Halloween woanders von Gam ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Seit Stunden saß Lili Klauenscharf auf dem Fenstersims und betrachtete die Sonne. Zuerst, als der alte Mann, dem der Buchladen gehörte, den Laden geschlossen hatte, hatte sie noch halbhoch am Himmel gestanden, strahlend weißgelb geleuchtet und Lili hatte blinzeln müssen, wenn sie länger als ein paar Sekunden in ihr Licht gesehen hatte. Doch seit einiger Zeit senkte sich die Sonne, wurde gelber und wärmte nicht mehr so schön – ein kühler Herbstabend begann. Lili kratzte sich das Ohr und fuhr fort, nach draußen zu starren. Wann wurde es denn endlich dunkel? Unter ihr, am Verkaufstisch des Buchladens, regte sich schließlich etwas – eine zweite Ratte trat ins Nachmittagslicht, blinzelte und rieb sich die Augen, dann machte sie sich verschlafen daran, den Boden nach Krümeln abzusuchen. „Es wird später genug zu essen geben, Svet! Komm herauf, die Sonne ist herrlich!“ rief Lili ihrem Bruder zu. Als dieser nicht hörte, seufzte sie und warf der Sonne einen letzten Blick zu. Nun wärmte sie kaum noch, war mehr rot als gelb und Wolken würden sie bald verdecken. Lili wandte sich ab und kletterte die Auslagen hinab zu ihrem Bruder. Svet hatte gerade einen dicken Brotkrümel gefunden und nagte daran. Als er sie herankommen sah, schenkte er ihr ein zufriedenes Grinsen. „Natürlich gibt es später genug, aber es kann nie schaden, vorher schon mal den Appetit anzuregen.“ Lili lachte. „Eines Tages wirst du dick und rund werden, und dann wird der Besitzer dich schnappen, weil du nicht mehr durch unsere Haustür passt!“ Bei diesen Worten ließ Svet in gespielter Entrüstung seinen Brotkrümel fallen. „Dick und rund? Mag sein, aber niemals zu dick, um meine unverschämte Schwester zu verhauen!“ Lili konnte gerade noch rechtzeitig auf alle vier Pfoten springen und davonrennen! Lachend jagte Svet ihr nach. Als Lili sich einige Minuten später auf einen dicken Atlas rettete, um sicher vor Svets Krallen zu sein, fand sie dort oben Kira, die dritte Schwester ihrer Familie. „Psst, ihr zwei!“ rief sie, als Lili sich laut keuchend neben ihr fallen ließ „Ich lese gerade!“ Tatsächlich hatte Kira vor sich auf dem Atlas ein kleines Buch ausgebreitet, an dessen Ende sie saß. Die Buchstaben waren groß wie zwei Krallen und man musste über die Seite krabbeln, um die obersten Zeilen lesen zu können. „Was liest du denn?“ fragte Lili. Nicht jede Ratte konnte lesen, aber Kira hatte es sich von einer alten Ratte beibringen lassen, und seitdem verbrachte sie ewig lange Nachmittage auf den Bücherregalen, anstatt mit den anderen Ratten zu spielen oder Futter zu suchen. Dafür wusste sie aber auch eine Menge Dinge, die Lili niemals eingefallen wären. Und Geschichten konnte sie erzählen! „Ich habe herausgefunden, dass Endsommernacht auch bei den Menschen gefeiert wird.“ Antwortete Kira. „Sie nennen es Halloween.“ „Hallo Wien?“ meldete sich Svets Stimme von weiter unten. Es klang nach vollem Mund. „Halloween! Das ist Amerikanisch! Mit ä, weißt du.“ Sagte Kira. „Ä? So wie Ääääh, wo geht’s hier zum Fluss?“ fragte Lili. Kira seufzte. „Also, die Menschen nennen es Halloween, und sie feiern es damit, andere Menschen zu erschrecken! Sie erzählen sich gruselige Geschichten, und ziehen sich lustige Kostüme an und sammeln bei anderen Menschen Süßigkeiten! Und sie stellen überall Kürbisse hin!“ „Ob die Familie Siebenschläfer uns Süßigkeiten gibt, wenn wir sie fragen?“ überlegte Svet von unten. „Ruhe da unten!“ rief Kira. „Und ich dachte, wir sollten das irgendwie in unsere eigenen Feierlichkeiten einbauen. Was denkt ihr?“ Vor Begeisterung sprang Lili in die Höhe. „Au ja! Das klingt toll! Das ist viel besser, als sich einfach nur die Bäuche vollzuschlagen und Lieder über die Sonne zu singen!“ „Also, ich finde Futter sehr-‚’’ „Dich hat aber niiiiemand gefragt!“ Mit einem Kampfschrei sprang Mock, das vierte Kind der Familie Rattenschwanz, zwischen seine Schwestern, die mit erschrockenem Fiepsen auseinander stoben. „Kira, wir müssen das unbedingt machen! Jetzt sofort!“ Mock sprang auf und ab und klatschte mit seinen kleinen Krallen. „Machen wir uns auch Kostüme? Wir müssen Kostüme machen und die anderen erschrecken!“ Lili nickte und stieß Svet, der mittlerweile ebenfalls auf den Atlas geklettert war, in die Rippen, damit er es ihr gleichtat. Kira lächelte in die Geschwisterrunde und strich sich über das weiche Fell zwischen ihren Augen. „In der Schreibwarenabteilung müsste noch Filz liegen…“ Bevor sie den Satz vollenden konnte, waren Lili und Mock schreiend losgeflitzt. Lili eilte in das Haus schlich sich lautlos durch den Vorraum, in dem ihre Mutter, Tanten und die Großmutter saßen und das Essen vorbereiteten, vorbei an dem Werkraum, wo der Vater und der Großvater noch an dem Tisch zimmerten, der später allen als Tafel dienen würde und in das Zimmer, das sie sich mit Kira teilte. In Kiras Kommode lag eine dicke Rolle Garn und eine riesige, gefährliche Nadel. Beides auf dem Rücken balancierend, schlich Lili wieder nach draußen und brachte es der Schwester. In der Zwischenzeit hatten die anderen drei einige Lagen bunten Filz und Papier aus der Schreibwarenabteilung stibitzt. Mit all ihren Utensilien vor sich ausgebreitet saß Kira vor einem weiteren Buch – es war eines dieser schmalen, hohen Büchern mit großer Schrift und riesigen Bildern, für Menschenkinder gemacht. Dieses zeigte eine typische menschliche Halloween-Szene: Eine dunkle Straße, eine Gruppe mit Kindern, die alle bunt verkleidet waren, ein Haus, vor dem eine andere Gruppe Kinder stand. Die Frau, die dort in der Haustür stand, hatte ein erschrockenes Gesicht und bunte Süßigkeiten in den abwehrend ausgestreckten Händen. „Süßes oder Saures!“ rief Kira und zeigte auf die Sprechblase, die über den Kindern schwebte. „Süßes oder Saures!“ wiederholten Lili und Mock. „Klingt ja gar nicht so schlecht, eigentlich“ Kommentierte Svet. „Kann man die Kürbisse auch essen?“ „Genauso will ich aussehen!“ rief Mock und zeigte auf ein Kind, dass einen schwarzen Umhang mit Kapuze trug, aus dem nur noch sein Gesicht und seine Hände herausschauten. Das Gesicht war kalkweiß angemalt und in der Hand trug es ein scharf aussehendes Instrument, eine Klinge an einer langen Stange. „Was ist das denn?“ fragte Svet. „Das ist der Tod“ Antwortete Kira weise. „Der holt dich, wenn du dich überfrist! Und das in seiner Hand ist eine Sense. Mit der schneidet er die Seelen.“ „Buuuh, wie furchtbar!“ rief Lili aus. „Ist das wahr, Kira?“ Ihre Schwester lachte und streichelte Lilis Kopf. „Das kann niemand so genau sagen. Aber wenn wir Mock so verkleiden, fühlt sich der echte Tod vielleicht beleidigt und bleibt weg. So steht es zumindest in den Legenden der Menschen.“ „Na also!“ rief der kleine Bruder. Kira wandte sich an die anderen beiden. „Und was wollt ihr tragen?“ Nach einigem Zögern entschied sich Lili für eine Hexe und Svet war hellauf begeistert von dem Gedanken, sich als ein Stück Käse zu verkleiden. Was gab es gruseligeres als ein laufendes Stück Käse? Danach machten sich die vier Ratten an die Arbeit. Mock schnitt ein großes Stück schwarzen Filz aus, schnitt Löcher hinein und Kira heftete den Umhang vorne mit einer großen Klammer zusammen. Zum Schluss malte sich Mock das Gesicht mit weißer Wachsmalkreide an – fertig war der kleine Rattentod! Auch für Kira gab es schwarzen Filz, allerdings schnitt sie sich daraus ein Kleid und einen runden Hut und beklebte alles mit schwarzem Tüll, den sie noch schnell aus der Nähkiste ihrer Mutter holte. Auch ein kleines Stöckchen, das wohl ein Kunde unter seinem Schuh in den Laden getragen hatte und ein paar kleinere Ästchen fanden sich, um einen kleinen Besen zu bauen, auf dem Lili durchs Zimmer fliegen konnte. Was für ein Spielzeug! An Svets Kostüm saßen sie am längsten: Für ihn schnitten sie Unmengen an gelbem Papier zurecht, malten dunkle Schatten darauf, um Löcher anzudeuten und klebten es zu einem eckigen Anzug zusammen. Als Kira, Mock und Lili die große Kleberflasche hielten und vorsichtig einen Tropfen auf den halbfertigen Käseanzug gießen wollten, passierte es: Mock, der ganz hinten stand, konnte die Flasche nicht mehr festhalten, sie kippte nach oben und der zähflüssige Inhalt ergoss sich über Svet. Als sie Svet das Kostüm kurze Zeit später anlegten, saß es perfekt. Lili musste sich ständig auf Lippe beißen, um nicht in Lachkrämpfe auszubrechen. Als Mock, Lili und Svet ihre Kostüme hatten, fiel es Lili wie Schuppen von den Augen. „Kira! Was ist denn mit dir? Du hast ja gar kein Kostüm! Dabei war das doch deine Idee!“ Kira lächelte geheimnisvoll. „Da mach dir mal keine Sorgen, Schwesterchen. Seht mal, unten ist alles fertig. Geht schon mal runter und versteckt euch unter dem Sessel da. Ich komme nach!“ Gehorsam machten sich die drei Geschwister auf den Weg, kletterten vom Regal und versteckten sich unter dem großen Lesesessel. Einige Meter vor ihnen war der Platz zwischen den beiden größten Regalen des Ladens schon gut gefüllt: Vater und Großvater Klauenscharf hatten den Tisch in die Mitte gestellt, der jetzt gut vierzig Zentimeter lang war. Und von überall kamen die Rattenfamilien heran, um ihr mitgebrachtes Essen auf den Tisch zu stellen: Brot, Käse, Wurst, Obst, unter höchster Gefahr vom Wochenmarkt stibitzt, sogar eine ganze Tasse voll mit Marmelade hatte die Familie Langschwanz aufgetrieben! Svet sabberte beim Anblick all dieser Köstlichkeiten. Mock hopste so sehr auf und ab, dass er sich den Kopf am Sessel stieß. Allmählich kehrte etwas Ruhe in der Gesellschaft ein – alle hatten sich begrüßt und hingesetzt, man wartete auf die letzten Nachzügler und die Eltern Klauenscharf sahen sich bereits verwundert um, wo ihre Kinder blieben. Da sprang Mock, der kleine Rattentod mit lautem Gebrüll hinter den Sesselfransen hervor und rannte auf seine Eltern zu. Die ganze Gesellschaft quiekte erschrocken auf, als der Kleine zum Tisch vorsprang und seine Kralle in den Marmeladentopf tauchte. „Gebt mir Süßes oder ich nehme mir eure Seelen und all die Marmelade!“ rief er. Da rannte Lili nach vorne. „Nicht so schnell, Rattentod – die böse Hexe vom Stamm der Scharfklauen will auch was von der Marmelade abhaben!“ und damit zog sie Mock weg vom Marmeladentopf. Allmählich erkannten die anderen Ratten den Spaß und einige von Mocks Freunden sprangen auf, um dem kleinen Rattentod das Handwerk zu legen. Lili schnappte sich ein Stück Brot und tauchte es in die Marmelade. „Heey! Esst nicht alles ohne mich!“ Großes Gelächter brach aus, als Svet herangeschlurft kam, verkleidet als Käsestück. „So schöne Kostüme!“ rief Vater Klauenscharf nun. „Jetzt verstehe ich, wo ihr euch die ganze Zeit rumgetrieben habt, während wir alle geschuftet haben.“ „Ach, hätten wir doch mitmachen können!“ seufzten die anderen Mäusekinder. Nun war die Feier in vollem Gange – alle Mäuse saßen zusammen, aßen, die kleinsten balgten sich mit Mock um die Marmelade und Janu, Lilis kleine Cousine, saß auf Svets Schoß und knabberte sein Kostüm mit ihrem Milchzähnen an. Nach einem gelungenen Mahl standen alle Ratten auf und versammelten sich in einem großen Kreis. „Lasst uns das Lied für die Sonne anstimmen!“ rief Großmutter Spitzohr, die älter war als alle anderen Ratten der Umgebung. Und alle Ratten sangen: „Sonne, Sonne, du stehst hell das ganze Jahr Deine Strahlen schützen uns vor der Gefahr Doch bald ist Herbst und du musst gehen Wir werden dich bald kaum noch sehen Doch Warten liegt uns all’n im Blut Der Frühling kommt, wir haben Mut Doch lass uns nicht zu lang allein Wir werden immer treu dir sein!“ Als das Lied vorbei war gab es plötzlich einen Knall, als mehrere Ratten gleichzeitig auf den Hintern fielen: Direkt in der Mitte der Ratten, die alle beim Singen andächtig die Augen geschlossen hatten, stand etwas. Es hatte wilde, verfilzte Haare, zerrissene Lumpen auf grasgrünem Fell, seine Augen quollen riesig und weiß unter einer Kapuze hervor. Es hatte die Arme erhoben und tanzte einen wilden Tanz, stampfte auf und brüllte, zu einem Rhythmus, den nur das Wesen selbst kannte. Einige Ratten standen wie angewurzelt da, andere suchten schreiend das Weite. Und Lili kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Was für ein herrliches Kostüm Kira da hatte! Sie lief zu ihrer Schwester auf die Tanzfläche, ließ einen Schrei los und tanzte mit. Kira, breit grinsend unter ihrer Kapuze, griff die Krallen ihrer Schwester und wirbelte sie umher. Bald gesellte sich auch Mock dazu, der wie wild um sie herumsprang, und Svet stand immerhin daneben und wedelte mit einem Stück Apfel zum Takt ihres Tanzes. „Sag mal,“ keuchte Lili zwischen den Sprüngen „was stellst du eigentlich dar, Kira?“ Ihre Schwester vollführte gerade einen besonders hohen Sprung, drehte sich in der Luft und kam elegant wieder auf. Sie schlug die Kapuze zurück und grinste. „Ich bin ein Zombie!“ Zwei Drehungen später kamen mehr und mehr Ratten auf die Fläche, einige hatten nun sogar Verkleidungen: Eine hatte sich in Papierstreifen gewickelt und torkelte als Mumie herum, eine andere hatte sich ein Taschentuch über den Kopf geworfen und spukte als Geist, erschreckte die Erwachsenen, die weiter an der Tafel saßen, plauderten und die Kostüme und das Ideenreichtum ihrer Sprösslinge bewunderten. „Wie nennen wir diese neue Form der Endsommernacht denn nun?“ fragte Lili. Kira hielt für einen weiteren Moment inne und legte eine Kralle an die Lippen. „Rattenween!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)