Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Als Ray aus dem Universitätsgebäude trat, schlug sein Herz wie wild. Er konnte es noch immer gar nicht fassen, dass er gestern Kyrie wirklich getroffen hatte, dass sie da gewesen war und das – bis auf den Arm - unversehrt! Sie hasste ihn nicht, sie vertrieb ihn nicht … Sie hatte bloß diesen … Unfall gehabt. Beim Gedanken an jenen kehrten auch die Erinnerungen an seinen eigenen Treppensturz zurück. Sein Arm, der sonst immer Ruhe gab, meldete sich zurück und er glaubte, dass Kyrie es ebenfalls irgendwann gar nicht mehr spüren würde – diesen Schmerz, der einfach immer da war, den man aber doch nicht fühlte; der einfach immer zeigte, dass man eingeschränkt war … Oder wenn man versuchte, ihn zu benutzen, und dabei an seine Grenzen stieß. Er hoffte, dass er sie in dieser Zeit unterstützen konnte. Immerhin waren sie jetzt ernannte und bestätigte Mauer-Freunde. Er lächelte unwillkürlich beim Gedanken an den Gesichtsausdruck von John, als Kyrie ihm erklärt hatte, dass sie sich bloß gefreut hatte, ihren Mauer-Freund wieder zu sehen. Sie waren sich also beide nicht sicher gewesen, wie sie einander hätten bezeichnen sollen und – noch besser! – ob der jeweils andere warten würde! Und sie hatten gewartet … Ja. Ray war einfach erleichtert, dass Kyrie sich darüber gefreut hatte, dass er sich extra für sie zur Kirche begeben hatte, um mit ihrem Vater zu sprechen. Aber es machte ihn noch immer nervös, sich zu dieser Mauer zu begeben – was, wenn sie doch nicht da war? Nein. Sie musste doch dort sein! Das gestern war so etwas wie ein Mauer-Freund-Versprechen, das in etwa so sehr band wie ein Schwur auf das Leben der Mutter! Also würden sie sich bald treffen. Und über die vergangenen Tage sprechen. Gestern waren sie nicht mehr dazu gekommen, da sowohl sein Vater als auch ihr Vater es plötzlich sehr eilig damit hatten, nach Hause zu kommen. Ray hatte weder mit Kim noch mit seinem Vater während der Autofahrt gesprochen – aber er hatte Kim im Nachhinein noch einmal kurz gedankt – kurz und schmerzlos. Das war Anstand. Sie schien das als Triumph zu sehen, doch er war da nicht so optimistisch. Aber egal. Jetzt wo er Kyrie wieder an der Mauer wusste, brauchte er sich nie mehr wieder Gedanken um Kontakt mit Kim zu machen – immerhin besaß er mittlerweile Kyries Handynummer. Langsam schritt er den Weg entlang, der ihn zu jenen Ort bringen würde, an dem er Kyrie so sehr erwartete. Und sein Herz setzte für eine Sekunde aus, als er sie tatsächlich dort erblickte! Unwillkürlich bewegte er sich schneller fort, um auch rascher bei ihr zu sein. Immerhin musste er die Zeit nutzen! Sie musste ihm das mit dem Kerl, der sie überfallen hatte, noch sehr genau schildern – eher würde er nicht Ruhe geben! „Ray!“, rief sie erfreut, als er schon ziemlich nah war. Sie strahlte ihn an. Keiner um sie herum bemerkte das freudige Wiedersehen. Niemand schien Kyrie vermisst zu haben oder sich gefragt zu haben, weshalb Ray all die Zeit alleine gewartet hatte. Aber egal. Die anderen kümmerten ihn genauso wenig wie er sie! „Kyrie!“, erwiderte er, als er neben ihr zu stehen kam. Sie trug einen roten Rock, dazu ein schwarzes Oberteil und eine lange, weiße Jacke, die zu den auffälligen, weißen Stiefeln passte. Sie lächelte ihn freundlich an. „Ich bin wirklich erleichtert, dass du tatsächlich hier bist“, gestand er ihr, als er bemerkte, dass sein Puls sich normalisiert hatte. Zum Glück. „Das freut mich wirklich sehr“, antwortete sie daraufhin und bot ihm gleich einen Platz neben sich an, den er auch gerne beanspruchte. „Was hast du die ganze Zeit gemacht?“, wollte sie dann von ihm wissen, wobei sie ihn neugierig beäugte, als wäre er total gealtert oder hätte sich sehr verändert. Darüber lächelte er. „Also – wie gesagt – Kylie und Diane haben endlich wieder Kontakt zu mir aufgenommen, meiner Mutter geht es wieder gut und … na ja … Eigentlich habe ich nichts Besonderes gemacht.“ Er zuckte mit den Schultern. Er hatte sich dazu entschieden, ihr nichts von seinen peinlichen Suchaktionen zu verraten. „Hin und wieder etwas auf dich gewartet, aber auch nicht sonderlich lange, nur eben lange genug – dann nach Hause und zum Lernen hingehockt.“ Er grinste. „Das Übliche eben.“ Sein Grinsen erlosch. „Und du? Was war denn die ganze Zeit?“ Warum war sie nicht ans Telefon gegangen? Sie schaute nachdenklich drein. „Na ja … Ich war eine Zeit lang im Krankenhaus, nichts Ernstes natürlich, und … dann war ich zuhause und habe mich total auf gestern gefreut, da dies der erste Tag war, an dem ich wieder draußen war! Und da treffe ich gleich dich!“ Sie lächelte. „Woher wusstest du eigentlich, in welcher Kirche mein Vater predigt?“ „Hast du den Mann und die Frau gesehen, mit denen ich dann weggefahren bin?“, wollte er dann wissen, „Er ist mein Vater.“ „Und dein Vater geht noch jeden Tag zur Kirche?“, wunderte sie sich. „Ich bin in dieser Familie einfach der einzig Vernünftige.“ Er lächelte. Er wusste, dass sie es ihm nicht übel nehmen würde. Das tat sie nie. Auch wenn sie den Schmollmund zog – worüber er breit grinste. „Hast du eigentlich viel verpasst? Bist du heute noch nachgekommen?“ Sie nickte. „Ja, es geht. Mit etwas … Vorwissen …“ Sie grinste schief. „… übersteht man Fehlstunden.“ „Jetzt kommen bald die Prüfungen“, sinnierte er, „Bist du vorbereitet?“ Sie schauderte. „Ich hoffe es?“ „Und ich erst.“ Er wandte seinen Blick in den goldenen Himmel, dessen Strahlen nur selten Einhalt geboten wurde. „Drei Studienrichtungen …“ Ray wandte sich wieder zu Kyrie um, welche den Kopf schüttelte. „Du musst verrückt sein.“ Sie schien sich da ziemlich sicher. „Hat Kylie auch gesagt, als sie es herausgefunden hat“, teilte er ihr frei heraus mit. Kyries Augen weiteten sich für einen Moment. „Du hast es ihr erzählt?“, fragte sie – seiner Meinung nach leicht panisch – nach. Ray legte den Kopf schief. „Mehr oder weniger …“ Er zuckte mit den Schultern. „Weißt du, das war ziemlich seltsam. Meine Mutter scheint das irgendwie gerochen zu haben … Ich habe kein Wort gesagt und …“ Er zog die Stirn kraus, weil Kyrie so seltsam schuldbewusst hin und her schaute. „Was ist los?“ „Oh – äh – ich glaube, ich habe irgendwo … eine Münze verloren …“ Sie lächelte. „Ist nicht wichtig.“ Er schüttelte den Kopf. Manchmal war sie einfach leicht abzulenken. Fast so leicht, als würde sie eine schlechte Lüge erzählen. … Er grinste. Kyrie log aber nicht. „Nun – jetzt wissen sie es und halten mich für verrückt. Kylie hat mir auch gleich schon gedroht, falls ich die Prüfungen nicht schaffe … Du wirst Kylie lieben. Sie hat nämlich vor zu kommen.“ „Du willst sie mir vorstellen?“, schloss Kyrie daraus, „Das wird toll! … Diane kommt aber nicht, oder?“ Er verneinte. „So viele finanzielle Mittel haben sie nun auch wieder nicht … Ich studiere fertig, dann werde ich meine Mutter und meine Schwester wieder sehen …“ „Hat sie jetzt schon geheiratet?“, wollte Kyrie wissen. „Nein, hat sie noch- …“ Moment. Hatte er ihr erzählt, dass Diane heiraten wollte? Hatte er das überhaupt jemandem erzählt? Niemand hier kannte Diane – sein Vater würde es schon herausfinden, wenn es so weit war. … Gut, vermutlich hatte sie es ihm mitgeteilt, bevor sie sich an Ray genannt hatte. Seine verräterische Schwester! „… nicht …“, beendete er seinen Satz langsam, „Ich weiß auch noch nichts von einem Datum oder so …“ … Er konnte sich nicht erinnern, das je irgendwem gegenüber erwähnt zu haben. … Oder doch? Woher wusste sie es sonst? Er musste es ihr ja schon fast gesagt haben. Kyrie nickte. „Ich habe mir immer ein Geschwisterchen gewünscht.“ Danach schüttelte sie den Kopf. „Ich wollte unbedingt Trauzeugin für irgendwen werden.“ Sie lachte kurz. „Wirst du für die Hochzeit ins Rote Dorf zurückkehren?“ „Wenn es sich vom Studium her ausgeht“, antwortete er, „Ich hoffe ja, dass sie erst in zehn Jahren heiratet, sodass ich alle Studienrichtungen abschließen kann. Sonst bringt mich die Idylle des Roten Dorfs nur noch dazu, zu Hause zu bleiben.“ Kyrie blies empört die Wangen auf. „Würdest du deine Mauer-Freundin wirklich im Stich lassen?“ Aber sie wirkte auch leicht panisch. Er lachte amüsiert über diese gegenteiligen Emotionen. „Selbstverständlich würde ich dich und die Mauer mit mir nehmen!“ Sie stimmte in sein Lachen mit ein. Und er war so fröhlich, wie bereits seit elf Tagen nicht mehr – auch wenn sie ihm nichts weiter über ihren Unfall erzählen wollte. So viel zu „nicht nachgeben“. … Aber … sie glücklich zu sehen, erfreute ihn mehr als jeder Unfallbericht. Und wenn er auf dieses Thema zurückkam, war sie einfach nicht glücklich. Wenn sie sich jemals dazu aufraffen konnte, würde sie ihm davon erzählen. Wenn sie ihm genug … vertraute. Wenn sie es selbst überwinden konnte. Aber er wollte ihr eigentlich dabei helfen. Doch für den Moment war es ihm genug, wenn er ihr zum Lachen verhelfen konnte. John hoffte, dass Radiant und Kim ihm nicht böse waren, dass er so mit ihrem Sohn umgesprungen war – aber es hatte sich einfach so ergeben. Er beobachtete Kyrie dabei, wie sie diesem Ray winkte und dann zum Auto ging. Mit einem Arm winkte sie ihnen, der andere hing schlaff herunter. Sichtbare Schiene oder Prothese? Seine Tochter würde ihren Arm so und anders verlieren … Nein. Er war schon verloren … Er schaute kurz seine Frau an. Diese lächelte – Ray zu. Der lächelte zurück. Johns Mund bildete eine schroffe Linie. Er würde diesem Atheisten nicht zulächeln. Mauer-Freunde. Von wegen. Kyrie öffnete die Wagentür und winkte Ray noch ein letztes Mal zu, ehe sie sich hinein setzte und das Tor ins Schloss fallen ließ. „Guten Tag“, begrüßte sie sie fröhlich, „Hattet ihr einen schönen Tag? Meiner war nämlich wundervoll.“ „Guten Tag“, antwortete er, ging auf das andere aber nicht mehr ein, sondern legte den Rückwärtsgang ein und machte sich auf den Rückweg. Magdalena und Kyrie sprachen miteinander über die Ereignisse des Tages und darüber, was sie heute essen wollten. John hielt sich gekonnt heraus. Essen war ihre Sache – und er hatte heute nichts Besonderes erlebt. Heute war er bloß an der Schule gewesen und hatte Religion unterrichtet. Die Predigt würde er erst heute Abend halten. Im Rückspiegel erkannte er Ray, der jetzt aufstand und dann betont langsam fortschlenderte. Kim und Radiant waren besonders treue Angehörige der Kirche. Und Radiant war sogar ein Unterstützer, ohne den die Kirchen der Stadt nur halb so atemberaubend schön wären. Durch die Investitionen seiner Firma waren sie schon oft ins Gespräch gekommen, aber dann und wann suchten sie auch privaten Rat – und langsam verstand er ihren Punkt von damals auch. Es war in etwa vor drei Monaten gewesen, als sie ihn gefragt hatten, wie man einen störrischen Jungen behandeln sollte, der sich weigerte, sich zu integrieren oder gar mit ihnen zu interagieren – vermutlich hatten sie da von Ray gesprochen. Er hatte einfach nicht auf Radiants und Kims Anwesenheit reagiert, sondern hatte sich bloß um John und Kyrie gekümmert. Als John ihm gesagt hatte, er sollte sich von seiner Tochter fern halten – scheinbar war Kyrie sehr davon überzeugt, dass er keinen Grund hatte, sich bei ihr zu entschuldigen -, und als diese ihn daraufhin zu Recht gewiesen hatte, dass er ihr Mauer-Freund wäre, den er zu dulden hatte, hatte Ray das bewiesen: Nach dem Gespräch war er einfach zum Wagen gegangen, ohne seine Eltern auch nur eines Blickes zu würdigen. Er fragte sich, was in dieser Familie Schreckliches passiert war, dass dieser Junge so geworden war. Die Eltern erschienen ihm nämlich sehr vernünftig – Kim vielleicht ein paar Jahre zu jung, aber ansonsten … Aber er wollte nicht nachfragen, wenn sie nicht darüber reden wollten. Ob Kyrie Bescheid wusste …? Aber es ging ihn nichts an. Bis auf den Umstand, dass seine Tochter dabei war, sich mitten in diesen Problemherd zu stürzen! Was empfand sie für diesen Ray? Und was verbarg er? John konnte nicht glauben, dass er ihm Unrecht getan hätte, indem er den Telefonkontakt unterbrochen hatte! Ray musste irgendetwas mit der Sache zu tun haben. Er musste. Es würde einfach zu gut ins Profil passen. Aber er wollte nicht, dass seine Tochter dumm genug war, sich trotzdem mit ihm einzulassen! … Warum konnte sie nicht einfach bei ihren Engeln bleiben? Die taten ihr viel besser – als irgendwelche Ungläubigen! „Nudeln?“, wiederholte Magdalena laut, „Na gut, damit kann ich leben.“ „Schon wieder Nudeln?“, murrte John daraufhin, um sich ins Gespräch einzumischen. „Du hast kein Mitspracherecht“, kam es neckend von Kyrie. Er lachte. … Aber eines musste sie Ray lassen: Vor dem gestrigen Tag war Kyrie nie wieder so glücklich gewesen. Als hätte er all ihre bösen Gedanken und Erinnerungen vertrieben … Sollte er doch nicht so hart mit ihm ins Gericht gehen? Ihm eine Chance geben? Immerhin hatte er den Versuch unternommen, mit Kyrie Kontakt aufzunehmen. Es hatte sich nur jemand dazwischen gestellt. „Wie wäre es mit einem Dessert?“, schlug er stattdessen vor. „Kuchen klingt gut“, stimmte Kyrie zu. „Ich kann Schokoladekuchen machen“, sinnierte Magdalena, „Ich habe gehört, ich sei ganz gut darin.“ John lachte – und Kyrie lachte ebenfalls. Magdalena backte den besten Schokoladekuchen auf der ganzen Welt! Und so fuhren sie nach Hause – eine glückliche Familie in der Hälfte eines normalen Arbeitstages. So wie es sein sollte. Kyrie starrte auf die Feder, die in ihrem Zimmer war. Scheinbar hatte sie ihr tatsächlich Glück gebracht. Ob sie dieses Glück auch öfter nutzen können würde? Aber inwiefern? Bei den Prüfungen? Sie hatte sich bei Mitstudenten, welche ihr nicht feindlich gesinnt waren, welche also nicht zur Fraktion Wir-vermissen-Nathan gehörten, erkundigt, was sie alles verpasst hatte. Es war wirklich ziemlich viel. Vielleicht hatte sie beim Gespräch mit Ray etwas untertrieben – aber wirklich nicht sehr. Die Heiligen Schriften hatte sie immerhin schon öfter durchgearbeitet und bei Fragen über Interpretationsmöglichkeiten konnte sie sich noch immer an ihren Vater wenden. Also blieb nur der trockene Stoff und die Geschichte zu lernen, wobei beide sehr wichtig für das Verständnis waren. Und interessant nebenbei. Wenn sie jetzt noch etwas lernen konnte, dann würde sie heute nach der ersten Besprechung mit dem Arzt nicht mehr allzu viel zu tun haben. Das wäre doch erstrebenswert, oder? Sie zog sich die Jacke aus und legte sie auf das Bett. Und setzte sich daneben, anstatt sich – wie geplant – an den Schreibtisch zu setzen, um zu lernen. Sie hatte noch immer keinem erzählt, dass sie nie mehr in den Himmel gehen wollte. Ihre Eltern hatten auch noch nicht gefragt. Diese schienen sich mehr darum zu sorgen, sie aus Angst, dass dieser Rempler zurückkehren würde, nie mehr wieder aus dem Haus zu lassen, Sie seufzte. Sie wollte so gerne zurück … Sie war heute schon wieder kurz davor gewesen, sich Ray mitzuteilen – da hatte sie das Thema Unfall lieber komplett ausgeblendet, als in Versuchung zu geraten, sich zu verplappern – und das würde bei ihm irgendwann bestimmt noch geschehen! Er war ein richtiger Freund. Jemand, dem sie alles erzählen wollte. Aber … sie konnte nicht. Das war ein Geheimnis, das sie bewahren musste. Ein Geheimnis, das sie für immer voneinander trennen würde. Auch wenn sie nie mehr in den Himmel zurückkehren würde – sie würde doch für immer ein Engel bleiben. Und darin lag der Unterschied. Sie starrte die Feder an. So viel zu Glück. Nein, sie sollte dankbarer sein … Sie seufzte. Ob das irgendjemand nachvollziehen können würde? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)