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Von Sonnenblumen und Rosen

Masumi Sera X Shiho Miyano
von

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Prolog

Vorgeschichte

Shinichi und das FBI haben es geschafft, die Schwarze Organisation zu zerschlagen. Shiho hat ein Gegengift zum Apoptoxin entwickelt und sie und Shinichi sind dauerhaft groß. Shinichi und Ran haben die Schule beendet und studieren. Shiho wohnt weiterhin bei Professor Agasa und arbeitet an der Toto Universität als Forscherin. Masumi macht eine Ausbildung bei der Polizei. Shiho ist gut mit Masumi, Ran und Sonoko befreundet.

Freundschaft

„Hey, Schlafmütze! Aufwachen, hier bin ich!“, höre ich eine laute Stimme direkt neben meinem Ohr und mit einem Schlag bin ich hellwach. Masumi rüttelt an meiner Schulter und sieht mich mit einem breiten Grinsen an. 

„Man, hast du mich erschreckt“, rufe ich und versuche sie wegzustoßen, doch ich habe ihre Jeet Kune Do Fähigkeiten natürlich wieder einmal unterschätzt. 

Sie ergreift meinen Arm und bevor ich es realisiere, hat sie mich zu sich herangezogen und hält meine Hände fest. „Ich kann doch nichts dafür, wenn du immer bis spät in die Nacht Experimente machst und dann am nächsten Tag im Café einfach so einschläfst“, flüstert sie in mein Ohr und ihr warmer Atem kitzelt mich, sodass ich unwillkürlich zusammenzucke. Mein Rücken lehnt eng an ihrem Oberkörper und ich kann spüren, wie ihr Herz schlägt. Es scheint unregelmäßig zu schlagen und auch schneller als normal. Ob sie hierher gerannt ist? Dabei ist sie gar nicht außer Atem. 

Mit einem Ruck befreie ich mich und hake mich bei ihr unter. „Auf geht‘s zum Beika Zentrum, ich brauche dringend neue Klamotten!“ 

Wir schlendern die Einkaufsstraße entlang, während Masumi mir von ihrem Tag in der Polizeischule erzählt. „Heute war es so witzig. Wir hatten Waffenkunde bei Herrn Takagi und auf einmal kommt Frau Sato rein, um etwas zu holen. Der arme Kerl war plötzlich total durcheinander und hat den Rest der Stunde nichts mehr hinbekommen. Die zwei sind aber auch zu süß!“ 

Ihre gute Laune ist ansteckend und ich muss plötzlich grinsen. „Wieso sagst du eigentlich immer noch Frau Sato? Die beiden haben doch vor ein paar Wochen geheiratet“, schaue ich sie fragend an, doch sie lacht nur. Ihr Lachen ist so fröhlich und unbesonnen, als hätte sie noch nie etwas Schlechtes im Leben erlebt. Ich spüre, wie ihre Anwesenheit meine traurige Grundstimmung verfliegen lässt und ich merke, wie ich mich an sie schmiege und ein Lächeln nicht verbergen kann. 

„Na, wovon träumst du?“, reißt sie mich aus meinen Gedanken. Bevor ich mir eine passende Antwort überlegen kann, bleibt sie auf einmal stehen und zeigt auf das Schaufenster eines Geschäfts direkt vor uns.

„Das ist ein Goth-Loli Geschäft. Sag bloß, du trägst solche Sachen?“, frage ich und lasse meinen Blick vielsagend über ihre Männerjeans und das lässige T-Shirt schweifen. „Ach Quatsch. Aber du meintest doch immer, dass du so ein Outfit gerne mal anprobieren wolltest.“ Bevor ich mich wehren kann, hat sie bereits meinen Arm genommen und mich in das Geschäft gezogen. Ihre Hände sind warm und fühlen sich erstaunlich weich an auf meiner Haut und ich bin fast schon ein bisschen traurig, als sie mich loslässt und anfängt die Ständer zu durchsuchen. Wie albern. 

„Das hier wäre doch optimal für dich, Shiho!“, mit einem entzückten Schrei, der so gar nicht zu ihr passt, hält sie mir ein schwarzes, ziemlich kurzes Kleid hin. Ihre großen, grauen Augen sehen mich erwartungsvoll an, sodass ich ohne Widerstand mit einem Seufzen in der Umkleidekabine verschwinde. Ich kann ihr aber auch gar nichts abschlagen. „Wow! Du siehst absolut fantastisch aus!“, ruft sie und klatscht in die Hände, als ich umgezogen vor ihr stehe. 

„Also ich finde es ja etwas zu kurz“, murmel ich und zupfe am Saum des Kleides herum, während ich mich skeptisch im Spiegel betrachte. 

„Das sieht doch sehr sexy aus“, sagt sie mit tiefer, rauer Stimme und schenkt mir einen vielsagenden Blick. Komisch, so hat sie mich noch nie angesehen. Dieses Funkeln in ihren glänzenden Augen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das ist – Lust?! Ich schüttel energisch den Kopf, um diesen unsinnigen Gedanken zu vertreiben. Aber wenn du ehrlich bist, gefällt dir dieser Blick doch, sagt eine leise Stimme in meinem Hinterkopf. 

Auf einmal sieht Masumi mich erwartungsvoll an und mir wird bewusst, dass ich eine Minute lang einfach dagestanden bin, ohne mich zu regen oder etwas zu sagen. Ich erröte leicht und husche mit einem nachdrücklichen „Es ist sowieso viel zu teuer. Ich zieh mich wieder um“ zurück in die Kabine. 
 

„Sag mal, Shiho, hast du Hunger?“ Es sind mittlerweile 2 Stunden vergangen und ich merke, dass sich mein Magen tatsächlich meldet. 

Ich nicke und frage: „Wollen wir zum Professor gehen und uns was kochen? Er hat sicher auch Hunger, wir könnten alle zusammen essen.“ Für einen Moment huscht ein Schatten über ihr Gesicht und ich frage mich, ob ich etwas Falsches gesagt habe. 

Bevor ich nachsetzen kann, lächelt sie und meint: „Wie wäre es, wenn ich dich zur Feier des Tages zum Essen einlade?“ 

„Zur Feier des Tages? Aber heute ist doch gar nichts Besonderes“, erwidere ich mit einem fragenden Blick. 

„Du hast mir ein Lächeln geschenkt. Das ist etwas Besonderes und es macht mich glücklich. Lass mich dich einladen, ja? Da hat ein leckerer Ramen-Laden aufgemacht, gleich hier um die Ecke.“ Sie redet ein bisschen zu schnell, wendet unvermittelt ihren Blick ab und wirkt leicht beschämt. Ich habe ihr ein Lächeln geschenkt? Was soll das denn bedeuten? Ich gebe ja gerne zu, dass man mich eher mit einem ernsten Gesichtsausdruck antrifft, aber trotzdem bin ich überrascht über ihre Aussage. Wieso macht sie das glücklich? Zu viele Gedanken schwirren in meinem Kopf umher und ich fühle ein merkwürdiges Ziehen in meiner Brustgegend. Es fühlt sich ungewohnt an, aber nicht unbedingt unangenehm. 

Als ich aufblicke, schaut sie mich direkt an und wirkt, als versuche sie meine Gedanken zu entschlüsseln. Für einen Moment stehen wir einfach nur so da und ich habe das Gefühl, die Welt dreht sich ohne uns weiter. Dann reiße ich mich von ihren Augen los und sage bestimmt: „Na dann lass uns gehen. Eine Einladung werde ich mir natürlich nicht entgehen lassen.“ Sie grinst erfreut, hakt sich bei mir unter und Arm in Arm machen wir uns auf den Weg. 
 

Satt und zufrieden erreichen wir das Haus des Professors, um uns zu verabschieden. „Hast du Lust auf einen DVD-Abend am Samstag? Allerdings müssten wir den bei dir machen. Du weißt ja, unsere Wohnung ist sehr klein und Shuichi wäre bestimmt angenervt, wenn wir das Wohnzimmer blockieren.“ 

„Super Idee! Ich hab gerade die neue Staffel von 'The Earl and the Fairy' gekauft, die können wir uns anschauen, wenn du möchtest“, antworte ich und lächle. Ich merke, wie sehr ich mich darauf freue und komme mir ein bisschen albern und naiv vor. Und dazu kommt dieses Kribbeln in meinem Bauch, das sich seit geraumer Zeit nicht mehr ignorieren lässt. Sehr merkwürdig. Was ist denn schon dabei? Ein DVD-Abend eben. Das habe ich mit Ran doch auch schon gemacht.

Aber mit Masumi ist es etwas anderes, findest du nicht?, meldet sich wieder diese lästige Stimme meinem Kopf zu Wort. Vermutlich mache ich mir einfach nur zu viele Gedanken, so wie immer. Ich stoße einen Seufzer aus und schüttel den Kopf, wie um alle Verwirrungen einfach hinaus zu schleudern. 

Das Mädchen mit den faszinierenden Augen sieht mich fragend an, belässt es aber dabei. Ich schätze, sie ahnt schon, dass ich ihr sowieso nicht sagen würde, was in diesem Augenblick in mir vorgeht. Sie kennt mich gut und gerade bin ich ihr dankbar, dass sie nicht nachfragt. Ich weiß ja selber nicht genau, was los ist.

Ich bin einfach nur übermüdet, das wird es sein, versuche ich mir einzureden. Sie umarmt mich und streicht mir sanft übers Haar. Für einen Moment fühle ich mich unglaublich geborgen und zufrieden, sodass ich sie am liebsten gar nicht mehr loslassen würde.

Schon mit dem nächsten Atemzug ist mir dieser Gedanke peinlich und ich reiße mich ruckartig von ihr los. Sie wirkt irritiert, sagt jedoch nichts. „Geh heute mal früher ins Bett, Shiho“, ruft sie und zwinkert, wirft mir eine Kusshand zu und verschwindet hinter der Hausecke.

Traum oder Wirklichkeit?

Ich liege im Bett und lausche meinen eigenen, regelmäßigen Atemzügen. Alles ist so still und friedlich und ich lasse meine Gedanken einfach kreisen. Irgendetwas in mir ist anders und ich kann es nicht richtig zuordnen, geschweige denn verstehen. 

Ich muss an Masumi denken und wieder ist da dieses merkwürdige Ziehen in meiner Brust. Wie sie mich heute im Laden angesehen hat, so ganz anders als sonst. Und ihre Berührungen, die sich so außergewöhnlich und auf eine skurrile Art und Weise schön angefühlt haben.

Ich schüttel entschieden den Kopf und versuche, diese Gedanken zu vertreiben, doch es will mir nicht so recht gelingen. 

Meine Mundwinkel ziehen sich unwillkürlich nach oben und mit einem Lächeln auf den Lippen versinke ich in das Land der Träume, als einzigen Beobachter den Mond, der wie eine gleißende Sichel den dunklen Nachthimmel zerschneidet. 
 

Ein lautes Klingeln. Irgendwo ganz weit weg von mir. Was ist das? Ich drehe mich mit einem Knurren auf die andere Seite, doch das Geräusch hört einfach nicht auf.

Moment mal, das kommt aus Richtung Tür; da klingelt jemand Sturm! Mit zusammengekniffenen Augen werfe ich einen Blick auf die Uhr neben meinem Bett. 9 Uhr morgens. Am Freitag, dem einzigen Tag der Woche, an dem ich ausschlafen kann. Wer ist denn bitte so grausam? 

Einen tiefen Seufzer ausstoßend erhebe ich mich und schlurfe im Schlafanzug zur Tür. „Wie siehst du denn aus?“, schallt es mir entgegen, als ich öffne. 

„Masumi? Was zur Hölle machst du hier?“, fahre ich sie mit deutlich gereiztem Unterton an, als mir schlagartig mein Aufzug bewusst wird. Ich laufe knallrot an und fahre nervös in meinen ungekämmten Haaren herum. Wie peinlich. 

Sie scheint das nicht großartig zu stören und bevor ich sie aufhalten kann, ist sie schon an mir vorbei und hat es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht. „Ach weißt du, da ich heute spontan frei bekommen habe, wollte ich mal schauen, was du so treibst. Ich hab dir auch was Schönes mitgebracht“, sagt sie mit einem verschwörerischen Grinsen. 

„Darf ich mich noch schnell in einen Menschen verwandeln?“, knurre ich miesmutig und verschwinde in Richtung Badezimmer. Sie ruft mir hinterher: „Du siehst doch immer bezaubernd aus!“ und ich will eine hämische Antwort geben, doch dann überlege ich es mir anders. Auf ihre Albernheiten werde ich mich bestimmt nicht einlassen. 
 

„Du hast doch nicht etwa... Nein! Wie konntest du nur?“, rufe ich entgeistert aus und starre fassungslos auf den Karton in meinen Händen. Darin befindet sich das schwarze Goth-Loli Kleid, das Masumi und ich gestern zusammen anprobiert haben.

„Aber das ist doch viel zu teuer. Das kann ich einfach nicht annehmen.“ - „Klar kannst du. Musst du sogar. Ich kann es nämlich nicht mehr zurückgeben, hab den Kassenzettel verschmissen“, sie lächelt verschmitzt und sieht mich mit leuchtenden Augen an. 

Ich möchte vehement widersprechen, doch ich schätze, das ist zwecklos; wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann zieht sie das auch durch. Statt eine Szene zu machen, falle ich ihr um den Hals und es scheint mir, als hätte sie die ganze Zeit nur darauf gewartet.

Ich drücke sie einen Moment länger als nötig und reiße mich schließlich mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen von ihr los. Sie schaut mir tief in die Augen und ich habe das Gefühl, sie möchte mir etwas mitteilen. Doch sie schweigt, dreht sich abrupt weg und schlendert Richtung Fenster. 

Auf einmal klingelt ihr Handy. „Ja. Ja. Natürlich, ich komme sofort." Mit sichtlich verärgerter Miene dreht sie sich zu mir um. "Tut mir echt leid, Shiho, aber ich muss leider weg. Wir müssen zu einer Sonderübung antanzen.“ 

Ich bin mächtig enttäuscht und das Ziehen in meiner Brust wird stärker, zeige es aber nicht, sondern lächle ihr stattdessen aufmunternd zu. „Na dann auf geht‘s. Nicht, dass du noch einen schlechten Eindruck machst. Von hier ist es ja zum Glück nicht so weit zum Polizeipräsidium.“

In ihren Augen lese ich so etwas wie Du willst mich ja plötzlich erstaunlich schnell loswerden, doch ich reagiere nicht darauf. Was hätte ich auch antworten sollen? „Das Letzte, was ich gerade möchte ist, dass du gehst“? Wohl kaum. Ich kann ein verächtliches Lachen gerade so unterdrücken. 

Sie legt ihre Arme um mich und ich erwarte die standardmäßige, freundschaftliche Umarmung zum Abschied. Auf einmal merke ich, wie sich ihr Mund meinem Gesicht nähert. Was hat sie vor? Überrascht drehe ich meinen Kopf zur Seite und in diesem Moment treffen ihre Lippen auf meine. Sie fühlen sich so weich und zart an und ich bin auf einmal wie elektrisiert.

Ich spüre wie meine Knie weich werden und mein Herz anfängt, wie wild zu schlagen. Was passiert hier gerade? Ich ziehe meinen Kopf ruckartig zurück und schaue sie völlig entgeistert an. 

Sie lacht nur laut auf und meint: „Ich wollte dir eigentlich einen Kuss auf die Wange geben. Was musst du dich auch auf einmal bewegen. Aber so war es doch auch ganz schön, oder?“ Mit einem Augenzwinkern verschwindet sie durch die Tür und lässt mich ziemlich verdattert in der Eingangshalle zurück.

Ihre Bemerkung war ironisch gemeint, da bin ich mir sicher. Allerdings muss ich ehrlicherweise zugeben, dass ich den Moment, in dem sich unsere Lippen berührten, tatsächlich schön fand. Sehr verwirrend.
 

„Ai, ähm, Shiho“, höre ich Professor Agasas Stimme aus der Küche. Er kann sich an meinen ursprünglichen Namen einfach nicht gewöhnen, obwohl ich jetzt schon eine ganze Weile meinen richtigen Körper wiederhabe.

Ich reiße mich aus meiner Starre und erwidere: „Ja, was denn?“, während ich versuche meine Gedanken zu ordnen. „Könntest du heute bitte einkaufen gehen? Im Kühlschrank herrscht gähnende Leere“, der Professor streckt seinen Kopf durch die Tür und wirft mir einen flehenden Blick zu. „Ich weiß, heute ist dein unifreier Tag, aber ich habe wirklich noch total viel zu erledigen und ... sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“ 

Ich murmle etwas Unverständliches, nicke bestimmt und setze dabei einen missbilligenden Gesichtsausdruck auf. Mit einem Stirnrunzeln verschwindet er wieder in der Küche und ich erwische mich dabei, wie ich gedankenverloren an meinen Haarspitzen herumspiele.

Was ist das denn jetzt? Ich benehme mich schon wie ein unreifer Teenager und das entspricht wohl nicht ganz meiner eigentlichen Art. Ich schreibe schnell eine Einkaufsliste, schnappe mir einen großen Rucksack und mache mich auf den Weg. Das Wetter ist schön, es weht ein lauer Sommerwind und ich entscheide mich, zu Fuß zu gehen. 

Obwohl ich letztes Jahr meinen Führerschein gemacht habe, ist mir selber Autofahren irgendwie etwas unheimlich. Vermutlich habe ich einfach Angst, dass auf einmal ein schwarzer Porsche im Rückspiegel auftauchen könnte.

Ein Kälteschauer überkommt mich und ich versuche, diese Gedanken mit Gewalt zu verscheuchen. „Gin ist tot. Ich habe verdammt nochmal mit eigenen Augen gesehen, wie Kir ihn erschossen hat!“, rufe ich mit lauter, ärgerlicher Stimme, sodass ein Kätzchen am Straßenrand verschreckt das Weite sucht. Obwohl ich natürlich die richtigen Namen kenne, kann ich es einfach nicht lassen, die alkoholischen Decknamen zu verwenden. Sie haben sich zu sehr in mein Gedächtnis eingebrannt, als dass ich jemals in der Lage wäre, sie zu vergessen oder auch nur zu verdrängen. 

Ich seufze und versuche mein Bewusstsein in eine schönere Richtung zu lenken. Den Kuss mit Masumi meinst du?, tönt die nervige Stimme aus meinem Unterbewusstsein und ich schüttel den Kopf, um sie zum Schweigen zu bringen. „Mach dich nicht lächerlich!“, murmle ich verächtlich und erhöhe mein Schritttempo.

Auf einmal höre ich, wie eine bekannte Stimme hinter mir laut meinen Namen ruft und ich drehe mich schwungvoll um. „Oh, hallo Frau Sato. Ähm, ich meinte Frau Takagi. Wie geht‘s Ihnen?“ Ich sehe die sportliche Frau mit den strahlenden Augen lächelnd an, in der Hoffnung, dass sie meine geistige Verwirrung nicht bemerkt.

Sie hat mir schon mehrmals angeboten, sie Miwako zu nennen, aber da ich sie als kleine Grundschülerin Ai kennen gelernt habe, kann ich mich einfach nicht umgewöhnen. Wir plaudern über Dies und Das, während wir in Richtung Supermarkt schlendern. Der Wind weht ein bisschen stärker und ich merke, wie ich fröstel. Es wird wohl bald Herbst werden, schade eigentlich. Ich mag den Sommer. 

Plötzlich sieht mich die Polizistin direkt an und meint: „Sag mal, irgendwie bist du heute anders als sonst. Wenn ich jetzt raten müsste, würde ich behaupten, du bist verliebt. Wer ist denn der Glückliche?“

Oder die Glückliche, meldet sich eine wohlbekannte Stimme zu Wort und ich merke, wie meine Wangen rot anlaufen. Seit wann bin ich denn ein schüchternes Mädchen, das bei so einer Frage sofort errötet? Wie albern. Ich schüttel bestimmt den Kopf und erwidere: „Ich und verliebt? Laut Sonoko habe ich ein Herz aus Eis und kann mich gar nicht verlieben. Da muss wohl etwas dran sein!“

Mein sarkastisches Lachen klingt selbst in meinen Ohren ein wenig zu schrill und hysterisch und ich frage mich, was die Frau mit den ehrlichen Augen jetzt wohl denkt. 

Sie sieht mich zweifelnd an, sagt aber weiter nichts und ich bin erleichtert. Unsere Wege trennen sich und während ich die Straße entlanggehe, spüre ich ihren Blick im Rücken, wie als könnte sie direkt durch mich hindurch in meine Seele blicken.

Dieser Gedanke erschreckt mich; ich beschleunige meine Schritte und sehe mich nicht mehr um, bis ich den Supermarkt erreiche. 

Dunkle Seele

„Brauchst du eine Decke?“, Masumi sieht mich fragend an und springt im nächsten Moment auch schon auf. Wir haben es uns in meinem Zimmer auf dem Bett gemütlich gemacht; der Fernseher läuft und zeigt das flackernde DVD-Menü.

Die letzten Sonnenstrahlen stehlen sich durch das Fenster und tauchen den Raum in einen rötlichen Schimmer, der mich unwillkürlich erschauern lässt. 

Ich nicke und bevor ich etwas nachsetzen kann, ist sie aus dem Zimmer gesprintet und ich höre, wie sie sich im Wohnzimmer am Wandschrank zu schaffen macht.

Als sie mit einer großen, flauschigen Decke wieder ins Zimmer kommt, meine ich lachend: „Du kennst dich mittlerweile aber gut aus bei uns!“ 

„Ach komm, tu doch nicht so überrascht. Es ist ein Wunder, dass Professor Agasa noch keinen Adoptionsantrag für mich ausgestellt hat, so oft wie ich hier bei euch rumhänge“, erwidert sie mit einem Zwinkern und breitet die Decke über mich aus. Dann huscht sie darunter und ich merke, wie ihre Schulter sich an meine lehnt und habe das Gefühl, als würden viele kleine elektrische Funken zwischen unseren Körpern hin und her springen. 

Sie startet die DVD, doch ich merke, dass meine Konzentration zu wünschen übrig lässt. Ihre Hand liegt direkt neben meiner und ich kann die Wärme spüren, die davon ausgeht. Ob sie mein seltsames Verhalten wohl bemerkt?

Ich schiele zu ihr herüber, doch sie scheint ganz von der Action des Films eingenommen zu sein und ich atme erleichtert auf. 
 

Der Abspann läuft und ich muss ehrlich zugeben, dass ich keinen Schimmer habe, um was es in diesem Film eigentlich ging. Die Sonne ist mittlerweile untergegangen und die kleine Lampe in der Zimmerecke sorgt nur für eine spärliche Beleuchtung, sodass der ganze Raum in einem schummrigen Halbdunkel liegt.

Ich will etwas sagen, da spüre ich eine fließende Bewegung neben mir und im nächsten Moment ruht Masumis Kopf auf meiner rechten Schulter. Ist sie etwa eingeschlafen? 

Ich drehe mich vorsichtig zur Seite und mein Blick fällt auf ihre geschlossenen Augen und ihren Mund, auf dem ein sanftes Lächeln liegt. Wie süß sie aussieht, wenn sie schläft.

Kaum schießt dieser Gedanke durch meinen Kopf, fühle ich mich peinlich berührt und mir entfährt ein heiseres Kichern. Masumi schreckt leicht auf, erwacht jedoch nicht, sondern murmelt nur etwas Unverständliches. Bevor ich mir überlegen kann, was ich jetzt machen soll, merke ich, wie sie sich auf einmal weit zu mir herüber lehnt und ehe ich mich versehe, ruht ihr Kopf auf meiner Brust und ihr Arm verweilt an meiner Hüfte. 

Mit einem Mal breitet sich eine ungeheure Hitze in meinem ganzen Körper aus und das wohlbekannte Kribbeln fühlt sich an, als würden Millionen von Ameisen gleichzeitig meine Brust stürmen. Warum stößt du sie nicht einfach weg?, fragt die vertraute Stimme mit einem unverkennbar ironischen Unterton.

Weil es viel zu schön ist, um es jetzt zu beenden.

Diese Erkenntnis taucht unvermittelt in meinem Bewusstsein auf und ich weiß genau, dass es stimmt. Ich greife nach der Fernbedienung, schalte den Fernseher aus und lösche auch das kleine Licht. 

Im nächsten Moment ist der Raum in Dunkelheit gehüllt und es gibt nur noch mich und Masumi, deren gleichmäßige Atemzüge eine wundersame, beruhigende Wirkung auf mich haben und mich gleichzeitig so durcheinander bringen.

Ohne richtig zu verstehen, was ich eigentlich mache, lege ich meinen Arm um sie, lasse meinen Kopf auf das Kissen sinken und merke, wie sich ein seltsam träumerisches Lächeln auf meine Lippen schleicht. Gedanken machen kann ich mir morgen, das Einzige was gerade zählt, ist dieser Moment.
 

Als ich erwache, ist das Erste, was ich bemerke: Stille. Das Einzige, was ich höre, sind meine eigenen Atemzüge. Ich blinzel und mein Blick fällt neben mich aufs Bett. 

Es ist leer.

Wo ist Masumi? Ob sie sich einfach aus dem Staub gemacht hat? Schon im nächsten Augenblick kommt mir dieser Gedanke albern vor und ich fahre nervös durch meine Haare, die wie rotblondes Stroh in alle Richtungen abstehen. Ich seufze. Ein Königreich für einen Spiegel. 

Auf einmal höre ich ein lautes Rumpeln und das plötzliche Geräusch treibt jegliche Müdigkeit aus meinem Hirn; ich lausche angestrengt.

Auf einmal habe ich eine Vision. Eine schwarze Gestalt, die auf leisen Sohlen durch das Haus schleicht, wie ein Geist oder ein Todesengel. Auf der Suche nach seinem wehrlosen Opfer. Auf der Suche nach mir. Ein erstickter Schrei entkommt meiner Kehle und ich versuche krampfhaft, die Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen. Ich höre Schritte, immer näher kommend. Sie ist hier. Ganz nah. Und sie kommt, um mich zu holen. 

Wie erstarrt sitze ich auf dem Bett und mein Blick ist auf die Tür gerichtet. Ich will schreien, will weglaufen, doch ich fühle mich wie gelähmt.

Die Tür schwingt auf und ein grauenhaftes, beklemmendes Gefühl in meiner Brust scheint meine Seele zum Zerspringen zu bringen. Ich habe verloren. Sie hat mich gefunden. Ich fühle, wie mein Blick neblig wird und mir mit einem letzten verzweifelten Atemzug die Sinne schwinden.
 

„Shiho, Shiho! Wach auf!“, höre ich eine vertraute Stimme rufen und ich spüre ein kräftiges Rütteln an meinen Schultern. Mit einem Schlag reiße ich die Augen auf und blicke in Masumis besorgt dreinblickende Augen, die sich auf einmal mit tiefer Erleichterung füllen.

Das Deckenlicht leuchtet unangenehm hell in meine Augen und ich muss sie unwillkürlich zusammen kneifen.

„Mensch, was machst du denn? Bist du zu schnell aufgestanden oder wieso liegst du hier bewusstlos am Boden?“, sie hat ihre Selbstsicherheit wiedergefunden und sieht mich neckisch von der Seite an. 

Ich setze mich mit ihrer Hilfe auf und murmel mit erstickter Stimme: „Vermouth ... ich, ich konnte sie spüren. Sie war hier, in diesem Raum.“ Ich ärgere mich darüber, wie meine Stimme zittert und doch kann ich einen angsterfüllten Blick Richtung Tür nicht verbergen. 

Sie schaut mich etwas hilflos an und sagt dann langsam: „Aber ... Vermouth ist im Gefängnis, das weißt du doch. Sie kann nicht hier sein.“ 

Ich merke, wie ich wütend werde. Unglaublich wütend. Ich schiebe ihre Arme mit voller Wucht von mir weg und auf einmal bricht es aus mir heraus: „Du verstehst nichts, gar nichts! Du kannst vielleicht jeden Tag lachen und fröhlich sein, als wäre nie etwas gewesen! Ich kann meine Vergangenheit nicht einfach so abschütteln wie einen Mantel. Schön für dich, wenn du das kannst. Aber dein Bruder ist ja auch noch am Leben, im Gegensatz zu meiner Schwester und meinen Eltern!“ Kaum ist dieser letzte Satz ausgesprochen, bereue ich es.

Wie konnte ich so etwas sagen? 

Masumi sitzt einfach nur so da und sieht mich an, sie ist sprachlos. Ihr blasses Gesicht und die schwarzen Haare, die sanft an ihrem Gesicht anliegen bilden einen starken Kontrast zur roten Decke, die hinter ihr vom Bett herunter hängt.

In ihren Augen sehe ich, dass sie tief verletzt ist und auf ihr Gesicht legt sich ein harter Gesichtsausdruck, der in mir ein mulmiges Gefühl hervorruft. Ich setze an, um etwas zu sagen, doch sie schneidet mir das Wort ab und sagt mit eiskalter Stimme: „Dann bin ich wohl ein dummes, kleines Mädchen, das nichts von der Welt versteht. Von deiner Welt schon mal überhaupt nicht. Entschuldige bitte, dass ich dir helfen will und für dich da sein will, um die Geister deiner Vergangenheit zu vertreiben.“

Sie steht abrupt auf, schnappt sich ihre Jacke und läuft zur Tür. Im Türrahmen dreht sie sich noch einmal um und sagt mit einem sarkastischen Unterton: „Achja. Dein Frühstück steht in der Küche. Lass es dir schmecken“, dann höre ich wie ihre Schritte immer schneller werden und bevor ich mich bewegen kann, hat sie das Haus verlassen. 

Ich fühle mich schrecklich. Mein Körper bewegt sich wie von ganz alleine und fängt an, sich fertig zu machen, anzuziehen und aufzuräumen. Mein Blick ist starr auf die altmodische Einrichtung gerichtet und doch nehme ich sie gar nicht richtig wahr.

Meine Gedanken sind ein einziges Chaos, während ich in der Wohnung umherstreune, verzweifelt auf der Suche nach etwas, dass mich ablenkt, doch vergebens. Die Erinnerung an die Enttäuschung und Wut, die ich in ihren Augen gesehen habe, lässt ein unangenehm bohrendes Gefühl in meiner Brust aufkommen.

Wie konnte ich sie nur so verletzen? Ich habe kein Recht, sie zu verurteilen und nieder zu machen, nur weil ich meine Ängste nicht in den Griff bekomme. 

Meine Hände zittern, während ich die Decke bedächtig über dem Bett ausbreite. Hier haben wir gelegen.

Aneinander gekuschelt, wie zwei Verliebte, merkt die Stimme in meinem Kopf an. Verliebt? Das Wort kommt mir in diesem Moment so unglaublich absurd vor. Mein Unterbewusstsein ist schon irgendwie merkwürdig, was an sich ja keine neue Erkenntnis ist, schließlich war es eben jenes, dass mir vorhin diese schreckliche Vision geschenkt hat.

Ich versuche mich zu erinnern, was diese starke Wut in mir ausgelöst hat, als Masumi versuchte, mich zu beruhigen. 

Du hast einfach Angst, dass dir jemand emotional nahe kommen könnte, stimmt‘s?, höre ich in meinem Kopf und ich frage mich, ob das stimmt. Ich möchte nicht, dass Menschen mir zu nahe kommen, weil mich bisher alle nur verletzt haben. 

Bevor die nervige Stimme wieder anfängt zu sprechen, unterbreche ich selbst meinen Gedankenfluss. Das stimmt nicht. Seit ich damals als geschrumpfte Sherry bei Professor Agasa aufgetaucht bin, habe ich viele Menschen getroffen, denen ich vertrauen kann und die immer für mich da sind.

Bei dem Gedanken muss ich lächeln und das Stechen in meiner Magengegend lässt etwas nach, trotzdem legt sich im nächsten Augenblick wieder ein dunkler Schleier über mein Gesicht.

Ich habe keinen Grund, Masumi so von mir wegzustoßen.

Sie ist liebenswürdig, aufopferungsvoll, hilfsbereit, positiv und zuverlässig, also wieso sollte ich mich ihr gegenüber nicht öffnen? 

Weil sie zu einem Punkt in dir vorgedrungen ist, den du vor langer Zeit weggeschlossen hast, mit dem Ziel, ihn nie wieder zum Vorschein zu bringen?, fragt die Stimme und klingt dabei gar nicht höhnisch wie sonst, sondern einfach nur brutal ehrlich. Ich merke, dass ich eine Gänsehaut habe; der Gedanke an Masumi wirbelt Dinge in mir auf, von deren Existenz ich lange nichts mehr gemerkt habe: Gefühle.

Bei dem gedanklichen Erwähnen dieses Wortes kann ich mir ein verächtliches Lachen nicht verkneifen. Die eiskalte Sherry und Gefühle? Wie grotesk.

Engel und Teufel

„Der Anrufer ist zurzeit leider nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.“ Frustriert knalle ich den Hörer auf die Gabel, sodass ein Päckchen Notizzettel vom Schreibtisch herunter segelt.

Wieso hat Masumi ihr Handy aus? Und Shuichi ist auch nicht zu erreichen. Aber ich muss um jeden Preis mit ihr reden. Meine Worte von Sonntag kann ich nicht so stehen lassen; das muss einfach geklärt werden. 

Fest entschlossen ziehe ich Mantel und Schuhe an und mache mich auf den Weg zur Wohnung der Geschwister.

Der Himmel ist wolkenverhangen und die alten Häuser in unserem Viertel wirken bedrohlich und abweisend auf mich, während ich schnellen Schrittes an der Straße entlang gehe. Mein Magen ist flau und in meinem Kopf scheint sich alles zu drehen.

Es ist Abend, Masumi müsste längst von der Polizeischule zu Hause sein und mit Ran oder Sonoko ist sie auch nicht unterwegs, das habe ich bereits in Erfahrung gebracht.

Die letzte Nacht habe ich keine Minute geschlafen, diese traurigen Augen im schmerzverzerrten Gesicht schienen mich aus der Dunkelheit heraus anzustarren und die kalte Stimme schnitt in mein Ohr wie eine Rasierklinge durch zarte Haut.

Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken und fast bin ich erleichtert, als ich die richtige Adresse erreiche. Es ist ein schickes Apartmenthaus mit einer Eingangstür aus Glas und vielen kleinen Zimmern mit Balkon zur Straße raus.

Mit zittrigen Fingern drücke ich auf den Klingelknopf und höre den melodischen Klang durch das Haus schallen, während der Wind mir eine Haarsträhne ins Gesicht weht. 

„Oh, hallo Shiho. Was machst du denn hier?“, kommt es mir entgegen, als die Tür aufschwingt und Shuichi lehnt lässig im Türrahmen. Er sieht mich lächelnd an und der wissende Ausdruck auf seinem Gesicht gibt mir das Gefühl, er könne meine Gedanken lesen.

Ich räuspere mich und frage: „Ähm, ist Masumi da?“ und versuche einen entspannt-gleichgültigen Gesichtsausdruck aufzusetzen. 

Der Mann mit den tiefgrünen Augen dreht sich langsam um und ruft den Namen seiner Schwester in den Gang hinein.

„Da kommt sie ja schon geflogen“, sagt mein Gegenüber und wirft mir einen Blick zu, den ich nicht zu deuten vermag. Mein Herz macht einen kleinen Satz, als ich Schritte auf dem Parkett höre, die sich in schnellem Tempo nähern und nach wenigen Sekunden sehe ich sie auch schon. Sie scheint zu schweben und ihre schwarzen Haare wippen fast schon fröhlich auf und ab, als sie den Flur entlanggeht. 

Ohne mir in die Augen zu sehen, ergreift sie meine Hand und zieht mich hinter sich her. Sie murmelt ein paar Worte in Richtung ihres Bruders, der uns mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen zunickt und schon sind wir in ihrem Zimmer verschwunden.

Es herrscht eine leichte Unordnung und diverse Bücher und Kleidungsstücke liegen wahllos auf dem Boden verteilt.

Eine unangenehme Stille herrscht zwischen uns und ich habe das Gefühl, die Luft ist so angespannt, dass man sie schneiden könnte.

Mit einem Schlag löst sich meine Zunge und ein Schwall aus Entschuldigungen und Anflehungen bricht aus mir heraus; ich kann gar nicht mehr aufhören zu reden. Ich will, dass sie mir verzeiht; ich merke, dass das mein sehnlichster Wunsch ist und spüre gleichzeitig ein loderndes Brennen in meiner Brust, wie ein kleines Feuer.

Ich sehe sie eindringlich an und bemerke, wie ihre Gesichtszüge weich werden, sie lächelt sogar ein wenig. 

Mein Redeschwall hört nicht auf und ich verstricke mich in Erklärungen, Rechtfertigungen, immer wieder gespickt mit den Wünschen nach Vergebung.

Auf einmal macht sie einen Schritt auf mich zu, streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ohne Vorwarnung presst sie ihre warmen, weichen Lippen auf meine. Ich wehre mich nicht, spüre aber, wie Wut und ein anderes, undefinierbares Gefühl in mir aufsteigen.

Ich halte hier eine große Rede und mache mich selbst zum Affen, damit sie mir verzeiht, und sie küsst mich einfach? Was soll das denn?

Anstatt mich loszureißen, schließe ich die Augen, packe sie gleichzeitig und kralle mich mit beiden Händen in ihren Rücken. Der Stoff ihres T-Shirts fühlt sich weich an und ich kann ihre trainierte Muskulatur darunter deutlich spüren.

Sie wirkt überrascht, lässt jedoch nicht los, sondern zieht mich umso enger zu sich hin und öffnet ihren Mund leicht; ihre Zunge schnellt spielerisch hervor und ich schmecke etwas Süßliches. Ob sie vorher Schokolade gegessen hat?

Im nächsten Moment könnte ich mich selbst schlagen für diesen total bescheuerten Gedanken. Die Wut in mir glüht und ich spüre, wie mein ganzer Körper von einer heißen Welle durchspült wird. Ich weiß nicht einmal mehr, gegen was oder wen sich diese Wut richtet, mein Kopf ist auf einen Schlag wie leer gefegt. Ich will mich losreißen und sie anschreien, aber auch wieder nicht. 

Ihr Kuss wird wilder und ich habe das Gefühl, dass mir die Sinne schwinden. Ich werde durchströmt von Emotionen, die ich nicht zuordnen kann und ihre Hände auf meinem Rücken fühlen sich an wie Brandeisen, die mich zu verbrennen drohen.

Auf einmal drückt sie mich gegen die Wand und ich kann ihren Oberkörper dicht an mir spüren. Sie löst ihre Lippen von meinen und ein Hauch von Schokolade lässt mich außer Atem und mit aufgerissenen Augen zurück. 

„Was tust du?!“, bricht es aus mir heraus und ich sehe sie herausfordernd und aufgebracht an. Da war es wieder. Dieses Funkeln in ihren Augen, genau wie letzte Woche in dem Klamottenladen. Sie schaut mich intensiv an, während sie meinem Gesicht wieder gefährlich nahe kommt und sagt leise: „Die Frage ist doch: Was machst du?“ 

Ich verschränke die Arme und antworte mit einem abschätzigen Unterton in der Stimme: „Ich war wütend, weil du gar nicht auf meine Entschuldigung reagiert hast.“ Schon in der nächsten Sekunde wird mir bewusst, wie lächerlich das klingt und ich versuche mich hinter einer ausdruckslosen Miene zu verstecken.

Mein Blick fällt demonstrativ auf das andere Ende des Zimmers, in der ein Stapel Mangas achtlos in der Ecke liegt, während meine Gedanken Achterbahn fahren. Ich hatte sie nicht weggestoßen, nein ich hatte mich darauf eingelassen und war vollkommen versunken in diesem Strudel aus Leidenschaft und Hingabe. Aber warum? Ach, Schätzchen, bist du schwer von Begriff oder tust du nur so?, macht sich die Stimme in meinem Kopf über mich lustig. Jetzt macht mein eigenes Unterbewusstsein mich schon fertig, ist ja unglaublich. 

Masumi hat meine Gefühlsregung, die mit Sicherheit deutlich auf meinem Gesicht abzulesen war, mit einem belustigten Grinsen verfolgt und sagt mit einem ironischen Unterton: „Sag bloß, es hat dir nicht gefallen?“, während sie so nah herankommt, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berühren.

Ihre Augen blicken mich herausfordernd an und sie wirken wie ein dunkler, unergründlicher See in der Abenddämmerung.

Ich kann ihren heißen Atem spüren und ohne darüber nachzudenken, überbrücke ich den letzten Abstand zwischen uns und senke meine Lippen auf ihre in einem hungrigen Kuss. Das heiße Gefühl in mir scheint mich vollkommen zu übermannen und es fühlt sich an, als ob meine Füße nachgeben.

Ihre Berührungen haben jegliche Sanftheit verloren und ihre Finger fahren rau über meinen Nacken, sodass sich ein starkes Kribbeln in meinem ganzen Körper ausbreitet. 

Ich schiebe sie durch das Zimmer, ohne meine Lippen von ihren zu lösen oder die Augen zu öffnen, bis wir das Fußende ihres Bettes erreichen.

Keuchend reiße ich mich von ihr los und lasse mich auf die weiche Decke fallen; ich habe das Gefühl, meine Füße tragen mein Gewicht nicht mehr. Ihre Augen flackern, sie macht einen Schritt und im nächsten Augenblick liegt sie neben mir auf der zerknitterten Decke und betrachtet mich mit einem entrückten Lächeln.

Wieder herrscht Stille zwischen uns, doch dieses Mal ist sie nicht angespannt, sondern glühend und aufgeregt.

Ich bin froh, dass sie nichts sagt, weil ich damit beschäftigt bin, mein aufgewühltes Bewusstsein zu sortieren. Was ist hier eben passiert? Was waren diese Gefühle, die mich durchströmt haben und Dinge tun ließen, die ich mir vorher nicht im Traum hätte vorstellen können?

Ich verdrehe die Augen und seufze laut auf. Es wird Zeit, die Sache erwachsen anzugehen. Schließlich ist dieses Mädchen nicht die erste Person, die ich küsse.

Aber die letzte Person, die dich geküsst hast, hat ein Loch in einem Herzen hinterlassen, weißt du nicht mehr?, sagt die Stimme sanft, Und dann hast du beschlossen, es zu verschließen, damit dir nie wieder jemand wehtun kann. 

Auf einen Schlag ist die Hitze verschwunden und ein kaltes, beißendes Gefühl breitet sich in mir aus. Ich spüre, wie meine Hände zittern und versuche es zu verbergen, doch Masumi bemerkt es und legt ihre Arme um mich.

„Was ist los, Shiho? Bitte sag es mir, ich mache mir Sorgen.“ Ihre grauen Augen sehen mich fragend an und auf einmal bin ich den Tränen nahe, doch ich halte sie mit Gewalt zurück. 

Ich atme ein paar Mal tief durch bevor ich antworte. „Ich weiß es nicht. Alles ist so verwirrend und anders und es macht mir Angst. Ich war fest davon überzeugt, dass ich ein Herz aus Eis habe, antrainiert in früheren, dunklen Zeiten. Aber jetzt auf einmal...“, ich stocke und komme mir so unfassbar schwach und naiv vor, dass es mir sofort peinlich ist und ich von ihr weg rücke. 

„Du hast Angst, dass das Eis auf einmal schmelzen könnte, nicht wahr?“, höre ich Masumi leise sagen und sehe sie mit großen Augen an. Diese Konversation ist mir unangenehm und ich merke, wie ich mich über mich selber ärgere. 

Mit ungeahnter Schnelligkeit springe ich aus dem Bett und laufe Richtung Tür. „Also wenn wir dann alles geklärt haben, kann ich ja wieder gehen. Ich will dir nicht deinen ganzen Abend rauben...“, rufe ich gehetzt, während ich im Gehen über ein Kleidungsstück stolpere und hektisch nach meinem Mantel greife, der achtlos auf einem Stuhl hängt.

Sie scheint wie erstarrt, doch plötzlich kommt Leben in die einsame Figur auf dem Bett und im nächsten Moment steht sie vor der Tür und versperrt mir den Weg. 

Bevor ich widersprechen kann, sagt sie energisch: „Du kannst nicht immer weglaufen, Shiho. Das hast du dein ganzes Leben lang gemacht, aber diese Zeiten sind vorbei. Gib dir selbst eine Chance! Gefühle sind keine Erfindung des Teufels, sondern eine Bereicherung des Lebens, weißt du?“

Ihre Augen leuchten und im blassen Licht der Dämmerung wirkt sie wie ein gefallener Engel, der mich eindringlich betrachtet und dabei hoffnungsvoll die Arme erhoben hat.

Epilog

„Und was ist das hier jetzt?“, meine Frage hängt im Raum, während wir nebeneinander auf dem Bett liegen und sie sieht mich grinsend an. 

„Na, das neue Traumpaar von Tokio, ist doch klar!“ Ihr Lachen klingt hell und unbeschwert und ihre Augen sehen mich strahlend an. Alles fühlt sich so unwirklich an, wie eine Traumblase abseits von der Wirklichkeit und ich pikse mir unwillkürlich in den Arm, um zu testen, ob ich träume oder wach bin. Wer weiß, wohin das führen wird, das kann niemand sagen. Aber es wird wohl Zeit, den Schatten der Vergangenheit endlich auf Wiedersehen zu sagen und dem Gefühl 'Liebe' noch eine Chance zu geben.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von: abgemeldet
2016-06-29T08:22:56+00:00 29.06.2016 10:22
Hallo :)

Ich liebe diese FF *~* Seitdem ich deine FF gelesen habe, ist Sera x Ai/Shiho mein absolutes Favopairing in Detektiv Conan und ich finde es einfach wundervoll, wie du die Gefühle Shihos eingefangen hast und die Beziehung zwuschen den Beiden beschrieben hast *~*

GLG Shizuku
Von:  __Grinsekatze__
2013-01-08T21:23:01+00:00 08.01.2013 22:23
Hallo Yuridevil,
danke für deinen Kommentar. Freut mich, dass sie dir gefallen hat :)
Von:  Yuridevil
2012-11-06T09:46:42+00:00 06.11.2012 10:46
Danke für deine Arbeit, hat mir die Wartezeit versüßt. Deine Charaktere sind sehr lebendig, und wirkliche Verbesserungvorschläge habe ich nicht.

LG Yuridevil
Von:  __Grinsekatze__
2012-09-10T17:00:04+00:00 10.09.2012 19:00
Sherlockfreak,
freut mich sehr, dass dir die FF gefallen hat :) Über weitere Projekte muss ich erst noch nachdenken.
Von:  Sherlockfreak
2012-07-29T20:36:33+00:00 29.07.2012 22:36
Die FF ist wirklich sehr schön!
Es hat richtig Spaß gemacht, sie zu lesen! :)
Ich hoffe auch auf weiter FF's von dir! ;)
Mach weiter so!!
Von:  __Grinsekatze__
2012-07-10T09:25:52+00:00 10.07.2012 11:25
ColdAsIce18,

vielen herzlichen Dank für deinen Kommentar! Freut mich sehr, dass dir meine FF gefallen hat :$

Bin am überlegen einen OS über das Ende der Schwarzen Organisation zu schreiben, aber mal gucken :)
Von:  BlackSherry22
2012-07-07T23:04:25+00:00 08.07.2012 01:04
Ahhww *.* Die FF ist dir wirklich toll gelungen!
Sehr gefühlvoll geschrieben und noch dazu mit meinem
Lieblingscharakter aus DC!!!(Ai/Shiho <3) ^^
Davon gibts ja hier viel zu wenig... ._.
Hoffe auf weitere schöne FF's von dir.

schöne Grüße ;)


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