Frozen von Roadkill (Sakazuki (Akainu) x Whitey Bay) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Frozen     Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Es wäre naiv gewesen, zu glauben, dass ein erneutes Wiedersehen mit ihm niemals stattfinden würde. Und doch traf es sie unvorbereiteter, als sie geglaubt hatte, ließ ihren Puls von einem Moment auf den nächsten in dreifache Geschwindigkeit verfallen. Ihre Hände verkrampften sich, um das Zittern zu unterdrücken, das von ihrem gesamten Körper Besitz zu ergreifen drohte. Sie verfluchte sich innerlich für ihre mangelnde Selbstbeherrschung. Gerade jetzt durfte sie ihm keine Schwachstelle aufzeigen. Er würde sich darauf stürzen und gnadenlos zubeißen, wie ein wildes Raubtier. Sein Anblick war imposant. Vertraut und ungewohnt zugleich. Es versetzte ihr einen Stich, sich so mit der Distanz, die sich in all den Jahren zwischen ihnen aufgetan hatte, wie ein unüberbrückbarer Graben, konfrontiert zu sehen. Whitey Bay warf die eisblauen Haare zurück und straffte die Schultern. In der Hoffnung, nach außen hin genug Furchtlosigkeit auszustrahlen, trat sie einige Schritte nach vorn. Sie fühlte sich wehrlos unter seinem ausdruckslosen Blick, als würde er sie bis auf den Grund durchschauen. Als würde er ihr jegliche Waffe, jeden noch so kleinen Tropfen Entschlossenheit entreißen. Schmerzlich erinnerte sie sich daran, wieso seine Karriere von solchem Erfolg gekrönt war. Konsequenz und Pflichtbewusstsein waren immer seine höchsten Prioritäten gewesen. Etwas anderes als Sieg war für ihn niemals in Frage gekommen. Daher erhoffte sie sich nicht, dieses Zusammentreffen lebend zu überstehen. Die Schreie und Schüsse, der Lärm der Schlacht, die um sie herum tobte, verblassten, rückten in den Hintergrund. Ablenkung konnte sie sich nicht leisten.  Leicht bebend hob sie den Arm, fasste sich an die Krempe ihres Hutes. Dann holte sie tief Luft und hob den Blick, um ihm direkt in die Augen zu sehen.       Eine drückende Stille lag über den in Flammen stehenden Häusern. Knisternd bereitete sich das Feuer immer weiter aus, fraß sich durch die trockenen Dächer, begleitet von der Art von Schweigen, die auf die völlige Abwesenheit von Leben hindeutete. Dennoch rührte sich etwas inmitten der alles verschlingenden Lohen. Ein schwaches, kaum wahrnehmbares Lebenslicht, kurz vorm Verlöschen und doch klammerte es sich kämpferisch an die letzten Reste seiner Existenz. Zitternd schleppte das Kind sich Schritt für Schritt vorwärts. Flammen leckten von den Gebäuden, bildeten eine undurchdringliche Wand aus Hitze. Funken stoben auf jedes Mal, wenn in dem brennenden Meer etwas zusammenbrach, und jedes Mal zuckte das Kind erschrocken zusammen.  Unmöglich, einen Ausweg aus dieser Hölle zu erkennen, quälte es sich weiter, der einfältigen Hoffnung ergeben, sich noch retten zu können. Das Feuer hatte bereits das gesamte Dorf erfasst und einen todbringenden Ring aus Flammen gebildet. Ein Entkommen war unmöglich. Rauch vernebelte die Sicht, stach in den Augen und kratzte in der Lunge. Das Kind hustete und atmete dadurch nur mehr der tödlichen Dämpfe ein. Ein erneuter Hustanfall zwang es in die Knie. Einzelne Bluttropfen fielen auf den Sand direkt unter seinem Gesicht und verblüfft griff es danach. Schwankend grub es die Hand in den Boden, versuchte, sich daran festzuhalten, während die Welt begann, sich zu drehen. Seine Sicht verschwamm, alles verwandelte sich in einen Strudel aus bunten Schlieren. Dumpf hörte es einen Aufschlag. Dann wurde alles schwarz.     Der gleichmäßige Rhythmus von Soldatenstiefeln trommelte auf die Planken. „Löscht das Feuer!“ Befehle gellten durch die Nacht, begleitet von den angestrengten Lauten der Marinesoldaten. Löschketten wurden gebildet, reichten in Windeseile mit Wasser gefüllte Eimer heran und versuchten so, den tosenden Flammen Einhalt zu gebieten. „Sucht nach Überlebenden!“ Disziplin und Koordination schienen sich bezahlt zu machen: schon nach kurzer Zeit hatte die Marine einen Großteil des Gebietes gelöscht, der Rest war nur noch eine Frage der Zeit. Wie Skelette ragten die verkohlten Fassaden der Gebäude in den Nachthimmel, glichen der Silhouette eines Elefantenfriedhofs. Nur halbherzig inspizierten die Soldaten die kläglichen Überreste der Gebäude, glaubte doch keiner, in diesem Totenfeld auf Überlebende zu treffen. Nachdenklich betrachtete Vizeadmiral Kong die Szenerie, die sich im darbot. Selten artete die Grausamkeit der Piraten in solch einem Maße aus, doch mit jedem Mal verdiente dieses Pack umso mehr den Tod. Der Notruf war kurz nach dem Überfall im Marinehauptquartier eingegangen, dennoch hatte die Zeit nicht ausgereicht. Sie waren zu spät. Wie so oft. Zornig ballte er die Hände zu Fäusten und biss die Zähne aufeinander. „Vizeadmiral!“ Er blickte nicht auf, wollte eigentlich gar nicht hören, welche schlechte Nachricht man ihm diesmal überbrachte. Doch zu seiner Verwunderung trug der auf ihn zu rennende Soldat einen kleinen, reglosen Körper auf seinen Armen. „Dieses Kind lebt noch, Sir!“ Und noch ehe er seine Überraschung überwunden hatte, drang bereits die nächste Nachricht an seine Ohren:  „Vizeadmiral! Wir haben Überlebende gefunden! Eine Gruppe Kinder konnte sich scheinbar im Keller eines der Gebäude in Sicherheit bringen.“ Klopfenden Herzens blickte er den salutierenden Mann an. War so etwas denn überhaupt möglich? „Holt sie da raus und lasst sie behandeln! Und den Jungen bringst du zu einem Arzt, verstanden?“ Gehorsam nickte der Soldat und rannte davon, den kleinen Körper fest an sich gepresst. Die Fäuste des Vizeadmirals lockerte sich, schienen sie diesmal wenigstens nicht mit gänzlich leeren Händen zum Hauptquartier zurückzukehren. Eine Wende, die seinen Vorgesetzten gefallen würde.     Zitternd griff die kleine Hand nach den helfenden Armen, die sich ihr entgegenstreckten. Obwohl es Nacht war, musste Whitey Bay die Augen geblendet zusammenkneifen, als die Marinesoldaten sie, gemeinsam mit den übrigen Kindern, aus dem Loch, das man in die Kellerwand geschlagen hatte, hinaushievte. Sie wusste nicht, wie lange sie dort unten gewesen waren, aber sie hatte sich an die absolute Dunkelheit gewöhnt, im Glauben, nie mehr etwas anderes zu sehen. Die schwache Mondsichel erschien ihr dagegen wie der hellste Stern, den sie jemals erblickt hatte. „Eine gute Idee, sich dort unten zu verkriechen.“ Ein hoch gewachsener Mann, der dieselbe strahlend weiße Uniform wie die anderen trug, fuhr ihr durch die kurzen, zerzausten Haare. Whitey Bay antwortete nicht. Verzichtete darauf, zu erklären, dass es keine gute Idee, sondern reines Glück gewesen war. Dass sie in ihrem Versteck gefangen auf den Tod gewartet hatte, während die übrigen Kinder sich schreiend vor Angst die Finger an der Mauer blutig gekratzt hatten. Dass niemand damit gerechnet hatte, dass der Boden plötzlich einstürzen würde. Whitey Bay war sich sicher, dass nicht alle den Sturz überlebt hatten. Sie war sich sicher, dass einige noch dort unten lagen, verschluckt in der Dunkelheit. Tot oder kurz davor, was machte das für einen Unterschied. Niemand sprach davon, nicht ein einziges der Kinder, deren Silhouetten sich aus dem schmalen Loch schälten, verlor ein Wort darüber. So war es schon immer. Ein ungeschriebenes Gesetz unter ihnen. Über was man nicht sprach, das war auch nicht. Totschweigen im wahrsten Sinne des Wortes. Man sagte ihr, man würde sich um sie kümmern. Ihre Wunden verarzten und dass alles wieder gut werden würde. Whitey Bay konnte sich nicht daran erinnern, dass es jemals gut gewesen war. Schwach erinnerte sie sich an den Jungen, der sich die Augen zugehalten und von hundert an abwärts gezählt hatte. „Wenn ich die Monster stark genug wegwünsche, verschwinden sie, wenn ich die Augen aufmache!“ Er war keiner von ihnen. Kein Straßenkind, die dem Tod jeden Tag aufs Neue von der Schippe sprangen. Die die Realität früher erfahren hatten, als ein Kind sollte. Solche Hoffnungen konnten nur in der wohlbehüteten Umgebung einer Familie keimen. Whitey Bay schluckte. Für sie war der Tod immer etwas Unmittelbares gewesen. Sie kämpfte gegen ihn, doch sie schloss ihn nicht aus. Für diesen Jungen dagegen, gab es immer Schutz und Geborgenheit. Eine Saat, aus der mehr werden konnte, als die selbstsüchtige Existenz eines Straßenkindes. „Wenn ich die Monster stark genug wegwünsche…“ Sicherlich hatte er den Sturz nicht überlebt. Der zierliche Körper war solche Anstrengungen nicht gewohnt. Oder er lebte noch, gerade so und weinte stumme Tränen irgendwo in den Tiefen dieses alles verschluckendes Abgrund. Jemand packte sie an der Schulter und wollte sie mit sanfter Gewalt fortführen. Fast glaubte sie schon, ein sanftes Wimmern zu hören. „Es sind noch nicht alle draußen.“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu dem Mann, der sie sanft von dem Loch weg schob. „Es ist noch jemand drin!“, wiederholte sie lauter. Der Mann hob fragend den Kopf und Whitey Bay wandte sich um. Ein zweiter Mann, älter, aber in derselben Uniform wie der erste, deutete ein sanftes Kopfnicken an. „Komm jetzt!“ Erneut wurde sie gepackt, doch diesmal war der Druck entschlossener. Resigniert ließ sie sich in Richtung Hafen schieben, ohne einen Blick zurück zu riskieren. „…verschwinden sie, wenn ich die Augen aufmache!“ Manchmal war es besser, die Augen nicht wieder zu öffnen.     Lange saß Whitey Bay schweigend auf dem Boden und lauschte dem Rauschen der Wellen, die gegen den Rumpf des Schiffes schlugen. Der Geruch nach nassem Holz erfüllte den lang gezogenen Raum, in dem man die Kinder untergebracht hatte. Die Marine also… Ganz sicher, was sie von alledem halten sollte, war sie sich nicht. Bis gestern war sie noch ein einfaches Straßenkind gewesen, geächtet von der Marine, und falls sich Soldaten auf die kleine Insel, auf der sie seit ihrer Geburt lebte, verirrt hatten, hatten sie nie mehr als einen Tritt und ein, zwei derbe Ausdrücke übrig gehabt. Und nun saß sie auf einem Marineschiff, gerettet von eben diesen Soldaten, ebenso wie die übrigen Kinder. Im ersten Moment hätte sie wirklich an eine ehrliche Rettungsaktion glauben können, doch spätestens als man ihnen das großzügige Angebot unterbreitete, sie zu einem Marinestützpunkt mitzunehmen und dort zu Marinesoldaten auszubilden, war ihr klar geworden, dass diese Aktion mehr Prestige als ihr Wohlergehen im Sinn hatte. Doch was hatte sie für eine Wahl? Ihr Heimatdorf, wenn man es denn so nennen konnte, war niedergebrannt. Und wenn es eine Möglichkeit auf ein Leben fernab der Straße gab, war sie bereit, diese am Schopf zu packen. Whitey Bay war immer realistisch gewesen. So hatte sie überlebt. Auf der Straße hatte sie erst lernen müssen, dass ihre Emotionen und Launen zweitrangig waren. Das oberste Ziel hieß Überleben, und das schaffte man nur mit Rationalität und einer Prise Gewitztheit.   Die Tür wurde aufgestoßen und mehrere Augenpaare blickten unsicher auf. Der jahrelang antrainierte Fluchtinstinkt war eine Gewohnheit, die man schwer wieder loswurde. Und so wunderte es Whitey Bay nicht, dass einige der Kinder erschrocken aufsprangen. Doch es war nur ein Junge, der zögernd den Raum betrat, kaum älter als sie selbst. Von Zeit zu Zeit waren einige Kinder, deren ärztliche Behandlung länger gedauert hatte, nachträglich zu ihnen gestoßen. Bis auf diesen Raum schien es wohl keine andere Unterbringungsmöglichkeit zu geben. Eine Zerreißprobe für die Kinder, die es gewohnt waren, immer einen Fluchtweg im Auge zu haben. Der Neuankömmling hustete, schritt dann weiter in den Raum. Mehrere Augenpaare haftete auf ihn, verfolgten jede seiner Bewegungen. Keine erwartete eine Begrüßung oder etwas ähnliches, und so verlor sich das Interesse, nachdem der Junge sich auf einen Stapel Holzbretter gesetzt hatte. Er hielt gebührend Abstand zu dem Rest der Gruppe, mehr, als diese ohnehin schon zu Fremden wahrte. Whitey Bay musterte ihn nachdenklich aus dem Augenwinkel. Sie kannte ihn nicht. Ob er bei dem Brand seine Familie verloren hatte? Oder hatte er in einem Winkel des Dorfes gelebt, deren Straßenbewohner sie nicht kannte? Sein Blick huschte unruhig zu ihr herüber, wich dann hastig aus. So direkt angestarrt zu werden, schien ihm unangenehm, Er zeigte genau die Art Schüchternheit, die Whitey Bay im Allgemeinen als niedlich empfand. Sie erinnerte ein wenig an ein kleines Kind, das dem unbekannten Onkel guten Tag sagen soll und sich dabei hinter Mutters Beinen versteckt. Man wollte beschützen, ohne einen erkennbaren Grund nennen zu können. Und so gab es auch keinen erkennbaren Grund dafür, dass sie nun aufstand und langsam auf den Jungen zukam. Dieser rutschte ein wenig zurück, betrachtete sie mit großen Augen, unsicher, wie er dieses Verhalten einschätzen sollte. „Hallo“ Täuschte sie sich oder zuckte er beim Klang der Worte leicht zusammen? „Ich bin Whitey Bay!“ Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie ihm die Hand entgegenstreckte. Sie war nun nahe genug, um ihn eingehend mustern zu können. Er war älter, als sie anfangs geglaubt hatte, wenn auch nicht viel. Sein dunkles Haar war zerzaust und staubig, doch so sahen sie wohl alle aus. Dunkle Augen musterten sie misstrauisch, ehe er zögernd ihre Hand ergriff. „Sakazuki“ Er erschrak selbst beim Klang seiner kratzigen, belegten Stimme, fasste sich aber sofort wieder. Gerade als Whitey Bay den Mund öffnete, fiel er ihr ins Wort: „Du bist eins von den Straßenkindern, nicht wahr?“ Die Kühle in seiner Stimme überraschte sie. Er schien wohl nicht so schüchtern, wie sie vermutet hatte. Sie bejahte unsicher, da sie nicht einschätzen konnte, worauf er hinauswollte. Nachdenklich wiegte er den Kopf, blickte kurz an ihr vorbei, nur um sie dann erneut mit forschen Augen zu fixieren.    Dann sagte er etwas, dass Whitey Bay einen fröstelnden Schauer über den Rücken jagte. „Es muss schön sein, keine Eltern zu haben, die man verlieren kann.“     Vier Tage dauerte es, bis die ersten Spitzen der Marinebasis G-3 am Horizont zu erkennen waren. Whitey Bay hatte die meiste Zeit unter Deck verbracht. Nur weil die Marine ihre Hilfe angeboten hatte, hieß das nicht, dass sie sich in der Anwesenheit der vielen Soldaten wohl fühlte. Sakazuki schien es nicht anders zu ergehen und so verbrachten sie die meiste Zeit zu zweit. Zu den anderen Straßenkindern hatte Whitey Bay schon vor dem Brand allerhöchstens Zweckbeziehungen geführt, sie wüsste nicht, warum sich das nun ändern sollte. Auch ihr Verhältnis zu Sakazuki als Freundschaft zu bezeichnen zögerte sie, resultierte es doch bisher einzig aus der Tatsache heraus, dass beide niemanden sonst hatten. Keine wusste, was geschah, wenn sie an Land gingen. Whitey Bay merkte schon bald, dass Sakazuki nicht davon abzubringen war, das Angebot der Marine anzunehmen. Über den Verlust seiner Eltern sprach er kaum, doch sein Hass gegen die Piraten und der Wunsch nach Rache traten deutlich aus seinen Worten hervor. „Absolute Gerechtigkeit“, diesen Begriff hatten die Soldaten auf dem Schiff ihnen einige Male zu erklären versucht, doch während Sakazuki mit leuchtenden Augen zuhörte, blieb Whitey Bay skeptisch. Zu viele schlechte Erfahrungen mit der Marine schädigten das Bild, das diese gerade zu kreieren versuchte.   Es regnete, als sie am Stützpunkt anlegten. Wasser aufspritzend rannten sie inmitten der anderen Kinder den Offizieren hinterher, die sie zu ihrer neuen Ausbildung führen sollten. Es wunderte Whitey Bay nicht, dass alle Kinder das Angebot annahmen. Wenn man sein Leben lang um jeden Tag kämpfen musste, war man nicht wählerisch. Der Kampf für die Gerechtigkeit schien allein Sakazukis Motivation zu sein. Mit ernstem Blick lief er ein Stück vor ihr, die Hände zu Fäusten geballt. Er war kein Freund von Worten und gewiss nicht emotional. Es waren kleine Dinge, geringfügige Details, die über sein Gefühlsleben Aufschluss boten. Whitey Bay kannte ihn noch nicht lange, doch sie hatte einige dieser Details bereits kennen und deuten gelernt. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken.   Sie erreichten ein flaches Gebäude und wurden in die weitläufige Vorhalle geführt. Das blauhaarige Mädchen zitterte, trotz der angenehmen Raumtemperatur, und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Nur am Rande nahm sie wahr, dass sie eine Spur aus Regenwasser hinter sich herzog. „Ist das nicht unglaublich?“ Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass Sakazuki neben sie getreten war und mit leuchtenden Augen den holzvertäfelten Raum musterte. Einige schlichte Säulen ragten auf dem gefliesten, rein weißen Boden, der der Umgebung eine sterile Atmosphäre gab, auf. Neben einer Fensterfront, gegen die der Regen unaufhörlich prasselte, stand eine Gruppe heller Sofas. Ansonsten wirkte dieser Ort für Whitey Bays Geschmack leer und leblos – Sie verstand nicht, was daran so unglaublich sein sollte. Doch Sakazuki drehte sich im Kreis, breitete, den Kopf in den Nacken gelegt, die Arme aus und schien jeden Eindruck, jeden Winkel dieses Raumes in sich aufsaugen zu wollen, wie ein Schwamm. Seine Kleidung war durchnässt, leise quietschten die nassen Schuhe, die man ihnen auf dem Schiff gegeben hatte, und ließen den Jungen in genau dem gegenteiligen Licht erscheinen, in dem seine Umgebung auf ihn wirken musste. „Wir können der Marine angehören. Weiß du, was das heißt?“ „Ja, ein warmes Bett und genug zu Essen. Mach nicht so einen Zirkus!“ Mit einem Schlag gefror Sakazuki in seiner Bewegung, senkte den Blick. Whitey Bay fröstelte, als sie seine zu Schlitzen verengten Augen sah und unwillkürlich wich sie ein Stück von ihm und dem zweiten Junge, der sich so barsch in das Gespräch eingemischt hatte, zurück. „Ein Bett und Essen?“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten, als Sakazuki einen Schritt auf den anderen zumachte. „Hast du überhaupt eine Ahnung davon, für was die Marine steht? Oder was du ihr verdankst?“ „Was kümmert es mich.“ Der Junge war älter als sie, trug die blonden Haare mittellang und vom Regen und Wind zerzaust. Zur Seite ausspuckend baute er sich vor Sakazuki auf. „Ich tue nur, was nötig ist, um zu überleben. Wie wir alle. Spiel dich nicht so auf, mit deinem Marine-Gefasel. Du bist doch auch nicht anders als wir!“ Der Schlag kam zu schnell, als dass Whitey Bay ihn überhaupt realisiert hatte, bevor der fremde Junge zu Boden ging, die Hand auf die blutende Nase haltend. „Sag das noch mal!“ Sakazuki wollte nach vorne stürzen, die Faust erneut erhoben. Etwas riss ihn jäh von den Beinen, stürzte mit ihm auf die harten Fliesen. Reflexartig hatte Whitey Bay sich gegen ihn geworfen, hatte sie doch im Augenwinkel den nahenden Marine-Offizier bemerkt. Sie glaubte kaum, dass eine Prügelei, die ohne jeden Zweifel auf Sakazukis Kappe ging, ihm weiterhin einen Platz in der Reihe der Marine sichern würde. Warum sie das Bedürfnis verspürte, diesem von der Idee von Gerechtigkeit besessenen Jungen zu helfen, wusste sie selbst nicht genau. Wahrscheinlich war es reine Solidarität, nachdem sie die letzten Tage gemeinsam überstanden hatten. Nichtsdestotrotz wurde sie sich allmählich bewusst, dass Sakazuki und seine Überzeugung ihr mehr Probleme bereiten konnten, als wenn sie sich alleine durchkämpfte. Nur wer hielt ihn dann in Zaum? Diese Loyalität, noch bevor er überhaupt der Marine vollend beigetreten war, würde ihm zu allem anderen als Freundschaft, oder zumindest Hilfsbereitschaft, verhelfen. Und dennoch überkam sie ein schlechtes Gewissen, bei dem Gedanken, ihn vollends allein zu lassen.     Grübelnd wippte Whitey Bay mit dem Stuhl vor und zurück, während sie sich gedankenverloren der Erinnerung an ihren ersten Tag entsann. Möglicherweise wäre es besser gewesen, sich danach von Sakazuki fernzuhalten. Er genoss keinen guten Ruf. Zumal Freunde für ihn niemals eine Rolle gespielt hatten oder es jemals spielen würden. Er war ein Einzelkämpfer und sah keinen Sinn darin. Anders Whitey Bay. Wenn sie darüber nachdachte, war der einzige Grund, weiterhin in seiner Nähe zu bleiben, wohl reine Prinzipientreue gewesen. Warum hätte sie ihn erst vor weit reichenden Konsequenzen schützen sollen, indem sie sich mit ihm zusammen auf die steinharten Fliesen warf, nur um ihm dann den Rücken zu kehren? Sie hätte keinen Nutzen darin gesehen. Vielleicht hatte auch irgendwann einmal die leise Hoffnung existiert, ihn von seinen Rachegedanken, seiner vollkommenen Manie, die er Gerechtigkeitssinn nannte, abzubringen. Hatte. Vergebens. Seufzend stellte Whitey Bay den Stuhl gerade und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Es war nicht einfach, aber daran war sie selbst schuld. Natürlich war Sakazuki erfolgreich. Loyalität und absoluter Gehorsam waren wohl das A und O in den Augen seiner Vorgesetzten. Doch was nutzte einem eine steile Karriere, wenn einem bei jedem Auftrag mehr und mehr Steine in den Weg gelegt wurden? Sie hatte Verbündete immer geschätzt, waren zusätzliche Augen und Ohren doch immer eine große Hilfe gewesen, wie sie aus ihrer Zeit auf der Straße gelernt hatte. Verbündete gab es für sie jedoch keine mehr. Nicht, solange sie auf Sakazukis Seite stand. Solange gab es nur sie und ihn und den nächsten Auftrag. „Warum hast du das getan?“ Sie fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht, als ihr die zornige Stimme Sakazukis von damals wieder einfiel. Er hatte nicht verstanden, warum sie dazwischen gegangen war, hatte es erst als Anfeindung betrachtet. Mit einem lautem „Bölle Bölle“ begann die Teleschnecke auf dem Schreibtisch vor Whitey Bay zu klingeln und sie schreckte aus ihren Gedanken auf. „Ja?“ „Komm sofort auf den Innenhof. Es ist wichtig.“ „Was ist-“ „Keine Fragen, komm runter!“ Überrumpelt starrte die Blauhaarige den Hörer an, schnaubte dann genervt. Sie hasste es, wenn er sie so abwürgte. Und er tat es nur allzu gerne. Einen kurzen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, ihn provokant warten zu lassen, doch der damit verbundene Konflikt und die Predigt über Pflichtbewusstsein und Zuverlässigkeit, die er ihr in den letzten Jahren nur allzu oft gehalten hatte, war es ihr nicht wert. Also schwang sie sich auf und eilte aus ihrem Büro, nicht ohne noch ein Mal an den Tag ihrer Ankunft zurückzudenken. „Um deine heiß geliebte Marine-Karriere zu retten, du Idiot!“     „Was ist hier los?“ Whitey Bays Schritte beschleunigten sich, als sie sah, was in der Mitte des von hohen Mauern umzäunten Hofs vor sich ging. Sakazuki blickte nicht auf, hielt seine Augen stur auf den Mann geheftet, der vor ihm auf dem Boden lag. Blutend. Schon von weitem erkannte sie, dass er eine Marine-Uniform trug. Zitternd kauerte er auf den Knien, eine Blutlache hatte sich unter ihm gebildet, während weitere Marineangehörige um ihn herumstanden, die Schwerter gezogen. „Was ist hier los?“, wiederholte sie, als sie – schließlich rennend – Sakazuki erreichte und fassungslos das Blut an der Klinge des Schwerts in seiner Hand bemerkte. Er deutete mit der Spitze der Waffe auf den Knienden, der nun rot spuckte und angestrengt röchelte. „Wir haben endlich den Verräter entlarvt, der Informationen verkauft hat.“ Seine Stimme war kalt und so emotionslos, dass Whitey Bay fröstelte. Sie würde sich niemals an diesen Tonfall gewöhnen, den er sich die Jahre über angeeignet hatte. Sie trat näher, ging in die Knie, um den angeblichen Verräter zu mustern. Ihr Herz zog sich zusammen, als er schwer atmend den Kopf hob und mit glasigem Blick in ihre Richtung und zugleich ins Nichts starrte. Diese Gesichtszüge waren zu bekannt für ihren Geschmack und entsetzt verhaarte sie einen Augenblick, unfähig, darüber nachzudenken, was sie nun tun sollte. Dieser Mann – seinen Namen kannte sie nicht, dennoch waren sie sich regelmäßig genug begegnet, um zu bestätigen, dass es der Junge von damals war. Der Junge, mit dem sich Sakazuki damals angelegt hatte. Ihr Puls raste unnatürlich schnell. Fieberhaft überlegend richtete sie sich auf und bedachte ihren Kollegen mit einem erschütterten Blick. Keine Sekunde zweifelte sie an der Unschuld des Blutenden. Das war doch alles nur eine Farce Sakazukis, um seinen verletzten Stolz nach all den Jahren zu rächen. Sie kannte seinen verkappten Gerechtigkeitssinn und sein egoistisches Ehrgefühl zu gut, sie traute ihm solch eine Tat ohne Zögern zu. Er bemerkte ihren Blick und erwiderte ihn ohne jegliche Regung. Ein Schauer jagte über Whitey Bays Rücken, als sein Gesichtsausdruck sich verhärtete. Er wusste, dass sie ihn durchschaute. Und es kümmerte ihn nicht einmal ansatzweise. „Gibt es Beweise dafür?“ Innerlich schallt sie sich für ihre viel zu hohe Stimme, der er nur deutlich ihre Gefühlslage entnehmen konnte. Sie machte sich nicht die Hoffnung, dass ihre Antwort bejaht wurde. Sakazuki war konsequent. Entweder gab es Beweise oder er hatte dafür gesorgt, dass es welche gab. Somit war ihre Frage nicht nur nutzlos, sondern auch überflüssig. Und dennoch das einzige, dass sie momentan tun konnte. „Natürlich gibt es welche.“ Sein Tonfall war scharf und Whitey Bays spannte alle Muskeln an, als er sie mit einem düsteren Blick bedachte. „Daher wird er seine gerechte Strafe erhalten.“ Sie verzog das Gesicht. Immer schwächer werdend zitterte der Umzingelte bereits stark, hatte unter dem hohen Blutverlust zu leiden. Welche Strafe sollte da noch folgen? Und inwiefern konnte man das gerecht nennen? Sie wollte etwas sagen, irgendetwas nur, das eine kleine Hoffnung für diesen Schwerverletzten bedeuten konnte, doch Sakazuki – als könnte er ihre Gedanken lesen – fiel ihr ins Wort. „Schaff ihn weg.“ Er wandte sich um, verschwand, ehe sie auch nur den Hauch eines Protests äußern konnte. Am liebsten wäre sie ihm nachgelaufen, hätte ihm seine verquerte „absolute Gerechtigkeit“ ausgeschrieen, doch wenn sie das tat, verweigerte sie seinen Befehl. Und diese Genugtuung gönnte sie ihm nicht.     Langsam schritt Whitey Bay auf die Tür zu. Schwach strahlte Licht unter ihr hervor und bestätigte ihr die Anwesenheit Sakazukis. Sie hatte den Gefangenen weggesperrt. Wie befohlen. Sie hatte jedoch ärztliche Versorgung beantragt. Nicht verboten, doch wenn er es herausbekam, hätten sie ein Problem. Leise musste sie bei diesem Gedanken lachen. Als ob wir nicht schon lange eines hätten. In den letzten Jahren war ihr einige Male der Gedanke gekommen, was geschehen wäre, wenn sie damals nicht eingegriffen hätte. Wenn sie tatenlos zugesehen hätte, wie Sakazuki den anderen Jungen, für Außenstehende scheinbar grundlos, verprügelte. Wäre ein solch undisziplinierter, aggressiver Junge in der Marine aufgenommen worden? Wenn nicht, hätte das das Leben des angeblichen Verräters bewahrt. Manchmal bereute sie es, eingegriffen zu haben. Sollte sie sich schuldig fühlen? Ein Funken schlechten Gewissens keimte in ihr auf, als sie den Gedanken weiter spann. Was, wenn Sakazuki im Recht war? Sie war so davon überzeugt, dass er zu ungerechten Anschuldigungen fähig war, dass sie überhaupt nicht in Betracht zog, dass es ein unglücklicher Zufall war, ungeplant von ihm. Dennoch, überzeugend fand sie diesen Gedanken nicht. Und es gab wohl nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden. Wenn sie eines gelernt hatte, in der Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, dann, dass Sakazuki gnadenlos ehrlich zu ihr war. Ob sie befreundet waren, das wusste sie nicht und wahrscheinlich würde sie das auch niemals wissen. Es war schwierig, ihre Beziehung als Freundschaft anzusehen und wenn, war es eine äußerst komplizierte. Jedoch war sie sich sicher, im persönlichen Gespräch noch nie eine Lüge aus seinem Mund gehört zu haben, und sie bezweifelte, dass sich daran etwas geändert hatte.   Zögerlich verharrte sie einen Augenblick vor der geschlossenen Tür, lauschte unwillkürlich, um erahnen zu können, was er dahinter tat. Kein Laut drang durch das dünne Holz – wie sollte es auch anders sein? Also hob sie die Hand und klopfte sacht. „Ja?“, kam es tonlos und sie drückte die Klinke hinunter. Er stand vor dem Fenster, mit dem Rücken zu ihr und warf lediglich einen kurzen Blick über die Schulter. „Ach, du bist es.“ Unwillkürlich zögerte sie, als sie einige Schritte in den Raum gemacht hatte, und spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Seine Hände lagen auf dem Rücken. Ruhig und gelassen. Sie glaubte nicht, dass es ihn bekümmerte, dass er vor kurzem einen Mann schwer verletzt hatte. Zorn kam in ihr auf. Ein kleiner Funken nur, darüber, dass ihn ein menschliches Leben so wenig kümmerte, was sie unweigerlich mit einbezog. Es reichte, damit sie sich straffte und mit lauter Stimme anhob: „Was sollte das, Sakazuki?“ Die Festigkeit ihrer Stimme hatte ihn aufhorchen lassen. Neugierig drehte er sich um, sah sie mit fragendem Blick an. „Wovon redest du?“ Heuchler! Er wusste genau, was sie meinte! Whitey Bay verschränkte die Arme vor der Brust und hielt stur den Blickkontakt. „Du weißt, wer er war. Und du glaubst, ich merke es nicht?“ Beinahe erwartete sie, er würde sich erneut unwissend stellen, doch zu ihrer Überraschung nickte er nur kurz und kam, die Hände in den Taschen vergraben, einige Schritte auf sie zu. „Ich gebe zu, es hat mir eine gewisse Genugtuung bereitet.“ Kurz vor ihr blieb er stehen. Seine Miene wurde ernst, verlor jedoch an Kälte und Whitey Bay fröstelte – diesmal jedoch auf eine angenehme Art und Weise. „Aber ich schwöre dir: Ich habe keine Beweise manipuliert oder auf eine andere Weise meine Finger im Spiel gehabt. Kein bisschen.“ Für einen Moment vergaß Whitey Bay die Bedeutung der Worte, angesichts der überraschend plötzlich Aufrichtigkeit, die in seiner Stimme lag. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so sprechen gehört zu haben und diese Vertrautheit – denn sie war sich sicher, dass es eine war – rührte sie. Unbeabsichtigt zuckten ihre Mundwinkel leicht nach oben, dann nickte sie seufzend. Er log sie nicht an. Zumindest glaubte sie es. Und sie weigerte sich, diesen Glauben aufzugeben. Für einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen, das Whitey Bay angestrengt zu durchbrechen versuchte. Sie hatte mit einem Streit gerechnet. Damit, dass er sie streng zurechtwies oder zornig zusammenstauchte. Diesen unerwartete Verlauf der Unterhaltung empfand sie als unangenehm, wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie sah unsicher auf und erschrak, als sie sich bewusst wurde, wie nah sie sich waren. Sein Blick lag auf ihr, jedoch ohne die gewohnte Kälte und Distanz. Zum ersten Mal seit sie sich entsinnen konnte, blickte sie in seine Augen ohne dass ihr ein Schauer über den Rücken fuhr und sie das Bedürfnis verspürte, zurückzuweichen. Sie konnte nicht erklären, warum sie es tat. Für einen kurzen Moment erschien es ihr als das einzig Richtige und bevor ihre Vernunft dazwischen gehen konnte, hatte ihr Körper bereits gehandelt. Aus einem flüchtigen Gedanken heraus, beugte sie sich nach vorne und drückte sacht ihre Lippen auf seine. Er reagierte nicht. Weder ging er auf den Kuss ein, noch versteifte er sich und wich aus. Doch Whitey Bay erwartete nichts anderes, war dies doch bereits mehr als sie sich jemals von diesem Mann hatte erhoffen können. Es war eine kurze Illusion, aber sie war sich dessen bewusst und glaubte, dass es daher in Ordnung sei. Ein kurzer Moment, den sie einfach beanspruchte, ehe sie ihn zerstörte. „Ich werde die Marine verlassen.“ Schlagartig kehrte die Kälte in seinen Blick zurück und sie fühlte sich von ihm zurückgeworfen. Sie hatten diesen Gedanken bereits ein paar Mal gehabt, jedoch nie ernst genommen. Was hatte sie denn schon für Optionen? Doch in diesem Moment war ihr die Idee so urplötzlich gekommen, dass sie gar nicht anders konnte, als sie auszusprechen. Und es hatte gut getan. Als hätte sie eine jahrelang angestaute Last von sich geschoben und stand nun aufrechter. „Was?!“ Ein wenig überraschte sie das Entsetzen in Sakazukis Stimme und schmeichelte sie zugleich. Sie hatte gedacht, er bliebe gefasster, gleichgültiger. Doch stattdessen sah sie in seinen Augen die aufsteigende Entrüstung. „Wieso?“, presste er streng hervor und Whitey Bay überlegte. Sie konnte ihm darauf keine ehrliche Antwort geben. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie niemals die Gerechtigkeitsvorstellung der Marine teilen würde? Dass sie, ganz im Gegenteil, in den letzten Jahren zahlreiche Bestätigungen für die Heuchelei und zurecht gelogene Realität der Weltregierung und ihrer Institutionen erhalten hatte? Dass sie nichts von alledem teilte, dass er zu seiner obersten Priorität gemacht hatte? Er würde es nicht verstehen    „Das ist doch keine richtige Gerechtigkeit“, sagte sie daher stattdessen und wandte sich zum Gehen. Eisern umschlossen seine Finger ihr Handgelenk, zogen sie schmerzhaft zurück. „Keine Gerechtigkeit?“ Seine Stimme wurde lauter, mit Schrecken erblickte sie den Zorn, der ihr aus seinen Augen entgegen schlug. Sie bestritt nicht, dass ihr seine Nähe niemals unangenehm gewesen war, sich ihre Nackenhärchen nicht aufgestellt hätten, wenn sie seinen kalten und emotionslosen Blick auffing, doch in diesem Augenblick hatte sie zum aller ersten Mal echte Angst vor ihm. Schraubstockartig quetschte seine Hand ihr Gelenk, ließ ihr keine Möglichkeit zur Flucht und ließ Panik in ihr aufsteigen. „Du tust mir weh!“, presste sie angsterfüllt hervor und zerrte an ihrem Arm. So plötzlich, wie er zugepackt hatte, ließ er wieder los und sie wich hastig einige Schritte zurück. Sie glaubte, ihn fassungslos auf seine Hände starren zu sehen, während sie kopflos davon stürmte.       „Whitey Bay“ Beim Klang ihres Namens zuckte sie leicht zusammen, hatte sie ihn so lange nicht mehr aus dem Mund dieses Mannes gehört. „Sakazuki“, erwiderte sie tonlos und versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Erfolglos. Akainu hieß er nun, war Admiral und konnte sie spielend leicht töten, wenn er wollte. Sie machte sich keinerlei Hoffnung. Hatte etwas, dass man als Freundschaft bezeichnen konnte oder etwas ähnliches früher einmal zwischen ihnen existiert, war es vor Jahren bereits gerissen, hatte sich in Nichts aufgelöst. Sie war nur ein weiterer Verbrecher auf seiner Schlachtbank. „Pirat, also. Hast es weit geschafft.“ Der Hohn in seiner Stimme schlug ihr mit der Wucht einer aufschäumenden Welle entgegen. Ein hastiger Blick zeigte ihr, dass sie vollends auf sich allein gestellt war. Ihre Mannschaft, ihre Verbündeten, jeder, der ihr hätte helfen können, war in seinen eigenen Kampf verwickelt und zu weit entfernt. Aber wer hätte ihr auch schon gegen Admiral Akainu helfen können? Ihre Zunge fühlte sich merkwürdig belegt an. Jahrelang war Whitey Bay als Piratin umhergereist, hatte Kämpfe überstanden und dem Tod so oft ins Auge geblickt, sei es in Form einer Naturgewalt wie der wütenden See oder den Waffen ihrer Feinde. Sie hatte sich nicht der naiven Hoffnung hingegeben, eines natürlichen, friedlichen Todes zu sterben und diese Akzeptanz hatte ihr immer die Stärke gegeben, keine Furcht vor dem Ableben zu verspüren. Doch durch seine Hand von dieser Welt zu scheiden – diese Vorstellung war ihr nie in den Sinn gekommen und erfüllte sie mit dem ungewohnten Gefühl der Mutlosigkeit. Zum ersten Mal verspürte sie Angst vor dem Tod und dafür hasste sie Sakazuki. Und dieser Hass erzeugte den verzweifelten Trotz, den sie in ihre Worte legte: „Weiter als du!“ Seine Augen jagten ihr keinen Schrecken mehr ein, war ihr Ende doch unvermeidlich. Die Erkenntnis dessen löste in ihr ein erschreckendes Gefühl der Leere aus. Sie fürchtete sich, ja, doch was änderte es? Ihr Schicksal war besiegelt, unwichtig, ob sie sich ängstigte. Ein leises Lachen ließ sie aufblicken und verwundert stellte sie fest, dass es von Akainu stammte. Umspielte wirklich ein flüchtiges Lächeln seine Lippen? Noch bevor sie sich weiter mit diesem Gedanken beschäftigen konnte, zerfloss der Admiral vor ihren Augen in Magma. Unvermittelt spürte sie die sengende Hitze auf ihrem Gesicht, die angesichts des Eises um sie herum merkwürdig absurd wirkte. Sie dachte für einen kurzen Moment daran, nach ihrer Waffe zu greifen, erkannte aber, dass sie keine Zeit mehr dafür hatte. Mit rasender Geschwindigkeit bewegte sich die heiße Gesteinsschmelze auf sie zu, die erhitzte Luft, die ihr den Atem nahm, vor sich her schiebend. Ergeben schloss sie die Augen und wartete, während sie die letzten Worte Akainus vernahm: „Ist diese Hitze nicht paradox, Eishexe?“    Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)