Himmelsschlacht von Momotaro ================================================================================ Prolog: Nachtluft ----------------- Die laue Nachtluft an jenem Tag im Sommer war voller Federn. Leichter, unwahrscheinlich weißer Federn. Geräuschlos sanken sie herab auf das grobe Kopfsteinpflaster. Hana sah ihnen dabei zu. Ruhig, wie sie war. Geduldig, denn die Federn schwebten sehr langsam. Als ob ihnen die Landung am Boden missfallen würde. Der Anblick war wunderschön, doch Hana fühlte die schwarze Trauer, die hinter dem Ereignis lag. Viele starben. Sie streckte die Hand aus. Freiwillig landete eine der Federn darauf. Doch sie zerschmolz nach kurzer Zeit. Nicht zu Wasser, das wäre zurückgeblieben. Die Feder zerschmolz zu nichts. Zu einem kühlen Lufthauch, der Hana auf der Handfläche kitzelte, dann war sie weg. Als ob sie nie existiert hätte. Hana fühlte die Präsenz, bevor sie die Bewegung wahrnahm. Zwischen zwei Häusern, im dunklen Schatten einer schmalen Gasse. Es bewegte sich auf Hana zu. Und es grollte. Tief und kehlig. Beinahe so tief, das es mehr Vibration in der Luft als tatsächlich ein Geräusch war. Langsam wich Hana zurück. Ein wilder Hund? Hana hatte noch nie von einem wilden Hund in der Stadt gehört, aber es war das einzige Monster, das ihr in der Umgebung in den Sinn kommen wollte. Alle anderen wären zu absurd gewesen. Es war ein riesiger Adlerkopf, der sich aus dem schmalen Zwischenraum auf den freien Platz hinausschob. Ungläubig starrte Hana ihn an. Wie unglaubwürdig, ein so riesiger Kopf aus einem so engen Gang... Wo hatte er seinen Körper gelassen? Der musste mindestens genauso monströs sein. Noch immer schwebten Federn vom Himmel. Eine kühle Brise überall, wo sie etwas Weltliches berührten. Hana ging nun schneller nach hinten. Viele Federn trafen sie. Ihr Hauch wurde unangenehm. Hana fröstelte. Der Adlerkopf krächzte, unerwartet leise, dafür genauso hässlich wie er aussah. Reckte und drehte sich und versuchte scheinbar mit aller Macht, vorwärts zu kommen. Aber etwas hielt ihn zurück. War er in der Gasse eingeklemmt? Um seine Augen schimmerte die Luft rot vor Zorn. Und Hunger. Hana zwang sich dazu, den Blick von dem unglaublichen Ereignis loszureißen. Sie drehte sich um und rannte los. Hinter sich hörte sie Putz und Ziegel bröckeln. Noch ein Adlerschrei, diesmal lauter. Sie beschleunigte ihre Schritte. Quer über den Hauptplatz, eine breite Einkaufsstraße entlang, an einem spektakulär beleuchteten Theater vorbei über die Brücke, die einen kleinen Fluss überspannte. Hana konnte erstaunlich schnell laufen. Doch sie hätte nie gedacht, dass sie diese Begabung eines Tages zu so einem Zweck einsetzen musste... Wieder spürte sie die Nähe, bevor sie sie sah. Die großen, schweren Tatzen machten auf dem Pflaster keinen Laut. Der riesige Adlerschädel war gierig nach vorn gestreckt, die Augen stachen unbeweglich in ihre Richtung. Hana sah das Ungetüm in den Spiegeln eines Antiquitätenladens, an dem sie vorbeikam, schlug einen Haken nach links, bevor der Schnabel nah genug zum Zuschnappen war, und lief in eine Seitengasse, von der sie hoffte, dass das Monster sich wieder darin verklemmen würde. Sie erwartete, dass Häuser erbebten, Fenster splitterten, doch nichts dergleichen geschah. Abgesehen von ihrem lauter werdenden Keuchen und dem dumpfen Pochen der Schuhe am Boden wurde die Welt erneut geisterhaft still. Nach wie vor andächtig, traurig still. Hana blickte hinter sich. Nichts. Der Eingang zur Gasse blieb leer. Hana verlangsamte ihre Schritte. Schließlich blieb sie ganz stehen. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Trotzdem fühlte sie den stechenden Raubtierblick nach wie vor auf sich ruhen. Das Adler-Löwengemisch musste noch irgendwo sein... Hana blickte nach oben. Kapitel 1: Straßenlaternen -------------------------- Alte Straßenlaternen, sechseckige gusseiserne Lampen mit Glasscheiben, tauchten die Straßen der Altstadt in ein angenehm warmes, goldig gelbes Licht. Hana hielt die Hand vor die Lichtquelle, um über ihr den Himmel abzusuchen. Doch so weit musste sie gar nicht blicken. Der große Adlerkopf schwebte direkt über dem Dach des nächsten Hauses... „Meine Güte.“, murmelte Hana, als ob ihr eben die Milch am Herd übergegangen wäre. Dabei wollte ein gigantischer Adlerkopf sie verschlucken. Er stieß auf sie herab. Diesmal erzitterten Häuser, doch zum Glück zerbrach nichts, nicht einmal eine Straßenlaterne, als sich der breite Kopf im schmalen Spalt verkantete. Der gelbe, gefährlich gebogene Schnabel stieß auf das alte Kopfsteinpflaster. Hana hatte sich im letzten Moment zur Seite fallen lassen. Nun rappelte sie sich hastig wieder auf, nur rund zwei Schritte vom mörderischen Schnabel entfernt. Hätte sie einen Schritt auf ihn zugemacht, sie hätte ihn berühren können. Aber nach Tierestreicheln war ihr eigentlich nie. Hana klopfte sich den schlimmsten Dreck von der weiten Clownshose. Eigentlich war sie eben auf dem Weg von der Arbeit nach Haus gewesen, als die Federn sie ihr Ziel vergessen hatten lassen. Erneut rannte sie los. Hinter ihr splitterte nun jede Menge, als der Adlerkopf versuchte, sich loszuschütteln. Er krächzte, der große Schnabel schliff quietschend und krachend über das Pflaster. War das eine Bescherung, alles kaputt... Hana bog in eine weitere Seitengasse ein. Sie war dankbar dafür, sich in der Altstadt aufzuhalten, wo alles eng und für riesige Monsterwesen sehr unpraktisch gebaut war. Außerhalb, in der richtigen Stadt, wären die Straßen weiträumig, die Plätze einladend gewesen. Doch hier war alles ungeplant verbaut, kantig, ineinander verkeilt, um bloß noch innerhalb eine längst verschwundene Stadtmauer zu passen. Hana bog wieder ab und wieder ab, sie bewegte sich in einem wilden Zickzack auf den Ort zu, an dem sie sich zu verschanzen plante. Doch immer wieder kehrte das Gefühl zurück, beobachtet zu werden. Der Vogellöwe war gar nicht so leicht abzuschütteln. Dabei hielt sie sich eng an den Häuserwänden, nutzte jeden Vorsprung, jeden hervorragenden Balkon als Deckung gegen oben. Mal versteckte sie sich mehr, mal rannte sie einfach so schnell sie konnte. Nichts klappte. Bis ihr Zufluchtsort in Sicht kam. Die riesige Kathedrale war wie eine Festung gebaut, mit dicken Steinwänden und dem absurden Versprechen, dort auch mit überirdischer Hilfe rechnen zu können. Obwohl Hana ihr Leben lang noch nie an eine höhere Macht geglaubt hatte, selbst als Kind nicht, als noch alle stur versuchten, es ihr einzureden wie den Osterhasen, dachte sie, gegen Monster, die es auch nicht geben sollte, könnte der Glaube tatsächlich ein mächtiger Verbündeter sein. Der Weg zur Kathedrale war weitgehend ungeschützt. Die ganze Altstadt war einen Hügel aufwärts errichtet worden, das gotische Kunstwerk befand sich am höchsten Punkt der Steigung. Ein ausladender Platz mit hübsch verzierten Steinplatten befand sich vor dem Haupteingang, doch Hana beabsichtigte nicht, den zu benutzen. In ihrer Jugend hatte sie Führungen durch die Kathedrale geleitet, dementsprechend gut kannte sie das alte Gemäuer. Das an der Rückseite einen weiteren, schmalen, absichtlich unscheinbaren Eingang hatte, versteckt in dem kleinen Wäldchen, das dort begann. Eine alte, aber noch makellos erhaltene Eisentür, so winzig, dass sich nur ein Kind nicht hätte ducken müssen, um einzutreten. Hana hatte den Schlüssel dazu natürlich abgeben müssen, doch das Schloss war alt und leicht zu knacken. Hana zögerte kurz, bevor sie sich aus dem Schutz der Gasse begab und begann, bergauf auf die ersten Bäume zuzurennen. Es war nicht weit. Ihr Schatten zog sich vor ihr in die Länge, als sie sich von der letzten Straßenlaterne vor dem unverbauten Bereich entfernte, und Hana dachte zu ihm, absurd amüsiert: Tu nicht so, weit ists ja wirklich nicht. Ein weiterer Schatten zog an dem ihren vorbei. Ein riesiges Ungetüm von Schatten. Hana sprang zur Seite und kugelte wieder ein wenig bergab. Hinter sich hörte sie die Pflastersteine splittern. Hana rollte, bis sie wieder auf den Beinen war, und sah bergauf. Schräg zu ihr zog die gewaltige Bestie ihren dolchförmig gebogenen Schnabel aus den Überresten des Bodenbelags und starrte mit seitlich gelegtem Vogelkopf zurück. Herausfordernd, als ob sie fragen wollte: Und, endlich bereit, die Ausweglosigkeit deiner Situation anzuerkennen? Die Jagd schien ihr Spaß zu machen. Hana fühlte altbekannten Trotz in sich hochsteigen. Nein, sie war noch lang nicht soweit, ihr Unterfangen aufzugeben. Solang sie atmete, würde sie an ihrem Plan festhalten, da konnte der Vogelkopf noch so viele Pflastersteine zerbröckeln. Der Trampel. Sie musste erneut zurück ins Gassengeflecht. Darin herumirren und ein weiteres Mal versuchen, das Biest abzuhängen. Danach konnte sie einen zweiten Vorstoß auf die Kathedrale wagen. Hoppauf, hoppauf, feuerte sie sich selber an, wirbelte herum und hielt auf den nächsten Gasseneingang zu. Links und rechts von Hana landeten die Tatzen am Boden. Der Schädel stürzte direkt auf sie herab. Hana begriff, nun würde sie nicht mehr rechtzeitig ausweichen können. Eine hundertstel Sekunde, die sich weitete, in der Hana verstand, nun war es also vorbei. Trotzdem setzte sie noch zum Sprung an, als sich der lastwagenlange Schnabel bereits über sie stülpte und sie mitten in die dunkelrote Kehle des Ungeheuers blickte. Kapitel 2: Schnabel ------------------- Da erstarrte der Schnabel. Offen um sie gebreitet, wie ein schützendes Dach, blieb er hängen wie ein alter Filmstreifen, der sich im Gerät verklemmt hatte. Mit einem leichten Zucken. Dann, langsam, wie in Zeitlupe, kippte er... Der Schnabel kippte zur Seite, und mit ihm der ganze Adlerkopf. Weiter bergauf schlug etwas Größeres am Boden auf. Eine zähflüssige Substanz schlich sich an Hanas in Sprungstellung erstarrte Füße heran. Umspülte sie geduldig, mit der Ignoranz einer Naturgewalt, und hielt weiter auf die Gassen der Altstadt zu. In sanften Wellen kam immer mehr von der verschlafenen Substanz. Sie glänzte weinrot im warmen Licht der ersten Straßenlaterne. ...Blut? Der riesige Adlerkopf krachte zu Boden und rutschte lose ein paar Meter den Hügel hinab. Der mächtige Löwenkörper dazu lag flach weiter oben, mit einer riesigen offenen Wunde an dem Ende, das Hana anglotzte. Ein Wirbel der Wirbelsäule war darin zu erkennen. Überall, doch besonders aus zwei großen Röhren, floss reichlich von der weinroten Substanz. Hana wurde schlecht und sie sehnte sich nach dem besänftigenden Geschmack von Kräuterschnaps auf ihrer Zunge. Hana neigte allgemein zum Alkohol, doch noch nie zuvor hatte es sie derart nach einem Rausch verlangt, wie in dem Moment. Neben der riesigen Wunde, durch die schockierende Wirkung von offengelegten Muskeln und Sehnen leicht zu übersehen, stand eine Gestalt. Großgewachsen, hager, mit hochgeschlossenen Lederstiefeln, deren hohe Absätze massiv genug waren, um Leuten den Schädel einzuschlagen. Eine Frau. In einem hautengen, schwarzen Ledergewand, aus dem die riesigen Brüste wie zwei fette Knastbrüder auszubrechen versuchten. Sie wirkten wie das einzige Fettdepot des sonst so schmalen Körpers. Hana merkte, dass sie wie hypnotisiert auf die erstaunlichen Rundungen glotzte. Nur um nicht zum offenen Löwenkörper schauen zu müssen, redete sie sich ein. Aber sie dürfte schon eine kleine Weile auf die Möpse eingestarrt haben, denn die Gestalt legte schützend ihren langen, schmalen Arm vor beide. Ein kaum ernst gemeinter Versuch, die Kuriosität zu verdecken. Die tiefe, rauchige Stimme fragte langsam, getragen vom Timbre einer Hana bisher unbekannten Eleganz: „Na, Kind, hast du was entdeckt, das dir gefällt?“ Die Frage war Hana in ihrer gegenwärtigen geistigen Verfassung zu kompliziert. Sie verstand nicht einmal im Ansatz den Witz dahinter. Falls da überhaupt einer gewesen war. Das Lachen, das ihre Kehle heraufwürgte, klang wahnsinnig, hysterisch, schrill und wurde zum Glück schnell vom Mageninhalt abgelöst. Ja, Kotzen. Das war gut. Eine tröstlich realistische Sache. Angesichts eines riesigen Monsterkörpers mit abgetrenntem Kopf und einer vollbusigen Erscheinung in Leder daneben. Hana hoffte nur, dass all die skurrilen Elemente aus der Szenerie verschwunden waren, sobald sie den Kopf wieder heben konnte. Die hochgewachsene Frau zerschmetterte die Hoffnung persönlich. Ihre glatten Lackschuhe traten seitlich in Hanas dem Boden zugewandtes Gesichtsfeld. Ihre Stimme schleppte sich träge über den folgenden Satz: „Alles in Ordnung bei dir, Schätzchen?“ Hana betrachtete die Schuhe. Mal nachdenken. Nö, nicht viel war noch in Ordnung. Abgesehen von Hanas Verstand, der kurz davor war, die Einordnung des Geschehenen in Bekanntes gründlich aufzugeben, und ihrem rechten Ellenbogen, den sie sich irgendwo auf ihrer aberwitzigen Flucht aufgeschürft zu haben schien, verloren ihre Beine langsam an Standhaftigkeit und das Rauschen in ihren Ohren wurde immer lauter... Aber nun in Ohnmacht fallen zu wollen, mitten in dieser Soße von Ungeheuerblut und Straßendreck, erschien Hana falsch. Also riss sie sich zusammen und konzentrierte sich voll auf ihr Gleichgewicht. „Du wirkst bleich.“, stellte die unheimliche Frau fest: „Ist dir schlecht?“ ...Ernsthaft, das fragte sie eine Person, die noch immer vor ihrer eigenen Kotze stand? Um ein Haar hätte Hana die Augen verdreht, aber dann wäre sie wohl sicher gestürzt. Stattdessen räusperte sie sich, um die eigenen Stimmbänder vom angesammelten Schleim zu befreien, und fragte: „Was war das?“ Natürlich musste die Frau fragen: „Was war was?“ Stellte die sich absichtlich blöd? Genervt machte Hana eine ausladende Handbewegung in die Richtung, in der vermutlich noch immer ein kopfloser Löwe lag. „Oh.“, meinte die Frau: „Das war ein Greif.“ „Ah so.“, meinte Hana, als ob damit alle Unklarheiten beseitigt gewesen wären. Mühsam, nach wie vor voll auf ihre Balance fokussiert, richtete Hana ihren Oberkörper auf und sah nach links. Willentlich dahin, wo weder Ungeheuerleiche noch Frau zu sehen war. Dorthin richtete sie auch ihre Fußspitzen und versuchte einen Schritt. Es funktionierte. „Nette Hose.“, bemerkte die Frau hinter ihr: „Italienisch?“ „Clownsschule.“, antwortete Hana. Die Frau lachte. Dann fragte sie: „Sag mal, Herzchen, wohnst du hier in der Gegend? Ich würd sterben für ein warmes Bad und eine Nacht in einem weichen Bett.“ Dann stirb doch, wollte Hana sagen, doch das wäre egoistisch gewesen und Hana bemühte sich stets um Höflichkeit. Darum ließ sie sich Zeit mit der Antwort, gestand aber doch: „Ja, ganz in der Nähe. Folgen Sie mir.“ Kapitel 3: Hüftschwung ---------------------- Die Brüste wogten mit einem wahnsinnig übertriebenen Hüftschwung hinter Hana her, als sie an der Kathedrale vorbei auf einen neueren Teil der Stadt zuhielt. Hanas Wohnung war klein, aber da sie so gut wie keine Sachgüter hatte, trotzdem geräumig. „Nichtmal ein Kleiderständer...“, stellte die fremde Frau in Leder ungläubig fest. Hana warf ihren Schal in die von ihr dafür vorgesehene – und extra besonders frei gelassene – Ecke. Sie fragte: „Tee?“ und warf ihre Schuhe in eine andere Richtung fort. Die Fremde lächelte charmant. „Das wäre nett, danke. Bad?“ „Ist dort.“ Hana deutete auf die Tür gleich hinter dem Bereich des Vorraums, der bereits Küche war. „Sehr schön.“ Hana füllte den Topf mit Wasser und holte sich schon im selben Handgriff den Schnaps vom obersten Regalbrett runter. Achtlos stürzte sie das erste Stamperl direkt in die Kehle, atmete tief durch und wartete auf die wohlig warme Gedankenlosigkeit. Dann drehte sie den Herd auf. . Hana wachte auf. Der Kopf fühlte sich an wie mit Helium gefüllt. Die Zunge war pelzig. Unwillig drehte sich Hana zur Seite. Blinzelte und sah mitten in ein fremdes Frauengesicht... Im ersten Moment befürchtete sie das Schlimmste. Verkatert neben fremden Frauen aufzuwachen ist eine Zeit lang der prägendste Moment ihres Lebenswandels gewesen. Zum Glück geruhte die eine oder andere Erinnerung träge zurückzukehren. Richtig, der Greif mit dem abgehackten Kopf. Der Schnee aus Federn. Die Frau mit dem fetten Busen. Der Abend, an dem die ganze Welt ihren Sinn für Realität verloren hatte. Oder ist es nur Hana gewesen, die durchgedreht war? Die Fremde murmelte, noch mit geschlossenen Augen: „Morgen, Herzchen.“ Hana antwortete gedankenlos: „Morgen.“ Angewidert drehte sich die Fremde weg. „Uuh, Kind, du solltest deinen Alkoholkonsum unter Kontrolle bringen.“ „Verzeihung.“ Hana setzte sich auf, wartete, bis ihr zum Bersten voller Kopf zu schwanken aufgehört hatte, und betrachtete schließlich den sonnenüberfluteten Wohnraum, in dem ihre Schlafcouch stand – ein eigenes Schlafzimmer besaß die Wohnung nicht. Am Esstisch stand ein Heferl mit ausgelutschtem Teebeutel. Ah ja... Über dem Sessel hing die schwarze Lederkluft der Fremden. Hana schielte kurz auf die Decke herab, unter der sich die Beischläferin schamlos streckte. Vermutlich nackt. Hana sprang aus dem Bett, als ob die Matratze glühende Lava wäre. Zur Erklärung murmelte sie: „Kaffee.“ „Für mich bitte auch!“, rief ihr die Fremde nach. Sie saßen sich am Esstisch gegenüber, jede eine volle Tasse Kaffee vor sich. Und die Fremde meinte: „Welchem Clan du wohl entstammst...“, nachdenklich, vermutlich mehr an sich selbst gerichtet als an Hana. Sie trug ein ärmelloses Leiberl in ausgewaschenem Grau und ihre Unterhose und aus. Mehr nicht. Die langen schwarzen Haare, am vorigen Tag noch zu einem Zopf gebunden, hingen ihr offen über die Schultern herab bis zum Bauchnabel. Ihr schmales Gesicht war auf edle Weise schön, nicht süß wie das eines Kindes, sondern fein geschnitten, mit klaren, geraden Linien, und makellos wie das einer Puppe. Bleiche Sommersprossen zogen sich von Wange zu Wange. Die Nase war schmal, ihr Rücken leicht nach oben gebogen. Die Augen gruslig hell, blaugrau wie Nebelschwaden. „Zu welchem Clan du wohl gehörst!“, wiederholte die Fremde, deutlich lauter, als ob es eine Frage gewesen wäre und Hana versäumt hätte, zu antworten. Also stellte Hana die nähere Betrachtung ihres Gegenübers ein und sah fragend in die nebeligen Augen. „Mein Familienname?“, versicherte sie sich. „Nein, der Clan.“, verbesserte die Fremde, merklich ungeduldig. Lange Erklärungen waren wohl nicht ihr Fall. Hana dachte darüber nach, mit ihrem heliumgefüllten Kopf. „...Der Clan...“ „Ja, der Clan.“, bestätigte die Fremde: „Ists dir etwa peinlich? Sinds die Runenpfuscher, dann versteh ichs.“ Sie kicherte spöttisch. Hana konnte sie bloß verständnislos anglotzen. Welche Runenpfuscher? „Na, du bist doch auch ein Dunkelahn.“, versuchte die Frau ihr auf die Sprünge zu helfen: „Nicht wahr? ...Schwester?“ Das läutete alles keine Glocke in Hana. Die Miene blieb ahnungslos. Die Fremde seufzte. „Na gut... Ich weiß ja nicht, warum du mir dieses Theater vorspielst...“ Sie betrachtete Hana misstrauisch, doch auch diesbetreffend konnte Hana nicht weiterhelfen. „..., obwohl klar ist, dass du Teil der Schwesternschaft bist. Warum wäre sonst das Nachthemdwesen so auf dich angesprungen?“ Hana beschloss, etwas Vertrautes in das einseitige Gespräch einfließen zu lassen. „Ist der Kaffee süß genug?“ Die Fremde zeigte sich unkooperativ. „Was hat denn das damit zu tun?“ „Weil Sie ihn noch gar nicht gekostet haben.“ „Ich trink ihn ohne Zucker.“ „Oh, oh...“ „Oh, oh?“, wiederholte die Fremde fragend. Dann begriff sie und schob die Tasse leicht von sich weg. „Das konntest du ja nicht wissen, Schätzchen.“ Sie rieb sich kurz die Stirn, wie um inneren Stress abzubauen, und fragte: „Entschuldige bitte meine Unverfrorenheit, aber dürfte ich kurz das dritte Auge auf dich anwenden?“ Hana nickte bloß. Wenn es dazu beitrug, dass die unverständlichen Vorwürfe aufhörten, war ihr das mehr als recht, egal, um was es sich dabei handelte. Die Frau streckte die Hand nach Hana aus. Darin, in der Handfläche, öffnete sich ein Spalt – oh nein, drittes Auge war doch nicht gut – wurde größer – Hanas instabiler Kopf wollte nach hinten wegkippen – tatsächlich, dort, in der Hand, öffnete sich ein drittes Auge! Blinzelte. Sah rasch, irritiert, nach links, rechts, entdeckte Hana und fixierte eigentümlich entschlossen ihre Stirn. Die Pupille wurde eng, als ob das Ding in ein blendend helles Licht sehen würde... Eine Feuerbrunst fuhr durch den Heliumkopf, der sich aufblähte, dann, beinah hastig, zusammenzog und schließlich irgendwo zwischen den Extremen wobbelnd endete. Hana stiegen die Tränen in die Augen. In denen, schwarzweiß, ein uralt wirkender, mit Staub und Kratzern verunreinigter Filmstreifen abzulaufen begann. Ein riesiger Sessel, wie ein Thron. Darauf ein Zepter, an das sich eine Hand klammerte. Eine abgetrennte Hand. Darüber baumelte der Rest der Frau, aufgeknüpft an einem langen Seil. Der Armstumpf blutete noch. Als Hana wieder zu sich fand, merkte sie, dass sie wie am Spieß schrie. Sie hörte auf. Die Frau ihr gegenüber entfernte die Zeigefinger aus den eigenen Ohren, atmete tief durch und meinte: „Viel besser...“ Hana erhob sich mühsam von ihrem Stuhl. Die vergangenen Momente hatten sie scheinbar um Jahrzehnte altern lassen. Zur Erklärung meinte sie: „Darauf ein Schnäpschen.“ Die schmale, feingliedrige Hand schloss sich um Hanas Arm. Die unheimlich hellen Augen blickten tief und eindringlich in Hanas geröteten, unangenehm kratzenden Welchen. Die tiefe, tragende Stimme meinte: „Jetzt nicht.“ Unkonzentriert antwortete Hana: „Genau jetzt will ich aber.“ „Du solltest lieber klar bleiben, Schätzchen.“, riet die Frau. „Werden.“, besserte Hana sie aus. „Vertrau mir.“, ging die Frau darüber hinweg: „Du brauchst bald jedes Fitzelchen Geistesgegenwart, das du zustande bringen kannst.“ „Zuviel Klarheit hat sich noch nie ausgezahlt.“, widersprach Hana und wollte sich losmachen. Die Fremde meinte: „Tu's deiner Mutter zuliebe.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)