sie jetzt entdecken würde? Rain hielt den Atem an, bis sie nicht mehr konnte. Dann atmete sie langsam weiter, horchte auf jedes noch so leise Geräusch, doch außer ihrem eigenen Herzschlag war nichts zu hören. Wer sollte auch jetzt noch hier sein? Dieses Stockwerk nutzt Milena alleine und von ihrer Privatwohnung im hinteren Gebäudeteil aus sah sie wohl kaum, dass hier Licht brannte.

Und wenn doch?

Nein, ausgeschlossen.

Da das Licht nun ohnehin an war, ging Rain direkt zu der Level-Maschine und fuhr bedächtig mit den Fingerspitzen über die glatte, schwarze Oberfläche der Säule. Es gab eine Vertiefung für Pokébälle direkt unterhalb vom Bedienfeld. Wofür die wohl gut war? Die Pokémon wurden direkt auf die Plattform gestellt, es konnte also kaum etwas passieren, wenn sie Karpadors Ball einfach nur in die Vertiefung legte, nicht wahr? Gesagt, getan.

Der Bildschirm leuchtete auf und sogleich erschien eine Analyse von Karpador. „Karpador, männlich, Level 5, Fähigkeit Wassertempo, Wesen Hart, Attacken: Platscher“, tönte eine weibliche Computerstimme. Rain entnahm den Ball wieder, drehte ihn in der Hand und schaute zu der Plattform. Karpador war ihr Starter. Es war ein nutzloses, schwaches Pokémon, das in der freien Wildbahn längst auf dem Teller irgendeines Fischers oder in der Kehle eines Ibitaks gelandet wäre. Sie tippte auf dem Bedienfeld herum, bis sie das Menü für die Entwicklungen fand. Ein Garados auf Level 5 würde weitaus beeindruckender sein, wenn auch immer noch schwach, aber daran konnte man arbeiten.

Das Menü war komplizierter, als Rain vermutet hätte. Trotzdem fand sie sich nach einigen Versuchen gut zurecht und stellte alles ein – zuerst Typ Wasser, woraufhin die Säule plötzlich bläulich leuchtete, dann wählte sie Letzte Entwicklungsstufe und bestätigte die Auswahl.

Ihre Hände zitterten und waren schwitzig. Warum war sie auf einmal so aufgeregt und nervös? Es konnte schließlich nichts schief gehen, wenn Milena die Maschine schon getestet hatte – und das hatte sie mit Sicherheit, wieso sollte sie sonst wissen, dass es funktionierte.

Der Finger drückte bereits gegen den Knopf in der Mitte des Pokéballs, dann entschied Rain sich in letzter Sekunde um, steckte Karpadors Ball zurück an ihren Gürtel und entließ Froxy auf die Plattform. Froxy stand ohnehin kurz vor der Entwicklung zu Amphizel.

Der blaue Frosch blähte einmal kurz seine Backen auf, dann schaute er seine Trainerin mit großen Augen an. Im selben Augenblick leuchtete auch die Plattform blau auf. Aus bis dahin verborgenen Düsen stieg blauer Nebel auf und hüllte die ganze Plattform ein, Lichter blitzten durch die Säule und innerhalb weniger Sekunden erstrahlte einmal kurz das ganze Labor. Der Nebel musste das Licht tausendfach gebrochen und gestreut haben, denn als Rain blinzelnd wieder zur Plattform schaute, sah sie noch immer Lichtblitze vor ihren Augen, wenn sie die Augen schloss.

Dort, wo eben noch Froxy gestanden hatte, lichtete sich nun der Nebel und zum Vorschein kam ein dunkelblaues Quajutsu mit langen, sehnigen Gliedern. Es quakte und war von seiner eigenen, veränderten Stimme überrascht, woraufhin es nach vorne sprang und im selben Augenblick über die viel größeren Füße stolperte.

Rain starrte ihr Pokémon an. Es hatte funktioniert! Es hatte funktioniert, aber … „Froxy?“

„Quaaa!“ Beinahe panisch strampelte Quajutsu mit den Beinen, landete auf dem Rücken, dann wieder auf dem Bauch. Nur langsam konnte es die Glieder koordinieren, legte sich erneut der Länge nach hin und schlitterte dabei von der nur wenige Zentimeter hohen Plattform herunter. „Quaa!“

Hilflos musste Rain mit ansehen, wie Froxy, nein, Quajutsu mit seiner neuen Form kämpfte. Es starrte verstört die Maschine an, an sich herunter und zu Rain. Zum ersten Mal mischte sich zu der Aufregung über die Maschine etwas anderes in ihre Gefühle. Sie bekam ein schlechtes Gewissen. „Hey, Quajutsu, es ist alles gut.“ Es war doch alles gut oder? „Du hast dich entwickelt, das ist nichts Schlimmes.“

„Quaaaaa!“ Quajutsu torkelte nach hinten, als Rain sich zu ihm bückte und es berühren wollte. Ein wütendes Zischen entfloh der Kehle, als ihm zum ersten Mal gelang alle vier Beine richtig zu benutzen und in die Hocke zu gehen. Die Augen hatte es zu abwertenden Schlitzen verzogen und in der gesamten Körperhaltung schwang eine stumme Anklage mit. Warum hast du mir das angetan. Du bist meine Trainerin. Ich habe dir vertraut.

Tränen bildeten sich in Rains Augen, noch ehe sie diese Anschuldigung bewusst wahrnahm. Sie begriff, was sie getan hatte. Körperlich hatte Froxy durch die Entwicklung keine Schäden davongetragen, aber mental hatte sie es nicht darauf vorbereitet. Es war nicht durch eine natürliche Entwicklung in eine andere Form übergegangen, sondern durch äußere Einflüsse. Wahrscheinlich hatte es nicht einmal begriffen, was geschah, bis es schon zu spät war.

„Milena!“, rief Rain, griff den Pokéball und zog Quajutsu zurück. Sie rannte aus dem Labor, durchquerte den Flur und hämmerte an die Tür zu Milenas Privaträumen. „Milena, machen Sie die Tür auf, bitte!“

Zu ihrer Verwunderung geschah dies nur wenige Momente später. Milena wirkte nicht einmal überrascht. Hatte sie es gewusst? Hatte sie die Tür absichtlich offen gelassen?

Weinend stand Rain vor ihr. „Die Maschine hat Froxy zu Quajutsu entwickelt, bitte, Sie müssen das rückgängig machen!“

Milena schaute auf ihre Assistentin herab und der milde Ausdruck einer Lehrmeisterin wich kaltem Unverständnis. „Du hast die Maschine aus freien Stücken heraus benutzt. Selbst wenn ich wollte, könnte ich daran nichts ändern.“

„Aber Quajutsu ist total verwirrt. Bitte, geben Sie mir mein Froxy zurück!“

Die Forscherin schnalzte mit der Zunge. „Die Natur entwickelt sich weiter, danach strebt sie. Rückentwicklung ist in diesem Konzept nicht vorgesehen. Das war deine Entscheidung, Rain. Das war wahrer Forschergeist. Quajutsu wird sich an seine neue Form gewöhnen, bis dahin kannst du dir ja einen Spitznamen überlegen. Dein erstes Forschungsobjekt verdient einen Spitznamen. Wie wäre es mit Ninja?“

„Das ist alles, was Sie dazu zu sagen haben?“ Rain wischte sich mit zitternden Händen die Tränen aus dem Gesicht.

Milena zuckte mit den Schultern. „Ich finde, dass Ninja ein passender Name ist.“ Mit diesen Worten schloss sie die Tür und ließ Rain alleine zurück.

Herbstwind

19. November
 

Rain
 

Seit dem Vorfall in Milenas Labor war genau ein Monat vergangen. Rain zog sich den flauschigen Wollschal tiefer ins Gesicht, als sie sich gegen den Herbstwind durch die Straßen von Illumina City kämpfte und das Café ansteuerte, das Camille ihr eine Stunde zuvor via ComDex genannt hatte. Flache Pfützen auf den Straßen zeugten noch von dem schweren Regenschauer, der am Vormittag gewütet hatte, doch nun zeigte sich die Sonne immer mal wieder hinter den grauen Novemberwolken.

Als sie eintrat, klingelte ein Glöckchen über der Tür und sowohl Camille als auch eine Kellnerin schauten auf.

„Rain!“ Camille sprang auf und zog ihre Freundin in eine kräftige Umarmung, dann ließ sie sie wieder los und bugsierte sie an den Tisch in der Ecke. „Ich freue mich ja so, dass wir uns endlich wiedersehen!“

Rain erwiderte das Lächeln nicht ganz so überschwänglich, freute sich aber ebenfalls und streifte den Wintermantel ab, den sie sich von ihrem ersten Gehalt gekauft hatte. „Ich freue mich auch. Wann bist du angekommen?“

„Gestern Abend.“ Camille fuhr sich durch das braune Haar, das durch die hohe Luftfeuchtigkeit nun stark gewellt war und wie ein Wischmopp in alle Richtungen stand; dennoch schien sie sich daran nicht zu stören. „Es war so eine tolle Reise, du hättest wirklich mitkommen sollen.“ Die ganze Zeit über hatte sie Rain täglich Nachrichten auf den ComDex geschickt und ihr dadurch mitgeteilt, was sie bei ihrer Bildungsreise erlebte. Interessant klang es allemal, aber es war nicht ganz Rains Interessengebiet und das wussten sie beide.

Rain nickte daraufhin lediglich und betrachtete Camille genauer. Es fielen ihr zwei Dinge ins Auge: Elfun war in seinem Pokéball und dazu hatten sich zwei weitere Pokébälle gesellt. Moment … Zwei? „Du hast gar nicht erzählt, dass du zwei neue Pokémon hast.“ Enttäuschung machte sich in ihrem Gesicht breit. „Und wieso ist Wolli in seinem Pokéball?“

„Das sollte eine Überraschung sein“, verkündete Camille und begann wieder so breit zu lächeln wie ein Sonnflora. „Mein Vater hat mir ein Fossilpokémon zur Aufzucht überlassen, das hatte ich dir ja bereits erzählt. Es hat sich dann durch Zufall ergeben, dass ich ein zweites Fossilpokémon bekomme, weil die andere Forscherin, die sich darum kümmern sollte, krankheitsbedingt ausfällt. Bei ihren Pokémon hat sich Wolli dann leider auch mit der Pokémongrippe angesteckt, deshalb hat Schwester Joy ihm die Ruhe im Pokéball verordnet. Wolli gefällt das natürlich nicht, aber im Moment ist der kleine Flauschball so müde, dass sie ohnehin alles verschläft.“

„Also hast du jetzt zwei Fossilpokémon.“

„Aufregend, nicht wahr? Ich stelle dir die beiden nachher gerne vor, aber hier drinnen kann ich sie nicht aus ihren Bällen lassen. Marino, mein Amarino, ist sehr scheu und fühlt sich unter so vielen Menschen nicht wohl. Flix, mein Flapteryx, ist das genaue Gegenteil, aber er ist so ein Wildfang, dass er vermutlich ein großes Chaos anrichten würde.“ Die Art, wie Camille sprach, ließ vermuten, dass sie bereits derartige Erfahrungen mit ihren beiden neuen Pokémon gemacht hatte.

„Ein Amarino und ein Flapteryx also. Da werden dich einige Trainer mit Sicherheit beneiden, weil Fossilpokémon so selten sind und bei richtigem Training starke Partner werden können. Wobei ich mir bei dir in Sachen Training ja keine Sorgen machen muss.“ Grinsend streckte Rain ihr die Zunge raus.

Camille lachte auf. „Du bist mir immer noch böse, weil ich dir damals nicht gesagt habe, dass Wolli schon über Level 30 ist, nicht wahr?“

Rain zuckte mit den Schultern. „Schwamm drüber. Lass uns bestellen, ich bin total durchgefroren. Diese Herbststürme im Moment sind wirklich unangenehm.“

„Da gebe ich dir Recht.“ Beide winkten die Kellnerin heran und gaben ihre Bestellungen auf: Kakao und Schokoladenkuchen, passend zur kalten Jahreszeit.

Eine Weile aßen sie stillschweigend vor sich hin, dann ergriff Camille wieder das Wort. „Wie geht es Ninja?“

„Ach ja …“, antwortete Rain ausweichend und beschäftigte sich auffällig lange mit ihrem Kuchenstück. „Es geht. Wenn ich daran denke, wird mir noch immer schlecht. Es ist schon ein Monat her, aber Ninja ignoriert mich noch immer.“

„Es ist erst einen Monat her“, verbesserte Camille sie und seufzte. „Versetz dich doch mal in seine Lage. Er wurde zur Entwicklung gedrängt, ohne dass sein Körper von alleine den dafür nötigen Level erreicht hat. Das ist bestimmt eine ganz große Kopfsache und Ninja muss das alles erst verarbeiten. Ich bin mir sicher, dass er dir bald verzeihen wird und sich wieder von dir trainieren lässt.“

„Ich hoffe es. Milena hat die ganze Zeit nichts mehr dazu gesagt, ich bin so wütend auf sie gewesen.“

„Jetzt nicht mehr?“

„Ich weiß nicht … Ihre Erfindung hat Potenzial und es war alleine meine Schuld. Sie hat mich nicht dazu gezwungen, dass ich mich in ihr Labor schleiche und heimlich die Maschine ausprobiere. Nein, damit muss ich alleine klarkommen.“

„Hm…“ Camilles Haare wippten auf ihren Schultern auf und ab, als sie minimal den Kopf schüttelte und ihren heißen Kakao schlürfte. „Es ist deine Entscheidung. Wie lange willst du eigentlich noch für sie arbeiten? Wenn ich ehrlich bin, hätte ich gleich nach dieser Sache meine Koffer gepackt und wäre abgehauen.“

„Sie bezahlt mich gut und ich lerne wirklich viel. Die anderen Forscher sind alle sehr nett und erklären mir alles, was ich noch nicht verstehe. Eine bessere Vorbereitung für die Universität kann ich mir nicht vorstellen.“

„Falls du überhaupt etwas in dieser Richtung studieren willst“, fügte Camille hinzu. „Anderes Thema. Hast du auch davon gehört, dass in den letzten Wochen vermehrt Gestalten gesichtet wurden, die an Team Dark erinnern? Wenn ich daran denke, dass diese Schurken zurückkehren könnten, läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Ich finde es schon seltsam, dass ausgerechnet jetzt Gerüchte aufkommen, dass Team Dark sich neu formiert.“

„Wie meinst du das?“

„Milenas Unternehmen hat fast seinen alten Einfluss zurück. Es gibt keinen größeren Hersteller im Bereich der medizinischen Geräte und Versorgung der Pokémoncenter. Sie war schon einmal der Kopf dieser Organisation, wieso sollte sie nicht …“

„Du spinnst“, unterbrach Rain sie mit scharfem Ton. „Milena hat mit dieser ganzen Sache nichts mehr zu tun. Sie hat ihre Fehler eingesehen und widmet sich jetzt nur noch ihrer Forschung. Guter, ehrlicher Forschung, mit der sie den Pokémon helfen möchte.“

Camille zog die Augenbrauen fest zusammen. „Hörst du dir eigentlich selbst zu? Was daran soll gut und ehrlich sein, wenn du selbst ein Pokémon besitzt, das mit den Folgen ihrer neusten Erfindung zu kämpfen hat? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass sie dich einer Gehirnwäsche unterzogen hat.“

Rain ließ die Gabel klirrend auf den Teller fallen. „Niemand hat mich einer Gehirnwäsche unterzogen“, stellte sie kühl klar und schnappte sich ihren Schal. „Das muss ich mir von dir nicht sagen lassen, Camille.“

„Rain, jetzt warte doch mal …“

Doch Rain wartete nicht. Sie wickelte sich den Schal um den Hals, schlüpfte in Rekordgeschwindigkeit in ihren Mantel, legte einen Schein auf den Tisch und stapfte zurück in den kalten Herbstwind. Milena war nicht mehr die fehlgeleitete Forscherin von früher – und wenn Camille ihr das nicht glaubte, würde sie es ihr eben beweisen müssen.

Reisepläne

19. November
 

- Summer -
 

Grinsend streckte Summer sich und packte den gewonnenen Faustorden in die passende Vertiefung ihrer Orden-Sammelbox der Kalos-Region. „Nummer Drei.“ Sie drehte sich zu Bryce um und tätschelte dabei den Pokéball von Onix. Ihre schüchterne Felsennatter hatte ihr im Kampf gegen Connie gute Dienste geleistet, auch wenn Onix mit seinem Gesteinstyp einen Nachteil hatte. Am Ende hatte sich das höhere Level ihres Starters bezahlt gemacht und nachdem ihr Jurob und Glutexo besiegt worden waren, hatte Onix den Sieg davongetragen.

Bryce nickte ihr anerkennend zu. Auch er hatte an diesem Morgen gegen Connie gewonnen. „Dann können wir noch heute Yantara City hinter uns lassen. Es regnet glücklicherweise nicht mehr, wir könnten bis zum Abend an der Mähikel-Farm sein, die du unbedingt besuchen wolltest.“

„Klingt nach einem Plan“, flötete Summer gut gelaunt und verließ an Bryce‘ Seite die Arena der Stadt. „Es ist schon fast eineinhalb Monate her, seit wir aus Illumina City weg sind, trotzdem haben wir seither erst zwei weitere Orden erkämpft. Je schneller wir in Tempera City sind, desto besser.“

Neben ihr stieß Bryce einen gequälten Seufzer aus. Nicht nur, dass Summer sich ihn als Reisebegleitung ausgesucht hatte und er sie seither irgendwie an der Backe hatte, sobald sie einen Orden hatte, konnte sie gar nicht schnell genug zur nächsten Arena kommen. „Es ist ja wohl nicht meine Schuld, dass wir eine halbe Ewigkeit bis nach Yantara City gebraucht haben.“

„Hey!“, verteidigte Summer sich und zog dabei einen Schmollmund. „Woher hätte ich wissen sollen, dass es auf Route 10 so lange dauert?“

„Du musstest auch unbedingt eine ganze Woche bei diesem Evoli-Hype mitmachen.“

„Immerhin habe ich am Ende eins gefangen und es hat nur eine Woche gedauert.“

Bryce sagte dazu nichts mehr, aber Summer wusste auch so, was er davon hielt. Route 10 war berühmt dafür, dass es dort das seltene, aber überaus beliebte Pokémon Evoli in freier Wildbahn gab. Aus diesem Grund pilgerten Scharen von Trainern aus ganz Kalos zu dieser Route und durchkämmten sie bis auf den letzten Grashalm. Der ganze Evoli-Hype hatte sogar solche Ausmaße angenommen, dass es mittlerweile regelmäßige Kontrollen von Pokémon-Rangern, Schwester Joys und Officer Rockys gab, die sicherstellen sollten, dass die Evolipopulation der Route nicht überfangen wurde. Man munkelte, dass sogar nachgezüchtete Evoli dort ausgewildert wurden, um das Bild einer intakten Fauna zu gewährleisten. Zumindest wurde nun genau kontrolliert, wer sich wie oft und weshalb auf der Route aufhielt und die permanente Anwesenheit der Ranger sorgte dafür, dass pro Tag nur noch maximal zwei wilde Evoli außerhalb der ausgewiesenen Ruhezonen gefangen werden durften. Einmal hatten sie miterlebt, wie sich ein Junge nicht daran gehalten hatte. Er war am Ende nicht nur sein Evoli, sondern auch einen Batzen Geld für die Strafgebühr los und hatte eine einmonatige Sperre für offizielle Trainerkämpfe wie beispielsweise in der Arena erhalten.

„Anstatt dich auf das Evoli zu versteifen, hättest du mal lieber etwas besser trainieren sollten.“

„Was soll das denn jetzt wieder heißen?“

Bryce seufzte erneut und rückte sich seine Brille gerade. „Eigentlich geht es mich ja nichts an, aber wenn ich du wäre, würde ich nicht gleich in der vierten Arena antreten, sondern vorher ein durchdachtes Training einschieben. Du hast zwar den Rauforden im ersten Anlauf gewonnen, aber es war sehr knapp. Dein Evoli ist noch vollkommen untrainiert und während du nach ihm gesucht hast, hast du Glumanda frei herumlaufen lassen. Es hat sich selbst Gegner gesucht und hat sich zu einem Glutexo entwickelt.“

„Und das alles ohne mein Zutun.“

„Darauf solltest du nicht stolz sein“, ermahnte Bryce sie sofort. „Es hat dir schon als Glumanda kaum gehorcht und jetzt als Glutexo hat es sämtlichen Respekt vor dir verloren. Der Arenakampf mag einen gewissen Nervenkitzel für Glutexo gehabt haben, aber andernfalls hätte es vermutlich gar nicht erst für dich gekämpft. Und der Moment, in dem du ihm Glut befohlen und es Läuterfeuer und anschließend Drachenpuls eingesetzt hat, war peinlich.“

Betretenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Erst im Pokémoncenter, als Summer ihre Pokébälle an Schwester Joy weiterreichte, brach sie das Schweigen. „Peinlich?“ Das leicht überhebliche Grinsen war aus ihrem Gesicht verschwunden?

„Ja. Wir wissen jetzt zwar, was für Zuchtattacken Glutexo kann, aber es kann zu einer Gefahr für dich werden, wenn es sich nicht kontrollieren lässt.“ Mit Seitenblick zu Schwester Joy fuhr Bryce mit gesenkter Stimme fort. „Ich meine – bei Arceus! –, es kann Läuterfeuer! Diese Attacke sollte es gar nicht erst können.“

„Das liegt an den Entei-Genen, die Team Dark damals dem Glumanda meiner Mutter eingepflanzt haben.“

„Das weiß ich“, sagte Bryce, der von Summer alles erfahren hatte. „Aber meinst du nicht auch, dass es gefährlich sein kann, wenn ein normales Pokémon auf einmal die Attackenkraft eines Legendären in sich trägt? Nicht, dass es sich irgendwann selbst verletzt oder die Kontrolle verliert.“

Summer nickte langsam. „Du hast Recht. Ich war so mit dem Orden und Evoli beschäftigt, dass ich daran nicht gedacht habe. Glutexo muss trainiert werden und mir gehorchen, sonst kann ich es nicht länger in Kämpfen einsetzen.“

„Und ohne die Kämpfe wird es unausgeglichen“, ergänzte Bryce. „Also schlage ich vor, dass wir die Nacht in der Mähikel-Farm verbringen, morgen nach Tempera City weiterreisen und dort einige Wochen trainieren. Die Orden laufen dir nicht weg, Summer. Außerdem muss ich Vipitis und Rocara leveln, sonst kann ich sie nicht in der vierten Arena einsetzen.“ Genau wie Summer hatte Bryce sich im letzten Monat neue Teammitglieder zugelegt. Auf Route 8 hatte es ihm eine Vipitis-Dame angetan und in der Spiegelhöhle hatte er ein Rocara gefangen. Beide sollten sein Team um Enekoro verstärken, das bisher im Alleingang die ersten drei Orden erkämpft hatte, aber allmählich an seine Grenzen stieß.

Nach nur kurzem Zögern willigte Summer ein. „Abgemacht, so machen wir es.“

Gemeinsam packten sie ihre großen Reiserucksäcke, besorgten sich Proviant bei Schwester Joy und machten sich auf den Weg zu Route 12, die Yantara City und Tempera City miteinander verband und idyllisch am Meer gelegen war, wodurch Summer sich wie zu Hause fühlte. Sie redeten nicht viel miteinander und sahen nur wenige andere Trainer, was vermutlich an dem schlechten, nasskalten Wetter der letzten Tage und der beginnenden vorweihnachtlichen Flaute lag. Zumindest hatte Schwester Joy das vermutet, denn schon in der Stadt selbst war weniger los als üblich – von den Evoli-Jägern einmal abgesehen.

Nach einer Weile begannen sie ein belangloses Geplauder über dieses und jenes, bis Summer laut über die Zusammenstellung ihres Teams nachdachte. „Ich habe jetzt schon vier Pokémon, allmählich muss ich darauf achten, dass die Schwächen ausgebügelt werden. Ein Pflanzenpokémon wäre nett. Wer weiß, vielleicht lege ich mir ein Mähikel zu, dann muss ich später auch nicht mehr selbst laufen und kann auf Chevrumm reiten.“

„Faule Socke.“

Summer streckte ihrem Begleiter spielerisch die Zunge heraus. „Lass mich doch.“

„Wobei du eigentlich Recht hast, ein Pflanzentyp kann nicht schaden. Das musst du aber nicht heute entscheiden.“

„Stimmt. Wieso hast du eigentlich Vipitis und Rocara in deinem Team?“

Ausweichend zuckte Bryce mit den Schultern. „Vipitis war spontan. Als ich es gesehen habe, dachte ich mir ‚Warum eigentlich nicht?‘ und habe es gefangen. Gift-Typen sollen zudem anspruchsvoll im Training sein. Ich muss gestehen, dass ich in den Unterrichtsstunden zum Typ Gift nicht immer ganz genau aufgepasst habe, daher sehe ich es als Herausforderung. Ich wollte schließlich noch einmal als Trainer neu anfangen. Rocara hat gute Verteidigungswerte und ich wollte Vipitis nicht alleine leveln, deshalb ist es dann auch in mein Team gekommen.“

„Ach, so war das also.“

Daraufhin verfielen beide wieder in ihr gedankenverlorenes Schweigen und bemerkten das Magenknurren und Hungergefühl erst, als sie in der Abenddämmerung die Lichter der Mähikel-Farm in der Ferne erblickten und daraufhin ihren Schritt noch einmal beschleunigten.

Eine Nacht auf der Farm

20. November
 

- Summer -
 

Nur wenige Minuten nach dem Erreichen der Mähikel-Farm setzte ein eisiger Platzregen ein, der an den Weltuntergang erinnerte.

„Verdammt!“ Bryce starrte mit großen Augen durch das Fenster des Hofladens nach draußen. „Man sieht keine fünf Meter weit, so stark ist der Regen. Wie konnte der nur so plötzlich aufziehen?“

Die Ladenbesitzerin lächelte ihn von der Theke aus an. „Das ist um diese Jahreszeit häufig, wobei ich sagen muss, dass es dieses Jahr besonders schlimm ist. Das Wetter spielt schon seit dem Sommer vollkommen verrückt. Möchtet ihr etwas kaufen?“

„Eigentlich sind wir nur auf der Durchreise und hätten gerne zwei Zimmer für die Nacht“, sagte Summer und schaute sich genauer in dem kleinen Hofladen um. Es gab frische Mähikel-Milch, diverse Käseprodukte und Wolle aus geschorenem Mähikel-Fell zu kaufen. Weiter hinten entdeckte sie kunstvolle Decken, die mit bunten Fäden durchzogen waren.

Die Frau nickte und holte einen Zettel unter der Theke hervor, auf dem Summer eine Tabelle mit Zimmerbelegungen erkennen konnte. „Nur für diese Nacht?“

„Ja. Wir wollen morgen früh gleich weiter nach Tempera City.“

„Das macht dann 5000 Pokédollar pro Person. Das vegetarische Frühstück ist im Preis inbegriffen.“

Beide bezahlten, doch als die Frau in ein Hinterzimmer ging, um die Schlüssel für die Zimmer zu holen, konnte Bryce sich einen Kommentar nicht verkneifen. „Dafür, dass wir gerade Nebensaison haben und ohnehin kaum Trainer auf der Route unterwegs sind, ist das ganz schön teuer.“

„Vielleicht liegt es auch an den frischen Milchprodukten. Von irgendwas muss diese Farm schließlich leben.“ Summer zuckte mit den Schultern. Sie warf einen letzten Blick in ihr Portemonnaie. Viel hatte sie nicht mehr dabei. Auch wenn sie den Vorschlag ihrer Mutter, dass Rain und sie fortan wie normale Trainer unterwegs jobben sollten, gut fand, vermisste sie die Freiheit einer beinahe limitlosen Kreditkarte, wie sie ihre Tante Trixi stets propagierte.

Als die Frau mit den beiden Schlüsseln zurückkehrte, schloss sie die Tür vom Hofladen ab. „Ich glaube nicht, dass heute noch jemand kommen wird – und falls doch, haben wir immer noch die Notfallklingel am Stall. Na dann ihr beiden, kommt einfach mit.“ Sie führte Summer und Bryce durch das Hinterzimmer, das sich gleichzeitig als Warenlager herausstellte, von dem aus es zu einer Kühlkammer ging. Eine weitere Tür führte in einen langen, mit Parkett ausgelegten Flur, von dem weitere Türen in Büroräume abzweigten.

Am Ende des Flurs befand sich ein großer, gemütlicher Aufenthaltsraum, in dessen Ecke das Feuer in einem Kamin prasselte. Alles war sehr rustikal gestaltet und Bilder der Mähikel und der Farm hingen an allen vier Wänden. Drei weitere Jugendliche saßen um einen runden Tisch in der Mitte des Raumes, der wohl gleichzeitig auch als Speisesaal diente. Summer zählte die Stühle am Tisch – es waren sechzehn – und schloss dadurch auf die Maximalbelegung der Gästezimmer. Auf den zweiten Blick entdeckte sie einen Fernseher gegenüber des Kamins, die Tür zur angrenzenden Küche und – hinter großen Topfpflanzen versteckt – die Treppe ins Obergeschoss.

„Das hier ist unser Aufenthaltsraum“, erklärte die Frau und nickte den drei anderen am Tisch freundlich zu. „Er steht jedem Gast zur freien Verfügung. Das Frühstücksbüffet gibt es morgens zwischen sieben und neun, Mittagessen zwischen zwölf und eins und Abendessen zwischen sieben und acht. Ihr könnt jeden Tag zwischen zwei Gerichten wählen, das wird üblicherweise morgens beim Frühstück in Form einer Bestellliste gemacht.“

„Ich dachte, nur das Frühstück ist inklusive?“

„Nur für den Fall, dass ihr länger bleibt und Vollpension haben möchtet. Das kostet dann allerdings 1000 Pokédollar mehr. Wahlweise könnt ihr tagsüber zwei Stunden in den Ställen mitarbeiten, auch dafür gehen morgens Listen rum.“

„Klingt fair“, meinte Summer.

„Oben befinden sich unsere Gästezimmer“, fuhr die Frau fort. Während sie sprach, fielen ihr immer wieder graue Strähnen ins Gesicht, die sie dann in einer automatischen Bewegung wieder nach hinten strich. „Die Küche ist die Verbindung zum Haupthaus, für den Fall, dass einmal etwas sein sollte. Dort kochen wir für euch und stellen einen Raum weiter unseren hauseigenen Mähikel-Käse her. Das war es auch schon. Hier sind eure Schlüssel.“ Mit einem Kopfnicken verabschiedete sie sich und verschwand in der Küche, um mit den Vorbereitungen für das Abendessen zu beginnen.

Summer verspürte wieder ihr Magenknurren, stellte den Rucksack auf dem Boden ab und kramte ihren restlichen Tagesproviant hervor. „Meinst du, wir können heute Abend wieder kostenlos mitessen?“

„Da wäre ich mir nicht so sicher.“

„Ach, was soll’s.“ Summer seufzte. „Ich buche uns für heute das Abendessen dazu, von dem einen Sandwich werde ich heute nicht mehr satt.“ Gesagt, getan, und ein weiterer Schein aus ihrem Portemonnaie wechselte den Besitzer.

Anschließend brachten beide ihr Gepäck auf die Zimmer und kehrten in den Aufenthaltsraum zurück, um sich die Zeit bis zum Abendessen zu vertreiben.

In der Ecke vor dem Kamin saß ein Mädchen in ihrem Alter und blätterte in einer Fachzeitschrift für Pokémon-Zucht. Sie würdigte sowohl Bryce als auch Summer keines Blickes und war vollkommen in ihre Lektüre vertieft. Die beiden anderen saßen noch am Esstisch und waren in den letzten Zügen eines Kartenspiels, das schlussendlich von einem der beiden Jungen zusammengepackt wurde. Er nickte Summer im Vorbeigehen zu und verschwand anschließend gähnend nach oben. Zurück blieb der dritte Trainer, dessen bernsteinfarbene Locken wirr in alle Richtungen abstanden. Durch seine dunkle Brille musterte er sowohl Bryce als auch Summer sehr aufmerksam und wenige Sekunden später veränderten sich seine Gesichtszüge zu einem widerwilligen Erkennen.

„Na sieh mal einer an. An dich erinnere ich mich.“

Summer kam ein wenig elegantes „Hä?“ über die Lippen, doch sie wurde das unterschwellige Gefühl nicht los, dass der Junge Recht hatte. Auch ihr kam er bekannt vor, doch sie konnte ihn nicht einordnen.

Er lächelte sie spöttisch an. „Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis, was inkompetente Trainer mit seltenen Pokémon angeht.“

Der Groschen fiel. Lockenkopf. Augen wie Kirschholz. Arroganter Blick. „Oh weia, du bist das Arschloch von Route 5, das erst große Töne gespuckt und dann den Schwanz eingezogen hat, als ich einen Pokémonkampf verlangt habe. Schon klar, ich weiß auch wieder, wer du bist.“ Die Szene von damals lag schon über einen Monat zurück, tauchte aber in alter Frische vor ihrem inneren Auge auf.

Bryce warf dem Jungen einen misstrauischen Blick zu. „Ihr kennt euch?“

„Ja“, antwortete Summer.

„Nein“, sagte der Lockenkopf. „Ich pflege keinen engeren Kontakt mit schlechten Trainern.“

Summer spürte, wie ihr die Zornesröte Stück für Stück ins Gesicht trieb. „Was ist eigentlich dein Problem, hm? Damals hast du mich auch schon grundlos angefahren und jetzt fängst du wieder damit an.“ Aus den Augenwinkeln nahm wie wahr, wie das Mädchen am Kamin ihre Zeitschrift sinken ließ und dem Gespräch lauschte. „Mein Glumanda ist schwierig zu trainieren, das ist alles. Ich habe bereits drei Orden, also kann ich wohl nicht so schlecht sein, wie du behauptest.“

„Feuerpokémon können gefährlich sein, genau wie alle Pokémon, wenn man sie nicht richtig trainiert und unter Kontrolle hat. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich jahrelange Erfahrung im Umgang mit Pokémon habe und sie auf den ersten Blick einschätzen kann. Dein Glumanda ist stark und ich weiß nicht, was genau es an sich hat, aber da ist etwas in seiner Ausstrahlung, dem du Noob nicht gewachsen bist.“

„Da ist es schon wieder, dieses scheiß Noob. Was soll das überhaupt?“

Er zuckte lässig mit den Schultern und lehnte sich nach hinten. „Ich spiele gerne Videospiele, na und? Abgesehen davon scheine ich mit meiner Einschätzung bezüglich deiner Fähigkeiten als Trainerin nicht alleine zu sein, wenn ich den betretenen Blick deines Begleiters richtig interpretiere.“

Diese Aussage nahm Summer jeglichen Wind aus den Segeln. Entgeistert sah sie Bryce an und erkannte, dass der Fremde die Wahrheit sagte. Und schlimmer noch, sie selbst wusste tief in ihrem Inneren zu gut, dass Glutexo bisher keinen einzigen ihrer Befehle befolgt hatte. „Und wenn schon.“ Kraftlos ließ sie sich auf einem der Stühle nieder, Bryce tat es ihr gleich. „Wieso mischst du dich überhaupt ein?“

Die Arroganz in seinem Blick ließ nach und wich einer Mischung aus Wut, Enttäuschung und etwas anderem, das Summer nicht deuten konnte. „Trainer und Pokémon sind ein Team. Sie kämpfen gemeinsam und sind im Kampf bestenfalls wie eine Einheit. Ich habe es einmal erlebt, wie jemand, den ich für durchaus fähig gehalten habe, die Kontrolle über sich und sein Pokémon verloren hat. Es war bereits auf etwa Level 40. Du kannst dir womöglich nicht vorstellen, was das für Konsequenzen hatte. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass sie mir so etwas antun würde. Wie sehr musste sie mich hassen. Ich …“ Den Bruchteil einer Sekunde brach seine Stimme. „Ich habe das nie gewollt, aber ich habe Mitschuld an dem, was passiert ist. Die Details sind nicht relevant für dich, doch lass mich dir eins sagen: Mein Sichlor, mein Starter, mein Freund, ist tot. Es ist in diesem Kampf gestorben und wenn du dein Glumanda nicht richtig trainieren und kontrollieren kannst, wird es vielleicht eines Tages genauso enden wie mit Sichlor und Fiaro.“

Jegliche Farbe war aus Summers Gesicht gewichen. Dieses arrogante Arschloch hatte sein Sichlor in einem Trainerkampf verloren? Wie war das möglich? „Aber … Aber es gibt Regeln, an die sich jeder Trainer hält. Pokémon töten aneinander nicht, sie verfallen nicht in den instinktgesteuerten Überlebensmodus, wie es in freier Wildbahn passieren kann.“

„Das habe ich auch gedacht, aber offensichtlich ist es möglich, sobald Trainer und Pokémon gemeinsam eine Grenze überschreiten.“ Er schluckte, dann stand er auf. „Wie dem auch sei. Pass besser auf dich und deine Pokémon auf oder such dir einen Trainer, der Glumanda gewachsen ist.“

„Glutexo“, verbesserte Summer ihn automatisch. „Es hat sich entwickelt.“

„Umso wichtiger ist das, was ich dir gesagt habe.“ Er schnaubte und sie glaubte ihn so etwas wie „solche Pokémon gehören nicht in die Hände von scheiß Anfängern“ murmeln zu hören. Kopfschüttelnd stand er auf und ging zur Treppe hinüber.

Sowohl Bryce als auch Summer sahen ihm hinterher und als er schon fast verschwunden war, rief sie ihm hinterher: „Wie heißt du eigentlich? Ich will dich nicht immer Arschloch nennen müssen.“

Der Anflug eines Grinsens umspielte seine Lippen. „Rocco Black. Aber du Arsch reicht vollkommen aus; da wärst du nicht die erste, die mich so nennt, nur weil ich Recht habe.“

Summer verdrehte die Augen, grinste aber ebenfalls.

„Und darauf einen Kaffee“, schloss Bryce das Gespräch, stand auf und ging zu einem Beistelltisch, um den Inhalt der dortigen Kaffeekanne zu leeren.

Mäh!

21. November
 

- Summer -
 

„Ach du meine Güte!“ Die alte Dame aus dem Hofladen, die sich mittlerweile als Clarissa vorgestellt hatte, seufzte in den Telefonhörer hinein. „Gut, dann wissen wir Bescheid. Vielen Dank für den Anruf, Officer Rocky.“

Das braunhaarige Mädchen vom Vorabend legte ein Buch über Zuchtattacken zur Seite und runzelte die Stirn. Sie hieß Sophie, war eine noch junge und weitgehend unerfahrene Pokémonzüchterin und trainierte meistens auf Route 12, weil sie die Meeresluft mochte und ihrem Schwarm Joren, der in der Nähe wohnte und gerne auf der Farm aushalf, nahe sein wollte. Zumindest hatte Summer das während des Abendessens am Vortag aus ihr herausbekommen. Jetzt nahm Sophie einen Schluck von ihrem Kaffee und schaute Clarissa mit großen Augen an. „Und?“

„Ich fürchte, dass sich deine Vermutungen bestätigt haben.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln trat Clarissa näher an den Esstisch im Aufenthaltsraum heran. „Der Regen war vergangene Nacht so stark, dass er Schlammlawinen auf Route 12 zwischen unserer Farm und Tempera City ausgelöst hat. Laut Officer Rocky ist der Boden an vielen Stellen vollkommen durchweicht, was eine Weiterreise zu gefährlich macht. Die Route ist von beiden Seiten gesperrt worden und wird erst wieder freigegeben, wenn die Straßen wieder geräumt und befestigt worden sind – was schätzungsweise drei bis vier Tage in Anspruch nehmen wird.“

Summer verschluckte sich beinahe an ihrem heißen Kakao, als sie diese Hiobsbotschaft vernahm. „Also sitzen wir hier fest? Und wenn wir einfach auf eigene Faust losgehen?“

Clarissa schüttelte sachte den Kopf. „Das kann ich nicht verantworten. Officer Rocky hat empfohlen, dass sich alle, die ein Pokémon mit der Attacke Fliegen beherrschen, über den Luftweg nach Yantara oder Tempera City begeben sollen, der Rest von euch bleibt hier. Da es eine Ausnahmesituation ist, werde ich euch solange nichts für eure Unterbringung berechnen, aber ihr werdet meinem Mann und meinen Kindern mit der Versorgung der Mähikel helfen. Einverstanden?“

„Uns bleibt ja wohl nichts anderes übrig“, entgegnete Rocco, der ebenso wenig begeistert war wie Summer. Bryce hingegen nahm alles mit einer ihm eigenen Leichtigkeit und versuchte das Beste daraus zu machen, indem er sich nun bereits die vierte Tasse Kaffee einschenkte und in einem Zug leerte.

„Junkie“, kommentierte Summer sein Verhalten und schmierte sich Tamot-Eipfel-Marmelade über das Frischkäsebrötchen, in das sie daraufhin herzhaft hineinbiss. „Die Marmelade ist echt köstlich. Ich glaube, ich könnte den halben Hofladen leerkaufen.“

„Das höre ich gerne.“ Clarissa lächelte zwar, machte aber dennoch einen besorgten Eindruck und verschwand ohne weiteres Aufsehen wieder in der Küche, aus der kurz darauf das Geklapper von Geschirr und das Rauschen des Wasserhahns ertönten.

Sophie, die von ihrem Essen bisher kaum einen Bissen genommen hatte, wirkte hingegen entspannter. Wahrscheinlich störte sie sich nicht daran hier offiziell festzusitzen, während ihr Schwarm Joren aktuell mit der Hufpflege der Mähikel beschäftigt war und ihnen bei jeder Mahlzeit Gesellschaft leistete. „Ich werde einen Spaziergang machen“, kündigte sie überflüssigerweise an, nahm ihr Brötchen mit und verschwand über den Flur nach draußen.

„Und ich verpisse mich. Keinen Bock hier rumzuhängen.“ Der Junge, mit dem Rocco am Vorabend Karten gespielt hatte, schnitt eine Grimasse und grinste überlegen. „Zahlt sich also doch aus, dass ich meinem Kramshef Fliegen beigebracht habe.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich und machte den Eindruck, dass er gar nicht schnell genug von der Farm verschwinden konnte.

„Und was machen wir?“, erkundigte sich Bryce nun, während er erneut zur Kaffeekanne langte und enttäuscht feststellen musste, dass sie leer war.

Rocco ließ sich zu einem schiefen Lächeln hinreißen. „Ein bisschen Unterricht in Sachen Pokémonpflege kann gerade dir nicht schaden.“

„War ja klar, dass ausgerechnet du dir so einen Kommentar nicht verkneifen kannst.“ Summer aß die Reste ihres Brötchens auf, trank den Kakao aus und begab sich eine halbe Stunde später mit Bryce und Rocco zu den Stallungen.

Der sintflutartige Regen hatte auch auf den Weiden der Farm seine Spuren hinterlassen. Clarissas Mann und Sohn besserten den aufgeschwemmten Holzzaun aus, während ihre Tochter die Mähikel auf die schlammige Wiese trieb. Als sie die drei Trainer näher kommen sah, winkte sie ihnen zu. „Die Mähikel brauchen das ungefilterte Sonnenlicht, um sich optimal entwickeln zu können. Deshalb lassen wir sie auch heute raus, obwohl sie knietief im Schlamm versinken. Das wird eine Arbeit, die kleinen Racker heute Nachmittag wieder sauber zu bekommen. Habt ihr zufällig ein paar Wasserpokémon?“ Summer nickte, musste aber im nächsten Augenblick ihre Zusage zurückziehen, weil ihr Jurob noch keine Wasserattacke beherrschte.

„War ja klar“, murmelte Rocco genervt.

„Macht nichts.“ Clarissas Tochter musste um die dreißig sein und war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, nur die grauen Haare waren bei ihr durch ein strahlendes Blond ersetzt. „Dann hat mein Octillery einfach etwas mehr zu tun.“

Gemeinsam trieben sie die letzten Mähikel aus dem Stall ins Freie. Während sich die Herde auf dem Gelände verteilte, erklärte Clarissas Tochter – sie hieß Clara – ihnen die Grundregeln der Mähikel-Pflege. Am Ende zeigte sie ihnen einige preisgekrönte Mähikel, die bereits kurz nach dem Schlüpfen oder zu späteren Zeitpunkten vom Züchterverband prämiert worden waren.

„Zweimal im Jahr gibt es ein Treffen für alle Farmer in Kalos. Jeder bringt einige seiner besten Exemplare mit und die, die Preise gewinne, erzielen später höhere Preise im Verkauf und bei der Zucht. Sehr ihr das große Mähikel dort hinten? Wir haben ihn Bull’s Eye genannt und er hat sämtliche Preise gewonnen, die es gibt. Für ein Mähikel ist er ziemlich groß und kräftig, sehr ihr? Eigentlich wollten wir ihn als Zuchtbock einsetzen, aber es hat sich herausgestellt, dass er steril ist.“ Clara wirkte sichtlich enttäuscht. „Schade, er hätte uns viel Geld einbringen können. Jetzt grast er die meiste Zeit, aber wir merken, dass er nicht glücklich ist. Irgendwann wird er wohl ein neues Zuhause bekommen.“

„Bull’s Eye.“ Summer betrachtete das Mähikel, dessen kräftige Muskulatur trotz des dichten Fells gut zu erkennen war. „Wow. Ein Prachtexemplar.“

„In der Tat.“

„Was werdet ihr mit ihm machen? Wenn er steril ist, wird ihn kaum eine andere Farm oder ein Züchter haben wollen oder?“

Clara nickte. „Da er einen sehr robusten Körperbau hat, nehmen wir an, dass er früher oder später an einen Trainer abgegeben wird, der ihn weiter aufzieht. Ich glaube, dass das genau das Richtige für ihn wäre.“

Noch bevor Summer ihren Gedanken aussprechen konnte, warfen sich Rocco und Bryce gleichzeitig einen Bitte-nicht-Blick zu, doch da war es auch schon zu spät. „Ich liebäugel sowieso mit einem Mähikel, weil es später zu Chevrumm wird. Was soll Bull’s Eye denn kosten?“

Clara blinzelte überrascht, dann lachte sie. „Na so ein Zufall aber auch. Das musst du mit meiner Mutter klären, sie macht die Geschäfte.“

Summer strahlte ganz begeistert, warf dem Mähikel einen letzten Blick zu und eilte zurück zum Hofladen, in dem sie Clarissa um diese Uhrzeit vermutete. Sie wollte Bull’s Eye unbedingt haben und ehe sie sich versah, waren die nötigen Papiere unterschrieben, ein Kaufvertrag aufgesetzt und Clarissa um sämtliches Restvermögen von Summer reicher. Mit einem ihrer eigenen Pokébälle kehrte Summer zur Herde zurück und stellte sich dem kräftigen, muskulösen, absolut hinreißenden Mähikel gegenüber … das sich auf wackeligen Beinen zu ihr umdrehte und ihr im nächsten Augenblick direkt vor die Füße kotzte.

Puder gegen Puder

21. November
 

- Summer -
 

Vor lauter Schreck tat Summer das Erstbeste und drückte auf den Knopf des Pokéballs, woraufhin Bull’s Eye mit einem schwachen „Mäh!“ eingezogen wurde. Nur kurz wackelte der Ball in ihrer Hand, dann blieb er ruhig liegen.

Gleichzeitig eilte Clara heran und dirigierte Summer sofort in einen abgegrenzten Bereich des großen Stalls, in dem sich Einzelboxen befanden. „Hier, lass ihn hier raus.“

Summer betätigte erneut den Knopf des Pokéballs und Bull’s Eye erschien auf dem mit Stroh ausgelegten Boden. Er schnupperte kurz daran, ließ sich dann nieder und schloss erschöpft die Augen. „Was ist mit ihm? Vor einer halben Stunde ging es ihm doch noch prächtig!“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Clara hatte die Stirn in Falten gelegt und tastete das Mähikel ab. Anschließend öffnete sie mit Gewalt sein Maul und atmete tief aus. „Seltsam.“

„Was?“

„Siehst du die violetten Verfärbungen? Das deutet auf eine Vergiftung hin und anhand der Puderrückstände um sein Maul tippe ich auf giftige Sporen, nur frage ich mich, wo er die gefunden hat. Die wilden Pokémon meiden unsere Farm und Angriffe von Giftpokémon sind noch nie vorgekommen.“

„Außerdem sieht es so aus als hätte er etwas gefressen.“

Clara nickte. „Etwas, das mit dem Giftpuder belastet war. Aber auch das ist seltsam, denn das Gift verflüchtigt sich normalerweise spätestens nach wenigen Minuten. Wie gesagt, ein Angriff wäre uns sofort aufgefallen.“ Sie bettete den Kopf des Pflanzenpokémon auf dem Stroh und stand auf. „Warte hier, ich hole Gegengift aus unserem Medizinschrank.“

Einige Minuten später kehrte Clara zurück und flößte Bull’s Eye die Flüssigkeit ein, woraufhin das Pokémon sich schüttelte und die Zunge herausstreckte, ansonsten aber schnell einen besseren Eindruck machte. „Gegengift wird ebenfalls aus Giftpuder hergestellt“, erklärte Clara abwesend und tätschelte dem Mähikel die Flanke. „Puder gegen Puder sozusagen. Wenn du bei ihm bleibst, werde ich mich mal umschauen, wo der Racker sich vergiftet haben kann.“

„Mach das.“ Summer nickte Clara zu, setzte sich neben Bull’s Eye ins Stroh und streichelte seinen Kopf, was er sich mit einem zufriedenen Brummen gefallen ließ. „Du hast mir echt einen ganz schönen Schrecken eingejagt“, tadelte sie ihr neues Teammitglied. Welches Level es wohl hatte? Vielleicht wusste Clarissa mehr, sie würde sie beim Abendessen danach fragen. „Und ich finde deinen Namen zu lang, auch wenn er cool ist. Weißt du was? Ich werde dich Bully nennen. Oder doch Bull’s Eye? Ach, ich weiß nicht.“

Bull’s Eye reagierte mit einem erschöpften Gähnen, schloss die Augen und genoss einfach nur die volle Aufmerksamkeit seiner neuen Besitzerin.
 

Später am Mittag hatte sich der Himmel erneut zugezogen und alle waren damit beschäftigt die Herde zurück in den Stall zu treiben, was sich manche der Mähikel nicht zweimal sagen ließen und schon von alleine mit den Hufen scharrten, um vor dem aufziehenden Sturm rechtzeitig zurück im Trockenen zu sein. Der Prozess zog sich allerdings über fast zwei Stunden hin, da Claras Oktillery erst die Schlammschichten von den Beinen der anderen Pokémon entfernen musste. Gerade rechtzeitig schafften es auch die letzten Mähikel zurück in den Stall, dann gewitterte es in der Ferne und erste Regentropfen tropften herab.

„Konntest du etwas herausfinden?“, erkundigte sich Summer, die Clara erst jetzt abfangen konnte. Bull’s Eye ruhte bereits wieder in seinem Pokéball und bekam dort den restlichen Schlaf, der ihn vollkommen genesen lassen würde.

Clara wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Am Rand der Koppel habe ich einen etwa zwei Meter breiten Streifen entdeckt, auf dem mit haltbar gemachtem Giftpuder präpariertes Heu lag. Allerdings war es so vereinzelt, dass ich bezweifel, dass jemand unseren Pokémon schaden wollte.“

Summer zog die Augenbrauen zusammen. „Wieso sollte jemand absichtlich Heu mit Giftpuder präparieren?“

„Ich weiß es nicht.“ Claras Mundwinkel huschten für einen Moment nach unten. „Vielleicht hat einer der Züchter so etwas verloren und durch den Sturm letzte Nacht hat es sich verteilt und wurde bis zu uns geweht. Ich weiß es wirklich nicht. Keine Ahnung, ob Giftpokémon so etwas überhaupt zu fressen bekommen. Jedenfalls haben wir alles entsorgt und damit dürfte sich der Fall erledigt haben. Praktischerweise lag neben dem Zaun ein Stoffbeutel, in dem sich noch mehr von dem Zeug befand. Wie gesagt, ich denke, dass es jemand verloren hat.“

Summer war nicht ganz davon überzeugt, doch wenn Clara der Meinung war, dass das Thema damit beendet war, wollte sie auch nicht weiter nachfragen und ließ sie daher alleine. Stattdessen suchte sie Bryce, der zusammen mit Rocco im Aufenthaltsraum saß und den Fernseher im Hintergrund laufen ließ. Sie brachte die beiden auf den neusten Stand der Dinge und war erleichtert, als beide ebenfalls eine gewisse Skepsis äußerten.

„Bei dem Regenschauer gestern kann es nur ein Versehen gewesen sein, wenn alles so verstreut war“, fasste Bryce noch einmal zusammen und nippte an seinem Kaffeebecher. „Wenn jemand das mit Absicht gemacht hätte, hätte diese Person wohl eine Wetterlage gewählt, bei der die Mähikel auch draußen sind. Zumal sie nachts sowieso immer im Stall sind.“

„Klingt plausibel“, stimmte auch Rocco zu. „Aber ich wüsste nicht, dass Giftpokémon so etwas zu fressen bekommen. Da muss mehr dahinter stecken. Wofür braucht jemand vergiftetes Heu? Jedes Pokémon, das davon frisst – Stahl- und Gifttypen einmal ausgenommen –, wird automatisch vergiftet.“

„Wie in einem Pokémonkampf“, schlussfolgerte Summer.

Rocco nickte. „Nur, dass es nie zu einem Pokémonkampf gekommen ist.“

„Ich werde daraus nicht schlau“, sagte Bryce, stellte seinen Becher vor sich ab und massierte seine Schläfen. „Aber ist auch egal. Clara hat Recht, das Heu ist weg und den Mähikel kann nichts mehr passieren. Wer auch immer das vergiftete Heu in einem Stoffbeutel mit sich herumgetragen hat, war dumm genug, bei dem Scheißwetter von letzter Nacht vor die Tür gegangen zu sein.“

„Die Person muss ja nicht gegangen sein.“ Beide schauten zu Rocco, als er dies anmerkte. „Ich meine ja nur. Rein theoretisch kann die Person auch mit Fliegen unterwegs gewesen sein – fliegen und laufen dürfte bei dem Wetter letzte Nacht gleich gefährlich gewesen sein.“

Eigentlich wollte Summer noch länger darüber nachdenken, doch das Piepsen ihre ComDex lenkte sie ab. Eine Nachricht von Henry!

Hallo, wie geht es dir? Lange nichts mehr von dir gehört. Die Eröffnung ist gut gelaufen. Jeden Abend ist die Pizzeria voll besetzt. Kann mich nicht über zu wenig Arbeit beklagen. Schreib bald mal wieder. Henry

Oh je, das hatte sie vor lauter Action ganz vergessen! Beinahe schämte sie sich dafür, dass sie die Eröffnung von Henrys Restaurant vergessen hatte. Sie wollte sofort eine Antwort tippen, als eine zweite Nachricht eintraf, dieses Mal von ihrem Vater.

Summer, melde dich zu Hause. Deine Mutter kann es jetzt gut gebrauchen, deine Stimme zu hören.

Was zum …? Das klang seltsam. Augenblicklich rutschte Summer von einer Pobacke auf die andere, entschuldigte sich bei Rocco und Bryce und ging zu einem der Büroräume, in dem sich auch Telefone befanden. Keiner da, aber es störte wohl nicht, wenn sie nur kurz ein paar Minuten nach Finera telefonierte.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihre Mutter sich am anderen Ende meldete. „Mom? Ich bin es. Dad hat mir geschrieben, dass ich anrufen soll. Ist etwas passiert?“

Schweigen am anderen Ende, dann ein unterdrücktes Schluchzen. Oh Gott, weinte ihre Mutter etwa?

„Mom?“

„Schatz, Summer, Liebes …“ Tiefes Durchatmen. „Bibor ist gestorben.“

Es traf Summer wie ein Schlag in die Magengrube. Das Bibor ihrer Mutter, der Starter, mit dem ihre Mutter es einst bis zur den Liga-Kämpfen geschafft hatte, war verstorben? Es war schon alt und Käferpokémon hatten einen schnelleren Stoffwechsel, wodurch sie generell nicht so alt wurden wie andere Pokémon, aber … Aber … Das konnte doch nicht sein, nicht Bibor. Nicht der alte Freund, mit dem sie aufgewachsen war. Ihr traten die Tränen in die Augen. Bibor war tot.

Kalos Aktuell

21. November
 

- Summer -
 

Noch immer schwang der Schmerz in Summers Brust wie ein dumpfes Drücken mit. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie schlimm Bibors Tod für ihre Mutter Faith sein musste, immerhin hatte diese mit ihrem Starter einst alle acht Orden der Finera-Region erkämpft und an den Liga-Kämpfen teilgenommen. Darüber hinaus war Bibor an ihrer Seite gewesen, als sie es mit Team Dark aufgenommen hatte und nun … war Bibor tot. Summer selbst hatte das Käferpokémon als ruhigen Aufpasser in ihrer Kindheit erlebt und so manche Stunden alleine mit ihm verbracht. Sie seufzte – vermutlich zum tausendstens Mal – und schaute auf den Fernsehbildschirm, der im Aufenthaltsraum leicht flackerte.

Das Abendessen war vorbei, doch Sophie, Rocco, Bryce und sie hatten es sich in unterschiedlichen Ecken bequem gemacht und jeder vertrieb sich auf seine Weise die Zeit, wobei die anderen Summer nach dieser Nachricht in Ruhe gelassen hatten. Erst beim gemeinsamen Essen hatten sie wie durch eine stille Übereinkunft verbunden versucht, Summer auf andere Gedanken zu bringen.

„Die Nachrichten fangen gleich an. Schaltest du um?“

Summer zuckte zusammen, als Sophie auf einmal hinter ihr stand, dann nickte sie, angelte sich die Fernbedienung und schaltete von der schnulzigen Telenovela auf Kalos Eins, den Nachrichtensender. Gerade lief Werbung, doch von dem Jingle, der die Nachrichtensendung Kalos Aktuell ankündigte, angelockt, setzten sich auch Bryce und Rocco dazu.

Nachdem der Jingle geendet hatte, blendete die Kamera zuerst das schlichte Studio ein und dann den Nachrichtensprecher Jacques Morgenstern, der wohl eine Art Kalos-Berühmtheit war und eigene Fanseiten im Internet hatte. Sophie hatte ihnen erzählt, dass es in Illumina City sogar T-Shirts mit Aufdrucken wie Jacques ich will ein Kind von dir oder I ♥ Jacques zu kaufen gab.

Jacques Morgenstern lächelte breiter als jedes Gengar und trug einen blauen, glitzernden Anzug zu seinem strahlenden Zahnpastalächeln. „Guten Abend, Kalos!“ In einer perfekt einstudierten Bewegung warf er eine lose Haarsträhne zum Rest seiner leicht gegelten Haare zurück auf den Kopf. „Es ist der 21. November und heute haben wir Wettkämpfe, Weltneuheiten, Wetterkapriolen und wie immer wichtige News für ganz Kalos!“

Summer stellte sich vor, wie in genau diesem Augenblick die ersten Fangirls ohnmächtig vor ihrem Fernseher zusammenbrachen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Jacques Gesicht verschwand vom Bildschirm, stattdessen wurde ein Beitrag über Pokémonrennen eingespielt. Eine Außenreporterin stand neben einer schlanken, älteren Frau mit regenbogenfarbenen Haaren, die zu einem riesigen Bienenkorb auftoupiert waren. Anstatt auf den Inhalt der Worte zu achten, war Summer ganz fasziniert von dem Paradiesvogelaussehen der Frau, deren pinker Lippenstift das Outfit noch ein Stück mehr in Richtung Hölle verschob. Die verrückte, ältere Lady wurde mit Olga Kramshoff untertitelt. Passend zu ihrem Namen trug sie ein Familienwappen auf den Blazer gestickt, in dessen Mitte ein Kramshef abgebildet war.

„In meiner Funktion als Präsidentin des Verbands für Pokémonrennen sehe ich mich leider gezwungen wegen einer unerlaubten Agilität-Attacke eine sechsmonatige Sperre für Queen Sparkle und ihren Reiter Baron Jean de Buis zu verhängen.“ Wieder verzogen sich die knallpinken Lippen. Auf dem Bildschirm waren nun ein edles Gallopa mit einem miesepetrig dreinschauender Reiter zu sehen.

Summer zog fragend die Augenbrauen hoch. „Pokémonrennen sind doch nur was für die oberen Zehntausend, wieso wird darüber berichtet? Und was soll das mit der Sperre?“

Sogleich setzte Sophie sich aufrechter hin und begann selig zu lächeln. „Mag sein, dass sich nur die oberen Zehntausend diese Rennen überhaupt leisten können, aber hier in Kalos gibt es eine lange Tradition. Viele sparen das ganze Jahr über, um sich einmal eine Eintrittskarte zu einem der Rennen leisten zu können. Queen Sparkle hat in der letzten Saison mehr als die Hälfte aller Rennen gewonnen, das ist beinahe ein Rekord. Dementsprechend ist sie auch in dieser Saison Top-Favorit, aber offensichtlich muss ihr Reiter einen Fehler gemacht haben, sonst wäre es nicht zu der Agilität-Attacke gekommen. Bei den Pokémonrennen sind jegliche Attacken verboten. Einzig und alleine das richtige Training und die Pflege zählen. Nur Top-Züchter verschreiben sich der schwierigen Zucht von Renn-Pokémon, denn hier kommt es nicht nur auf bloße Verpaarung oder Vererbung von Zuchtattacken drauf an. Pokémon haben schon beim Schlüpfen eine festgelegte Veranlagung für ihre Werte, beispielsweise die Initiative. Top-Züchter beeinflussen diese Veranlagung durch langwierige Auswahlverfahren der Eltern, gezieltes Züchten und so weiter. Aus diesem Grund können ausgezeichnete Renn-Pokémon schnell extrem teuer sein.“

Mittlerweile war der Bericht über die Pokémonrennen fertig und es wurde über die noch immer andauernden Aufräumarbeiten auf Route 12 berichtet. Anschließend gab es einen Bericht über Mai Technologies, die auf einer Pressekonferenz den Prototyp ihrer neuen Heilmaschine vorstellten. Summer verzog augenblicklich das Gesicht, als Milena Mai vor die Kameras trat und ihre Weltneuheit in den Himmel lobte. Die Beta-Version war fertig und würde in den kommenden Tagen kostenfrei an alle Pokémoncenter des Landes geliefert werden. Und dann, als Summer ganz genau hinsah, konnte sie Rain im Hintergrund erkennen. Sie trug einen weißen Forscherkittel und ihre dunkelgrünen Haare waren mittlerweile einige Zentimeter länger als sonst. Ihr Gesicht hatte die zarte Sommerbräune verloren und war nun wieder bleich. Nur kurz war ihre Zwillingsschwester zu sehen, die ausdruckslos vor sich hingestarrt hatte, dann überschlug Jacques Morgenstern sich förmlich vor Begeisterung und nannte Mai Technologies einen Wohltäter. Kaum zu glauben, dass Milena Mai es geschafft hatte ihr Image von der rücksichtslosen Forscherin und Gründerin von Team Dark zur gesellschaftlich anerkannten Heiligen zu wandeln.

Summer starrte förmlich auf den Bildschirm. Rain, ihre Zwillingsschwester, arbeitete bei Mai Technologies? Das konnte nicht sein. Das musste ein Fehler sein. Ihre Mutter Faith hatte Team Dark zerschlagen, deren Gründerin und Oberhaupt Milena Mai gewesen war. Wenn Rain nun wirklich für sie arbeitete, war das Verrat an der ganzen Familie. Sie musste sich irren, das konnte nicht Rain gewesen sein.

Zuletzt schlug Jacques einen ernsteren Ton an und sein Lächeln war nicht mehr ganz so breit, als er in den letzten Beitrag einführte. Offensichtlich hatte es in den letzten zwei Tagen vermehrt Einbrüche in Polizeistationen gegeben. Jedes Mal waren die Kameras und Sicherheitsvorkehrungen für wenige Minuten ausgehebelt worden, was den Einbrechern gereicht hatte, um Personalakten und Verbrecherkarteien zu entwenden. Bislang fehlte noch jede Spur, es wurde aber davon ausgegangen, dass es sich um organisierte Profis handeln musste. Welchen Nutzen diese Diebstähle haben sollte, war ebenso ungeklärt, doch Officer Rocky mahnte zur Vorsicht und jegliche verdächtige Aktivitäten sollten gemeldet werden. Zuletzt gab es noch den Hinweis, dass die Wachpokémon der Polizeistationen kurz vor den Einbrüchen vergiftet oder anderweitig betäubt worden waren, sodass sie keinen Alarm schlagen konnten. Dann wünschte Jacques seinen Zuschauern einen schönen Abend und verwies auf das Abendprogramm von Kalos TV, dem Schwestersender.

Rocco und Bryce zogen sich zu einem Kartenspiel an den großen Esstisch zurück, Sophie vertiefte sich wieder in ihre Lektüre zur Pokémon-Zucht und Summer blieb starr mit einem bitteren Beigeschmack im Mund sitzen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, etwas Wichtiges direkt vor der Nase und trotzdem übersehen zu haben.

Fernsehen für Anfänger

21. November
 

Rain
 

Rain stieß einen lautlosen Seufzer aus, als die roten Lämpchen an den Kameras erloschen und die Pressekonferenz von Mai Technologies, die live im Fernsehen übertragen worden war, zu Ende ging. Milenas freundliches, gewinnendes Lächeln war ihrer stets ausdruckslosen Miene gewichen und sie sortierte die Aufzeichnungen vorne am Rednerpult.

Im Publikum saß die Pressesprecherin des Konzerns und klatschte, gemeinsam mit ihren beiden Assistenten, noch immer begeistert Beifall. „Milena, das war grandios! Die Betonung, die Mimik, die Gestik, einfach per-fekt. Sie sind ein solches Naturtalent!“

Milena Mai würdigte sie kaum eines Blickes und packte stattdessen alle Notizen zurück in eine Aktentasche, die ihr sogleich von einem der anderen Forscher abgenommen wurde. „Priscilla, sparen Sie sich ihr Lob.“ Nun wanderte Milenas Blick endlich zu der enthusiastischen Pressesprecherin, drückte aber mehr Abneigung als Begeisterung für die Schmeicheleien aus. „Lektion 1: Fernsehen für Anfänger. Es war lediglich ein Verkaufsgespräch, mehr nicht. Die Leute schalten ein, um das zu hören zu bekommen, was sie auch hören wollen. Wir liefern ihnen modernste Technik, Innovationen und das Gefühl von Sicherheit.“ Priscilla nickte eifrig und ihre Assistenten machten sich Notizen, während alle drei Milena aus dem Raum folgten.

Noch einmal seufzte Rain, dieses Mal allerdings nicht lautlos. Milena hatte so sachlich geklungen, so vollkommen war ihr kurzer Vortrag über die erfolgreichen Beta-Versionen der neuen Heilmaschinen, dass selbst bei Rain alle Zweifel an dem Produkt verschwunden waren, obwohl sie – genau wie einige andere Forscher – mitbekommen hatte, dass es zu Störungen im Betrieb gekommen war, wenn die Pokémon zu hohe Level hatten. Ob Milena wirklich alles behoben hatte?

Bei Arceus, wo kamen diese Zweifel auf einmal her? Camille hatte ihr schon den Kopf verdreht mit ihrer Skepsis. Natürlich hatte Milena alles repariert, die Fehler gefunden und ausgebessert. Andernfalls hätte sie die Heilmaschinen niemals zur landesweiten Testung zugelassen. Selbst in ihren Team-Dark-Zeiten war Milena gewissenhaft vorgegangen. Sie hatte damals fehlgeleitete Ziele und Wege gehabt, aber sie war immer eine exzellente Wissenschaftlerin gewesen, daran bestand kein Zweifel.

„Hey, Rain, kommst du mit?“

Sie blinzelte und drehte sich um. Neben ihr standen zwei der jüngeren Forscher, die gerade erst ihr Studium beendet hatten und direkt aus dem Hörsaal von Mai Technologies abgeworben worden waren. „Wohin geht es denn?“ Die beiden waren die einzigen, die halbwegs in ihrem Alter waren und trotz ihrer ausgezeichneten Noten im Studium Reagenzgläser putzen mussten, so wie Rain auch. Aus diesem Grund verstand sie sich mit den beiden am besten und hatte bei ihnen nicht das Gefühl, dass sie hinter ihrem Rücken tratschten, welches besondere Interesse Milena an ihr hatte. Dass die älteren Forscher ihr zum Teil missgünstig gegenüber standen, war ein offenes Geheimnis, doch niemand wagte es Milena direkt danach zu fragen.

Hans, der größere von beiden, zuckte lächelnd mit den Schultern. Er war schlank, beinahe schlaksig, hatte kurzes, hellblondes Haar und wirkte in seinem etwas zu weiten Laborkittel wie ein Schuljunge. „Wir wollten noch eine kurze Runde auf dem Sportplatz drehen. Unser letzter Übungskampf ist auch schon eine ganze Weile her. Komm doch mit.“

Der andere Forscher, Werner, nickte begeistert und grinste sein breites Sonnyboy-Grinsen. Trotz der Arbeit im Labor war er braun gebrannt und wirkte mit seiner Glatze und der Statur eines Bodybuilders irgendwie fehl am Platz. Er war einen Kopf kleiner als Hans, doch entgegen jeglicher Vorurteile hatte er ein sanftes Gemüt und Hände von der Zartheit purer Seide. Rain hatte ihn schon länger nach seiner Handcreme fragen wollen. „Lektrobal und Ohrdoch freuen sich bestimmt, wenn sie wieder gegen Ninja antreten dürfen.“

„Ich weiß nicht so ganz.“ Rain drehte eine ihrer dunkelgrünen Haarsträhnen zwischen Zeigefinger und Daumen. Früher waren ihre Haare nie länger als bis zum Kinn gewesen, mittlerweile gingen sie ihr fast bis zur Schulter. Die Wahrheit war, dass sie Ninja noch immer keine Befehle geben konnte, denn ihr Pokémon hatte seit seiner erzwungenen Entwicklung das Vertrauen in sie verloren.

Als hätte Werner ihre Zweifel erraten, gab er ihr einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. „Na komm schon. Es wird nicht besser, wenn du Ninja keine Chance gibst.“

„Also gut.“ Rain rang sich ein Lächeln ab und gemeinsam gingen sie zu den Umkleidekabinen. Nachdem sie die Laborkittel und weiße Kleidung, die an Krankenhäuser erinnerte, abgelegt und ihre normale Kleidung angezogen hatten, trafen sie sich am Fahrstuhl und es ging abwärts.

Glücklicherweise hatten Hans und Werner sie erst nach Froxys Entwicklung zu Quajutsu zum ersten Mal zum Training eingeladen, deshalb wussten sie nichts von der ganzen Geschichte. Für sie war Rain einfach nur eine Trainerin, die keine Kontrolle über ihr voll entwickeltes Pokémon hatte, das in ihren Augen nicht mit voller Kraft kämpfte. Wenn sie nur wüssten, dass Ninja sein Bestes gab, aber eigentlich einen zu geringen Level für ein Quajutsu hatte.

Unweit des Geländes gab es eine Schule, deren Sportplatz nach Schulschluss der Öffentlichkeit zur Verfügung stand. Hans entließ sein Lektrobal, das begeistert im Kreis rollte, und Werner schickte sein Ohrdoch zu einem Dauerlauf, dem er sich nach der ersten Runde anschloss.

Ganz so viel Sportgeist besaß Rain nicht, weshalb sie sich darauf beschränkte Ninja aus seinem Pokéball zu entlassen und zuzusehen, wie es mit Lektrobal Fangen spielte, wobei beide Pokémon in einen spielerischen Kampf verfielen und sich gegenseitig mit ihren Attacken neckten.

„Du solltest dich mehr mit ihm beschäftigen, Rain.“

„Ich weiß, aber wie soll ich das machen? Zwischen der ganzen Arbeit, dem Putzdienst im Labor und der wenigen Freizeit weiß ich nicht, wann ich das auch noch machen soll.“

Hans lächelte wissend. „Ist nicht einfach mit einem Pokémon, das weiß ich. Lektrobal hat sich nur entwickelt, weil ich mir jeden Tag wenigstens eine Viertelstunde Zeit für es nehme. Versuch das doch auch. Ihr müsst ja nicht gleich kämpfen, aber du könntest Ninja erzählen, wie dein Tag war, dann esst ihr gemeinsam in deinem Zimmer und gut ist. Vertrauen baut sich nicht von selbst auf, da musst du schon was für tun.“

„Ich weiß.“

Einen Moment schwieg Hans, dann kratzte er sich verlegen am Hinterkopf. „Weißt du, als Milena dich einfach ins Team geholt hat, haben wir uns alle gefragt, ob du so eine Art Wunderkind bist. Du bist erst sechzehn und sie gewährt dir freie Kost und Logis und lässt dich in ihrer Spitzenforschergruppe mitarbeiten. Als wir dann rausgefunden haben, dass du die Tochter von Faith Loraire bist, verstanden wir alle nur noch Bahnhof. Ist nicht böse gemeint, aber Werner und ich verstehen bis heute nicht, warum Milena ausgerechnet dich genommen hat. Jeden Tag bewerben sich mindestens ein Dutzend Leute für ein Praktikum, aber dich hat sie vom Fleck weg engagiert.“

Rain senkte ihren Blick. „Ich weiß es auch nicht genau. Vielleicht möchte sie mir zeigen, dass sie kein schlechter Mensch ist, so wie meine Mutter sie damals vor der ganzen Welt präsentiert hat.“

Hans nickte schwach. „Jeder von uns kennt natürlich die ganze Geschichte mit Team Dark. Milena war jung und ihr Genie ist auf den falschen Weg gekommen. Kann schon sein, dass das jetzt eine persönliche Sache zwischen ihr, deiner Mutter und dir ist. Aber ist auch eigentlich egal. Jetzt gehörst du zu uns.“ Grinsend stupste er Rain an. „Und wer weiß, vielleicht vollbringen wir zusammen etwas ganz Großes.“

„Das wäre schön.“ Ihr gefiel der Gedanke, dass sie Teil von etwas Bedeutendem werden konnte – etwas, das die Welt wirklich zu einem besseren Ort machte, so wie Milena es sich schon immer gewünscht hatte. Die Arbeit im Labor verlangte ihr viel ab und oft las sie nach Feierabend noch zwei oder drei Stunden in den Fachbüchern, um sich weiterzubilden und zu verstehen, was genau die Forscher eigentlich machten. Es war schwer und manchmal verzweifelte sie fast, musste sich alles von Hans und Werner erklären lassen, aber es machte ihr Spaß. Trotzdem hatte Hans Recht, wenn er sagte, dass sie sich mehr im Ninja kümmern musste. Ninja war noch immer ihr Pokémon und es war ihre Verantwortung, dass es Ninja gut ging.

In diesem Moment fasste Rain einen Entschluss. Gleich morgen würde sie das Training mit Ninja wieder aufnehmen und sie würde nicht aufgeben, bis das Vertrauen zwischen ihnen wieder hergestellt war.

Training für drei

24. November
 

- Rain -
 

„Wir fangen von vorne an.“ Rain schaute zu ihren drei Pokémon. Sie stand neben einem Tümpel gleich zu Beginn von Route 14, noch bevor der dichte, dunkle Wald und die Sümpfe begannen. Karpador schwamm in dem Tümpel seine Runden und wirkte glücklich, weil es endlich außerhalb seines Pokéballs war und noch dazu am Training teilnehmen durfte. Sofern das bei einem Fisch möglich war, sprang es mit stolzgeschwellter Brust immer wieder in die Höhe.

Ninja, das Quajutsu, genoss ebenfalls den Ausflug ins Freie, ignorierte Rain jedoch die meiste Zeit über und spritzte stattdessen Wasser auf Glumanda, das am Rand des Tümpels stand und nicht wusste, ob es Ninja angreifen oder das Wasser lieber meiden sollte.

Glumanda beherrschte drei Zuchtattacken, nämlich Läuterfeuer, Drachenpuls und Wutanfall, wie sie bereits herausgefunden hatte. Summers Glumanda dürfte dieselben Attacken beherrschen und wenn sie ihre Schwester das nächste Mal sah, würde sie sie zu einem Kampf der beiden Glumanda herausfordern. Sie zweifelte nicht daran, dass Summer sich wie immer kopfüber in das Training gestürzt hatte, aber es brauchte mehr, um ein Pokémon wirklich stärker werden zu lassen. Während Summer auf pure Körperkraft und Stärke der Attacken setzte, legte Rain auch Wert auf Geschicklichkeit, Schnelligkeit und statusverändernde Attacken. Nun, zumindest würde sie das, wenn sie ein passendes Pokémonteam hätte.

„Ninja, versuch es mit Aquawelle auf Karpador. Karpador, ausweichen.“ Wenn sie beide zusammen gegen wilde Pokémon kämpfen lassen könnte, würde auch Karpador leveln und irgendwann Tackle lernen, das war der Plan. Aber zuvor sollte es an seiner Körperbeherrschung und den Ausweichmanövern üben. Und dann – eines Tages – würde es sich zu Garados entwickeln. „Glumanda, versuch beide vom Rand aus mit Glut zu erwischen.“

Sie sah zu, wie ihre drei Pokémon eine Weile gegenseitig ihren Angriffen auswichen und stellte zufrieden fest, dass Ninja sich im Laufe des Tages zunehmend in ihrer Anwesenheit zu entspannen begann. Auch die bösen Blicke blieben aus, wobei es ihre Befehle immer noch hin und wieder missachtete und mit Ruckzuckhieb statt Aquawelle angriff. Das war jedoch ein Umstand, mit dem sie für den Anfang gut leben konnte.

In der Mittagszeit rief Rain ihre drei Pokémon in die Pokébälle zurück und machte sich auf den Rückweg in die Stadt. Ihr Magen knurrte, sie war durchgefroren und es hatte wieder zu regnen angefangen. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie Camille anschreiben und sich zum Mittagessen verabreden sollte, schob diesen Gedanken dann jedoch wieder zur Seite. Camille hatte ihr vorgeworfen, dass sie sich von Milena Mai einlullen ließ, dabei ging sie einfach nur ihrer Arbeit nach und hatte mit der obersten Chefin nicht mehr oder weniger zu tun als beispielsweise mit Hans und Werner.

Apropos Hans und Werner, die beiden hatten ihr gestern angeboten, dass sie ihre Pokémon als Trainingspartner zur Verfügung stellen würden. Vielleicht war ein richtiger Kampf gar keine schlechte Idee.

Rain eilte durch die Nordstadt, nahm einige kleine Gassen als Abkürzung und betrat das Gelände von Mai Technologies von der Rückseite aus. Zurück in ihrem kleinen Appartement wechselte sie die Kleidung, eilte in den Speisesaal und erwischte gerade noch die beiden Forscher, die bereits auf dem Rückweg zu ihrer Schicht waren.

„Gut, dass ich euch sehe!“

„Rain? Hast du nicht heute deinen freien Tag?“ Hans zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

„Ja, ich war draußen und habe mit meinen Pokémon trainiert. Steht euer Angebot noch, dass ich gegen Lektrobal und Ohrdoch kämpfen kann?“

Hans und Werner wechselten einen schnellen, kaum wahrnehmbaren Blick, der Rain jedoch nicht entgangen war. „Sorry, aber geht heute echt nicht“, antwortete Werner nach kurzem Zögern. „Ist nichts Persönliches, wir sind nur im Moment total bei der Arbeit eingespannt und müssen heute Abend noch weg.“

„Nächste Woche passt es besser“, ergänzte Hans und sein freundliches Lächeln stimmte Rain versöhnlich.

„Schade, aber da kann man wohl nichts machen.“

„Wir müssen dann auch wieder hoch.“

„Ja, kein Problem. Bis morgen!“

„Bis dann.“

Rain schaute den beiden noch einen Moment hinterher, dann erinnerte ihr Magenknurren sie daran, dass sie einen riesigen Hunger hatte, sodass sie zur Essensausgabe ging und sich für einen vegetarischen Nudelauflauf entschied. Als sie alleine an einem Tisch saß und im Essen stocherte, griff sie doch wieder zu dem ComDex in ihrer Hosentasche und wählte in der Kontaktübersicht Camille aus.

Mom

Dad

Summer

Henry

Camille

Eigentlich ganz schön mickrig. Summer hatte vor einigen Monaten, als sie noch zusammen durch Turfu gereist waren, jedem dahergelaufenen Trainer ihre ID gegeben. Mit den meisten hatte sie danach zwar nie wieder etwas zu tun gehabt, aber über mangelnde Kontakte konnte ihre Zwillingsschwester sich ganz sicher nicht beklagen.

Hey :-) Tut mir leid, dass wir uns gestritten haben. Treffen wir uns heute Abend zum Essen?

Rain wartete einige Minuten, hatte aber immer noch keine Antwort, als sie mit ihrem Auflauf fertig war. Vielleicht hatte Camille den Benachrichtigungston ausgestellt oder war gerade einfach nur beschäftigt? Oder sie hatte ihren ComDex nicht dabei, das kam auch manchmal vor, denn nicht jeder war wie Summer und schleppte das Teil Tag und Nacht mit sich rum. Selbst Rain ließ ihren ComDex tagsüber auf dem Nachttisch liegen und schaute nur abends und morgens nach, ob ihr jemand geschrieben hatte, was meistens nicht der Fall war. Zu diesen Gelegenheiten kontrollierte sie den Trainingsfortschritt und ließ sich den aktuellen Level ihrer Pokémon anzeigen. Quajutsu und Glumanda waren beide gleichauf auf Level 15, Karpador auf Level 8. Rain fand es erstaunlich, dass Karpador trotz des fehlenden Trainings überhaupt drei Level auf eigene Faust aufgestiegen war. Offensichtlich war es ein kleiner Kämpfer und wollte ihr oder sich selbst beweisen, dass es wert war trainiert zu werden. Noch ein oder zwei Tage Training, dann würde sich Glumanda zu Glutexo entwickeln. Ob Summer wohl schon ein Glutexo hatte? Mit Sicherheit.

Den restlichen Tag verbrachte Rain in der Hausbibliothek von Mai Technologies, um sich weiter über die Arbeit an den Heilmaschinen zu informieren. Dabei war sie über ein Buch zum Thema Heilpokémon und Heilattacken gestolpert, hatte sich in dem Kapitel über Ohrdoch fest gelesen – Werner besaß immerhin auch eins – und ehe sie sich versah, war es Zeit zum Schlafengehen.

Im Bett kontrollierte sie ein letztes Mal ihren ComDex. Keine neuen Nachrichten. Wieso hatte Camille nicht geantwortet? Konnte es sein, dass sie sie wirklich vor den Kopf gestoßen hatte? Offensichtlich musste sie sich eine Entschuldigung einfallen lassen, am besten eine mit ganz viel Schokolade.

Hoch Yvonne

25. November
 

- Rain -
 

Es war ein ruhiger Arbeitstag im Labor und Rain wartete sehnsüchtig auf den Feierabend, um vor dem Abendessen noch ein oder zwei Stunden mit ihren Pokémon außerhalb von Illumina City trainieren zu können. Sobald Glumanda sich entwickelt hatte, würde sie sich in den Gassen der Stadt ein paar Trainer suchen, gegen die sie kämpfen konnte, denn das war weitaus effektiver als der ewige Kampf gegen die schwächeren Pokémon auf den Routen, die manchmal einfach davonliefen.

Kurz vor Feierabend hörte sie das leise Piepen des ComDex, den sie ausnahmsweise in ihren Laborkittel geschmuggelt hatte. Erschrocken zuckte sie zusammen, drehte den anderen Forschern dann den Rücken zu und holte den ComDex heraus. Eine Nachricht von Camille, na endlich!

Können uns heute zum Abendessen im Café Bataille treffen. Bin um 19 Uhr da.

Gut, das klang wirklich ziemlich reserviert, aber immerhin hatte Camille ihr Schweigen gebrochen und wollte sich wieder mit Rain treffen, was diese zufrieden zur Kenntnis nahm. Schnell tippte sie ein Alles klar, bis 19 Uhr. und widmete sich wieder den Reagenzgläsern. Den ganzen Tag hatte sie aufgeräumt, Oberflächen abgewischt und war nun damit beschäftigt die verschiedenen Lösungen auf ihren pH-Gehalt zu testen. Noch immer banden die anderen Forscher sie nicht in die richtigen Experimente und Aufgaben mit ein, aber man grüßte sie höflich, wenn sie zur Arbeit kam und wieder ging, was wohl ein Fortschritt war. Milena hatte sie in den letzten Tagen nicht zu Gesicht bekommen, aber sie hatte mitbekommen, dass diese die Präsentation der neuen Heilmaschinen vorbereitete und daher sehr beschäftigt war.

Eine gefühlte Ewigkeit später begann sich das Labor zu leeren, bis nur noch Rain und zwei leitende Laboranten anwesend waren. Die beiden nickten ihr zu und schickten sie in den Feierabend, woraufhin sie in ihr Appartement eilte, sich umzog, den Trainergürtel anlegte und mit dem Aufzug nach unten fuhr. Draußen nieselte es zwar, aber der Sintflutregen hatte aufgehört. Vielleicht klarte es in den nächsten Tagen komplett auf? Sie musste unbedingt den nächsten Wetterbericht sehen.

Da das Hochhaus von Mai Technologies in der Weststadt nahe des Übergangs von Nordring zu Südring lag, hatte sie es nicht weit. Rain investierte einen Teil ihres Gehalts in ein Taxi, um noch pünktlich zu kommen, und fand sich nur eine Viertelstunde später vor dem Café mit der türkisfarbenen Fassade wieder.

Camille saß ziemlich weit hinten, winkte Rain aber zu, als sie sie erblickte. 19:07 Uhr. „Tut mir leid für die Verspätung, ich konnte nicht früher aus dem Labor weg.“

„Schon okay.“ Camille hatte, wie so gut wie immer, eine dampfende Tasse Kakao zwischen den Händen und nahm einen Schluck.

„Ich … also …“, begann Rain zögerlich, zog Jacke und Schal aus und schnappte sich die Speisekarte. Die meisten Cafés boten zwar warme Snacks und Fingerfood an, aber nicht die Auswahl, die es in einem richtigen Restaurant gab. „Ich hatte dir gestern schon geschrieben.“

„Jupp.“ Camille grinste schief.

„War … der Akku von deinem ComDex leer?“

„Nope.“ Einige Sekunden hielt Camille das Spielchen noch durch, dann war sie wieder ganz die Alte. „Ich war sauer auf dich, weil du dich so auf Milena Mai eingeschossen hast – also dass sie jetzt zu den Guten gehört und so. Ist auch egal, jetzt ist wieder alles gut.“ Sie nahm sich ebenfalls eine der Speisekarten und blätterte darin herum, obwohl Rain vermutete, dass sie dies bereits in der Wartezeit getan hatte. „Weißt du schon, was du nimmst?“

Rain ließ ihren Blick flüchtig über den Abschnitt über Fingerfood und kleine, warme Gerichte gleiten. „Ich denke, ich nehme einen Salat mit warmen Beeren und gebackenem Käse. Und du?“

„Überbackene Käsenachos und ein Stück Schokoladenkuchen.“

„Kuchen? Ich dachte, wir wollten Abendessen.“

„Hey, Kuchen geht immer, besonders mit Schokolade“, antwortete Camille feixend und erntete dafür einen neidischen Blick. Obwohl sie Schokolade zu ihren Grundnahrungsmitteln zählte, war sie schlank. Ob das daran lag, dass sie als angehende Archäologin ständig auf den Beinen war?

Die beiden bestellten und erhielten schon wenige Minuten später ihre Gerichte. Camille zupfte einzelne Nachos aus dem großen Käseklumpen, wobei sich lange Fäden bildeten. Rain piekte die warmen Beeren mit der Gabel auf, schnitt sich dazu ein Stück Käse ab und vermischte alles mit den klein geschnittenen Salatblättern. Eine Weile schwiegen sie, dann kam das Gespräch wieder in Gang.

„Wie läuft es mit Ninja?“

„Es wird von Tag zu Tag, an dem wir trainieren, besser. Noch macht es nicht, was ich sage, aber es ignoriert mich nicht mehr und starrt mich auch nicht mehr so vorwurfsvoll an. Ich glaube, es kommt langsam besser mit seinem entwickelten Körper klar.“

Camille nickte. „Wenn du einen Kampf willst, sagst Bescheid. Wolli hat das Kämpfen nicht nötig, aber ich muss Marino und Flix beschäftigen.“

„Wie lange bleiben die beiden bei dir?“

Nachdenklich zuckte Camille mit den Schultern. „Mindestens ein halbes Jahr. Die Aufzucht von Fossilpokémon erfordert Zeit und Geduld, die mein Vater und seine Kollegen nicht haben. Danach schauen wir dann, ob wir sie an einen verantwortungsvollen Trainer abgeben oder sie bei mir bleiben – ich hoffe natürlich auf letzteres, aber die Entscheidung liegt nicht bei mir.“

Es musste ein komisches Gefühl sein, wenn man seine Pokémon nur auf Zeit hatte. Sie plauderten während des Essens noch über dieses und jenes, aber als der Wetterbericht im Fernsehen kam, verstummten beide und schauten zu dem Bildschirm in der Ecke des Cafés.

„Wohlig-warme Wintertage stehen uns bevor“, trällerte die stets gut gelaunte Wettermoderatorin. „Hoch Yvonne vertreibt die letzten Ausläufer von Tief Engelbert aus Kalos weg und bringt warme Meeresluft aus dem Süden mit sich. Bis Ende des Monats ist mit Temperaturen um die zwanzig Grad zu rechnen. Doch die Freude währt nicht lange, verehrte Zuschauer. Hoch Zamantha rückt bereits aus dem kühlen Nordosten an und drückt dabei eine Kaltluftfront vor sich her. Die Ankunft von Zamantha wird für den 1. Dezember erwartet. Ab diesem Zeitpunkt ist durch das Aufeinanderprallen von Zamantha und Yvonne mit Unwettern und eventuell Minusgraden zu rechnen. Genießen Sie die sonnigen Tage, wappnen Sie sich gegen die Kälte und freuen Sie sich gemeinsam mit mir auf die Weih-nachts-zeit!“ Das letzte Wort stieß die Frau im Singsang aus und strahlte dabei mit ihren schneeweißen Zähnen in die Kamera.

„Verrückt“, murmelte Camille und zog dabei die Augenbrauen hoch. „Erst kriegen wir Ende November zwanzig Grad und dann soll es sich innerhalb von ein bis zwei Tagen auf unter null abkühlen? Zum Glück bin ich nicht wetterfühlig.“

„Das Wetter ist wirklich unberechenbar. Vielleicht ist das in Kalos normal.“

„Eigentlich nicht.“ Sie verzog das Gesicht. „Wer weiß, was da vor sich geht.“

Neugierig blickte Rain sie an. „Wie meinst du das denn?“

„Na ja“, begann Camille gedehnt, fuhr dann aber unbeirrt fort. „Sagt man den Legendären Pokémon nicht nach, dass ihre Kräfte das Wetter beeinflussen können?“

Rain nickte leicht. „Schon, aber doch nicht hier in Kalos. Weder Xerneas noch Yveltal oder Zygarde haben diese Macht.“

„Seltsam ist es aber schon, dass ausgerechnet in Kalos ständig irgendwelche Wetterfronten aufeinanderstoßen und dann gleich diese Wetterextreme verursachen.“ Nach kurzer Pause musste Camille schmunzeln. „Ich sag’s dir, wir liegen Weihnachten am Strand und nächsten Sommer schneit es.“

Daraufhin mussten beide lachen, bezahlten ihr Essen und gingen nach draußen, wo zwischenzeitlich auch der Nieselregen aufgehört hatte. Gemeinsam schlenderten sie über den Nordring, der bereits an vielen Ecken weihnachtlich dekoriert war. Rain dachte an ihre Eltern in Finera. Die beiden erwarteten mit Sicherheit, dass Summer und sie über die Feiertage nach Hause kamen.

„Ich würde dein Angebot für einen Trainingskampf gerne annehmen“, sagte Rain nach einer Weile. „Glumanda steht kurz vor seiner Entwicklung, das würde ich gerne bald erledigt haben.“

„Passt es dir morgen?“

„Ja, da habe ich Frühschicht. Wir könnten uns so gegen fünfzehn Uhr auf Route 14 treffen.“

„Okay, dann machen wir das so. Keine Sorge, ich nehme dich auch nicht zu hart ran.“

„Hey!“ Gespielt empört boxte Rain ihrer Freundin gegen den Oberarm.

Als die Menschenmassen dichter wurden, wichen sie auf die schmalen, aber dafür leeren Gassen aus. Es roch nach Müll und die dreckigen Rückwände der Häuser passten so gar nicht zu dem Bild der strahlenden Metropole, das Illumina City für die Touristen bot.

„Weißt du, wo wir jetzt sind?“

„Nicht genau“, gab Camille zu und lugte um diverse Ecke, als sie an einer Kreuzung der Gassen ankamen. „Ich denke, wir müssten noch immer parallel zum Nordring sein.“ Dann schnupperte sie in die Luft. „Riechst du das? Fett und Gebratenes. Wir könnten in der Nähe vom Pokémoncenter sein, da müsste jetzt das Abendbuffet serviert werden.“

„Stimmt, das kommt hin. Hier lang?“

Camille zuckte mit den Schultern. „Folgen wir dem Geruch.“

Rain ging voraus, dicht gefolgt von Camille. Sie bogen um einige Ecken und erreichten dann einen nahezu quadratischen Hinterhof, der tatsächlich zum Pokémoncenter gehörte. Aus der Lüftung an der Rückwand kamen die Gerüche aus der Küche. Ihnen gegenüber parkte ein dunkler Kleintransporter. „Mist, hier kommen wir nicht weiter. Der versperrt die komplette Gasse.“

„Aber parken kann er“, stellte Camille anerkennend fest. „Das sind doch höchstens zehn Zentimeter, die zu jeder Seite noch Platz sind.“

Aus dem Inneren des Pokémoncenters drang ein Rumpeln nach draußen, dann rieselte feines Puder durch die Lüftung nach draußen.

„Was zum …“

Rain reagierte instinktiv und zog Camille hinter einen der beiden großen Müllcontainer. Keine fünf Sekunden später war ein Lichtblitz zu sehen, dem folgte ein dumpfer Knall und die Tür zum Hinterhof wurde aus den Angeln gerissen.

Eine riesige Staubwolke legte sich über den gesamten Hinterhof.

Camille und Rain husteten beide unterdrückt in ihre Schals. Vorsichtig lugten sie um die Ecke und entdeckten eine in Schwarz gekleidete Gestalt mit Skimaske. Ein roter Lichtstrahl – ein Pokémon? Dann ging eine warme, pulsierende Welle von den schemenhaften Gestalten aus. Zwei rote Lichtblitze wurden zurück in Pokébälle gezogen.

Die Gestalt eilte zum Kleintransporter, riss die Heckklappe auf und verschwand im Inneren. Gleichzeitig ging der schrille Alarm des Pokémoncenters los.

„Der hat da eingebrochen!“, quiekte Camille erschrocken. „Was sollen wir tun?“

„Hinterher.“

„Was?“ Erschrocken riss Camille die Augen auf. „Nein, Rain! Das ist viel zu gefährlich!“

Der Motor wurde gestartet.

„Schnell, der ist gleich weg und die Heckklappe ist nicht verschlossen. In Illumina City findet man den Einbrecher doch niemals wieder!“ Rain rannte herüber zu dem Fahrzeug, eine Hand am Trainergürtel, die andere am Verschluss der Tür zum Laderaum. Sie öffnete die Tür in genau dem Moment, in dem sich der Wagen ruckelnd in Bewegung setzte.

Rain sprang ins Innere, stieß dabei gegen eine Metallkiste und winkte Camille panisch zu sich. Sie sah das ängstliche Zögern in Camilles Augen, dann war auch sie im Inneren. Vom Laderaum aus ging eine Luke zum Fahrerbereich, die nun aber geschlossen war. Der Einbrecher musste durch die Luke nach vorne geklettert sein, um den Wagen zu starten.

„Und was jetzt?“, flüsterte Camille und klammerte sich an Rain fest.

„Du nimmst Elfun, ich Glumanda und dann zerlegen wir den Wagen von hier drinnen in seine Einzelteile. Wir sind zu zweit, der Einbrecher alleine.“

„Ich glaube nicht, dass jemand so etwas alleine durchzieht.“

Rain musste ihr gedanklich zustimmen, doch sie hatten keine Zeit. Die Explosion. Ein Heilpokémon. Irgendwo tief in ihr schrillten die Alarmglocken. „Wenn es doch nur nicht so verdammt dunkel hier drinnen wäre!“, fluchte sie.

Schräg hinter ihnen rumpelte etwas. Ein Feuerzeug ging an. „Licht gefällig?“

Noch bevor eine von ihnen schreien oder etwas machen konnte, stieg ihnen ein schwerer, kribbelnder Geruch in die Nase. Feines Puder legte sich über ihre Gesichter.

Rain hustete, atmete schwer, sank zu Boden. Dann kam die Dunkelheit.

Team Darks Rückkehr

26. November
 

- Rain -
 

Weihnachtsmusik im Hintergrund. Lebkuchengeruch. Rain öffnete die Augen. Ihre Nase brannte und ihr war ein wenig schwindelig, aber sie konnte sich aufsetzen. Was war geschehen? Der Einbruch ins Pokémoncenter. Der Lieferwagen. Langsam kehrten die Erinnerungen zurück. Camille … Camille!

Panisch sah sie sich um und entdeckte ihre Freundin neben sich. Camille lehnte an der Wand des Transporters, atmete ruhig und gleichmäßig, die Augen waren geschlossen.

„Camille?“ Rain robbte zu ihr, kniete sich hin und stupste Camille an. Diese kniff die Augen noch fester zusammen, dann öffnete sie sie und gähnte. Der Moment der Erkenntnis kam zusammen mit der Angst.

„Scheiße! Wo sind wir?“

„Noch immer im Inneren des Transporters“, antwortete Rain. „Aber soweit ich das erkennen kann, ist er jetzt leer.“

„Wir fahren auch nicht mehr“, sagte Camille hastig und griff an ihre Hüfte. „Der Trainergürtel ist noch da.“

Rain tat es ihr gleich. „Meiner auch. Die Einbrecher waren zu zweit, einer hat uns hier hinten total überrumpelt.“

„Das war die bescheuertste Idee, die du jemals hattest!“, fauchte die Braunhaarige wütend, atmete aber sofort tief durch. „Aber welche Einbrecher lassen uns einfach so im Tatfahrzeug zurück und nehmen uns nicht einmal die Pokébälle ab?“

Rain verzog das Gesicht. „Ich sage es nur ungerne, aber ich habe einen Verdacht. Lass uns erstmal hier raus.“

Zusammen tasteten sie sich bis zur Tür vor, die sich problemlos von innen öffnen ließ.

Licht schlug ihnen entgegen, die Musik war nun lauter zu hören und Zimt mischte sich unter das Lebkuchenaroma der Luft.

Kaum standen sie außerhalb des Fahrzeugs, erkannten sie, dass es sich um eine Art Tiefgarage handeln musste. An einem lang gezogenen Metalltisch standen verschiedene Metallboxen. Auf dem Tisch lagen Patientenakten aus dem Pokémoncenter auf unterschiedliche Stapel verteilt. Die Musik kam aus einem alten Radio in der Ecke.

„Rain …“

„Wusste ich’s doch“, zischte die Angesprochene, wirbelte herum und einen Herzschlag später standen bereits Quajutsu und Glumanda vor ihr. „Werner.“ Misstrauisch sah sie ihren Kollegen an, der noch in der schwarzen Kleidung aus einer Tür trat. Neben ihm lief – elegant wie immer – sein Ohrdoch. Direkt dahinter rollte Hans‘ Lektrobal herein. „Lass mich raten: Hans ist auch irgendwo hier.“

Betreten knetete Werner seine Finger. „Er ist drüben und packt alles zusammen. Oh mann, ey. Rain. Du hast mir so einen tierischen Schrecken eingejagt, als du auf einmal in den Lieferwagen gesprungen bist. Ausgerechnet du.“

„Du kennst die beiden Einbrecher?“, fragte Camille aus dem Hintergrund. Wolli befand sich nun ebenfalls außerhalb seines Pokéballs und warf Werner böse Blicke zu, wobei es drohend die flauschige Pfote durch die Luft schwenkte.

„Hans und Werner sind Kollegen im Labor.“ Rain ließ ihren Blick über die Akten wandern, dann zurück zum Lieferwagen und wieder zum Tisch. Auf einer der Boxen war ein großes „D“ eingraviert. Ihr wurde wieder schwindelig. „Wenn ich eins und eins zusammenzähle, kann das nur eines bedeuten.“

„Es ist wirklich nicht so, wie du denkst“, sprach Werner hastig, brach jedoch ab, als Hans hinter ihm den Raum betrat.

„Dann stimmt es also, dass Team Dark zurückgekehrt ist.“ Rain holte einmal tief Luft. „Und ihr beide gehört zu diesem kriminellen Pack.“

„Fuuun!“ Camille packte Wolli und hatte größte Mühe ihr Pokémon davon abzuhalten sich auf Ohrdoch und Lektrobal zu stürzen.

Schnell überschlug Rain die Lage. Sie wusste, dass die Pokémon von Hans und Werner definitiv stärker waren als ihre. Finale und Heilwoge wurden jeweils auf Level 35 erlernt, aber sie schätzte, dass Ohrdoch und Lektrobal mindestens auf Level 40 waren. Camilles Elfun war Ende der 30er und konnte es vielleicht mit einem der beiden aufnehmen, aber nicht mit beiden gleichzeitig. Amarino und Flapteryx waren noch jung, höchstens Level 10. Rains Pokémon waren beide auf Level 15, Karpador kam wegen der Umgebung und des Levels ohnehin nicht in Frage. Das Ergebnis ihrer Analyse war ernüchternd: Sie hatten keine Chance. Lektrobal musste nur Finale einsetzen und sie wären gefangen, wenn nicht sogar schwer verletzt.

„Warum arbeitet ihr für Team Dark? Was bieten die euch, was ihr nicht auch so haben könnt?“

„Rain, bitte …“ Werner schaute hilflos zu Hans. „Erklär du es ihr.“

Hans rückte seine Brille zurecht. „Zunächst muss ich mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen. Wir hatten nie vor, jemanden zu verletzen. Das Pudergemisch, mit dem wir alle im Pokémoncenter betäubt haben, ist nicht von uns. Als Werner euch hinten im Laderaum gestellt hat, sind seine Nerven durchgegangen, deshalb hat er euch ebenfalls betäubt. Wenn er dich nicht gekannt hätte, hätte er euch beide schon nach wenigen Sekunden wieder rausgeworfen.“

„Aber ich wollte dich nicht aus dem fahrenden Wagen schubsen“, fügte Werner hinzu. Er zog eine Packung Lebkuchen aus der schwarzen Manteltasche und kaute nervös darauf herum. Irgendwie war es lustig, wie seine großen Pranken das feine Gebäckstück hielten.

Rain nickte langsam, entspannte sich aber noch nicht. „Wie lange waren wir bewusstlos?“

„Etwa sechs Stunden. War etwas viel Puder auf einmal.“ Werner stopfte sich noch einen Lebkuchen in den Mund.

Dann übernahm Hans wieder das Wort. „Es stimmt, wir arbeiten für Team Dark und sind an der Einbruchsserie der letzten Zeit beteiligt. Aber wir sind keine schlechten Menschen. Rain, das musst du uns glauben.“

„Fällt mir gerade etwas schwer.“ Sie funkelte nun Hans böse an. „Meine Eltern haben beide gegen Team Dark gekämpft. Ich kenne die Geschichten aus erster Hand.“

Camille nickte bekräftigend. „Außerdem ist absolut nichts Gutes an diesen Ganoven. Sie haben Pokémon gestohlen und an ihnen herumexperimentiert.“

„Aber so sind wir nicht“, erwiderte Hans. Sein blondes Haar stand wirr in alle Richtungen ab. „Wir sind nur dabei, weil wir Gerechtigkeit wollen.“

„Gerechtigkeit?“, fragten Rain und Camille aus einem Mund. „Lächerlich. Dann geh zur Polizei.“

„Das hat schon damals nichts gebracht.“ Hans wirkte zerknirscht. Seufzend lehnte er sich gegen den Tisch. „Damals, vor sechsundzwanzig Jahren, als Team Dark in Finera Angst und Schrecken verbreitet hat, war mein großer Bruder als Trainer in dieser Region unterwegs. Er war immer Held gewesen und wollte der beste Elektropokémontrainer aller Zeiten werden. Bei einem der Raubüberfälle von Team Dark detonierte eine Bombe. Er hatte sich vor ein kleines Mädchen geworfen, um sie zu schützen und war sofort tot.“ Hans schluckte und einen Moment lang glaubte Rain, dass der sonst so beherrschte und kühle Hans mit den Tränen kämpfte. „Nachdem Team Dark zerschlagen wurde, begannen die Ermittlungen, aber weder Joanna Joy, noch Milena Mai oder Caleb Frost konnte eine Beteiligung an diesem Anschlag nachgewiesen werden. Es gab eine radikale Splittergruppe innerhalb von Team Dark, die auf eigene Faust gehandelt hatte. Bis heute weiß niemand, wer dahinter steckte. Sicher ist nur, dass genau diese Drahtzieher von damals heute zurück sind, um Team Dark wiederauferstehen zu lassen. Sie wollen Milenas Experimente an den Legendären fortsetzen, allerdings nicht, um die Genetik zu erforschen und Erbkrankheiten zu heilen, sondern um die Gene der Legendären zu benutzen, damit sie sich nach Bedarf Superpokémon züchten können. Sie wollen Macht, mehr nicht.“

Camille schaute Rain fragend an und diese nickte ganz leicht. „Trotzdem hättet ihr mit diesen Informationen zu Officer Rocky gehen müssen.“

„Du verstehst das nicht! Es hat damals nichts gebracht, es wird heute nichts bringen. Als vor einigen Monaten die ersten Einbrüche verübt wurden, haben Werner und ich auf eigene Faust recherchiert, weil es mich sofort an damals erinnert hat. Wir haben uns beide anwerben lassen und stecken schon zu tief mit drin. Rain, wir haben Einbrüche verübt und wichtige Informationen gestohlen, alleine dafür werden wir ins Gefängnis kommen.“

„Wir haben das begonnen, also führen wir das auch zu Ende“, kommentierte Werner mit vollem Mund.

„Erschwerend kommt hinzu, dass Team Dark von irgendeinem hohen Tier gedeckt wird. Wir wissen nichts Genaues, aber nach den Überfällen sind immer die Aufnahmen der Sicherheitskameras verschwunden.“

„Die Kameras wurden ausgeschaltet.“ Hatte es jedenfalls in den Nachrichten geheißen.

Hans schüttelte den Kopf. „Nein. Die Aufnahmen wurden immer nachträglich gelöscht. Wir stehen noch ganz unten in der Hierarchie, deshalb wissen wir noch lange nicht, wer dahinter steckt. Aber wir werden weitermachen.“ Entschlossenheit machte sich in Hans‘ Gesicht breit. „Und es wird zu einem Problem, wenn du oder deine Freundin uns dabei in die Quere kommen.“

Augenblicklich versteifte Camille sich. „Was habt ihr mit uns vor?“

Werner stieß sich vom Tisch ab und legte die Lebkuchenpackung hin. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder teilt ihr fortan unser Geheimnis oder wir müssen euch aus dem Weg räumen.“

„Das würdet ihr nicht wagen“, sagte Rain, doch ihre Zuversicht sank.

„Wir nicht, aber in einer Stunde kommt der Kurier von Team Dark, um die Beute zu holen. Wenn der euch hier findet, wird er dafür sorgen, dass ihr niemanden etwas erzählen könnt.“

„Fuu! Fu, fuuuun!“

„Manda!“

„Jutsu!“

Die drei Pokémon zischten böse, verstummten aber, als sie Lektrobals tiefes Grollen wahrnahmen, was Rain nur in ihrer Vermutung bestärkte, dass sie in einem Pokémonkampf unterlegen sein würden.

Camille schwieg, kaute aber nervös auf ihrer Unterlippe. Rain kannte ihre Antwort; sie würde niemals billigen, dass man sich mit Team Dark einließ. Also lag es an Rain, eine Lösung zu finden.

„Also schön“, sagte sie schließlich und rief Glumanda und Quajustu zurück. „Ich verstehe, warum ihr bei Team Dark eingestiegen seid, aber so werdet ihr niemals herausfinden, wer dahinter steckt.“

Hellhörig geworden schaute Hans sie an. „Wieso?“

„Weil ich Itsuki Ito kenne, einen Freund meiner Mutter. Er hat damals genau dasselbe versucht und man hat ihn nie über die Tätigkeiten eines besseren Handlangers hinausgelassen. Wenn ihr Team Dark von innen heraus vernichten wollt, müsste ihr zu einem Kernstück Team Darks werden. Sofern ich das richtig einschätze, ist das neue Team Dark noch im Aufbau, daher stehen die Chancen gut, dass man sich schnell eine bessere Position erarbeiten kann. Aber diese Leute sind nicht dumm. Sie würden euch niemals in den inneren Kreis lassen, wenn sie euch nicht vollständig trauen.“

„Ich sage es nur ungerne, Hans, aber Rain könnte Recht haben.“ Unruhig schaute Werner zwischen den beiden hin und her. „Was sollen wir also tun?“

Rain erwiderte Hans‘ bohrenden Blick und ein Entschluss machte sich in ihr breit. Er schien zu verstehen, denn auch er zog auf einmal sein Ohrdoch in den Pokéball zurück. „Ich verstehe.“

„Ich nicht“, mischte sich Camille ein und packte Rain am Arm. „Was hast du vor?“

„Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass Milena Mai nichts mit dieser Sache zu tun hat.“

„Aber wir sind durch schwarze Briefumschläge im Labor von Team Dark kontaktiert worden“, gab Hans zu bedenken.

„Es ist nur logisch, dass ein erfahrener Forscher weit oben in der Hierarchie von Team Dark steht, aber nicht Milena.“ Ihr Herz begann schneller zu schlagen. „Und ich kann mich nur wiederholen: Wenn Team Dark von innen heraus vernichtet werden soll, muss man bis ins Herz von Team Dark vordringen.“

Hans nickte. „Bist du dabei?“

„Rain!“ Entsetzt ließ Camille sie los. „Das kannst du nicht ernst meinen! Rain, das … das … Wenn du das tust, will ich nichts damit zu tun haben!“

„Das musst du auch nicht“, sagte sie beschwichtigend und umfasste Camilles Schultern. „Aber ich brauche dich. Ich brauche ich außerhalb von Team Dark. Nur du und die beiden dürfen wissen, dass ich eine Spionin bin. Für den Notfall – falls etwas schief läuft.“

„Rain, bitte nicht …“ Tränen sammelten sich in Camilles Augen. „Ich weiß, dass du immer Teil von etwas Großem, Bedeutendem sein wolltest, aber das hier?!“

Die beiden Mädchen zogen sich in eine letzte, verzweifelte, hoffnungsvolle Umarmung. Als Rain sich von ihr löste, lächelte sie matt. „Eine bessere Chance kann ich nicht bekommen. Vielleicht ist das hier genau das, nach dem ich mich immer gesehnt habe. Egal, was in Zukunft passieren wird oder wie ich mich verhalten werde, eines darfst du bitte niemals vergessen: Ich bin eine von den Guten.“

Werner betätigte den Schalter für das elektrische Garagentor. Kalte Nachtluft wehte herein und das geöffnete Tor führte sie hinaus in eine enge Seitengasse, die aussah, als hätte man sie bereits seit Jahren vergessen. Irgendwo in weiter Ferne war der Lärm des Großstadttrubels zu hören.

„Noch kannst du dich umentscheiden“, flüsterte Camille, doch Rain schüttelte bestimmt mit dem Kopf. Schniefend drückte Camille Wolli eng an ihre Brust. „Wie kann ich dich finden und kontaktieren?“

„Gar nicht.“ Rain atmete tief durch, nun stiegen auch ihr die Tränen in die Augen. „Aber ich werde dich finden und kontaktieren, wenn es an der Zeit ist und ich deine Hilfe brauche. Zu deiner eigenen Sicherheit solltest du vorerst aus Illumina City verschwinden, bis sich hier alles geregelt hat. Und Camille?“

„Hm?“

„Danke.“ Ein ehrliches Lächeln stahl sich auf Rains Lippen. „Danke, dass ich eine so gute Freundin wie dich habe.“

So viele Worte hingen unausgesprochen zwischen ihnen in der Luft, als sich das Garagentor wieder schloss und sowohl Camille als auch Rain in der Finsternis einer verhängnisvollen Nacht zurückließ.

Hoch Zamantha

1. Dezember
 

- Summer -
 

„Na endlich!“ Summer streckte sich und hielt glücklich den Blattorden von Tempera City in den Händen.

„Das war ganz schön knapp“, kommentierte Bryce sachlich. Er stand in einer Ecke der Arena und putzte sich gerade die Brillengläser. „Fast hättest du es wieder nicht geschafft.“

„Ja, ja.“ Summer winkte ab. Bereits am Vortag hatte sie Amaro herausgefordert und verloren, was ihrer Laune einen ziemlichen Dämpfer verpasst hatte. Nachdem sie die Mähikel-Farm verlassen konnten, waren Rocco, Bryce und sie gemeinsam nach Tempera City weiter gereist, dort hatten sich ihre Wege allerdings getrennt, da Rocco dank seiner Sperre für offizielle Kämpfe keine Orden mehr erkämpfen durfte. Er wusste noch nicht, was er in Zukunft tun würde, wollte aber zunächst in seiner Heimatstadt Tempera City bleiben. Summer kannte ihn zwar nicht gut, hatte seine Leidenschaft für Computerspiele aber bereits kennen gelernt – vielleicht würde seine Zukunft ja in dieser Richtung liegen.

„Ist doch wahr.“ Bryce folgte Summer aus der Arena hinaus. Sie standen im oberen Drittel eines riesigen Baumes, der das Wahrzeichen der Stadt war. Im Inneren führte eine Treppe zurück ins Erdgeschoss und von dort gingen sie zum Pokémoncenter. „Evoli und Jurob sind beide mit nur einer Attacke besiegt worden. Onix konnte sich zwar länger halten, hat aber auch nur ein gegnerisches Pokémon besiegen könnten. Ohne Glutexo wärst du aufgeschmissen gewesen.“

„War ich aber nicht und ich habe gewonnen.“

„Ja, weil Glutexo deine Befehle missachtet hat und auf eigene Faust gehandelt hat.“

„Gewonnen ist gewonnen“, erwiderte Summer genervt und überreichte die Pokébälle an Schwester Joy. „Es kann ja nicht jeder so ein Pro-Trainer sein wie du.“

Bryce zuckte zusammen, rümpfte daraufhin die Nase und zog sich in den Wartebereich zurück, um sich in einer der Fachzeitschriften zu verkriechen.

Augenrollend folgte Summer ihm. „War nicht so gemeint. Und seit wann interessierst du dich für Geburtskunde bei Pokémon?“

Schmollend legte Bryce die Zeitschrift wieder zur Seite. „Du solltest endlich strategischer an das Training und die Kämpfe herangehen. Bisher bist du mit deiner Hau-Drauf-Taktik durchgekommen, aber spätestens beim nächsten oder übernächsten Orden wirst du damit scheitern. Wenn du willst, bringe ich dir bei, wie man sein Team bessert strukturiert.“

„Na schön, Herr Pro-Trainer“, antwortete sie grinsend. „Da bin ich aber mal gespannt.“

Bryce stöhnte genervt. „Du ziehst alles ins Lächerliche, Summer.“ Dann schnaubte er, schüttelte leicht den Kopf und ging mit ihr in den Speisesaal, wo sie die größten Tische und den meisten Platz hatten.

Eine Weile später lagen mehrere vollgeschriebene Din A4 Seiten vor ihnen ausgebreitet. Für jedes Pokémon aus Summers Team hatte Bryce eine eigene Seite mit Tabelle angelegt, in der sie die Stärken und Schwächen auflisteten. Weiter unten standen alle Attacken, die das Pokémon theoretisch lernen konnte, zudem ein Verweis zu den TM-Attacken, sofern Summer irgendwann welche kaufen sollte. Manche ihrer Pokémon eigneten sich eher für physische Angriffe, andere für spezielle, was Bryce ihr genau erläuterte.

Zunächst war Summer mit Feuereifer dabei gewesen, doch die vielen Fachbegriffe zehrten irgendwann an ihren Nerven, sodass sie gegen Abend bereits eine ganze Kanne mit heißem Kakao getrunken hatte – sehr zum Missfallen der anderen Trainer im Pokémoncenter, die vielleicht auch gerne etwas davon abbekommen hätten.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es so kompliziert sein kann“, murmelte sie beim Abendessen und stocherte dabei fast schon lustlos in ihren Nudeln herum.

Bryce lächelte zufrieden, lehnte sich zurück und genoss den Anblick einer fast sprachlosen und erschöpften Summer. „Jetzt weißt du auch, warum man ein bis zwei Jahre auf der Pokémon Tec unterrichtet wird, ehe man bereit für die Abschlussprüfung ist – zusätzlich zum täglichen Pokémontraining.“

„So viel Theorie“, erwiderte sie seufzend.

„So viel Fachwissen“, ergänzte Bryce.

„Du klingst schon wie meine Schwester.“

Er zuckte mit den Schultern und aß seine Nudeln auf. „Ich habe nachgedacht, während wir heute die ganze Theorie gepaukt haben. Es hat mir Spaß gemacht, dir das alles beizubringen. Vielleicht hattest du Recht und ich hätte Turtok nicht bei meinen Eltern lassen sollen. Ich denke, ich werde es ab jetzt wieder in den Kämpfen einsetzen, um mir sein Vertrauen zurück zu erobern. Vielleicht werde ich hier in Kalos an der Liga teilnehmen, wenn ich alle acht Orden habe. Oder ich bewerbe mich später bei einer der Trainerschulen und vermittle mein Wissen an Kinder.“

Summer lächelte nun ebenfalls. „Das klingt doch gut.“ Dann stand sie schwungvoll auf. „Ich drehe noch eine Runde um den Block und will dann früh ins Bett. Sollen wir morgen direkt weiter nach Illumina City reisen? Vier Orden haben wir jetzt, also die Hälfte. In Illumina City gibt es so viele Trainer, mit denen man kämpfen kann. Außerdem ist Rain da. Ich bin gespannt, ob sich ihr Glumanda auch schon entwickelt hat.“

„Hast du überhaupt noch Kontakt zu ihr?“

Sie zögerte kurz. „Nein, eigentlich fast gar nicht mehr. In den letzten Wochen ist es immer weniger geworden, aber vielleicht muss das so sein. Egal. Wenn wir in Illumina City sind, werden wir sie besuchen. Glutexo freut sich bestimmt auch, wenn es sein Brüderchen wiedersehen kann.“

„Gut, dann reisen wir direkt morgen früh weiter.“

Summer schnappte sich ihre Sachen, wünschte Bryce noch einen schönen Abend und trat anschließend hinaus an die frische Winterluft. Es war recht mild und angenehm, aber trotzdem lag eine weihnachtliche Vorfreude in der Luft, die auch vor den Bewohnern von Tempera City keinen Halt gemacht hatte. An den Straßenlaternen waren Sterne befestigt worden, die nun in der Dämmerung zu leuchten begannen. Viele Schaufenster – wenn auch noch nicht alle – waren weihnachtlich dekoriert. Ob sie wohl zurück nach Hause fliegen sollte, um das Fest mit ihrer Familie zu verbringen?

Nein, eher nicht. Ihre Mutter würde ihr die Ohren lang ziehen, wenn sie deshalb ihre Reise unterbrach, denn es gehörte einfach dazu, dass man auf sich alleine gestellt war. Ihre Großeltern und ihr Vater sahen das vermutlich anders, aber am Ende würde sich ihre Mutter sowieso durchsetzen. Mit nicht wenig Stolz konnte Summer von sich behaupten, dass sie ebenfalls den Dickschädel ihrer Mutter besaß.

Summend und gut gelaunt schlenderte sie durch die Straßen. Sie mochte Tempera City, deshalb fand sie es schade, dass sie morgen schon wieder unterwegs sein würden, aber sie wollte auch weiter nach Illumina City. Vielleicht würden sie Rocco einen Abschiedsbesuch abstatten. Ja, die Idee gefiel ihr, immerhin hatten sie gemeinsam die Zeit auf der Mähikel-Farm verbracht und waren dann als Dreiergespann bis hier her gereist.

Vor einem Zeitschriftenladen blieb sie stehen und blätterte in einigen der Illustrierten, auf denen ein blondes Idol prangte. Mila Mayham, der Name stand auf einer der Zeitschriften in pinker Glitzerschrift darunter. Offensichtlich war sie ein Idol für Mädchen. In einer Ecke des Kiosks lief ein Fernseher, der gerade die Abendnachrichten zeigte.

„Willst’e watt kaufen oder nich‘?“

Summer zuckte zusammen, als der Verkäufer seine Zigarre zur Seite legte und sie mit scharfem Blick ansah.

„Nur blättern is‘ nich‘.“

„Dann nicht.“ Sie legte die Zeitschriften zurück und wollte sich schon über die unfreundliche Art des Mannes aufregen, als die Nachrichten ihre Aufmerksamkeit einfingen. „Können Sie das lauter machen?“

„Dit is‘ keen Ort zum Rumlümmeln“, erwiderte der Mann garstig, stellte aber trotzdem lauter und blies den würzigen Rauch seiner Zigarre in die Luft.

Summer wurde blass, als sie hörte, was der Moderator von sich gab. Im Hintergrund war das Bild eines überfallenen Pokémoncenters zu sehen. Der Überfall war schon einige Tage her und die Polizei tappte noch im Dunkeln, doch es gab nun ein offizielles Bekennerschreiben, dem einige der geklauten Pokébälle beigelegt worden waren.

Der Brief wurde groß eingeblendet. Summer musste sich festhalten. In großen Lettern stand dort: TEAM DARK IST ZURÜCKGEKEHRT! IHR NARREN!

Sorgen

2. Dezember
 

- Summer -
 

„Ich mache mir Sorgen um Rain.“ Summer starrte auf den grünen ComDex an ihrem Handgelenk. Seit sie pünktlich um sieben Uhr morgens aus den Federn gesprungen war, prüfte sie mindestens alle fünf Minuten, ob Rain ihr auf die Nachricht vom vergangenen Abend geantwortet hatte.

„Sie meldet sich schon noch“, beschwichtigte Bryce sie, als er seinen Reiserucksack schulterte und den Gurt am Bauch einrasten ließ. „Sie wird mit der Arbeit beschäftigt sein.“

„Ich habe ihr gestern Abend geschrieben“, beharrte Summer mürrisch, seufzte und schulterte ebenfalls ihren Rucksack.

Hast du die Nachrichten gesehen? Geht es dir gut? Melde dich.

Keine Antwort. Keine Reaktion. Ob Rain noch immer sauer auf sie war, nur weil sie ihre Träume und Ziele verfolgte und Rain in Illumina City dahindümpelte? Summer wusste es nicht, schnaubte aber und schlug den Weg zu Rocco ein.

8:47 Uhr. Noch immer keine Antwort.

„Starr nicht ständig auf den ComDex, davon antwortet Rain auch nicht.“

„Du hast ja Recht.“ Nur widerwillig ließ Summer den Ärmel ihrer wetterfesten Winterjacke über das Handgelenk gleiten. Es war viel zu warm, deshalb trug sie die Jacke offen und darunter nur ein dünnes Shirt mit Blätter-Motiven.

Gemeinsam liefen sie zu dem Haus, in dem Rocco wohnte. Zu ihrem Erstaunen war es ein unauffälliges Reihenhaus am Ende einer ruhigen Spielstraße. Von der Rückseite des Hauses aus musste man einen wunderbaren Blick in den Garten und den dahinter liegenden Waldrand haben. Irgendwo plätscherte Wasser, vielleicht von einem Gartenteich?

Summer zögerte nicht lange und drückte die Klingel. Einen Moment tat sich nichts, dann kam eine müde Stimme aus der Gegensprechanlage: „Was?“

„Hallo Rocco, wir sind es.“

„Wer?“

„Summer und Bryce. Wir wollten uns verabschieden, bevor wir weiter reisen.“

Zuerst dachte sie, dass Rocco ihnen nicht öffnen würde, dann knackte es und die Verbindung war weg. Wenige Sekunden später öffnete er die Haustür und blinzelte sie hinter seiner Brille verschlafen an. „Es ist noch mitten in der Nacht.“

Summer grinste. „Nein, es ist hell, die Dartiri zwitschern munter und du siehst total verpennt aus. Außerdem haben wir deine Post aus dem Briefkasten mitgebracht, der stand offen.“ Sie reichte ihm einen einzelnen, schwarzen Briefumschlag, auf dem handschriftlich Roccos Name vermerkt war.

Genervt schob er seine Brille zurecht. „Ihr hättet nicht extra vorbeikommen müssen.“

„Lange Nacht gehabt?“, fragte Bryce, woraufhin der andere nur träge mit den Schultern zuckte.

„Kann man so sagen. Ich habe an der Software für eine kleine Spiele-App gebastelt. Also: Nett, dass ihr da wart, aber ich würde gerne wieder ins Bett.“

Summers Blick fiel auf die beiden Pokébälle an seinem Trainergürtel. Ob er ihn die ganze Nacht über getragen hatte? „Das mit deinem Sichlor tut mir immer noch leid. Du hast mir nie verraten, welches dein anderes Pokémon ist.“

Für einen winzigen Augenblick kehrte der stolze Trainergeist mit einem Funkeln in seine Augen zurück. „Du hättest keine Chance gegen mich. Immer noch nicht.“

„Ach ja?“ Sie schnitt eine Grimasse. „Ich habe jetzt vier Orden, genauso viele wie du. Wir sind uns also ebenbürtig.“

Rocco ging auf ihre Stichelei ein und lächelte dabei. „Das glaubst auch nur du.“

„Dann beweise es mir“, sagte sie. „Ein letzter Trainerkampf zum Abschied, na?“

Er zögerte, wurde wieder blasser, doch schließlich nickte er. „Gib mir zehn Minuten, dann putze ich mir noch schnell die Zähne und ziehe mir andere Klamotten an.“

„Gut, ich warte hier.“
 

Als die beiden sich am Waldrand hinter Roccos Haus gegenüber standen, spürte Summer die Vorfreude in ihrem ganzen Körper. Es kribbelte bis in die Fingerspitzen, als ihre Finger unruhig über die Bälle an ihrem Trainergürtel huschten. Es würde ein 1 gegen 1 Kampf werden. Nur eine Chance, um Rocco zu zeigen, dass sie nicht der Noob war, für den er sie hielt.

„Nur, damit das klar ist“, sagte Rocco und fuhr sich dabei durch die kupferblonden Locken. Auf seinen Lippen ruhte das siegessichere Lächeln, das Summer so großkotzig und arrogant fand. „Wenn ich dich gleich besiege, war es das letzte Mal, dass du mir mit einem Trainerkampf auf die Nerven gegangen bist.“

Sie nickte. „Und wenn ich gewinne, werde ich dich jederzeit wieder herausfordern dürfen. Abgemacht?“

Er lachte. „Du wirst nicht gewinnen.“

Stur blickte sie ihn an. Sie wusste, dass Roccos Sperre für alle offiziellen Kämpfe vorerst ein Jahr gültig war und dann neu verhandelt werden würde. Sie hatte gesehen, wie die Hoffnung in seinen Augen erloschen war – und sie konnte es nicht mit ansehen, dass er sich aufgegeben hatte. So wie sie auch Bryce wieder zu neuem Mut verholfen hatte, wollte sie, dass Rocco ebenfalls weiter an sich glaubte. Sie kannte diese Kitty nicht, deren Fiaro sein Sichlor getötet hatte, aber sie hatte den Schmerz in ihm erblickt, die Leere in seinen Augen. „Abgemacht oder nicht?“

Genervt rollte Rocco mit den Augen, doch der Anflug eines Schmunzelns machte sich auf seinen Mundwinkeln breit. „Abgemacht.“ Er zögerte nicht länger, drückte den Knopf auf seinem Pokéball und entließ ein Psiaugon auf die Wiese, dessen weißer Pelz sein weibliches Geschlecht verriet.

Psiaugon, Typ Psycho. Summer hatte nichts, was dagegen effektiv war. „Onix, mach es fertig!“

Die riesige Felsennatter nahm auf einen Schlag die Hälfte der Fläche zwischen ihnen ein und blickte grollend auf Psiaugon herunter. Eine einzige Bewegung ihres Starters reichte, um das halbe Blumenbeet umzugraben.

Rocco hob kaum merklich eine Augenbraue. Er sah gelangweilt aus. „Psychokinese.“

Die Augen seines Psiaugon begannen pink-rötlich zu leuchten und es stellte seine Ohren leicht auf. Im nächsten Augenblick erstrahlte Onix in demselben Schimmer und wurde gut eineinhalb Meter vom Boden angehoben. Erdbrocken bröselten von seiner steinigen Haut herunter, nur ein einzelner Zweig verkantete sich. Die Natter wandte sich hin und her und begann ein panisches Brüllen verlauten zu lassen.

Summer riss ihre Augen auf. „Onix, Kreideschrei!“

Onix riss erneut das Maul auf, doch im nächsten Augenblick ließ Psiaugon seine Psychokinese los. Ein Schauer durchlief Onix, quetschte es noch ein Stückchen weiter zusammen und schleuderte es anschließend zurück auf den Boden. Summers Pokémon ächzte und zitterte, setzte jedoch erneut zu einem Kreideschrei an. Der hohe Ton schmerzte in den Ohren und sobald er endete, schrie von irgendwo her ein Nachbar wüste Beschimpfungen.

Sie nickte ihrem Pokémon zuversichtlich zu. „Und jetzt Slam!“

Onix raffte sich zusammen, preschte vor und verpasste Psiaugon einen Stoß mit seiner Flanke.

Roccos Psychopokémon quietschte kurz, landete jedoch auf beiden Beinen und rappelte sich sofort wieder auf.

Die nächste Anweisung vom noch immer gelangweilt schauenden Rocco kam sofort: „Spukball, beende es.“

Psiaugon wartete nicht lange. Wie aus dem Nichts formte es die lila-schwarze Energiekugel und schleuderte sie auf Onix, das zusammenbrach und auf der kompletten Länge des Gartens liegen blieb.

Gleichzeitig zogen Summer und Rocco ihre Pokémon zurück in die Pokébälle. Rocco seufzte und schnippte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich sagte doch, dass du keine Chance hast. Ab jetzt lässt du mich in Ruhe.“

Schmollend stellte Summer sich zurück zu Bryce, der die ganze Zeit über stumm zugeschaut hatte. „Eine Revanche?“

„Nein. Und jetzt wäre es überaus nett, wenn ihr mich wieder an meiner App arbeiten lasst.“

Summer wollte noch etwas erwidern, doch Bryce dirigierte sie bereits um das Haus herum in Richtung Straße. „Mach’s gut, Rocco“, sagte Bryce lächelnd. „Vielleicht sieht man sich noch einmal wieder.“

„Bloß nicht“, antwortete dieser und verschränkte die Arme vor dem Körper.

„Du bist immer noch ein Kotzbrocken“, konterte Summer.

Rocco schüttelte den Kopf, doch der Anflug eines amüsierten Grinsens stahl sich auf seine Lippen. „Und du wirst es niemals schaffen, alle Orden zu sammeln und die Liga zu bestehen.“

„Wir werden sehen!“

„Ja, wir werden sehen.“

Steppengespräche

2. Dezember
 

- Summer -
 

Route 13 lag vor ihnen und erstreckte sich bis an den Horizont. Summer und Bryce hatten eine Weile in Tempera City verbracht, doch zum Trainieren hatte es sie nie in die sandige Steppe von Route 13 verschlagen, weshalb nun beide am oberen Ende standen und die Landschaft auf sich wirken ließen.

Für Anfang Dezember war es generell viel zu heiß, weshalb beide nur ein T-Shirt unter ihrer Jacke trugen, doch sobald sie das schützende Gebirge hinter sich lassen würden, würde sie der warme, trockene Steppenwind noch weiter aufheizen.

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es hier nachts wirklich kalt werden soll“, sagte Summer. Sie würden ein oder vielleicht zwei Stunden bergab laufen müssen, um auf dem weiten Plateau der Steppe anzukommen. Von dort mussten sie nur noch ihren Kurs halten und immer geradeaus laufen, bis sie Illumina City erreichten. Bryce plante dafür zwei volle Tage ein, weil das Vorankommen im sandigen und lehmigen Steppenboden beschwerlicher war als auf den anderen Routen. Vielleicht würden sie auch drei Tage brauchen.

Hoffentlich verliefen sie sich nicht.

„Schwester Joy hat uns davor gewarnt, leichtsinnig zu werden“, ermahnte Bryce sie und rückte seine Brille zurecht. Er machte den ersten Schritt, Summer folgte ihm sogleich. Noch hatten sie festen, steinigen Boden unter den Füßen. „Aber deinem Onix wird es hier mit Sicherheit gefallen. Ich denke, du solltest es unten in der Steppe außerhalb seines Pokéballs lassen, damit es sich frei bewegen kann. Dafür hat es so selten die Gelegenheit.“

„Stimmt, daran habe ich gar nicht gedacht“, sagte sie sogleich fröhlich und setzte ihre Sonnenbrille auf, um ihre Augen gegen das grelle Sonnenlicht zu schützen. „Ich könnte auch auf Onix reiten, dann muss ich nicht laufen und wir wären schneller – ach, wobei, ich bin mir gar nicht sicher, ob es uns beide tragen könnte.“

Bryce zog eine Grimasse. „Vom Gewicht her bestimmt, aber ich kann mir Besseres vorstellen als auf dem steinharten Körper von Onix hin und her geschaukelt zu werden.“

„Ach komm schon“, beharrte Summer grinsend. „Du bist nur neidisch, weil du kein Pokémon besitzt, auf dem du reiten könntest. Damit wären wir viel schneller in der nächsten Stadt.“

Er warf ihr einen genervten Seitenblick zu. „Es gehört zum Leben eines Trainers dazu, zu Fuß durch die gewählte Region zu reisen. Das verstärkt die Verbundenheit zu der Natur, den Pokémon und stärkt den eigenen Charakter.“

„Aus welchem Glücks-Ei-Essen hast du das denn abgekupfert.“

Sein Blick wurde noch eine Spur finsterer. „Kümmere dich lieber darum, deine Pokémon vernünftig zu trainieren. Glutexo hört noch immer nicht auf dich und hier in der Steppe wäre ein ausgezeichneter Lebensraum, um es zu trainieren.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, entließ er alle seine Pokémon gleichzeitig aus ihren Pokébällen.

Turtok, das er lange Zeit in Azuria City zurückgelassen hatte, das nun aber wieder bei ihm sein durfte, brüllte die Weite des Steppenplateaus herausfordernd an. Es ließ seinen Hals knacken, renkte seine Arme richtig ein und stapfte dann mit großen Schritten und wachsamen Blick gut zehn Meter von Bryce entfernt umher wie ein Bodyguard. Enekoro gähnte gelangweilt. Sein Schwanz peitschte hin und her, doch ansonsten machte es keine Anstalten, dass die Steppe in irgendeiner Form interessant sein könnte. Rocara hingegen quietschte vergnügt und begann augenblicklich damit, in unregelmäßigen Kreisen und Ellipsen um Summer und Bryce über den Boden zu sausen. Auch Vipitis schien sich zu freuen, endlich einmal längere Zeit außerhalb des Pokéballs verbringen zu können. Sein Körper hinterließ wellenförmige Muster auf dem Boden und bei jeder Bewegung zeichneten sich die starken Muskeln unter seiner schuppigen Haut ab.

Summer starrte seine Pokémon alle der Reihe nach an, wobei ihr Blick bei Turtok vor Neid triefte. Kurzerhand entließ sie ebenfalls ihre Pokémon. Onix gab ebenfalls einen Freudenschrei von sich und schlängelte zu Vipitis herüber. Seine Bewegungen waren viel langsamer und schwerfälliger, doch auch Onix hinterließ ein Wellenmuster im sandigen Boden. Jurob, das zu klein war und sich auf dem Land ohnehin nicht so gut fortbewegen konnte, wurde von Summer auf Onix‘ Rücken gesetzt. Von dort aus kletterte es auf der Felsnatter empor, bis es auf Onix‘ Kopf saß und die Aussicht genießen konnte. Evoli tat dasselbe. Bully, das Mähikel, trabte sofort an, galloppierte einige Meter vor, machte einen Bocksprung und trabte dann brav neben Summer her. Nur Glutexo quittierte Summers Verhalten mit einem abschätzigen Knurren und einer Glutsalve, die nur knapp hinter ihr im Boden landete. Mit rauchenden Nüstern verschränkte Glutexo die Arme und lief keinen Millimeter.

Summer rollte mit den Augen und zog Glutexo zurück in seinen Pokéball.

Bryce schüttelte mit dem Kopf. „Anstatt einfach sofort klein beizugeben, hättest du die Chance nutzen sollen.“

„Dann müsste ich jedes Mal mit ihm diskutieren, nein danke. Es macht doch sowieso, was es will.“

Bryce schürzte die Lippen, sagte aber nichts mehr dazu. Summer kannte seine Meinung und wusste, dass er der Ansicht war, sie wäre nicht die richtige Trainerin für Glutexo, doch zugeben würde sie das auf keinen Fall.

Stattdessen wechselte sie schnell das Thema. „Sag mal, willst du für Weihnachten eigentlich zurück nach Azuria City? Wir haben schon den 2. Dezember und bisher hast du noch nichts dergleichen gesagt.“

„Weil ich hier in Kalos bleiben werde“, antwortete er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Der Flug nach Kanto lohnt sich nicht, wenn ich nur für ein paar Tage oder eine Woche bei meiner Familie bleiben will. Wir feiern Weihnachten sowieso nicht groß. In den letzten Jahren hatten wir nicht einmal einen Weihnachtsbaum. Wir lesen die Weihnachtskarten der Verwandtschaft, tauschen ein paar Geschenke aus und das war es.“

Sie riss die Augen auf. „Kein Weihnachtsbaum? Und was ist mit dem traditionellen Essen?“ Im Hause Light-Loraire wurde Essen außerordentlich groß geschrieben.

„Meine Mutter kauft den Braten aus dem Supermarkt.“

„Du Ärmster.“

„Das ist alles halb so wild.“ Er winkte ab. „Deinem Verhalten nach entnehme ich aber, dass du nach Finera zu deiner Familie willst?“

„Oh, ich würde sehr gerne“, meinte Summer sogleich. „Aber meine Eltern sind beide der Meinung, dass Rain und ich unsere Trainerreise dafür nicht unterbrechen sollten. Weihnachten ist zwar ein schöner Feiertag, aber sie wollen uns unsere Geschenke nach Illumina City zu der Cousine unserer Mutter schicken. Wir sollen mit Ivy feiern. Und meine Mutter hat gesagt, dass ich Ivy nach einem Nebenjob fragen soll, solange ich in Illumina City bin.“ Summer rollte mit den Augen. „Wenn es sein muss, werde ich das tun.“

„Finde ich gut, so bist du beschäftigt und verdienst zur Abwechslung mal dein eigenes Geld.“

„Hey!“ Sie boxte ihm spielerisch in die Seite. „Das ist gemein von dir. Was wirst du denn tun, während wir in der Stadt sind?“

Bryce rieb sich die Stelle, an der sie ihn erwischt hatte. „Ein wenig trainieren und viel lesen, denke ich. Über die Feiertage ist sowieso nicht viel in den Arenen los, also können wir genauso gut einen Gang zurückschalten und im neuen Jahr mit neuem Elan starten.“

„Wahrscheinlich hast du Recht“, gestand Summer. „Und vielleicht schaffe ich es, dass Rain mir endlich verzeiht – auch wenn ich nicht weiß, was ich verbrochen habe. Sie hat mir immer noch nicht geantwortet. In den letzten Monaten ist sie eine ziemlich blöde Miltank-Kuh geworden.“

„Es ist normal, dass Menschen sich auseinander leben. Aber egal, was passiert, sie wird immer deine Schwester bleiben.“

„Ich hoffe es.“ Summer zog ihre Sonnenbrille wieder ab und schaute gen Horizont in die Richtung, in der Illumina City lag. „Ich hoffe wirklich, dass wir wieder zueinander finden werden.“

Ein Sandsturm bringt Klarheit

2. Dezember
 

- Summer -
 

Summer kniff die Augen zusammen und schaute zum Horizont, wo sich eine große, orangebraune Wolke vom Boden bis zum Himmel erstreckte.

„Ein Sandsturm, das hat uns gerade noch gefehlt“, seufzte Bryce und konnte dabei die Besorgnis in seiner Stimme nicht verstecken. „Los, hilf mir hier, wir müssen uns beeilen.“

„Ist ein Sandsturm wirklich so schlimm?“

Sein Blick sprach Bände und Summer verkniff sich jeden weiteren Kommentar. Es war früher Abend und sie hatten sich einen Platz ausgesucht, an dem sie ihr Zelt aufschlagen wollten. Eigentlich war es egal, wo sie das taten, denn die weite Ebene sah überall gleich aus. Die Sonne stand tief am noch immer blauen Himmel, doch der Sandsturm, der von Minute zu Minute näher zu kommen schien, verursachte ihr eine Gänsehaut.

Zu zweit schafften sie es schließlich relativ schnell, das Zelt zu stabilisieren, doch die Verankerungen hielten in dem sandigen Boden nicht gut. „Onix, du musst heute Nacht draußen bleiben.“

Ihr Starter nickte begeistert und rollte sich in einem Halbkreis um das Zelt, direkt auf die Ankerpunkte der Halterungen. Damit wäre zumindest garantiert, dass das Zelt in dem Sandsturm keinen Abgang machte. Außerdem würde Onix kein Problem damit haben, bei dieser Witterung draußen zu bleiben.

Bryce runzelte noch ein letztes Mal die Stirn. Der Sandsturm war nur noch wenige hundert Meter von ihnen entfernt und sah wunderschön und gefährlich zugleich aus. Immer deutlicher traten die Verwirbelungen zutage, als die sandfarbene Wand lautlos auf sie zugerollt kam und dabei immer großer vor ihnen aufragte. „Komm endlich rein.“ Er hielt ihr den Zelteingang hoch.

Summer gehorchte.

Bryce folgte ihr, schloss hinter ihnen den Reißverschluss zu und harrte in der Hocke aus.

Keine halbe Minute später wurde das Zelt schlagartig von einem lauten Kreischen erfasst. Der Sandsturm prallte mit seiner ganzen Wucht auf den Stoff, beutelte ihn, rüttelte und versuchte, sie umzuwerfen, doch dank Onix blieben sie in ihrer Position.

Erschrocken riss Summer die Augen auf. „Ist das laut!“ Millionen von Sandkörnern prallten von allen Seiten gegen die Zeltwände und rieselten daran rauf und runter, was ein beständiges Kratzen und Schaben verursachte. Es drang kaum noch Licht nach drinnen, weil der Sturm den Himmel verdunkelte. Nun konnte sie verstehen, wieso Bryce dringend im Inneren des Zeltes sein wollte, wenn der Sandsturm sie erreichte.

„Wir müssen unsere Pokémon noch füttern“, rief Bryce gegen den Sturm an. „Keine Ahnung, wie lange das jetzt dauert.“

Sie nickte als Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte. Aus dem Rucksack holten sie das Pokémonfutter – braune, feste Bällchen, denen diverse Bestandteile wie Beeren zugemischt waren. Eine Sorte für pflanzenfressende Pokémon, eine Sorte für fleischfressende.

Sie fingen mit Bryce‘ Pokémon an. Eines nach dem anderen wurde aus dem Pokéball entlassen – mit Ausnahme von Turtok, das zu groß war und sein Essen erst am nächsten Morgen bekommen würde. Im Anschluss daran begann Summer mit Jurob, gefolgt von Evoli, Mähikel und schließlich Glutexo.

Das Feuerpokémon schaute Summer missmutig an, dann drehte es sich einmal und stellte noch schlechter gelaunt fest, dass es in einem Zelt festsaß. „Texo …“, sagte es, verschränkte die Arme vor dem Körper und wartete ab.

Summer rollte mit den Augen und reicht Glutexo die Schale mit seiner Ration. „Hier, bitte. Gern geschehen.“ Und etwas leiser, sodass nur Bryce sie hören konnte: „Es ist so undankbar!“

Er schüttelte wortlos den Kopf. „Du musst dir mehr Mühe geben, das ist alles.“

Sie schmollte, während sie Glutexo dabei zusah, wie es eines der Futterbällchen mit der Kralle aufspießte und verschlang. Als würde es ums Prinzip gehen, verzog Glutexo das Gesicht und schob ihr die Schale wieder hin.

„Was ist denn jetzt los? Das ist dasselbe Futter wie immer!“

„Glu!“ Es fuchtelte mit den Armen herum und deutete auf das gesamte Zelt, als wollte es sagen: „Das da ist los! Ich lasse mich von dir doch nicht in ein blödes Zelt sperren!“

Summer platzte der Kragen. „Ja und? Ich sitze hier genauso fest wie du, also stell dich nicht so an!“

Das quittierte Glutexo mit einem wütenden Knurren.

Summer konterte mit einem aufgebrachten Blick. Sie griff entnervt zu Glutexos Pokéball, doch das Pokémon wich dem roten Strahl mit einem Sprung nach hinten aus, sodass es gegen den Eingang des Zeltes prallte und dieses damit wackeln ließ. Draußen brummte Onix vor sich hin. Glutexo fauchte und noch ehe Summer oder Bryce reagieren konnten, schlitzte es mit einer Kralle geschickt den Reißverschluss auf und entschwand nach draußen in den Sandsturm.

Bryce schrie auf, als der Sand wie ein Faustschlag das Innere des Zelts füllte.

Summer schrie ebenfalls, allerdings eher aus Frustration. Sie sprang ihrem Pokémon hinterher, Bryce‘ Warnung zum Trotz. Sie hörte noch, wie er hinter ihr den Reißverschluss wieder zumachte, doch ob er ihr folgte oder sie einfach ziehen ließ, wusste sie nicht, denn dafür war sie bereits zu viele Schritte vom Zelt entfernt.

Sie hustete, als der feine Sand ihre Augen, ihre Nase und ihren Mund füllte. Irgendwo in ihrer Jackentasche war ein Tuch, das sie sich nun um den Kopf band und damit die untere Hälfte ihres Gesichts bedeckte. Die Sonnenbrille wanderte zurück auf ihre Augen. Zwar sah sie damit nicht besonders viel im Sturm, aber wenigstens musste sie nicht alle zwei Sekunden blinzeln. „Glutexo, komm zurück!“

Summer stapfte vorwärts, einen Arm gegen den Wind gestemmte, den Körper leicht nach vorne gekrümmt. Waren hier nicht gerade eben noch seine Fußspuren gewesen? „Glutexo!“ Sie kämpfte sich weiter vorwärts, hörte Onix‘ Grollen, das so leise an ihre Ohren drang. Lief sie überhaupt in die richtige Richtung?

Neben ihr erschien ein einzelner Felsbrocken, den sie nutzte, um kurz zu verschnaufen und sich zu orientieren. Wenn sie Pech hatte, verlor sie vollständig den Überblick. Aber Glutexo war alleine hier draußen und es war nicht immun gegen den Sandsturm, auch wenn es sich für unbesiegbar hielt. „Glutexo!“ Nach einigen Schritten fand sie seine Fußspur zum Glück wieder und folgte ihr immer weiter. Es wurde immer dunkler; die Sonne schien gerade unterzugehen.

Auf einmal ging es ein paar Meter berghoch, dann wieder runter – eine Sanddüne, die sich im Sturm gebildet hatte. Summer stolperte, fiel hin und kauerte sich zusammen.

Das hatte keinen Sinn.

Glutexo gehorchte ihr sowieso nicht und wenn sie noch weiter lief, würde sie nie wieder zurück zum Zelt finden. Aber irgendetwas tief in ihrem Herzen ließ sie wieder aufstehen und weiterlaufen. Ihre Mutter vertraute darauf, dass sie Glutexo eine gute Trainerin war und hier draußen in dem Sandsturm kam sie sich so winzig und bedeutungslos vor. Sie war hilflos, aber Glutexo war das auch.

Auf einmal sah sie inmitten des Sturms ein schwaches, unregelmäßiges Glühen. „Glutexo?“ Sie beschleunigte ihre Schritte, soweit es möglich war, erkannte einen Schatten, eine Form, etwas Rotes, das am Boden lag. „Glutexo!“

Sobald sie ihr Pokémon erreicht hatte, sank sie neben ihm zu Boden und bettete seinen Kopf in ihrem Schoß. Summer beugte sich über den geschwächten Körper und streichelte über Glutexos Kopf.

Es riss die Augen auf, fixierte sie, entspannte sich leicht. „Tex …“

„Ja, ich weiß, mir tut es auch leid. Ich hätte dich nicht anschreien dürfen, zu keinem Zeitpunkt. Ich …“ Ohne es zu merken, hatte sie angefangen zu weinen. Ihre Tränen hinterließen klebrige Spuren auf ihren Wangen und versickerten anschließend in dem Tuch. „Bryce hatte Recht, die ganze Zeit über.“ Der Anblick von Glutexos Schwanzspitze, an deren Ende nur noch eine schwache Flamme leuchtete, ließ sie schluchzen. Ihrem Pokémon ging es schlecht, weil sie die Wahrheit nicht akzeptieren konnte. Bis jetzt. „Ich bin nicht eine halb so gute Trainerin, wie ich immer dachte. Bitte verzeih mir, Glutexo. Ich hätte mehr auf dich eingehen müssen, anstatt zu ignorieren, dass du einen Trainer brauchst, der sich mit dir auseinandersetzt. Du trägst zu einem kleinen Teil Enteis Gene in dir, also ist es kein Wunder, dass du besonders bist. Besonders eigensinnig.“

Ihr Pokémon schnaubte leise.

„Bryce, Rocco, sogar Rain wäre dafür besser geeignet gewesen. Ich bin nur wie ein Blöde von Arena zu Arena gerannt und hatte mehr Glück als Verstand, wenn ich gewonnen habe. Onix und die anderen haben das nie in Frage gestellt, aber dir konnte ich nie etwas vormachen, nicht wahr? Und jetzt … sieh dich an. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass es soweit kommt. Oh, Glutexo, ich …“

Glutexo beugte sich hoch und tätschelte Summer mit einer Pranke unbeholfen gegen den Oberarm. „Pat, pat, das wird schon wieder, du blöde Nuss.“

Summer schluchzte noch immer vor sich hin. Immer mehr Tränen bahnten sich ihren Weg. Die Erkenntnis, dass sie bislang keine gute Trainerin gewesen war, traf sie wie ein Schlag in die Magengrube und brachte ihre ganze Welt ins Wanken. „Kannst du … kannst du mir noch eine Chance geben? Ich … ich würde gerne deine Trainerin sein und lernen, was nötig ist, um mir deinen Respekt vollständig zu verdienen. Ich werde mir alle Zeit der Welt für dich und die anderen nehmen.“ Sie wischte sich über die Augen, verteilte den feinen Sandstaub und die Tränen dabei aber nur noch mehr. „Kannst du mir verzeihen?“

Glutexo schien einen kurzen Moment zu überlegen, dann wurde sein Blick weicher und es nickte leicht.

Sie lächelte erleichtert, auch wenn Glutexo das dank des Tuches nicht sehen konnte.

Ein letztes Mal wurde ihr Körper von dem Sandsturm durchgeschüttelt, dann war alles vorbei.

Stille.

Leuchtende Sterne am Nachthimmel.

Der Sandsturm war vorbei gezogen und zurück blieb ein Gefühl von Klarheit, wie Summer es noch nie in ihrem Leben gefühlt hatte.

Der schwarze Brief

5. Januar
 

- Rain -
 

Noch immer lagen vereinzelt Neujahrsraketen in den Straßenrinnen. Es schien, dass die Aufräumarbeiten in Illumina City nur langsam ihren Abschluss fanden. Rain saß am Fensterplatz des Labors, in dem sie gerade einige Laugen und Lösungen nach Rezeptvorgabe anrührte, die Milena später für eines ihrer Experimente brauchen würde. Wann immer ihr Blick nach draußen wanderte, sah sie, wie sich der Schneeregen auf den verstopften Gullideckeln sammelte und das Wasser gegen die Bordsteine schwappte.

Sie konnte sich heute einfach nicht konzentrieren.

Hatte sie die Enigmabeerenessenz richtig dosiert zugegeben? Zwei oder drei Tropfen? Oder fünf? Sie musste nachlesen – schon wieder – und biss sich ob ihres stümperhaften Verhaltens auf die Unterlippe.

Draußen war es schon längst dunkel, doch die Straßen wurden fast überall von Reklametafeln in neonfarbenes Licht getaucht. Sie war froh, dass die Weihnachtszeit endlich vorbei war. Summer und sie hatten sich bei Ivy, der Cousine ihrer Mutter, treffen sollen, doch es war alles anders gekommen. Warum auch immer – Summer hatte sich verändert. Sie nahm das Training ihrer Pokémon auf einmal viel ernster und arbeitete mit Bryce, ihrem Reisegefährten, an ausführlichen Trainingsplänen, um die Stärken und Schwächen jedes ihrer Pokémon auszuloten.

Kurz vor den Feiertagen hatte Ivy zu ihrem Bedauern verkündet, dass sie für einen wichtigen Auftrag verreisen musste. Sie war Fotografin und wurde für eine lukrative Fotoserie engagiert, was sie sich nicht entgehen lassen konnte. Trotzdem hatte sie für Heiligabend einen Tisch im Restaurant de Luxe für Summer und Rain reserviert, damit sie ohne sie feiern konnten. Rain vermutete, dass der Tisch längst bezahlt war und Ivy nicht wollte, dass das viele Geld ungenutzt in den Wind geschossen wurde. Summer hingegen hatte kein Interesse daran, in dem teuren Restaurant zu essen. Aus diesem Grund verkürzte sie ihren Aufenthalt in Illumina City und traf Rain nur kurz vor ihrer Abreise nach Vanitéa. Bryce und sie wollten den Magnum-Opus-Palast besichtigen und anschließend die Rennstrecke für Pokémonrennen nördlich von Route 7 besuchen. Rain hatte es abgelehnt, die beiden zu begleiten.

Sie hatte Wichtigeres zu tun.

Ihr Blick fiel wieder auf die Enigmabeerenessenz. Sie hatte alles getan, was Hans und Werner ihr geraten hatten: Bücher gewälzt, Wissen angesammelt, Überstunden gemacht, jede Anweisung von Milena oder den anderen Forschern genau umgesetzt, keine kritischen Anmerkungen. In der wenigen Freizeit trainierte sie mit Hans und Werner ihre Pokémon. Jeder im Labor dachte, sie wäre die perfekte kleine Handlangerin von Milena Mai und führte jeden Befehl ohne zu murren aus. Selbst um vier Uhr nachts. Irgendwann mussten die Rekrutierer von Team Dark doch auf sie aufmerksam werden. Das neue Team Dark befand sich noch im Aufbau, es konnte es sich nicht leisten, viel Zeit zu vergeuden.

Sie seufzte, packte ihre Sachen zusammen und räumte die Essenz weg. Alles war für das Experiment vorbereitet.

„Rain!“ Hans kam lächelnd auf sie zu. Seine blonden Haare standen wirr in alle Richtungen ab und sein Laborkittel war voller bunter Flecken.

„Hey, was gibt’s?“

„Ich habe etwas für dich.“ Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen, griff in die Tasche seines Kittels und holte eine kleine, runde Disc hervor. „Ta-Da!“

„Was ist das?“ Neugierig nahm sie die Scheibe, dann wurden ihre Augen groß. „Das ist eine TM!“

„Genau.“ Er nickte zufrieden, dann beugte er sich zu ihr runter und flüsterte: „Werner und ich waren heute den ganzen Tag damit beschäftigt, das Lager aufzuräumen. Da haben wir in der hintersten Ecke eine alte Kiste mit TMs gefunden, die schon gar nicht mehr im Inventar gelistet sind. Ich dachte mir, bei dir wäre diese TM besser aufgehoben als in einem uralten, staubigen Karton.“

„Wow. Vielen Dank. Was für eine Attacke ist das?“

„Eisstrahl. Wir haben auch noch Blizzard gefunden, aber Werner war schneller und hat Edelgard die Attacke beigebracht.“ Entschuldigend zuckte Hans mit den Schultern. „Wie dem auch sei, die TMs müssen mindestens zwanzig Jahre alt sein, das kann ich vom Design her sagen. Sie sind die einfache Ausführung, du wirst sie also nur ein einziges Mal verwenden können.“

„Das macht nichts, Karpador lernt sowieso keine TMs. Nochmal vielen Dank dafür.“ Sie ließ die Disc unauffällig in ihrer eigenen Kitteltasche verschwinden.

Hans verabschiedete sich mit einem erneuten Wackeln seiner Augenbrauen und verschwand dann wieder in Richtung der Lagerräume. Was die beiden wohl mit den restlichen TMs anstellten? Vermutlich besserten sie sich ihr Gehalt ein wenig auf und vertickten die schwächeren TMs an Team Dark, um dort in der Gunst zu steigen.

Erschöpft ging sie aus dem Labor raus. Im Umkleideraum warf sie den Laborkittel in den Wäschekorb und machte sich anschließend auf den Weg zu ihrem kleinen Apartment. Eigentlich war es Zeit für das Abendessen und ihr Bauch knurrte, aber sie hatte keine Energie, um sich extra in den Speisesaal zu begeben. Eine Tüte Chips im Bett würde es auch tun – zumindest, bis der Hunger wiederkam und sie am Ende doch wieder im Erdgeschoss landete.

Vor ihrer Unterkunft hing ein kleiner, silberner Briefkasten. Die Anzeige an der Seite war hoch geklappt, was bedeutete, dass sie im Laufe des Tages Post bekommen hatte. Neugierig schloss sie den Briefkasten auf, holte den Stapel hinaus, schloss zu und ging dann in ihr Apartment.

Sie warf sich auf ihr Bett, angelte sich die angebrochene Chipstüte und fing an, den Stapel durchzusehen. Ein Neujahrsanschreiben für alle Mitarbeiter. Eine Einladung zum Valentinsfest der Stadt Illumina City nächsten Monat. Eine Postkarte ihrer Tante Trixi aus dem Urlaub in Alola. Eine Postkarte ihrer Eltern aus dem Urlaub in Alola. Prospekte mit dem Programm der Kantine für die nächsten Wochen. Lauter Papierkram. Rain warf den Stapel neben sich auf die Bettdecke und übersah fast die kleine, schwarze Visitenkarte.

War das etwa …?

Ihr Herz begann zu klopfen, als sie die Karte zwischen die Finger nahm. Sauberer Druck, edles, dickes Papier. Die Vorderseite war komplett schwarz, die Rückseite ebenfalls. Irritiert schaute sie genauer hin und dann sah sie es. Wenn sie die Karte gegen das Licht hielt, konnte sie auf der Rückseite einen schwarzen Lackdruck erkennen, der sich von dem mattschwarzen Papier abhob.

Mitternacht. Place Cyan.

Nicht mehr und nicht weniger. Das konnte nur bedeuten, dass Team Dark endlich auf sie aufmerksam geworden war. Aber wieso bekam sie eine Visitenkarte? Hans und Werner hatten ihr erzählt, dass sie mit schwarzen Briefumschlägen rekrutiert worden waren. Man hatte direkt mit ihnen Kontakt aufgenommen und sie nicht erst an einen bestimmten Ort bestellt. Vielleicht eine Falle?

Rain saß kerzengerade auf ihrem Bett und starrte auf die schwarze Visitenkarte. Vielleicht hatte Team Dark auch sein Vorgehen geändert, weil sie vorsichtiger sein mussten. Seit Team Dark sich öffentlich dazu bekannt hatte, wieder zurück zu sein, war die Bevölkerung in Aufruhe versetzt und die Rockys aller Städte nahmen Team Dark ins Visier.

Was auch immer sie dort erwartete, Rain war sich sicher, dass es ein Wendepunkt war.

Entweder hatte sie Erfolg oder nicht.

Entweder nahm Team Dark sie auf oder nicht.

Entweder konnte sie Milena Mais Unschuld am neuen Team Dark beweisen oder nicht.

Sie atmete tief durch. Sie machte das hier nicht nur für Milena Mai, sondern weil sie nicht wollte, dass das neue Team Dark die Legendären benutzte, um nach Belieben Superpokémon züchten zu können. Natürlich könnte sie auch einfach zur Polizei gehen, aber was brachte das schon? Hans und Werner hatten Recht damit, wenn sie sagten, dass Team Dark nicht jedem vertraute. Hans hatte seinen Bruder verloren, Werner hatte ein grobschlächtiges Aussehen. Beide waren intelligente Wissenschaftler, was sie zu idealen Kandidaten machte. Sie hingegen war die Tochter von Joel Light und Faith Loraire, die vor sechsundzwanzig Jahren das alte Team Dark maßgeblich geschwächt haben. Vielleicht dachte Team Dark sich bereits, dass sie sich nur einschleusen wollte, um an Informationen zu kommen. Das würde sie womöglich in Lebensgefahr bringen. Auf der anderen Seite könnte es für Team Dark keine größere Genugtuung geben als eine Tochter der Erzfeinde auf seine Seite zu ziehen.

Rain hatte keine Möglichkeit, um diese Spekulationen zu beenden. Es waren noch etwas weniger als fünf Stunden bis Mitternacht.

Sie stand auf, um sich vorzubereiten. Fünf Stunden. Dann würde sie Team Dark gegenübertreten.

Place Cyan

5. Januar
 

- Rain -
 

Seit zwei Stunden streunte Rain durch die Straßen von Illumina City. Die Erschöpfung der letzten Tage war wie weggeblasen. Sie hatte sich geduscht, bequeme Kleidung und feste Schuhe angezogen. Anschließend war sie in der Kantine zum Abendessen gewesen, hatte ihre Pokémon gefüttert und sich auf den Weg quer durch die Stadt gemacht. Eigentlich hatte sie Camille eine Nachricht auf dem ComDex schreiben wollen, doch die Gefahr, dass Team Dark ihre Nachrichten irgendwie überwachen konnte, erschien ihr auf einmal zu groß.

Niemand außer Hans und Werner wusste, dass sie heimlich ihre Pokémon trainiert hatte. Karpador hatte sich zwar noch immer nicht entwickelt, doch sein Körper war kräftiger und definierter geworden. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihr Starter gar keine Lust hatte, sich zu entwickeln. Es trainierte zwar fleißig mit und stürzte sich voller Eifer in jede einzelne Trainingseinheit, doch in seinem Blick lag eine Sturheit, die ihresgleichen suchte. Dafür hatte sich Glumanda noch vor Weihnachten zu Glutexo entwickelt und Quajutsu hatte seinen Groll Rain gegenüber endlich bei Seite gelegt. Alle drei Pokémon gehorchten ihr aufs Wort und wussten ganz genau, dass Rain auf das Zusammentreffen mit Team Dark hinarbeitete. Wenn es hart auf hart kam, würden sie das Leben ihrer Trainerin beschützen müssen.

Rain lief den Nordring entlang, bis sie die die Straße zum Place Rose erreichte. Von dort hielt sie sich in südöstliche Richtung. Sie überquerte die Sommerallee und gelangte zum Place Cyan, auf dem am wenigstens los war von den fünf Plätzen der Stadt. Vor allem um diese Uhrzeit schien niemand mehr am Place Cyan unterwegs zu sein. Alle Fenster waren dunkel, nur drei Reklametafeln hingen nebeneinander und waren eingeschaltet.

Es war zehn vor zwölf.

Rain stand alleine mitten auf dem Place Cyan und wusste nicht, was sie erwartete. Würde jemand kommen, um mit ihr zu reden? Würde sie kämpfen müssen? Würde man sie sogar entführen?

Drei vor zwölf.

Ihr Puls stieg in die Höhe. Sie war dunkel gekleidet, um nicht weiter aufzufallen. Die kurzen, dunkelgrünen Haare hatte sie sich mit Haarklammern aus der Stirn frisiert.

Zwei vor zwölf.

Vielleicht war das doch keine so gute Idee.

Eine Minute vor zwölf.

Jetzt konnte sie auch keinen Rückzieher mehr machen.

Der Sekundenzeiger überquerte die Zwölf.

Es war Mitternacht.

Nichts passierte.

Unsicher schaute sie sich um. Noch immer war sie ganz alleine. Nicht einmal Pokémon ließen sich blicken, weil die Stadt abseits der Alleen und der beiden Ringstraßen im Tiefschlaf lag. Auch in den folgenden Minuten tat sich nichts und Rains Puls ebbte wieder langsam ab. Das konnte doch nicht sein. Irgendetwas musste sie übersehen.

Sie begann den Place Cyan abzulaufen, spähte in jede der abzweigenden Straßen hinein. Nichts. Frustriert kehrte sie zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Hier war nichts, nur Dunkelheit und die drei Reklametafeln, von denen eine gerade ihren Geist aufgab und zu flackern begann.

Werbung für das Café Twister nahe des Café Verte. Die Reklametafel leuchtete in einem dezenten Grün.

Werbung für das Valentinsfest in einem matten Rosa.

Daneben die flackernde Reklametafel. Neongelb und grell. Die Augen eines Magnayen starrten auf Rain hinab. Route 5 immer geradeaus. Der Weg zur Dunkelheit. Daneben ein kleines, blinkendes Bild vom Château Tristesse. War das Werbung für das Spukhaus? Der Weg zur Dunkelheit.

Team Dark … Dunkelheit.

Sie stöhnte innerlich auf. War das hier so etwas wie eine schlechte Schnitzeljagd? Es war zumindest der einzige Hinweis, den sie hatte. Als hätte jemand ihre Gedanken gelesen, hörte das Schild auf magische Weise wieder auf zu flackern. Sie drehte sich um und folgte der Anweisung, indem sie die Straße zum Südring betrat. Auf halber Höhe zweigte eine finstere, zwielichtige Gasse ab. Daneben klebte ein Plakat vom Château Tristesse.

Rain zögerte nicht und betrat die Gasse. Nach wenigen Schritten wurde sie von der Finsternis der hohen Mauern geschluckt. Sie ging weiter, bis fast ganz ans Ende, wo auf einmal eine blauweiße Lichtkugel aufleuchtete und sie blendete.

Ein Banette schwebte am Ende der Sackgasse sanft auf und ab und ließ ein Irrlicht über seiner Handfläche tanzen. Neben ihm stand seine Trainerin. Schwarze, eng anliegende Kleidung war schon Hinweis genug, dass es sich um ein Mitglied von Team Dark handelte, nur die bunte Perlenkette an ihrem Hals passte nicht so ganz ins Bild. Ihre blondbraunen, gelockten Haare trug sie in einem langen Pferdeschwanz. Der Blick war auf eine Stoppuhr geheftet, die sie gerade in diesem Augenblick anhielt. „Etwas über zwölf Minuten. Nicht die schnellste, aber noch akzeptabel. Bei über fünfzehn Minuten hätte ich dich disqualifizieren müssen.“ Gelangweilt kaute sie auf einem nach frischen Beeren riechenden Kaugummi herum und stieß sich lässig von der Wand ab. „Wie heißt du?“

„Rain Light.“

„Ah, das kleine Forschermädchen. Schoßhund von Milena Mai.“

Dachte Team Dark so über sie? Rain bekam einen Kloß im Hals und wollte etwas erwidern, verkniff sich diesen Kommentar jedoch. „Und du gehörst zu Team Dark?“

Die junge Frau schaute sie über ihre Stoppuhr hinweg gelangweilt an. „Sehe ich so aus?“ Dann schaute sie an sich selbst herunter, musste ein wenig grinsen und packte die Stoppuhr weg. „Na, ist auch egal. Ich helfe hier nur aus, weil ich jemandem einen Gefallen schuldig war. Eigentlich habe ich nicht viel mit Team Dark zu tun.“

Also war sie niemand, der irgendwie das Sagen hatte, schlussfolgerte Rain. „Was passiert jetzt? Was will Team Dark von mir?“ Sie fand es gut, erst einmal unschuldig zu tun. „Ich habe nichts getan.“

Die andere seufzte. „Davon weiß ich nichts. Aber du hast diesen Test bestanden. Hier.“ Sie hielt ihr einen schwarzen Briefumschlag hin.

Rain nahm den Umschlag entgegen, öffnete ihn und las laut vor: „Herzlichen Glückwunsch, Sie sind auserwählt, Teil von etwas Großem zu werden! Wir können Ihnen die Zukunft bieten, die Sie sich immer erträumt haben. Eine einmalige Chance wartet nur darauf, von Ihnen ergriffen zu werden! Sie haben einen Wunsch oder ein Problem? Wir haben die Lösung! Schließen Sie sich Team Dark an und im Austausch für Ihre uneingeschränkte Loyalität bieten wir Ihnen die Möglichkeit, Ihre Träume wahr werden zu lassen.“ Sie klappte den Brief zu. „Das ist alles? Damit lockt Team Dark seine Mitglieder an?“

„Jeder Mensch hat seinen Preis“, antwortete die junge Frau schulterzuckend. „Wenn du genau darüber nachdenkst, gibt es mit Sicherheit etwas, was du dir wünschst, was dir aber sonst keiner geben kann. Macht, Ansehen, Geld, Ruhm, einen festen Job als Milenas Assistentin.“ Sie machte eine Kunstpause. „Was auch immer. Es ist deine Entscheidung.“ Sie setzte sich in Bewegung und ihr Banette schwebte schweigend hinter ihr her.

Rain schaute ihr hinterher. „Was passiert jetzt?“

„Team Dark wird sich mit dir in Verbindung setzen. Ich bin jetzt raus. Mein Job ist hier getan.“

„Warte mal, du kannst mich doch nicht einfach hier stehen lassen?“

„Doch, klar.“

„Warte!“ Rains Hand glitt zu ihrem Trainergürtel und schwebte über den Pokébällen.

Die andere registrierte diese Bewegung und zog eine Augenbraue nach oben. „Lass gut sein, Kindchen.“

„Du bist nur ein paar Jahre älter als ich.“

„Und du bist keine Herausforderung für mich. Glaub mir. Banette ist stark genug, um jedes deiner Pokémon in den Boden zu stampfen – genau wie jedes meiner anderen Pokémon. Ich gehöre nicht zu Team Dark, ich habe nur jemandem einen Gefallen getan. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Überleg dir lieber ganz genau, ob das hier wirklich das ist, was du willst.“

Das konnte ein Test sein. Sie wollte herausfinden, ob Rain es ernst meinte, also legte sie einen ernsten Gesichtsausdruck auf. „Nein, ich habe es satt, im Schatten meiner Familie zu stehen. Ich will etwas Großes erschaffen, etwas Bedeutsames. Ich möchte etwas in der Welt verändern.“

Einen Moment lang starrte die andere nur zurück. „Das ist schade, ich hätte dich anders eingeschätzt. Wir beide haben das.“ Dann seufzte sie. „Diese beiden anderen Labortrottel werden dich morgen Abend abholen und ins Quartier bringen, wenn es das ist, was du willst. Jeder muss selbst entscheiden, was er aus seinem Leben machen will.“ Erneut zuckte sie mit den Schultern und kehrte Rain den Rücken zu. Nur ihr Banette ließ Rain nicht aus den Augen.

Rain ballte die Hände zu Fäusten. „Wer ist der andere? Du hast gesagt, dass du und noch jemand mich nicht so eingeschätzt haben. Wen meinst du?“

„Bye, Kindchen.“

Banette schnaubte, das Irrlicht erlosch.

Rain blieb in der Dunkelheit zurück.

Victor Kramshoff

6. Januar
 

- Summer -
 

„Na endlich“, seufzte Summer und legte den ComDex, an dem sie bis gerade eben noch herumgedoktort hatte, zurück auf den Tisch. „Hast du was gefunden?“

Bryce zuckte mit den Schultern und reichte ihr ein Ersatzteil, das er Schwester Joy abschwatzen konnte. „Damit müsste es wieder funktionieren. Gib mal her.“ Er nahm Summers ComDex, öffnete die Klappe und tauschte das kleine Ersatzteil aus. Anschließend startete er das Gerät neu und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Funktioniert wieder. Hier, bitte.“

Summer schnappte sich ihren ComDex und grinste erleichtert. „Vielen Dank. Mein Held.“

„Schwester Joy schreibt dir eine Rechnung, die du bezahlen kannst, wenn wir auschecken.“

Diese Neuigkeit ließ Summers Grinsen sofort wieder verschwinden. „Als ob unser Aufenthalt nicht schon teuer genug ist.“

„Ich habe dir gesagt, dass du die Finger von den Wetten für Pokémonrennen lassen sollst. Überhaupt frage ich mich, wie unseriös dieser Kerl gewesen sein muss, dass er einem Teenager Geld abknöpft.“ Er blickte seine Begleiterin streng über den Rand seiner Brille hinweg an. „Wie willst du deine Reisekasse jetzt wieder auffüllen?“

„Ich werde mir wohl einen Job suchen müssen“, meinte Summer, stand auf und streckte sich. „Und ich habe auch schon eine Idee.“

„Na toll.“

„Hey!“ Sie boxte ihm spielerisch gegen die Schulter. „Hier in Vanitéa habe ich schon alle Möglichkeiten abgegrast, aber man hat mir gesagt, dass auf der Rennbahn immer Aushilfen gesucht werden. Vielleicht finde ich jemanden, für den ich die Ställe saubermachen kann.“

Bryce wiegte seinen Kopf nachdenklich hin und her. „Klar, daran habe ich gar nicht gedacht. Aber wenn du auf der Rennbahn arbeiten willst, musst du erst an Olga Kramshoff vorbei. Ihr gehört die Rennbahn und sie ist die Präsidentin des Verbands für Pokémonrennen. Sie hat das Sagen.“

„Ich weiß, wer sie ist. Sie war schon häufiger im Fernsehen zu sehen. Diese Frisur“, Summer deutete den riesigen Bienenkorb, zu dem Olga Kramshoff ihre bunt gefärbten Haare toupierte, mit den Händen an, „werde ich nicht vergessen. Und wenn schon. Wir gehen einfach hin und fragen nach, ob wir bei ihr arbeiten können.“

„Wir?“, hakte Bryce nach, doch Summer ignorierte seine Nachfrage und tänzelte bereits davon. Kopfschüttelnd folgte er ihr durch die automatischen Schiebetüren des Pokémon-Centers nach draußen in die winterliche Kälte. Auf den ersten Blick lag das kleine Städtchen Vanitéa friedlich dar, doch je länger sie hier waren, desto häufiger bemerkten sie, wie die Menschen über die Rückkehr von Team Dark tuschelten. Die meisten glaubten, dass Milena Mais Umzug nach Kalos Beweis genug dafür war, wieso Team Dark nun hier auftauchte, doch laut sprach dies niemand aus.

Nachdem Bryce Summer eingeholt hatte, schlenderten sie Seite an Seite durch die verschneiten Straßen in Richtung von Route 7. Nördlich davon lag die Rennbahn und noch ein Stück weiter im Norden befand sich das riesige Anwesen der Familie Kramshoff – nur der näher an der Stadt gelegene Magnum-Opus-Palast war noch pompöser.

Auf ihrem Weg begegnete ihnen nur eine junge Trainerin, die mit ihrem Chelast und ihrem Igamaro im Schnee spielte. Summer nickte ihr höflich zu, doch sie wurde ignoriert – womöglich hatte das Mädchen Angst, zu einem Trainerkampf herausgefordert zu werden. Auch Bryce hüllte sich in stures Schweigen, weshalb Summer ihren Gedanken nachhing, bis sie nach etwa einer Stunde Fußweg die Abzweigung fanden, die zum Magnum-Opus-Palast führte. Sie hielten sich westlich davon, überquerten den Fluss an einer steinernen Brücke und folgten dem Weg in nördliche Richtung. Die Rennbahn war bereits ausgeschildert – blieb nur zu hoffen, dass sie dort überhaupt jemanden antreffen würden, der ihnen weiterhelfen konnte.

Als sich die Bäume allmählich zu lichten begannen, kam relativ schnell die Rennbahn mit den vielen Stallungen, Tribünen und kleinen Geschäften in den Sinn. Alle Gebäude waren mit bunten Fahnen und Girlanden geschmückt, die nun eingefroren zu Boden hingen. Zur Hauptsaison musste hier reger Trubel herrschen, doch im Winter fanden keine regulären Rennen statt.

Kaum dass sie das Gelände betreten hatten, rückte Bryce seine Brille zurecht und schaute sich neugierig um. „Dort hinten sind die Ställe. Ich denke, wir sollten dort unser Glück versuchen. Wenn jemand hier ist, dann vermutlich dort.“

„Okay“, sagte Summer und folgte ihm bis zu der Absperrung, in deren Mitte sich ein verschlossenes Metalltor befand. „Weiter geht es nicht.“

„Hm.“

„Sollen wir drüberklettern?“

„Spinnst du?!“, zischte er ihr überrascht zu. „Nein!“

„Ich meine ja nur …“

„Entschuldigung, kann ich euch helfen? Wir haben geschlossen. Besucher haben hier nichts verloren.“ Hinter ihnen stand ein Mann mittleren Alters im Blaumann und mit zwei großen Eimern voller Beeren. Er musterte sie argwöhnisch. „Kommt im Frühjahr wieder.“

„Wir wollten nicht stören“, begann Summer sofort und setzte ihr bestes Lächeln auf. „Wir sind auf der Suche nach einem kleinen Nebenjob, solange wir in Vanitéa verweilen. Zwei, drei Wochen vielleicht. Ich dachte mir, dass Sie bestimmt jemanden brauchen, der Ihnen bei den Ställen helfen könnte?“

Der Mann schnaubte gelangweilt. „Wie schon gesagt, kommt im Frühjahr wieder. Außerhalb der Rennsaison sind hier keine Pokémon untergebracht.“

„Und was machen Sie dann mit den Eimern voller Beeren?“

Er presste die Lippen aufeinander. „Geht dich einen Scheißdreck an, Kindchen. Los, verschwindet jetzt, alle beide.“

„Summer, wir sollten jetzt gehen …“ Bryce räusperte sich, zupfte Summer am Ärmel und setzte sich bereits in Bewegung.

Doch sie stemmte die Hände in die Hüften. „Sie sind ganz schön unhöflich!“

Der Mann verschränkte die Arme vor dem Körper und gab damit den Blick auf seinen Trainergürtel drei, an dem sich drei Pokébälle befanden. „Wenn du Ärger willst, musst du es nur sagen.“

Summer kniff trotzig die Augen zusammen.

„Gibt es ein Problem?“ Die männliche Stimme kam aus Richtung der Ställe.

„Nein, wir wollten gerade gehen“, erklärte Bryce beschwichtigend.

Summer fixierte den jungen Mann am Eingang der Ställe. Irgendwoher kannte sie ihn … War er nicht … Vielleicht … Dann fiel es ihr ein. Sie erinnerte sich an die hellblonden Haare, die hellgrünen Augen, die Sommersprossen und den herablassenden Tonfall. „Du! Ich kenne dich! Du warst auch auf der Mähikel-Farm und bist mit deinem Kramshef abgehauen, als die Schlammlawine auf Route 12 den Weg nach Tempera City versperrt hat. Wir waren auf der Farm eingeschlossen.“

In seinem Blick blitzte nicht der Hauch von Erkennen wieder. „Ich wüsste nicht, dass ich mich mit jemandem wie euch abgebe.“

Der Mann schaute unsicher zwischen Summer und dem Jungen hin und her. „Chef?“

Der Junge winkte ab, überquerte den schmalen Platz und blieb auf der anderen Seite der Absperrung stehen. Er hatte einen Stapel schwarzer Briefumschläge in der Hand, mit denen er genervt gegen die Streben der Absperrung klopfte. „Verschwindet. Das ist Privatgelände der Familie Kramshoff.“

Bryce wurde die Situation zunehmend unangenehmer. Er knetete seine Hände durch und warf Summer immer wieder flehende Blicke zu. „Gehen wir einfach …“

Summer schüttelte den Kopf und schürzte dabei die Lippen. „Doch, du bist es, ich bin mir ganz sicher. Erinnerst du dich nicht an die Mähikel-Farm? Du hast mit Rocco Karten gespielt, als Bryce und ich angekommen sind. Und abgesehen davon – wenn das hier Privatgelände ist, was hast du dann hier zu suchen? Ich möchte nur einen Nebenjob haben, kein Grund, uns so schlecht zu behandeln.“

Der Junge starrte sie aus seinen hellgrünen Augen schlecht gelaunt an. „Doch, allmählich erinnere ich mich wieder und ich fand dich schon damals nervig.“ Dann lachte er kurz auf. „Und wer ich bin? Wer ich bin?“ Mit arrogantem Blick strich er sich über das Revers seines schwarzen Mantels. „Ich bin Victor Kramshoff, Enkel von Olga Kramshoff und zukünftiger Erbe der Kramshoff-Rennbahn.“

„Chef?“ Noch immer schaute der Stallarbeiter zwischen ihnen hin und her.

Victor gab ihm ein Zeichen. „Schmeiß sie raus. Entferne sie von meinem Gelände. Mach mit ihnen, was du willst. Und ihr lasst euch hier gefälligst nicht mehr blicken, verstanden?“ Mit Genugtuung sah er dabei zu, wie sein Handlanger Summer und Bryce an den Armen packte und zur Einfahrt begleitete.

„Ihr habt den Chef gehört. Kein Zutritt für euch – und ganz sicher kein Job.“

„Hey, das ist ganz schon fest!“ Summer riss sich aus dem eisernen Griff und rieb sich die schmerzende Stelle am Oberarm. „Alles okay bei dir?“, flüsterte sie Bryce zu, der nickte. „Gut.“ Anschließend warf sie dem Mann einen giftigen Blick zu. „Meine Familie wird definitiv niemals hier die Rennbahn besuchen.“ Dann drehte sie sich um und stapfte einige Schritte davon.

Bryce folgte ihr. „So ein arroganter Idiot, dieser Victor. Dabei kommt seine Großmutter im Fernsehen immer total sympathisch rüber.“

„Seine Großmutter, ja …“ Schlagartig blieb Summer stehen. Ihr Gesicht erhellte sich. „Seine Großmutter, natürlich! Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht?“

„Oh nein, ich kenne diesen Blick …“

Summer strahlte ihn an. „Ich habe eine viel bessere Idee. Lass uns direkt zu Olga Kramshoff gehen. Wenn uns jemand einen Nebenjob besorgen kann, dann sie.“

Olga Kramshoff

6. Januar
 

- Summer -
 

„Das ist keine gute Idee. Ganz und gar keine gute Idee“, wisperte Bryce leise vor sich hin. „Summer, bitte, lass uns einfach wieder gehen.“

„Du hättest ja nicht mitkommen müssen“, erwiderte sie und schwang sich über die Hecke, die das Anwesen der Familie Kramshoff umrundete. Mit Onix‘ Hilfe war es ein Kinderspiel, die andere Seite zu erreichen.

„Wir brechen hier gerade ein, das kann ich nicht gutheißen.“

„Einbruch ist ein böses Wort. Wir verschaffen uns nur Zutritt, nachdem Victor so ein Arschloch gewesen ist. Dank ihm würden wir es nie durch den Vordereingang schaffen.“

Bryce seufzte. „Du bringst uns noch ins Gefängnis, weißt du das? Nur weil du eine Light bist, kann deine Familie nicht alles für dich regeln. Bei Arceus …“ Trotz seiner Beschwerden ließ er sich ebenfalls von Onix auf die andere Seite setzen und kam mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf.

Summer schnitt eine Grimasse und zog ihr Starterpokémon in den Pokéball zurück. Sie überlegte schon eine Weile, es in ein Stahlos weiterzuentwickeln, doch dafür würde sie erst irgendwo einen Metallmantel auftreiben müssen – und das nötige Kleingeld bekam sie nur zusammen, wenn die reiche Rennbahnbesitzerin ihr einen Job gab. Und dann war da noch das Armband mit dem Mega-Stein Gluraknit Y, den sie von der Cousine ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte. Die Tatsache, dass manche Pokémon bei besonders enger Verbindung zu ihrem Trainer eine Mega-Entwicklung vollführen konnten, hatte sie bislang in ihrem Training ausgeblendet. Selbst Bryce war ihr bei dem Thema keine große Hilfe gewesen, da die Pokémon Tec in Kanto das Thema eher stiefmütterlich behandelt hatte.

„Willst du noch lange hier rumstehen?“

Bryce‘ Worte rissen Summer aus ihren Gedanken. Sie schüttelte stumm den Kopf und steuerte quer durch die riesige Parkanlage auf das Kramshoff-Anwesen zu. Schon von Weitem sah man das graue Steingebäude mit den hohen Spitzbogenfenstern, Türmchen und dunkelroten Vorhängen. Sie näherten sich von der Seite, hatten aber dennoch den Blick frei auf eine breite Einfahrt mit weißem Schotterbelag, die vor dem Gebäude um einen kreisrunden Brunnen mit Kramshef-Statue führte. Soweit Summer wusste, war Kramshef das Wappenpokémon der Familie Kramshoff, die vor einigen Generationen als reiche Kaufleute aus dem Ausland nach Kalos gekommen waren. Zwar präsentierte die Familie sich gerne als adelig, war es jedoch nicht – eine Tatsache, die von dem Adel in Kalos gerne unterstrichen wurde.

„Mich wundert, dass noch keiner in den echten Adel eingeheiratet hat“, sagte Summer nach einer Weile und blieb abseits der Einfahrt hinter einer dichten Rosenhecke, die mit Jutebeuteln abgedeckt war, stehen. „Stell dir nur vor, Victor hätte einen Adelstitel. Er würde sich noch schlimmer aufführen.“

„Das wissen wir doch gar nicht“, erwiderte Bryce nervös. Er nestelte ununterbrochen an seiner Brille rum und fuhr sich alle paar Sekunden durch die braunen Haare. „Da hinten wäre der normale Haupteingang. Schau dir nur das Wachhaus an – und die beiden Hundemon. Wenn die uns entdecken, sind wir geliefert …“

„Also nehmen wir nicht die Vordertür?“

„Natürlich nicht, die Hundemon würden uns sofort sehen und Alarm schlagen!“, zischte er aufgebracht. „Wir könnten einfach zurück zur Hecke, Onix bringt uns raus und wir tun, als wäre nichts gewesen.“

„Oder“, konterte Summer gelassen, „wir probieren es hinter dem Haus. Vielleicht gibt es dort einen Dienstboteneingang. Unser Haus hat so etwas auch.“ Sie konnte Bryce‘ Blick, den er ihr daraufhin zuwarf, nicht wirklich deuten, doch es war ihr auch egal. Auf leisen Sohlen schlich sie von der Einfahrt wieder weg und umrundete in sicherem Abstand das Schloss.

Vorsichtig schlichen sie in der Parkanlage umher und inspizierten dabei, ob sie einen Hintereingang zum Anwesen fanden, doch Fehlanzeige. Enttäuscht seufzte Summer. „Es muss einen Nebeneingang geben, aber wahrscheinlich haben wir ihn übersehen.“ Sie ließ sich auf eine Parkbank sinken und schaute in den Himmel, wo ein einzelnes Kramshef seine Runden zog. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf Bryce. „Vielleicht sollten wir wirklich zurückgehen.“

Erleichtert atmete er durch. „Na endlich. Beeilen wir uns.“ Er zog Summer wieder von der Bank hoch in den Stand und schaute sich um. „Wir müssen dort entlang oder?“

„Nein, da drüben lang.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir dort hinten hinmüssen.“

„Ist das nicht egal, wo Onix uns über die Hecke setzt?“

„Eigentlich schon“, gestand Bryce zögerlich. „Aber ich würde mich besser fühlen, wenn wir keinen unbekannten Weg nehmen.“

„Na schön“, murrte Summer und folgte ihm durch die verschlungenen Wege zwischen den Bäumen und Hecken. Hin und wieder kamen sie an kleinen Brunnen oder Pokémon-Statuen vorbei – allesamt Unlicht-Pokémon.

Kaum dass sie um eine Ecke gebogen waren, stolperten sie in eine Person hinein, die an einem der Brunnen lehnte.

Olga Kramshoff.

Und neben ihr ein gut ein Meter großes Kramshef, das seinen Schnabel leicht geöffnet hatte.

Olga Kramshoff lächelte sie finster an. Sie trug einen wadenlangen, schwarzen Wollmantel und in ihren bunt gefärbten Haaren zeichnete sich ein schwarzgrauer Ansatz ab. „Wladimir war so nett und hat mir gesagt, dass zwei Diebe auf meinem Anwesen unterwegs sind.“ Dabei kraulte sie den Kopf ihres Pokémon, das Summer und Bryce keine Sekunde aus den Augen ließ. „Aber ich habe nicht mit zwei Kindern gerechnet.“

Summer schaute die reiche Dame mit großen Augen an. „Das ist gelogen, wir sind keine Diebe!“

„Und wieso schleicht ihr hier herum?“

Bryce hatte es schier die Sprache verschlagen, so kreidebleich und geschockt stand er neben Summer.

Diese schnaubte leise in Richtung ihres Begleiters. „Eigentlich sind wir hier, weil ich Sie nach einem Job auf der Rennbahn fragen wollte. Wir sind Pokémontrainer und wollen uns etwas Geld dazu verdienen, solange wir in Vanitéa sind, aber dort gibt uns niemand Arbeit. Wir waren zuerst bei der Rennbahn, aber Victor hat uns ziemlich barsch abgewiesen. Deshalb dachte ich mir, ich frage Sie höchstpersönlich.“

Olga lachte amüsiert auf. „Ihr wollt, dass ich euch Arbeit gebe? Und meinen Enkel kennt ihr auch?“

„Kennen würde ich das nicht nennen …“ Summer verzog kaum merklich das Gesicht.

Noch immer lachte Olga laut vor sich hin, bevor sie die pink geschminkten Lippen zu einem breiten Grinsen verzog. „Ihr habt Mumm, wenn ihr euch einfach auf mein Gelände schleicht. Victor ist viel beschäftigt und mein Sohn und seine verkommene Frau Alana besuchen mich nie. Die Tage können sehr lang und einsam sein. Ihr amüsiert mich. Also gut. Reden wir über die Arbeit. Aber zuerst trinken wir einen Tee.“

Ehe sie sich versahen, fanden sie sich in einem geräumigen Teesalon wieder. Die Sessel waren mit teurer Seide bezogen und auf jedem einzelnen Sofakissen war das Wappen der Familie Kramshoff eingestickt. Wladimir saß im angrenzenden Wintergarten am offenen Balkonfenster und starrte die Besucher feindselig an. Neben dem Sofa stand eine breite Liege, auf der ein Shnurgarst mit Diamanthalsband schnarchte.

„Anna, musst du immer so laut schnarchen“, tadelte Olga das Katzenpokémon, das lediglich träge ein Augenlid anhob und sich dann auf die andere Seite rollte. Lachend schenkte Olga den Tee ein und reichte dazu frisches Gebäck und kandierte Beeren.

Bryce hielt sich zurück und starrte in seine Teetasse hinein, während Summer von allem etwas auf ihren Teller lud. Im Gegensatz zu ihr fühlte er sich komplett unwohl und fehl am Platz.

„Ihr wollt also für mich arbeiten?“, griff Olga das Gespräch aus dem Garten wieder auf, während sie an ihrer Tasse nippte und diese dann auf dem Beistelltisch abstellte. „Was genau habt ihr euch vorgestellt? Es ist Wintersaison. Wir haben höchstens ein Rennen pro Monat. Bis zur Hauptsaison dauert es noch.“

„Nun“, begann Summer und musste feststellen, dass sie absolut keine Ahnung hatte. „Ich weiß es nicht.“

Olga hob prüfend eine Augenbraue nach oben.

„Es ist so: Ich – Bryce auch – brauche Geld und die Rennbahn erscheint uns dafür eine gute Möglichkeit zu sein. Wir könnten die Ställe ausmisten oder die Rennpokémon füttern.“

„Dafür habe ich meine Leute“, sagte Olga gelangweilt. „Wieso erzählt ihr mir stattdessen nicht etwas von euch? Ich habe selten Besuch. Fangen wir doch damit an: Wie heißt ihr? Wie alt seid ihr? Woher kommt ihr?“

„Oh, okay.“ Summer setzte sich gerade hin. „Ich bin Summer Light, ich bin sechzehn Jahre alt und komme aus Honey Island in Finera.“ Als Bryce nichts sagte, fuhr sie fort: „Und das ist Bryce Dearing, achtzehn Jahre alt und Pro-Trainer aus Azuria City. Er ist etwas schüchtern.“

Bryce stupste sie unter dem Tisch an.

Olga nickte. „Summer Light … Finera …“ Ein Schmunzeln umspielte ihre Lippen. „Du bist nicht zufällig mit Faith Loraire-Light verwandt?“

„Faith Light und ja, das ist meine Mutter, wieso?“

„Deine Mutter, ich verstehe. Ich weiß, was sie damals gegen Team Dark unternommen hat. Wer kennt diese Geschichte nicht? Umso erfreulicher, dass ausgerechnet eine ihrer beiden Töchter bei mir im Salon sitzt und mit mir Tee trinkt. Feinste Auslese aus Alola, wohlgemerkt. Du hast doch noch eine Zwillingsschwester, wie hieß sie noch gleich? Storm? Thunder? Winter?“

„Rain. Sie lebt und arbeitet im Moment bei Mai Technologies in Illumina City.“

„Nein, was ein Zufall.“ Noch immer schmunzelte Olga in sich hinein. Dann, von jetzt auf gleich, erhob sie sich. „Ihr könnt drei Tage in der Woche in den Stallungen hier auf dem Gelände aushelfen, nicht auf der Rennbahn. Queen Sparkle hat zwar genug Personal, aber Baron Jean de Buis wird in den nächsten Tagen anreisen. Er ist nicht nur ihr Reiter, sondern auch ihr Züchter und bringt den Nachwuchs mit. Ein paar der Ponita sollen sehr vielversprechend sein. Morgen früh könnt ihr anfangen. Ich werde meinem Sicherheitspersonal an der Einfahrt Bescheid geben, damit sie euch zu den Ställen lassen.“

„Oh, eh … danke? Das ist sehr überraschend und auch sehr nett von Ihnen.“

Bryce fand endlich seine Sprache wieder und nickte. „Ja, vielen Dank. Wie viel verdienen wir denn dabei?“

„Genug, junger Mann“, wies Olga Kramshoff ihn ab und richtete ihren Blick wieder auf Summer. „Deine Mutter wird sicherlich sehr betrübt darüber sein, dass Team Dark zurückgekehrt ist. Ausgerechnet ihre beiden Töchter befinden sich in der Region, in der das neue Team Dark aktiv geworden ist. Und deine Schwester arbeitet für ihre Erzrivalin Milena Mai. Dieser Tag ist interessanter geworden, als ich dachte. Wirklich außerordentlich interessant.“ Dann klatschte sie in die Hände. Anna erhob sich und trottete aus dem Salon hinaus in den Flur. „Victor wird euch morgen früh erwarten. Punkt acht Uhr. Ich dulde keine Verspätungen.“ Während sie bereits halb aus der Tür hinausging und einer ihrer Angestellten hervortrat, um Summer und Bryce hinaus zu begleiten, drehte sie sich noch einmal um. „Ich hoffe sehr, dass du und deine Schwester von Team Darks Angelegenheiten verschont bleiben. Es betrübt mich immer wieder, zu sehen, wie ahnungslos und naiv manche Kinder mit diesen Themen umgehen. Aber hab keine Angst, hier auf meinem Anwesen bist du sicher. Niemand legt sich mit der Familie Kramshoff an.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leser, ich habe eine Sidestory zu Finera DotD veröffentlicht :) Ihr findet sie als Verlinkung auf der Übersichtsseite dieser FF oder unter meinen anderen FFs: Finera - Path of Ice. Darin wird die Vorgeschichte von Mila Mayham erzählt, dem Idol, das schon ein paar Mal in dieser FF erwähnt worden ist. Mila ist zum Zeitpunkt von DotD ein Jahr lang von der Bildfläche verschwunden gewesen und gerade wieder in die Öffentlichkeit getreten. Was sie in diesem Jahr erlebt hat, erfahrt ihr in der Sidestory :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (263)
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Von:  Yurippe
2017-10-22T09:23:31+00:00 22.10.2017 11:23
Ein neues Kapitel! <3

Hier fehlt ein B:
„Wir könnten einfach zurück zur Hecke, Onix bringt uns raus und wir tun, als wäre nichts gewesen.“

„Du bist nicht zufällig mit Faith Loraire-Light verheiratet?“
Nicht verwandt?`O.o

Ich glaube ja immer noch, dass Viktor mit Team Dark unter einer Decke steckt.
Antwort von:  Kalliope
22.10.2017 16:38
Ja, das steht aber schon länger drin :D

Wo genau fehlt da ein B?
Den anderen Punkt habe ich korrigiert :)

Das wirst du noch erfahren, was es mit Victor und Team Dark auf sich hat :D Wer weiß, vielleicht hängt seine liebe Oma ja auch noch mit drin?
Antwort von:  Yurippe
23.10.2017 02:54
Wieso habe ich das erst heute gesehen?

Komisch, da fehlt doch kein B, als ich es zuerst gelesen habe, stand da noch "Onix ringt aus raus"...

Die Oma ist auf jeden Fall verdächtig.
Antwort von:  Kalliope
23.10.2017 12:00
Das Kapitel ist jetzt erst durch die Freischalter geprüft worden, dann wird es immer noch ein 2. Mal auf der persönlichen Startseite angezeigt :)
Antwort von:  Yurippe
23.10.2017 15:12
Ja, aber wieso habe ich das erste Mal verpasst? Ich glaube, ich brauche Urlaub...
Von:  Yurippe
2017-08-30T19:38:14+00:00 30.08.2017 21:38
Aha, da werden doch sicher Geschäfte für Team Dark abgewickelt, deshalb die Geheimniskrämerei und die schwarzen Umschläge.

„Meine Familie wird definitiv niemand hier die Rennbahn besuchen.“ Du meinst bestimmt "niemals", oder? ;)
Antwort von:  Kalliope
30.08.2017 23:32
Wir werden es noch erfahren :D Jedenfalls versuche ich, dass es jetzt halbwegs regelmäßig weiter geht, sowohl hier als auch bei der anderen Pokémon FF.

Oh, ja, das muss ich ändern :)
Antwort von:  Yurippe
31.08.2017 04:50
Yeah!!! (^.^)/
Von:  yazumi-chan
2017-06-22T20:39:24+00:00 22.06.2017 22:39
Dass sie nicht zu Team Dark gehört, finde ich umso interessanter, und sie hat ein Banette <3 Wer ist der mysteriöse Andere? Was wird Rain in Team Dark vorfinden? Was ist ihr Ziel? Fragen über Fragen :D
Antwort von:  Kalliope
22.06.2017 23:04
Banette für alle :D Ja, sie musste ein Banette haben, aber ihre übrigen Pokémon sind auch ganz cool. In dieser FF wird sie nur einen Gastauftritt haben, in Finera Path of Ice kommt sie öfter vor und wird auch ein fester Nebencharakter (wobei PoI ein Jahr vor DotD spielt). Ich hoffe, ich werde die Fragen im weiteren Verlauf alle zu deiner Zufriedenheit klären können :)
Von:  yazumi-chan
2017-06-22T20:33:35+00:00 22.06.2017 22:33
Uhh, jetzt wirds spannend. Ich freue mich schon auf die Undercover-Arbeit. Das Zusammentreffen mit Summer hätte ich ja schon gerne miterlebt, die beiden scheinen ja gerade wirklich nicht gut auf einander zu sprechen zu sein.
Antwort von:  Kalliope
22.06.2017 23:03
Juchu, ein Kommentar von dir <3
Ich habe lange überlegt, ob ich das Treffen einschieben soll, aber es hätte die Handlung nicht weiter gebracht, deshalb habe ich es gelassen. Zumal das Treffen auch nur sehr kurz war und beide ihr eigenes Ding machen.
Von:  Wolfsfeuer
2017-06-01T06:25:48+00:00 01.06.2017 08:25
Spannend, spannend. Mal schauen wer der andere ist. Aber immerhin hat es Rain in Team Dark geschafft, mal schauen ob sie es auch schafft ihr Ziel zu erreichen oder ob sie ebenfalls vom Weg abkommt. Wenn Summer das rauskriegt wird es eine Szene geben ^^'
Antwort von:  Kalliope
01.06.2017 10:15
Wenn Summer das herausfindet, wird es definitiv mehr als nur eine Szene geben ^^"
Von:  Yurippe
2017-05-31T13:20:53+00:00 31.05.2017 15:20
Wer ist der Andere?? Ist es... Henry?
Mach es doch nicht so spannend! >.<
Antwort von:  Kalliope
31.05.2017 15:22
Wer weiß, wer weiß :D
Aber falls es Henry wäre, wie sollte er wissen, dass Rain sich Team Dark angenähert hat? Er sitzt munter in Finera in seiner Pizzastube fernab vom Geschehen.
Antwort von:  Yurippe
31.05.2017 15:26
Behauptest du jetzt ;)
Antwort von:  Kalliope
31.05.2017 23:20
Ja, behaupte ich mal :D
Von:  Yurippe
2017-05-31T12:14:06+00:00 31.05.2017 14:14
Mach es doch nicht so spannend!!!!!! Ich habe zwar schon wieder vergessen, was damals nach der Entführung passiert ist (und werde es noch mal nachlesen), aber ich will wissen, wie es weitergeht. Ich frage mich auch, wieso Rain so viel für Milena Mai riskiert.
Antwort von:  Kalliope
31.05.2017 15:03
Das nächste Kapitel ist schon online ;)
Rain ist der Meinung, dass Milena Mai missverstanden ist und damals wirklich nur etwas Gutes tun wollte (Krankheiten heilen), nur dass sie dafür einen falschen Weg gewählt hat (Legendäre fangen, mit ihnen experimentieren und Team Dark gründen, um an ihre Ziele zu kommen). Sie findet es nicht gut, dass auch nach 26 Jahren noch immer alle auf Milena Mai herumhacken und sie auf Team Dark reduzieren, obwohl sie auch viel Gutes mit ihrer Forschung bewirkt hat (Medikamente, Heilmaschinen für das Pokémon-Center etc.). Man muss bedenken, dass Rain ein Teenager ist und selbst damit zu kämpfen hat, wie sie sich identifiziert und wohin sie in ihrem Leben gehen will. Dass sie zwei so berühmte Eltern hat, macht es nicht besser, und Summer bekommt von allen die Sympathien, weil sie so offen und extrovertiert ist.
Antwort von:  Yurippe
31.05.2017 15:09
Ich sollte doch eigentlich selbst schreiben und nicht lesen. X'D
Das leuchtet ein.
Antwort von:  Kalliope
31.05.2017 15:12
Und ich sollte was für die Uni schreiben und keine Fanfiction xD

Ja, also um es nochmal zu betonen: Rain findet es nicht gut, was damals mit Team Dark alles passiert ist. Aber sie kann Milena insoweit verstehen, dass sie verzweifelt war und keinen anderen Ausweg gesehen hat, um damit etwas Gutes zu tun. Rain findet auch das jetzige Team Dark nicht gut und will es aufhalten, um zu verhindern, dass noch einmal Menschen mit guten Ideen auf einen schlechten Weg geführt werden. Nur dass sie dabei selbst in Team Dark reingezogen wird, scheint ihr noch nicht klar zu sein.
Antwort von:  Yurippe
31.05.2017 15:13
Ich muss auch für die Uni schreiben, eine Kurzgeschichte. Und natürlich Kram für die Masterarbeit.

Danke für die Erklärung!
Antwort von:  Kalliope
31.05.2017 15:14
Bitte gerne :-)

Bei mir stehen die Masterarbeit, eine Hausaufgabe (1-2 Seiten) und eine Reportage für einen Teilnahmeschein (10 Seiten <.<) an. Die dämliche Reportage und die ständigen Hausaufgaben rauben mir noch den letzten Nerv, weil ich gar nicht dazu komme, an der Masterarbeit zu arbeiten ^^;
Antwort von:  Yurippe
31.05.2017 15:16
Geht mir auch so. Und bei der Masterarbeit kämpfe ich auch immer noch damit, wo genau ich anfangen soll. Mein Professor gibt mir zwar Tipps, aber irgendwie mache ich mich trotzdem ganz verrückt, weil das nicht reicht. Aber dann sehe ich Leute, die keinen Satz auf Englisch geradeaus hinkriegen und trotzdem eine Arbeit geschrieben haben, und frage mich, was ich falsch mache...
Antwort von:  Kalliope
31.05.2017 15:21
Wahrscheinlich darf man nicht zu viel nachdenken, sonst steht man sich selbst im Weg. Ist bei Fanfictions irgendwo ja genau dasselbe Problem.
Antwort von:  Yurippe
31.05.2017 15:27
Das ist wahr... Aber ohne nachdenken jetzt wird die Masterarbeit später ein Desaster, ich muss ja ein Experiment machen.
Von:  Yurippe
2017-04-25T11:38:52+00:00 25.04.2017 13:38
Ich bin froh, dass Summer es endlich begriffen hat, das hat auch lange genug gedauert.
Jetzt muss ich aber dringend wissen, wie es bei Rain weitergeht!
Antwort von:  Kalliope
25.04.2017 14:06
Geplant ist, dass es jetzt einen Zeitsprung von etwa einem Monat gibt, weil in der Weihnachtszeit sowieso nichts Interessantes passiert. Dann soll es wieder ein paar Kapitel mit Rain geben :) Ich wollte das Weihnachtstreffen dann nur kurz als Rückblende von Rain erwähnen.
Antwort von:  Yurippe
25.04.2017 14:11
Darauf freue ich mich schon!
Von:  Wolfsfeuer
2017-04-25T04:24:21+00:00 25.04.2017 06:24
Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Summer hat zwar gefühlt noch einen langen Weg vor ihr, aber sie ist sicher stur genug um das zu schaffen, obwohl ihre Ungeduld sie sicher behindern würde.
Antwort von:  Kalliope
25.04.2017 09:40
Zumindest weiß sie jetzt, dass sie an sich arbeiten muss :) Wie schnell sie damit Erfolg haben wird, werden wir sehen.
Von:  yazumi-chan
2017-04-24T14:24:02+00:00 24.04.2017 16:24
Na, ob Summer und Glutexo einen ausgewachsenen Sandsturm wirklich so glimpflich überstehen würden, weiß ich nicht, aber vielleicht sind die dort nicht suuuuper extrem. Und dass Summer dem kleinen Racker nach draußen folgt und ihn beschützt, war dann doch ziemlich rührend. Ganz umgänglich wird Glutexo wahrscheinlich nie werden, aber wenn es Summer zu 50% der Zeit gehorcht, ist ja schon einiges gewonnen xD
Antwort von:  Kalliope
24.04.2017 21:04
Ich dachte an einen Sandsturm wie auch bei der Attacke Sandsturm, nur in ganz groß :D Beide sind verletzt, aber unterm Strich sind sie gar nicht so weit weg gelaufen :)
Antwort von:  yazumi-chan
24.04.2017 21:16
Kommt einem im Sturm wahrscheinlich weiter vor, weil man sich so vorankämpfen muss.
Antwort von:  Kalliope
24.04.2017 21:56
Ja, denke ich auch. In meinem Kopf waren es vielleicht 10 Minuten, die sie suchen musste. Lass es 200 Meter gewesen sein, aber so ganz ohne Orientierung dauert es.


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