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Liebesscheiße

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Überraschung! Komplett anzeigen

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Fischstäbchen im Mund

Knallende Sonne auf dem Kopf, im Ohr ein Gemisch aus raschelnden Baumkronen und gelegentlich vorbeiknatternden Autos, und unterm Arsch die kantige Lehne der ausrangierten Parkbank, die ein paar Meter vorm Schultor aufgestellt worden war. Uhrzeit: Viel zu früh. Irgendwas im ersten Block halt. Der sie heute allerdings nur marginal interessierte - so wie generell eigentlich auch.

Sie hatten eigentlich immer einen guten Grund, den Unterricht zu schwänzen. Manchmal, weil sie etwas Besseres zu tun hatten. Manchmal aber auch, damit auch ja jeder mitbekam, dass sie nicht hingingen.

Das war Steves Idee gewesen. Natürlich. Mads reichte ihm gerade eine Kippe rüber und hielt ihm anschließend ein brennendes Feuerzeug unter die Nase, so dass er sich zur Flamme vorbeugte, die Lider auf Halbmast und das Flackern der Flamme in den dunklen Augen.

Steve war 17. Er trug seine Haare schwarz und ein Piercing in der Zunge, und zu seiner Lederjacke eine in die Stirn geschobene Bullenbrille, als könnte er die sommerliche Wärme einfach von sich spiegeln. Mit dem entsprechenden Nikotinspender ausgestattet, schubste er die Brille von seinem Pony hinunter auf seinen Nasenrücken, legte den Kopf in den Nacken und blies ungerührt ein paar Kringel in die Luft, als hockte im Baum über ihnen ein durchgeknallter Fotograf für die nächste Gauloises-Werbung; und der Bereich zwischen seinem Hals und seinem sanft zitternden Kehlkopf beschrieb einen Bogen, den die Agentur später nicht mal mehr shoppen lassen müsste. Mads bezweifelte nicht, dass Steve selbst noch in der Sahara versuchen würde, eine Spur aus Eiswürfeln zu hinterlassen.

Mads war selbst 17. Die meisten seiner Klassenkameraden überragte er um einen halben Kopf, oder schlimmer. Als ob es damit nicht schon schwer genug war, passende Klamotten zu finden, hatte er Löcher in seine Hosen gerissen, um sie mit bunten Sicherheitsnadeln wieder zu flicken. Klamotten trug er Schicht für Schicht auf seinem Torso auf - so wie Farbe, wenn er seine Haare auffrischte: Rot für die Spitzen, dunkelbraun für den Rest. Nicht schwarz. Manchmal kümmerte er sich auch um Steves Ansätze, wenn er sich eh schon Plastik-Handschuhe übergezogen hatte, und bekam dabei immer so ein leichtes Gänsehaut-Feeling. Gefärbtes Schwarz sah eigentlich immer scheiße aus. Spätestens, wenn es glänzte.

Mit den Lippen zog Mads sich auch eine Zigarette aus seiner Schachtel; beiläufig zündete er sie an, während er ungeniert Steves aufwändig modellierte Haare betrachtete.

Na gut. Den Jungen entstellt so schnell nichts.

"Und wie ging das jetzt weiter?", fragte der, noch halb dabei, seinen Rauch auszuatmen.

"Die Sache mit dem Moped? Wie soll die weiter gehen?"

"Alter, du hast mitten im Satz aufgehört."

"Weil du eine rauchen wolltest."

"Und das hindert dich daran, zu Ende zu erzählen?"

Mads zuckte mit den Schultern. "Viel gibt es da nicht mehr. Ich bin auf dem Ding natürlich voll in die Scheune gekracht."

Unbeeindruckt glotzte Steve ihn von der Seite an. Seine rechte Augenbraue hob sich um ein paar Millimeter. "... Erzähl nicht."

"Doch. Meine Alte war stocksauer." Ein ertapptes Grinsen rollte sich auf Mads' Gesicht aus. "Zum Glück trennten mich von meinen Eltern in diesem Augenblick diverse Staatsgrenzen."

Mit der Zigarette zwischen den Fingern an fing Steve an, herumzuwedeln. "Du verarschst mich doch! Wer baut'n so 'ne beschissene Scheune?!"

"Wir Dänen offenbar. Deshalb kann ich nicht mal mehr in die Richtung eines Mopeds schielen, ohne an den Eiern aufgehängt zu werden."

Stöhnend lehnte Steve sich auf der Banklehne zurück und blinzelte durch das Licht dem Blätterdach entgegen. Nach einigen Sekunden sah Mads, wie er aus dem Augenwinkel einen Blick auf ihn abschoss. "... So richtig durch die Wand?"

"Meine ganze Kopfhaut war voller Splitter."

"Was..!"

Lakonisch fasste Mads sich in die Haare und teilte die rot-braun gestreifte See, um den Blick auf seine Kopfhaut feilzubieten. Mit gekräuseltem Nasenrücken kam Steve näher und warf ein paar höchst wissenschaftliche Blicke darauf. Zumindest stellte Mads sich das gerade vor.

"... Ich seh nichts."

"Die Splitter sind ja auch längst draußen."

"Ach. Wirklich. Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet."

"Nein, aber ernsthaft, guck mal..." Mads prüfte sorgfältig, welche seiner Hände gerade keine Kippe bediente - er hatte gewisse Erfahrungen gemacht mit Glut in Kombination mit Haaren - und erst, als er sich wirklich sicher war, welcher Griffel ihn bei einer falschen Bewegung nicht um seinen mühsam gezüchteten Fauxhawk bringen würde, fuhr er mit ihm einen Pfad auf seinem Kopf ab. Er spürte Rillen ehemaliger Verletzungen und die Hügel verheilter Haut unter seinen Fingern; und wenig später gesellten sich dazu noch ein paar andere, kühlere Fingerspitzen, die ihm prüfend über die Kopfhaut tasteten. Dann fanden sie sich plötzlich zwischen seinen Haarspitzen wieder und zerrauften sie recht ordentlich; Mads' Herz blieb für einen Moment stehen, und Steve zog mit den Spuren eines blöden Grinsens in den Mundwinkeln seine Hand weg. "Siehst nicht messy genug aus, Madsi."

Mads bekam gerade noch ein Schnaufen durch die Nasenlöcher gepresst. Es war sein blödes Glück, dass seine Eltern ihm einen wunderschönen, dänischen Namen gegeben hatte, der sich - korrekt ausgesprochen - so ziemlich anhörte wie ein englisches Wort für Sauerei. Er versuchte auch, es mit Fassung zu tragen - im Kindergarten hatten die meisten das nicht mal zur Kenntnis genommen, und so hatte er nicht mehr Wortwitze abbekommen als die anderen - dementsprechend wenig abgehärtet war er jedoch, wenn sich Steve jede Woche neue, noch abartigere Spitznamen einfallen ließ und sie auf denen aus der Woche davor stapelte. Er operierte quasi von einem furchtbaren, vage liebevollen Kosenamen-Turm.

Eine kurze Stille kehrte ein - die Sorte von warmer, zwitschernder Stille, die ein angenehmer Morgen trug, wenn man ihn nicht in einem stickigen Klassenzimmer verbrachte. Mads fuhr sich kurz durch die Haare, blinzelte lange und atmete einen Rauchschwaden an die Sommerluft.

"... Und dein Onkel hat dich nicht umgebracht", schloss Steve unvermittelt von der Seite.

"Nee, der hat nur ganz trocken gesagt", begann Mads und vollendete den Rest auf Dänisch, "'Bist du gerade ernsthaft mit dem Moped durch die Wand gebrochen?'"

Steve runzelte die Stirn. "Hä. Was knallt?"

"Wie, was knallt? 'Knallert'? Bedeutet Moped. Lern endlich meine Sprache, Baby."

"Oh Mann, keine Chance. Deine Sprache klingt, als hättest du Fischstäbchen im Mund."

"Deine Mutter klingt, als hätte sie Fischstäbchen im Mund", brummte Mads und piekste mit dem Zeigefinger ein Loch in die Luft. "Im Bett. Mit mir!"

Ungeniert warf Steve einen Blick in Mads' Schoß. "Warum, ist dein Schwanz so wabbelig? Vögel nicht ständig irgendwelche alten Schachteln, dann fällt er auch nicht auseinander." Er stieß ihm den Ellenbogen in die Seite.

Das Mädchen, das sich gerade dem Schultor näherte, war offenbar in Hörweite: Hinter ihrer schweren Hornbrille rollte sie sichtbar mit den Augen.

"Shhh, Steve", Mads legte ihm eine Hand auf die Schultern, "du verstörst hier alle mit deinen perversen Fantasien!"

"Wie, meine? Du willst hier doch meine Mutter besteigen!"

Mads wedelte ab. Konzentriert beugte er sich auf der Bank vorwärts, dem passierenden Mädchen entgegen, und zeigte mit dem Daumen auf Steve. "Nicht falsch verstehen. Die ist echt knackig", er tat so, als würde er flüstern, nur viel zu laut. "Die macht diesen ganzen Botox-Shit." Die Mundwinkel des Mädchens wanderten ein Stück abwärts und sie warf den beiden einen kurzen Blick zu, als hätte sie gerade den prächtigsten Haufen Scheiße aller Zeiten auf der Straße gefunden. Dann wandte sie ihren Blick wieder dem Schulgebäude zu und zog schnellen Schrittes vorbei. "Die sieht aus wie höchstens dreißig!", rief Mads ihr lachend hinterher, und neben ihm brach Steve schließlich auch in sein dunkles, rhythmisches Gekicher aus. Als sie aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, zuckte Mads mit den Schultern und seufzte. "Schwieriges Publikum heute."

Steve gackerte immer noch. Er warf den Kippenrest von sich, nahm sich kurz die Sonnenbrille ab, wischte sich die Haare aus dem Gesicht und fuhr mit den Fingern seine Augenbrauen nach, und daneben riss Mads sich zusammen, um nicht allzu sehr zu glotzen.

So sehr, wie er manchmal auf Steves Haare wütend war, stand er auf diese dichten, geschwungenen Augenbrauen, die sich konzentriert zusammenzogen, wenn Steve sich eine Kippe anzündete, und herrlich prollig aufwärts wanderten, wenn er wieder einmal mit nach Vanille stinkenden Liebesbriefen konfrontiert wurde; die manchmal wippten, wenn er 'Madsi-Schatzi' sagte, und in einer nahezu tragischen Biegung festhingen, wenn er eine Lachattacke hatte. So wie jetzt.

Eine halbe Minute später schnaufte er immer noch unter ihren Ausläufern. Aber langsam beruhigte sich sein Atem und er brachte ein anerkennendes Seufzen hervor. "Junge. Deine Leidenschaft in Ehren..." Der Satz versackte.

"Ja, scheiße, sorry!" Überhaupt nicht sorry pflückte Mads die Sonnenbrille aus Steves Händen und hielt sie sich vor Augen. Dann schob er sie sich auf seinen Nasenrücken, vor seine eigene Brille. Das musste echt bescheuert aussehen. "Hätte dich nicht zum Lachen bringen sollen, das knackst so empfindlich an deiner Coolness." Stirnrunzelnd wandte er sich Steve zu. Er sah seine Lippen zucken, und wie er sie einen Moment lang aufeinander presste.

"Nichts knackst so sehr an meiner Coolness wie du", erwiderte er schließlich und angelte sich seine Sonnenbrille zurück. Als er nachdenklich den Kopf hob, um das Hausdach gegenüber anzustarren, stupste er sie sich auf die Nase zurück. "Wo ich gerade dabei bin. Später zu mir? Meine Alten sind wieder aus dem Haus."

"Klar." Mads' Herz machte nicht direkt einen Hüpfer. Es war mehr wie das Schwappen von Badewasser, wenn man gerade in die Wanne gestiegen war. Nicht direkt aufregend oder unverhofft, aber warm und - wenn er sentimental werden wollte - vielleicht ein kleines bisschen schaumig.

Aber davon wusste Steve nichts. Der ließ sich von seinen Geschäften auch nicht abbringen. "Und wo wir wiederum daaabei sind, wie geht es deinen Freunden in den Niederlanden?"

Mads lächelte breit und zwinkerte ein paar Mal - das wirkte hoffentlich hinreichend distinguiert. "Wie immer ausgezeichnet", erklärte er in blasiertem Tonfall. "Sie haben mir ein neues Rezept geschickt - mit der guten Butter und so. Ja, ja. Es juckt mich ja schon so ein bisschen, das mal auszuprobieren."

"Oh." Steve nickte anerkennend, und sein Blick ging einen Moment lang in die Ferne. Normalerweise war Backen äußerst uncool und Gebäck sowieso unter seiner Würde. Aber wenn Mads backte, war das auch nicht normal. "Ich bin zutiefst erfreut, das zu hören, Lady Mads."

"Cheerio, Sir Steve." Mit einem imaginären Schampusglas prostete er ihm zu.

Steve zögerte kurz. "... Dann lieber Toast", brummte er. "Cornflakes sind scheiße."

Mads konnte sich das Grinsen nicht verkneifen und streckte die Hand zur Seite aus, um mitleidig die schwarze Frisur neben sich zu wuscheln. "Das mit der Etikette üben wir noch mal."

"Von dir lass ich mir da nix beibringen. Fremde Haare zu misshandeln fällt ja auch nicht drunter."

Eigentlich stand das ja noch zur Diskussion - aber dann bewegte sich eine Silhouette in seinem Augenwinkel und er zog seine Pfoten wieder an sich, das sandig-weiche Gefühl von Haarspitzen noch in den Fingern. Er überkreuzte die Arme im Schoß und glotzte zur Straßenecke.

Von dort näherte sich eine riesige Handtasche, an der so eine Art Mensch hing. Erst beim näheren Hinsehen stellte Mads fest, dass es Mela aus ihrer Schulklasse sein musste; hauptsächlich anhand der hochtoupierten, blondierten Haarmähne, die so ein bisschen über den Trageriemen der Tasche herausragte. Als sie näher kam, schälte sich aus dem Glorienschein des glitzernden Kunstleders ihre umfangreiche Silhouette. Der bunte Stoff ihrer Klamotten spannte sich, als hätte sie sich die braune Leggings und die pinke Tunika einfach mit einer glatten Schicht Farbe auf die Haut gemalt.

Sie war vierzig Minuten zu spät, stellte Mads mit einem Blick auf eine seiner Armbanduhren fest. Respekt. Und dabei hielten ihre Schritte die Balance zwischen gelangweilter Resignation auf dem Weg zu einem Ort, der sie nicht interessierte, und einem guten Maß Hektik - als könnte sie es vielleicht schaffen, die Zeit zurückzudrehen und doch noch pünktlich zu sein. In eben jenem Rhythmus kaute sie ihren Kaugummi, und lächelte ein bisschen, als sie die beiden auf der Bank erspähte.

"Morgen, Jungs." Natürlich wurde sie ein bisschen langsamer. An ihnen Zweien konnte man auch nicht einfach so vorbei ziehen, wenn man irgendwas auf sich hielt. Und außerdem waren sie garantiert auch ein sinnvoller Grund, um noch ein bisschen später anzukommen.

"Morgen, Mela." Mads zeigte Zähne. "... Schicke Tasche."

Ihr Grinsen war halb verunsichert, halb aggressiv. Sie leckten den Kopf schief und bleckte ihre Pferdezähne. "Schicke Haare", gab sie zurück.

"Danke." Der Tonfall blieb ambivalent. Mads war sich nicht sicher, ob sie seinen Diss nicht kapiert hatte oder gerade hemmungslos zurück disste; womöglich ging es ihr gerade genau so.

"Geht ihr nicht hin?" Sie nickte in Richtung Schulgebäude.

Steve hatte sein Smartphone gezückt und spielte daran herum, statt ihr eines Blickes zu würdigen. "Siehst du doch."

Sie sah ihm dabei zu und machte einen halben Kussmund. Vermutlich überlegte sie, ob sie es vor sich selbst rechtfertigen konnte, sich zu ihnen zu gesellen. Vorausgesetzt, sie war zu Überlegungen fähig, was teilweise schon als steile These galt. Aber falls sie es konnte, schlüsselte sie wahrscheinlich die sozialen Implikationen für ihren eigenen Kontext auf: Steve war cool und attraktiv. Mads etwas zu strange, ein latenter Freak. Hätte sie nicht zur Schicksenclique gehört, sondern zu der schwarzbunten Fraktion, die mit Glöckchen an der Tasche zur Schule kam, hätte sie es wahrscheinlich umgekehrt gehalten. Die Vorstellung war zwar etwas bizarr, aber nicht wirklich abwegig; solche schicksalshafte Fügung basierten in der Regel darauf, bei welcher seiner Freundschaften man beschloss, Mitläufer zu spielen. Und außerdem war die Vorstellung, wie Mela im Maid-Kostüm zur Schule kam, einfach Gold wert.

"Mhhh", machte sie schließlich und strich sich die Haare über die Schulter, "dann viel Spaß noch, Jungs." Und wackelte weiter.

Als sie ihnen ihre Kehrseite zuwandte, kehrte auf der Bank ein einvernehmliches Schweigen ein, während sie beide mit höchst wissenschaftlicher, zweifellos professioneller Neugierde auf ihren Arsch glotzten.

"Hmmm." Steve brummte leise.

Mads schreckte aus seiner Trance hoch und schaute vorwurfsvoll auf seinen Sitznachbarn. "... Denk nicht mal dran."

"Hm, was..?"

Mads antwortete nicht, sondern stieß Steve nur aufforderungsvoll in die Seite.

"Wenn hier einer was gedacht hat", erwiderte jener, "dann wohl du mit deinem Fischstäbchenschwanz."

"Oh bitte. Deinen Blick muss sie sich später unter der Dusche vom Arsch kratzen!"

"Und du untervögeltes Opfer schaust ihr dabei zu, was?" Steve hatte sich nicht mal einen Moment Zeit genommen, um sich das bildlich vorzustellen, sonst hätte er nicht sofort diese Retorte rausgeballert.

"Wenn du sie dabei besteigst! Sieh's doch ein. So langsam wird es Zeit für drastische Maßnahmen, mein Junge." Gönnerhaft klopfte Mads ihm auf die Schulter. "Vielleicht brauchst du 'ne Beziehung, die dich von solchen Verzweiflungstaten abhält."

"Jeeetzt mal langsam. Eine Beziehung IST eine Verzweiflungstat." Steve zog eine Grimasse. "Der Stress! Der Kitsch! Und das Drama, Beziehungskisten geben IMMER Drama..."

"Stimmt." Mads' eigene Unternehmungen in dieser Hinsicht waren bisher eigentlich relativ ruhig verlaufen. Fast schon ein bisschen langweilig. Aber das war auch schon eine Weile her; wahrscheinlich hatte Steve trotzdem recht. "Wir sind garantiert die zwei einzigen vernünftigen Typen in dieser ganzen verdammten Gegend. Lass uns den ganzen nervigen Ultra-Drama-Soap-Teil überspringen und einfach miteinander was anfangen. Bleibt einem ja wenig übrig sonst." Das halbe Grinsen, das sich in sein Gesicht klierte, war nur gespielt gespielt, und das wahrscheinlich nicht einmal besonders überzeugend. In seinem Kopf hatte das alles irgendwie besser geklungen. Und subtiler. Aber hey, es ist nur ein Witz! Natürlich. ... Es sei denn. Und so.

"Pffh. Wieso anfangen? Du weißt doch schon, dass du meine allerliebste Messelektronik bist." Süßlich lächelnd kniff Steve ihn in die Wange, bis sich Mads seine Hand von der Pelle wedelte und brummend über die malträtierte Stelle rieb. Messelektronik, was? Der ist neu. Und, wenig überraschend, so ziemlich das einzig Neue daran.

Aber das ist schon okay. Ich bin fast über dich hinweg.

Lass den Meister machen, Baby

Mads fand Steves Eltern ausnehmend charmant. Den Vater hatte er erst zwei Mal getroffen - Dreitagebart, gerötete Augen und ein von oben recht ordentlich aussehender Mittelscheitel; beide Male hatte er sich nach einer Begrüßung ziemlich schnell in sein Arbeitszimmer verdünnisiert. Er war ein viel beschäftigter Abteilungsleiter, der sich oft erst abends zu Hause blicken ließ - oder aber gar nicht, denn der alte Herr wurde gefühlt alle drei Wochen auf eine andere Konferenz oder Fortbildung geschickt, die tagelang seine Präsenz am anderen Ende der Welt beanspruchte. Wahrscheinlich hatte er in jedem Hotel eine andere leidenschaftslose Hure, mit der gleichen schulterzuckenden Einstellung, mit der auch die Mutter ihren Physiotherapeuten nagelte. Oder ihren Kosmetiker. Oder die 20 anderen Menschen, die sie gewohnheitsmäßig für ihr eigenes Wohlergehen aufsuchte, ehe sie mit ihrem Luxusbody durch die lokale High Society paradierte.

Was für eine MILF. Bei der Aktion heute morgen hatte Mads nicht mal gelogen. Und wenn er an der Tür klopfte und sie wider Erwarten tatsächlich mal zu Hause war, ließ er sich den einen oder anderen höflichen Flirtversuch nicht nehmen. Die nahm sie mit einem nachsichtigen Lachen zur Kenntnis, was eindeutig bedeutete: Wenn ich x Jahre jünger wäre.

Mit dem Vater vereinte sie vor allem ihre Angewohnheit, ebenfalls nicht wirklich präsent zu sein. Stattdessen überließen sie das große, aus latenter Unterbeschäftigung heraus äußerst stilvoll eingerichtete Haus mit bestechender Regelmäßigkeit ihrem 17-jährigen Sohn. Zumeist nicht ohne ordentlich Kohle für Verpflegung auf dem Küchentisch, sowie dem unverbindlichen Vorschlag, es vielleicht nicht all zu bunt zu treiben.
 

An diesem Nachmittag hingen Steve und Mads in der Küche und sahen ganz danach aus, als hätten sie diesen Ratschlag beherzigt. Der Raum war ein bisschen zu warm und in dem Ofen brannte das Licht; in der Luft hing ein süßlicher Dunst, aber das Fenster hatten sie nicht geöffnet. Stattdessen klebten sie am Küchentisch - und das erste Indiz, dass hier etwas nicht stimmen dürfte, war der kleine Glimmstängel in Steves Hand, mit der er sich auf den Küchentisch stützte. Gegenüber hob Mads das Nudelholz an - inspizierte den Teig zunächst von oben und ging dann in die Hocke, mit der Augenhöhe auf der Tischkante. Als er hochschaute, fing er Steves Blick auf.

"Brauchst du ein Lineal?"

"Pfffh." Mads winkte ab, ehe er sich mit den Händen an der Tischkante hochzog. "Lass den Meister mal machen, Baby. Habt ihr Backpapier?"

"... Ach Matsi, was fragst du mich. Seh ich aus, als würde ich backen?" Provokant breitete Steve die Arme aus, aber Mads sah nicht richtig hin - er ließ die Hand über einem reichhaltigen Berg von Ausstechförmchen kreisen und machte sich dazu schwere Gedanken. Wahrscheinlich hatte Steves Mutter die einmal im Teleshopping bestellt und dann vernachlässigt, weil sie sich diesen ganzen Salzteig-Deko-Kram irgendwie romantischer und weniger zeitintensiv vorgestellt hatte.

Etwas abwesend erwiderte er schließlich: "Dann geh's eben suchen, Stöfchen. Oh, und." Weiter sprach er nicht, sondern tippte seine Unterlippe an.

Steve zog einen leichten Schmollmund. "Kannst du voll vergessen, Mässchen." Und begann, halbherzig in einem Schrank zu stöbern.

Nun widmete Mads ihm doch einen längeren Blick, während er sich langsam aufplusterte. "Hast du etwa keine Vertrauen in meine Kekse?!"

"Ich glühe nur vor", erklärte Steve würdevoll.

"Haha. Stealth Pun." In seinen Händen fand Mads eine entzückend kitschige Engelsform und strahlte über das ganze Gesicht. Wahrscheinlich sah er jetzt schon total zugekifft aus, wie er auf den Teig einstach und sich permanent das Lachen verkniff. Großartig! Haben wir Kuvertüre? Und Deko? Die Dinger brauchen unbedingt bunte Heiligenscheine aus Zuckerperlen und Flügel aus dezent giftigem Blattgold!!

Geschniegeltes Schwarz schob sich in sein Sichtfeld und beugte sich über die Tischkante. "... Scheiße, wo hast du das denn ausgegraben..."

"Pscht!" Mads wedelte mit seiner Hand. "Ich hab dir doch gesagt: Lass den Meister mal machen. Der Pöbel sucht brav weiter."

"Keine Lust. Ich find's eh nicht. Brauchen wir das überhaupt?"

"Komm schon! Willst du diese armen Kekse wirklich ohne schützendes Backpapier dem harten Rost und dem erbarmungslosen Ofen überlassen?! Jetzt behandel sie mal nicht so..." Wait for it. "... stevemüdderlich."

"Duuude. Niiicht lustig." Aber seine Lippen pressten sich zusammen, bevor er noch mehr sagen konnte. Langsam wanderten seine Augenbrauen aufwärts, als hätte er die fette Dame singen gehört, und in seinen Mundwinkeln sammelten sich die Schatten. Unter dem Arhythmus seiner Atmung kochte leises Schnauben hoch wie die Bläschen in der Cola - er schnappte kurz nach Luft - schmiegte sich die Faust an die Lippen und prustete dagegen. Er stolperte zurück - die Glut zwischen seinen Fingern zitterte - prallte mit der Hinterseite gegen Mads und schluchzte noch einmal halb, ehe er seine Fassung wieder errang.

"Oh... mein... Gott." Mit vertränten Augen drehte er sich zu Mads um und glotzte ihm ins Gesicht. "Hier." Dann steckte er ihm den Joint zwischen die Lippen, wo dieser zunächst noch etwas fassungslos runter hing. "Wenn ich schon über so einen Scheiß lache, hatte ich definitiv erst mal genug."

Im Tausch dafür drückte Mads ihm die Engelsform in die Hand. "Dann bastel ein paar Kekse, und ich geh den Schrott suchen."

Mit einem relativ apathischen Gesichtausdruck warf Steve die Form kurzerhand von sich. "Ich bin ein Vampir", erklärte er todernst. "Heiliger Kitsch verbrennt mich."

Abwinkend steuerte Mads die Küchenzeile an. "Dann nimm die Herzchenform und schreib mir nen Liebesbrief drauf, SparkleSteve."

"Was Sparkle! Ich bin Nosferatu! ... Obwohl. Der ist voll hässlich."

"Graf Zahl vielleicht?"

"Doktor Acula!"

"Oder doch Graf von Krolock..."

"Wer is'n das?"

Ertappt grinste Mads das Regal vor sich an. "Auch so ein verknallter Stalker."

"Was ist das mit dir und Stalkern, bist du einsam? Soll ich dir was vermitteln? Ich hatte heute wieder so'n Briefchen aufm Tisch." Steves Gesicht verzog sich, während er mit der scharfkantigen Form in seiner Hand auf den Teig einhämmerte.

Mads holte Luft, um zu antworten, und vergaß es prompt. Aha! Du Blindfisch. Ich dachte, von uns zweien bin ich die Brillenschlange? Triumphierend zog er die braune Rolle aus der Schublade und begann mit der Präparation des Ofenrosts - das Backblech hatte er auf die Schnelle dann doch nicht hervorzaubern können. Wahrscheinlich hatte Steve-Mum vor ein paar Jahren das erste und letzte Mal für irgendeinen Schulbasar Kuchen gebacken, und weil Steve erstaunlich persistent darin sein konnte, Bitten zu vergessen, lag das Ding immer noch im Sekretariat.

Warte mal. Du hast gerade irgendwas von Briefchen gesagt. Und dann einfach zu erzählen aufgehört! Mads' Mundwinkel zuckten.

"Mit Vanilleduft?"

"... Kokos."

"Kinky."

Mit dem Rost in den Händen stiefelte er zum Tisch zurück, um sich die erste Fuhre Gebäck abzuholen. Dabei nahm er einen coolen Zug von seinem Joint und blies den Rauch durch seine Nüstern, ohne abzusetzen.

Ein höllisch brennendes Prickeln arbeitete sich seine Schleimhäute hoch. Als ob im Zeitraffer eine Armee aus Millionen miskroskopischer Blutegel über seinen Atmungsapparat herfielen. Urgh!

Ihm schossen die Tränen in die Augen. Er schob den Rost über die Tischkante und wandte sich ab, um den Joint abzusetzen und krampfig in seinen Ellenbogen zu husten. Bäh, fuck! Das machen wir NIE wieder!

Mit den Fingern fuhr er sich unter die Brille und wischte sich ein Tränchen aus dem Augenwinkel. Er musste sich räuspern. "War es wenigstens ein Gedicht?" Seine Stimme streifte rau seinen Kehlkopf und kitzelte ihn mit ihrem struppigen Fell. Noch mal Räuspern.

"Na zum Glück nicht."

"Ha, siehst du. Ich krieg Gedichte." Zumindest hatte er mal eins bekommen, so richtig mit Blut und Tod. Es war profunde verstörend gewesen, und so im Nachhinein war er sich nicht ganz sicher, wie viel davon sie davon überhaupt ernst gemeint hatte. Er hatte sie in einer Buchhandlung getroffen, wo sie in Anansi Boys versunken gewesen war, und hatte sich gedacht: Ein so schlechtes Zeichen kann das ja nicht sein. Sie hatten ein bisschen gequatscht und sich zwei Mal getroffen, bis sie ihm schließlich kryptische Dinge auf Facebook schrieb und diese in dem Gedicht an seiner Pinnwand gipfelten. Vielleicht hatte sie das auch einfach gemacht, um ihm eins auszuwischen - weiß der Geier, mit irgendwas würde er ihr schon auf den Schwanz getreten sein - aber vor Steve würde er das garantiert nicht zugeben.

"Pfff." Steve schubste den letzten Keks, geformt wie kleine Igel, auf das Backpapier und klopfte sich dann die Hände ab. "Hätte aber auch gut ein Gedicht sein können." Und streckte das Kinn vor. "War so 'ne aus der Achten, die wissen noch nicht, wie das läuft. Da stand so Kram wie, 'Wenn ich die Augen schließe'", rezitierte er mit wabernder, leicht weinerlicher Stimme, "'sehe ich uns beide, und ich spüre deinen Kuss...'" Er rieb sich über die Nasenspitze. "Weißt du, man könnte meinen, dass ich den Brief jetzt auswendig kann."

"Könnte man." Mit dem Rost in den Griffeln stiefelte Mads durch die Küche und zog die Ofenklappe herunter. Er rechnete mit einem metallernen Quietschen - wie der heimelige Gasofen bei seinem Onkel - aber das Ding war zu neu und modern, und so war es völlig still, als es sich gleichmäßig und viel zu langsam öffnete. IKEA. Garantiert.

"Aber ich hab einfach schon so viele Briefe gekriegt, dass ich sie ALLE auswendig kann. Ich kenne den Einen Brief, verstehste... Den Meta-Brief."

Das Backwerk verschwand auf Bräunungsurlaub, als Mads den Ofen kichernd wieder zuklappte. Langsam breitete sich ein warmes, fluffiges Gefühl zwischen seinen Schultern aus. Damit es nicht so einsam war, schickte er noch ein Wölkchen Ganja hinterher. "Ich dachte immer, der Metabrief wäre mehr so: 'Augen zu und küss mich, du Wichslappen.'" Er lehnte sich an die Theke.

Steve verzog den Mund zu einem knittrigen Kissen. "Augen zu beim Küssen ist voll kitschig."

Verwirrt öffnete Mads ein Auge. "... Aber seelenlos geradeaus zu glotzen ist gruselig." Das sind die wichtigen Themen des Lebens!

Inzwischen hatte Steve es geschafft, auf den Küchentisch zu klettern, und saß dort auf der Kante wie auf einem Hausdach. Seine Beine hingen wippend herunter. Er hatte sich heute morgen in schwarze Skinnies gequetscht, in denen seine Beine wie eine lange, dünne Zielgerade wirkten. "Warum geradeaus?", fragte er und zeigte auf seinen Kopf, so dass Mads seinen Blick hob. "Ich hab nicht umsonst dieses hübsche Gesicht hier." Er grinste gewinnend. Dann glotzte er Mads auf die Hand und deutete mit seiner eigenen eine Kippe an.

Mads schielte auf seinen Joint und schüttelte den Kopf. "Ist eh fast weg", erklärte er und nahm einen langen, bekräftigenden Zug. Eigentlich sollte in der Küche nicht geraucht werden, oder zumindest ließ das Fehlen eines Aschenbechers darauf schließen. Schulterzuckend drückte Mads den kümmerlichen Rest des Joints am Mülleimerdeckel aus und schnipste ihn hinein.

Steve indes fing an, sich flugs ein neues Tütchen zu basteln. Dieser Junge ist im Einklang mit seinen Bedürfnissen, das muss man ihm lassen. In seinem Gesicht hob sich die linke Augenbraue, als er mit spitzer Zunge über die Kante des Papers leckte, und in Mads' fluffiger Brust schlug eine Faust gegen seine Rippen. Er versuchte, seine Mundwinkel nicht zu heben, und sah weg.

"Hast du Feuer?"

Er sah wieder hin. "Mh, klar." Zielstrebig grub er das Sturmfeuerzeug aus seinem Hoodie und klettete sich ebenfalls an den Tisch. "Wenn du mich ziehen lässt", setzte er hinzu. Das allumfassende, bekiffte Grinsen, das hinter seinem Gesicht lauerte, presste sich allmählich schwitzend durch die Ritzen seiner Grübchen; er spürte, wie seine Muskeln sich spannten, und erntete einen spitzen Blick.

"Okay."

Neben Steve lehnte er sich an den Tisch und hielt ihm die Flamme unter die Nase. Steve schob seine Tüte in den Brandherd und paffte sorgfältig, ehe er einen längeren Zug nahm und mit einem wohligen Seufzen wieder ausatmete.

"Sehr professionell, Schatz." Mads ließ sein Feuerzeug einschnappen und steckte es weg. Ein paar Anstandssekunden wartete er noch, dann streckte er die Finger nach dem Joint aus.

Steve glotzte auf die Hand wie auf ein nervendes Insekt. In aller Seelenruhe nahm er noch einen Zug, und als die Hand danach immer noch nicht verschwunden war, zog er den Kopf nach hinten und wedelte sie an.

Nicht, dass Mads sich davon beirren ließ. "Ey..!?"

"Verarscht", murmelte Steve trocken und drehte das Gesicht weg. Was bei Mads' Größe und dessen dementsprechender Reichweite fast schon niedlich war. Dein Profil beeindruckt mich nicht. Nicht sehr jedenfalls.

"Jetzt sei mal nicht so gierig!"

"Gierig? Iiich? Wer hat mir denn meine erste Tüte aus den Händen gerissen und dann... aufgeschmaucht?! Du bist erbarmungslos. Ein Monster." Dafür, dass er keine Miene verzog, klang Steve sehr dramatisch. Er bohrte seinen Zeigefinger in Mads' Hemd und die darunterliegende Brust.

"Ich bin vor allem mal viel größer als du. Ich brauch doch viel mehr Stoff, um breit zu werden!" Unbeirrt griff Mads nach dem Glimmstängel - der zwei perfekte Zentimeter außerhalb seiner Reichweite blieb; Steve hatte ihn in die Hand genommen, um ihn vor Begehrlichkeiten zu schützen. Aber noch weiter konnte er den Arm nicht ausstrecken, und Mads brauchte sich nur ein Stück vorbeugen - ha, siehst du, ich hab längere Arme, du kannst dir deine Egotour mal sowas von abschminken! - und als er sich rüberlehnte, drückte ihm Steve hilflos die Hand ins Gesicht. Mads griff nach dem Handlenk und zog es runter, und dann hatte er eine Fußsohle im Bauch. Er beugte sich vorwärts - und Steve streckte nach hinten, bis er gefährlich über dem Tisch schwebte, den glühenden Preis immer noch in der Hand - Mads holte aus und schnappte danach, da zog Steve den Arm zu weit zurück und knallte mit dem Rücken auf die Tischplatte.

D-das ist die Chance!!

Mads' Augen weiteten sich. Und spürte ein Kitzeln - er presste die Lippen aufeinander, unter sich sah er Steve, wie er mit seiner Fassung rang - alles war sehr leicht und heiß und ein klitzekleinesbisschen albern, wie das Gackern, das sich in seiner Kehle staute, wie Helium - er hielt die Luft an, drückte seinen Kehlkopf herunter und bekam prompt einen zweiten Fuß in den Bauch.

Das war zu viel.

Sein Kehlkopf knackte. Er prustete Steve voll ins Gesicht.

"Jetzt sei mal kein Oktopus!", jaulte er zwischen zwei Lachsalven; aber er machte sich keine Hoffnungen, gehört zu werden - Steve prustete zurück, schon wieder, seine Beine erschlafften und ihr Kampf musste pausieren. Mit den Armen stützte Mads sich auf dem Tisch ab, aber seine Ellenbogen zitterten, und ihm schossen Tränen in die Augen. Er lehnte sich vorwärts, das Kinn auf der Brust, und sah Sterne.
 

Langsam lief das Gelächter aus. Stattdessen füllten sich Mads' Ohren mit zweistimmigem Japsen und ein bisschen Rauschen. In seinen Zähnen konnte er seinen Herzschlag spüren; das Echo seiner Schädelknochen pochte in seinen Kiefer. Unter ihm blinzelte Steve durch tränige Schlitze, die Lippen noch einen Spalt offen.

Steve. Unter ihm.

Ein blödsinniges Triumphgefühl schoss ihm mit Hochdruck in die Adern, als hätte es jahrelang ein Ventil gesucht, und im ersten Moment musste er sich die Zähne in die Unterlippe graben, um nicht noch einmal laut loszulachen. Das dünne Schnaufen ihrer Stimmen stand plötzlich scharf umrissen im viel zu großen Raum. Zwischen seiner Kehle und seinem Unterbauch spannte sich ein vibrierendes Gummiband.

Ich will dich. Jetzt. Über diesen ganzen, verfickten Tisch ziehen.

Er neigte sich abwärts. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sie ziemlich dicht waren und Rummachen dementsprechend für eine grandiose Idee hielten. Besonders für Mads nicht. Besonders nicht in diesem Moment. Wir sind halt high. Da kommt sowas schon mal vor. Jep, klingt total nachvollziehbar.

Er bekam Steves Beine zu fassen und zog sie mit langsamer Persistenz auseinander.

Schob sich in den Spalt dazwischen.

Und überfiel ihn einfach.

Auf seinen Lippen konnte er noch die Spuren eines Grinsens spüren, und bewunderte durch ein dichtes Blinzeln tatsächlich ein bisschen diese Gewinnervisage. Schönes Bild. Guter Vorschlag. Und dann überfiel er ihn zurück - ein bisschen Steve, aber hauptsächlich der Enthusiasmus - er konnte sich kaum zusammenreißen, und warum sollte er auch?! Er neigte den Kopf und stieß forsch in neue Gefilde vor, besuchte Steves Kiefer und spürte, wie dessen Finger sich zwischen seine Haare gruben, als er sich zum Hals vorarbeitete. Ein kleines Seufzen - verlieren wir allmählich unsere Coolness? - zaghaft zupfte Mads mit den Zähnen an der Haut und wurde belohnt, "Nh", ein kleines Zucken, und jetzt - wo Steve ihn nicht sehen konnte - breitete sich doch ein völlig bescheuertes Grinsen auf seinem Gesicht aus wie eine Seuche; und dahinter ratterten tausend verschlungene Gedanken an den Gitterstäben. Eine Idee jagte die andere, aber im Kern waren sie gleich. Was ich dir alles sagen könnte. Was ich dir alles sagen will. Und am Ende könnte ich immer noch behaupten, dass ich einfach breit war, viel zu breit, da rutscht einem schon mal sowas raus, ich... Seine Ohren spitzten sich und fingen all die feinen, kleinen Geräusche ein, die zwischen ihnen entstanden. Er musste nur auf den richtigen Moment warten, und vielleicht seine Hand unter dieses Shirt bekommen.

"Wenn ich", begann er leise, und plötzlich wurde es schrill und metallisch und durchstach klingelnd sein Trommelfell.

Widerwillig stützte er sich auf seine Arme, und sein verwirrter Blick hatte die Bahn eines Papierflugzeuges. Was zum..? Der Raum drehte sich ein bisschen, oder vielleicht drehte er sich, oder vielleicht atmete er auch einfach zu schnell und war dementsprechend über-oxidiert, und unter ihm blickte Steve mit wunderbar rotem Gesicht umher, ohne sich zu bewegen, und presste dabei die Lippen aufeinander, um ein Kichern einzusperren - aber Mads sah seinen Kehlkopf springen, und es war so verdammt niedlich, und ein bisschen lustig, wie er ein bisschen mit den Augen rollte und ein Gesicht hatte, als hätte er das größte, übertriebenste Geheimnis der Weltgeschichte, und Mads lachte los und fiel nach vorne; sein Gewicht jagte geräuschvoll die Luft aus Steves Lungen. Mit der Faust trommelte Mads auf der Tischplatte herum und spürte unter den Zuckungen seines bekifften Amüsements, wie er rot anlief, und keuchte den Großteil davon in Steves Halsbeuge. Als er den Kopf hob, hatte er wieder diese Lippen vor sich--

Und da traf es ihn. Er riss die Augen auf. "Fuck! Die Kekse!!"

Schnell zog er seinen Oberkörper in die Aufrechte - etwas zu schnell - die Küche wurde zu einer Zentrifuge - aber seit wann - und die dringende, alles verschlingende Frage lauerte am Abgrund seines Kopfes. "Wenn ich", wiederholte er hilflos, aber seine Stimme stürzte in sich zusammen wie ein Kartenhaus und seine Beine. In einer garantiert bildschönen Pirouette segelte er zu Boden und schlug sich die Handflächen an den Fliesen auf; verdutzt starrte er auf die Mehlschicht, in der er gelandet war, während Steve das mit fassungslosem Gegacker kommentierte.

Unter der Brille rieb Mads sich die Augen und ging - kroch - bewegte sich zum Ofen. Er warf einen langen Blick hinein, ehe er ihn abschaltete und zum Tisch umdrehte; in seiner Kehle kitzelte der Herzschlag, und er musste kurz husten. Die Küche schwankte wie ein Schiff, und er brauchte einen Moment, um sich nicht einfach kommentarlos zwischen Mehl und Fliesen einzurollen; die bittere Vorahnung schwebte in seinem Gehirn wie ein Tropfen Lebensmittelfarbe in einem Glas Wasser. Die Frage lag schwer wie ein Schleimklumpen in seiner Kehle, und genau so musste er sie runterschlucken, statt sie Steve ins Gesicht zu spucken. Das hatte er sich eingebläut. Und trotzdem hätte er fast... Fuck.

"Wenn du was?" Und dann kommst du auch noch an und willst das Ende hören!

Langsam holte Mads Luft. Sein Gehirn war die knirschende Sorte von wattig, die hässliche, styroporhafte Sorte. "... wenn ich Milch wäre", setzte er an. "Wäre ich dann H-Milch oder Frischmilch?" In seinem Kopf hatte das ein bisschen sinnvoller geklungen. Er war zu dicht für diesen Scheiß.

Aber genau so war es Steve. Er hatte sich auf dem Tisch aufgesetzt. Seine Augen glänzten, und auf seiner Wange rollte unbeachtet eine fotogene Lachträne ihres Weges. Breit grinste er Mads entgegen. Äußerst breit.

"Sonnenmilch", erwiderte er verzückt.
 

Und dann war es Stunden später, draußen war es längst dunkel und still, und Mads lag in seinem Bett und bereute es.

Nach Haschkeksen konnte er nie schlafen. Was vielleicht ein wenig seltsam war, aber nur selten zum Problem wurde. Normalerweise blieb er dann einfach bei Steve hängen - in dem schummrig belichteten Wohnzimmer mit der federnden Couch, oder in dessen Zimmer auf dem überdimensionalen King-Size. Aber die irre Vorstellung, knapp an etwas sehr Dummen vorbeigeschrammt zu sein, hatte ihm unter den Fußsohlen gebrannt. Widerwillig war er den Feuerlauf nach Hause angetreten. Mit leer gesaugten Kopf. Etwas fehlte, und im Zuge, es wieder zu bekommen, hatte sich das Loch kurzerhand alle anderen Gedanken in den Rachen gestopft. Und war doch nicht satt geworden.

Inzwischen waren seine Füße eiskalt, selbst unter der Decke. Er zog sie an sich und starrte mit wachen Augen durch die nächtliche Dunkelheit, die blaue Ostwand seines Zimmers eine Armlänge vor seiner Nase. Es reichte auch schon, dass er die Wand sah. Dass nichts seinen Blick blockierte. Ein schwarz behaarter Hinterkopf zum Beispiel.

Er konnte sich gut vorstellen, wie das gerade aussehen musste. Er lag mindestens seit Stunden wie gelähmt auf einem zerrauften Laken und glotzte mit deprimiertem Gesichtsausdruck ins Nichts. Obwohl er wirklich da lag und sich den Kopf zerbrach, wirkte es wie schlecht gespielt, weil sein Gehirn die Pathetik so dick auftrug. Echtes Fotomaterial für die Bravo. Mit einer Denkblase oben dran: Warum ruft sie nicht an? Oder: Wird der Krebs sie wirklich umbringen?

Und all diese Gedanken von seiner Lächerlichkeit und Klischeehaftigkeit konnten ihn trotzdem nicht davon abhalten, die Wand anzuseufzen und die Nase im Kissen zu begraben. Widerwillig schloss er die Augen. In seinem Kopf summte es leise. Ein ganz dünner Geruch...

Wir können diesen ganzen romantischen Kram auch weglassen. Er runzelte die Stirn. Keine großen Geständnisse. Kein Händchenhalten. Nur Knutschflecken, und sinnlos aufeinander herumliegen und blöde Filme gucken und rummachen, und manchmal kiffen und mehr rummachen. Wie eben jetzt, zumindest manchmal. Nur, dass wir keine Ausreden brauchen, und dass du zu mir gehörst und niemand anderes an deiner Coolness kratzt. Wär das nichts? Ich könnte dein geheimer Liebhaber sein, deine Anti-Zicke, dein Bromancier. Was auch immer du willst. Du könntest einfach neben mir einpennen, und ich könnte mit deinen blöden gefärbten Haaren spielen und meine Nase in deinen Nacken schieben - das klingt nur so kitschig, wenn man's macht, ist es eigentlich voll gut.

Es braucht auch gar nicht so dramatisch zwischen uns zu sein. Wenn dir irgendwas nicht passt, dann kack mich an, und dann meckern wir ein bisschen rum und eine halbe Stunde später haben wir Wiedergutmachungssex. Ich verspreche auch, dir keine nach Vanille duftenden Liebesbriefe zu schreiben und auch kein Eifersuchtsdrama anzuzetteln, wenn du mal wieder einen auf deinem Sitzplatz findest - hey, wenn sie heiß ist, dann treiben wir es eben zu dritt und, wenn das schon meine bescheuerte Fantasie ist, tauschen danach High Fives aus; ich bin da offen, das verspreche ich - und dass ich dir Wärme klaue, wenn mir kalt wird, so ganz unzeremoniös, nachts im Bett. Bist eh viel zu heiß, selbst nur in Shorts - besonders nur in Shorts - und deine Haut riecht so verdammt gut, und wenn du dann doch noch wach bist, ich bin's ja auch. Wir können ja ganz leise sein, aufeinander - obwohl, wie ich dich kenne, würdest du dabei am liebsten das ganze Haus aufwecken...

Seine Schneidezähne streiften seine Unterlippe. Die Unruhe zog Kreise auf seiner Haut wie Tropfen, die auf die Wasseroberfläche prallten. Die Ringe wurden immer größer, und die leicht aufragenden Ränder prallten aufeinander und zogen eine kitzelnde Spur von seinem Bauchnabel abwärts. Sein Atem vibrierte. Seine Stirn wurde heiß; er kniff die Augen zusammen und presste sie in das Kissen. Das Summen in seinem Kopf wurde lauter; daraus schälten sich kleine, lebhafte Geräusche, Erinnerungen wie Tonskulpturen. Seine Lippen kribbelten. Sein Atem rauschte an ihnen vorbei.

Zum Glück ist hier keine Eieruhr.

Und wie Steve unter seinen Markenshirts aussah - mit dem Bild konnte sein Gehirn ihn versorgen. Und es abwandeln. Ein bisschen kreativ werden. Hey, Steve. Brauchst du die Hose noch? Skinny Jeans loswerden ist ganz schön anspruchsvoll, warte, lass mich dir helfen. Siehst du? Viel besser. Und jetzt, pass auf, wie ist das? Genau das, das ist... Halt dich nicht zurück. Bleib nicht cool, werd ruhig laut. Sag meinen Namen. Sag meinen Namen...

Er schob seine Finger abwärts, über ein paar seiner eigenen, widerspenstigen Haare. Stellte sich vor, seine Hand wäre nicht seine. Krümmte sich auf der Matratze. Und fluchte leise, als er sich die Shorts einsaute.

Mehr so, weil du mir auf den Keks gehst

Die Wochentage rutschten Mads unter den Füßen weg. Der gleichmäßige Alltag war tief eingebrannt wie Teflonbeschichtung, und nichts blieb daran haften. Ein Blinzeln und plötzlich war es wieder Freitagabend, und dementsprechend stand eine Party ins Haus, bei irgendso einem Mädchen aus seiner Schule. Thé, glaubte er, irgendwie sowas.

In seine Klasse war die Kunde über Dani geraten. Natürlich. Wenn es eine Party gab, zu der Dani nicht eingeladen war - die hübsche, nachdenkliche, feierlaunige Dani - dann konnte sie sich nie wieder vor dem Ruf eines traurigen Nerdfestes retten. Und ihr Anhängsel Mela hatte selbstverständlich befunden, dass mitten im Geschichtsunterricht die beste Zeit war, die ganze Sache intensiv rauf und runter zu diskutieren; bis Herr Maté nach langem Kämpfen in der 32. Minute alle Register gezogen und sie vor die Tür gesetzt hatte. Bis dahin war auch beim letzten Vollidioten angekommen, wo heute die Post abgehen würde. In einer Stunde vielleicht, oder spätestens zwei.

Mads beobachtete sich selbst im Spiegel, während er sich die Haare richtete. Diese Woche hatte er darauf verzichtet, sich zu rasieren, um seine elendige Muttersöhnchenvisage etwas aufzurauen - besonders heute sah er in seinen bunten, kaputten Klamotten aus wie ein Schauspieler in der falschen Rolle - aber seine dämlichen Bartstoppeln waren blond und damit so gut wie unsichtbar. Ach, fick dich, Erbgut. Als ob blonde Wimpern nicht schon Strafe genug wären.

So wird das nichts mit 'nem neuen Facebook-Bild. Dabei traf er sich auf der Party mit Renard, also war es völlig ausgeschlossen, dass von diesem Abend später kein Bildmaterial existieren würde.

Trotzdem griff er nach seinem Smartphone und schaute sich sein Profil an. Im Augenblick hatte er wieder so einen von Renards Schnappschüssen drin - das war vor einem Monat gewesen, als er mal wieder die Finger nicht von Steves Moped hatte lassen können. Dieser hatte ihm schon oft - in gewohnt pseudo-vorwurfsvoller Manier - die Frage gestellt, warum Mads ständig an seiner Maschine hing, statt sich eine eigene zu besorgen; aber erst diesen Dienstag war Mads wirklich dazu gekommen, sie zu beantworten. Bevor sie dann nachmittags auf dem Küchentisch über einander hergefallen waren.

War das wirklich erst..?

Er beugte sich tiefer über sein Handy, weil er spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Ein Knoten schnürte sich genüsslich in seiner Brust und prallte von unten gegen seinen Kehlkopf. Mit kalten Fingern rieb er sich die Nasenwurzel knapp unter seiner Brille.

Steve war online. Selbstverständlich.
 

Emm Mads Sonofagun: Gehst du hin?
 

Emm Mads Sonofagun: Also das Ding heute
 

✓ Gesehen: 20:52
 

Natürlich hatten sie nicht darüber geredet. Das gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen des Status Quo. Ihre Beziehung, so grob und brohaft sie manchmal miteinander umgingen, war in diesen Momenten fragil wie ein Quantenzustand: Er musste nur einfach diese Beobachtung tätigen, Steve mit der Nase darauf stoßen, und alles fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Steve schreibt etwas...
 

Aber wir können auch nicht ständig auf Hasch rummachen und dann so tun, als wäre nie etwas passiert. Obwohl du das wahrscheinlich doch kannst. Aber ich kann es nicht. Ich blöde, emotionale Zicke.

Steve Weh: keine chance.. ich hab sie schon seit zwei tagen reden gehört, wenn dani kommt, wenn steve kommt, blablabla, da hab ich kein bock drauf..
 

Steve Weh: und auch nicht, dass mir wieder n haufen minderjähriger schnallen am hals hängt..
 

Ganz heimlich schielte Mads zur Decke und atmete erleichtert aus. Nicht, dass er nicht auch einen falschen Ausweis hatte, um sich in der Anonymität irgendwelcher Clubs tief in der Stadt bis zur Besinnungslosigkeit zu saufen, aber Hauspartys machten die Angelegenheit so viel einfacher. Kürzere Wege, kostenloser Alkohol-- und:
 

Emm Mads Sonofagun: Pffhaha ja
 

Emm Mads Sonofagun: Ich versorg dich dann mit der Gerüchteküche :p

Da kam er ja gar nicht drumherum.

Er legte das Handy weg und zog sich mit der anderen Hand eine Krawatte aus dem Schwarm, den er über die ausrangierten Schaufensterpuppe in der Ecke seines Zimmers gehägt hatte. Erst beim Blick in den Spiegel realisierte er, dass der weißblonde Kopf seiner Mutter durch den Türspalt ragte, und er zuckte zusammen. Schleich dich doch nicht so rein!, wollte er schnauzen, aber er presste im letzten Moment die Lippen aufeinander. Jetzt eine Konfrontation mit ihr anzufangen, konnte nur schlecht für ihn ausgehen. In seinem Hals pochte es.

"Wohin gehst du?", fragte sie. Ihre Stimme leierte ein bisschen. So klang sie, wenn sie kurz vor einer Migräneattacke stand, oder furchtbar enttäuscht von ihm war.

Mads wandte sich wieder sich selbst zu und band einen schlampigen Krawattenknoten. "Raus."

"Wohin?"

"... 'ne Party."

"Von wem?"

Er zuckte mit den Schultern. Mit dem Knoten war er fertig, aber er tat trotzdem so, als striche er den Stoff glatt, und als ob er dafür seine ganze Aufmerksamkeit brauche. "So wem aus meiner Schule halt."

Aus den Augenwinkeln sah er, wie ihre Fingerrahmen über den Türrahmen wanderten. "Gehst du mit Steffen hin?"

"Nein. Nicht mit Steve."

"Und wann kommst du?"

"Irgendwann."

Ihr Kopf wippte leicht. "... Ich schreibe dir, wenn du kommen sollst." Und dann verschwand sie.

Mit hinabgesunkenen Mundwinkeln starrte er zur Tür. Warum gehst du eigentlich nicht zur Polizei, dann müsstest du mich vor lauter Langeweile wenigstens zu Hause nicht verhören? Er strich sich über die Augenbrauen und zupfte sich die letzten Haarsträhnen zurecht. Seine Krawatte war lose, und trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass sein Kehlkopf bei jeder Bewegung dagegen prallte.

Er schloss kurz die Augen und warf dann einen Blick auf das Smartphone. Zehn nach neun. Je schneller er hier raus war, desto besser.
 

Emm Mads Sonofagun: Erm ich mach mich mal aufn Weg. xo
 

Steve Weh: treibs nich zu wild madsischatzi ;p
 

Emm Mads Sonofagun: ;D :​Dc
 

✓ Gesehen: 21:14

*
 

An der Tür empfing ihn irgendein Lakai der Gastgeberin, ein schlaksiger, fertig aussehender Typ mit schulterlangen Haaren und Flecken auf seinem Hoodie - der Bruder wahrscheinlich, denn er bewegte sich mit dieser blinden Natürlichkeit in der Wohnung, wie es nur ein langjähriger Bewohner hinbekam. Mads drückte ihm sein Mitbringsel in die Hand - eine Flasche guter Rum aus dem Schrank seiner Mutter, man will ja keinen geizigen Eindruck machen - und stieß dann ins enge, dunkle Wohnzimmer vor.

Ihm schlug ein Miasma aus geatmeter Luft, Schweiß und Alkohol entgegen. Jeder Quadratmeter war belegt von Füßen, Rücken Hintern, und was nicht atmete, das klirrte und fiel um und verteilte alkoholische Flecken überall. Ungeduldig schob sich sein Blick durch die Massen und fand Renard schließlich in einer neu aussehenden Stonewashed, wie dieser sein Bier beiseite stellte und nach seiner Digiknipse griff.

"Hey, Stalker. Wieder am Arbeiten?"

"Belastendes Material schläft nie", seufzte Renard. Aber dann schüttelte er lächelnd den Kopf. "Nee, ich will eigentlich nur ein paar unschuldige Fotos machen..."

"'Unschuldig'..?"

"Für Facebook und so?"

"Oha." Skeptisch fasste Mads ihn ins Auge. Wie immer sah Renard ein bisschen zu fit aus, ein bisschen zu hektisch - zu viele wichtige Ideen in einem zu kleinen Körper. Nur seine Haare waren wieder zu lang geworden und hingen ihm braun und uninspiriert ins Gesicht. Reflexhaft zupfte Mads sich eine Haarsträhne gerade. "Seit wann machst du sowas ohne Hintergedanken?"

Renard legte den Kopf schief, ein spitzes Lächeln im Mundwinkel. "Das... war ja nicht gesagt."

Zunächst wurde Mads' Blick noch etwas skeptischer - was ist los, warst du bei der Beichte und bist jetzt gläubiger Katholik? - dann aber blieb keine andere Möglichkeit übrig. "Woah, okay. Welche von denen ist es?"

Gespannt pressten sich Renards Lippen aufeinander. Dann teilten sie sich, und er nickte grinsend in die Richtung eines kleinen Pulks um den Fernseher herum.

"Die Kleine mit dem Schal? Ich stehe total auf sie."

"Na dann los."

Hektisch winkte Renard ab und wanderte einen halben Meter nach links, um aus der Position noch einen verschwommenen, schlecht belichteten Party-Schnappschuss zu machen. "Noch nicht, Mann."

"Musst du dir erst einen antrinken?"

Wieder setzte Renard dieses spitze Grinsen auf. "Ich warte auf den richtigen Zeitpunkt."

"... Also ja. Wir holen dir was Vernünftiges und machen dich warm. So" - Mads nickte zu Renards halbleerer Bierflasche - "kommst du nicht weit."

Und weißt du was? Weil ich meinen sozialen Tag habe, mache ich es dir sogar vor. Ein bisschen Saufen, ein bisschen Tanzen, ein paar lange Blicke tauschen. Und dann kriegst selbst du das Mädel mit dem Schal auf die Kette.

Pass einfach auf.
 

Das wohlige Gefühl von ein bisschen zu viel Rum mit ein wenig zu wenig Cola kribbelte durch Mads' Fingerspitzen. Irgendwann war die Zeit einfach weiter gesprungen, wie ein schleimiger Klumpen Honig, der nach langer Bedenkzeit einfach vom Löffel fiel. Und es war wirklich warm - in diesem Raum, in seinen Händen, in seinem Kopf - sein Blick schwamm durch das Halbdunkel, ehe er Renard fand. Der war vor zehn Minuten oder so wieder aufgetaucht und mitten in die Überreste seiner smoothen Party-Action reingeplatzt, im Gepäck einen miesen Laberflash. Er selbst hatte nicht mehr ganz den Peil, wovon sie auch nur einen Bruchteil der Zeit geredet hatten. Aber so wichtig konnte es dann auch nicht gewesen sein.

"... und außerdem sieht das dann ohne Nodalpunktadapter voll bescheuert aus."

Ah. Er fachsimpelte. Um da auch nur den Anschein zu geben, irgendwie mitzukommen, war Mads bei weitem nicht mehr trocken genug. Sein Blick glitt ein bisschen in die Ferne; nach ein paar Sekunden erspähte er den Schal und das Mädchen.

Er hob die Hand und richtete die Kante auf Renard. "Also. Wie sieht's aus?" Dann nickte er zu ihr rüber.

Renard brauchte einen Moment, um seinen Blick auf eine gerade Linie zu bringen. Danach lachte er leise. "Okay. Du hast eh recht." Beiläufig sah er an sich herunter und präsentierte dann seinen Hoodie; so ein knallgrünes Ding mit irgendwelchen japanischen Aufdrucken. "Seh ich aus wie ein Volltrottel?"

Mads zuckte mit den Schultern. "Nicht mehr als sonst."

"... Soll mir reichen. Waidmanns Heil!"

Ach, Junge. Wie soll das denn schief gehen? Keine Chance, dass das Mädchen hier wen anders findet, der solche Sprüche raushaut.

Und dann war Renard weg. Mal wieder. Und eigentlich wurde es ja auch für Mads so langsam Zeit, sich mal irgendwen zu suchen, an dem oder der er etwas intensiver herumbaggern konnte. Bei dem bisschen Tanzen bisher konnte er es ja schlecht belassen - er hatte ja auch keine Zeit gehabt, so zwischen den ganzen eiskalten Gläsern, mit denen er sich zugeballert hatte. Wenn du den Zeh ins Wasser hältst und das Wasser viel zu kalt ist, springst du ja auch nicht. Erst, wenn du innerlich genau so kalt bist und den Unterschied nicht mehr spürst - dann ist es kein Schock mehr. Macht das Sinn? Macht total Sinn.

Das nächste Menschenrinnsal floss an ihm vorbei, und er ließ sich mitnehmen. Die Gesichter um ihn verschwammen und schmolzen zusammen zu einem homogenen Blob aus dunklen Augen und ein bisschen Make-up. Erst, als er ein zweites Mal hinsah, entdeckte er ein Mädchen, das relativ alleine neben einer Kommode stand und nicht einmal an ihrem Handy herumspielte.

Er drehte den Kopf. Sie hatte schwarze Haare, eine kleine Nase und schwere Lippen. Auf eine diffuse Art und Weise kam sie ihm bekannt vor. Vielleicht war es diese untertriebene Sorte von Scene-Chic, mit der schwarz gerahmten Brille und der blau gestreiften Strumpfhose in den schweren Boots. Oder es waren die hängenden Schultern, diese Teenager-Apathie in ihrer Pose, das glitzernde Silber in ihrer Unterlippe und der schwarze Wischmopp, der in nonchalantem Styling an ihr herunter hing. Ob sie im Licht violett glänzten? Hier drin war es zu dunkel, um das zu beobachten.

Nahtlos scherte er aus dem Grüppchen aus und kam vor ihr zum Stehen. "Hi, Hübsche." Er wippte lächelnd mit den Augenbrauen, schob die Hand auf den Schrank neben ihr und beugte sich ein kleines Stück runter. Ihre Augen waren hell; er konnte beobachten, wie sie ihn musterte.

"Hi, uh... Mensch."

"Du stehst hier so rum--"

"Gut beobachtet", warf sie ein und blinzelte langsam. Die Spuren eines Augenrollens versiegten.

"--magst du nich' 'n bisschen..?" Er nickte zur Mitte des Raumes, wo die Musik laut war und die Leute wie Marionetten zappeln ließ. Nicht beirren lassen, am Anfang machen die alle einen auf unnahbar, damit sie nicht aussehen wie Schlampen. Seinem Geschmack nach konnte man diesen Begriff ruhig abschaffen. Machte alles viel zu umständlich.

"Uhhh", ihre Augenbraue zuckte, als sie seinem Blick folgte, und ein falsches Lächeln kleisterte sich über ihre Lippen, "nee, danke."

Wawawawarte mal! Erteilst du mir etwa gerade eine Abfuhr? Mir? Mads dem Großen?!

Er runzelte die Stirn. "Oh komm schon!"

"Nicht wirklich." Eiskalt. Bei der muss man echt die harten Geschütze auffahren.

"Ist es, weil du meinst, nicht tanzen zu können? Jeder kann tanzen. Besonders mit mir." Er grinste gewinnend.

"Nee", sie zuckte mit den Schultern und ihr Gesichtsausdruck war so wunderbar unüberzeugt, "das ist mehr so, weil du mir auf den Keks gehst."

"Aber warum tanzt du denn nicht mit mir? Bin ich zu blöd? Stink ich nach Bier? Sind deine Klamotten zu eng? ... Stehst du nicht auf Seeed?"

"Ich steh nicht auf pubertäre Drecksblagen, die meinen müssen, sich mir an den Hals zu hängen, nur weil da zufällig schon meine Brüste baumeln." Autsch. Hätte sie nicht gerade Mads selbst diese Abfuhr erteilt, hätte er glatt "Respeeekt!" gebrüllt. Und sich vielleicht ein High Five eingefordert. Aber offenbar war sie an einem High Five mit ihm nur begrenzt interessiert, und obendrein kletterte ihm sein verletzter Stolz am Zahnfleisch hinauf ins Hirn, bitter wie eine Zahnarztbetäubung. So blieb ihm irgendwie wenig übrig, als sich zu trollen. Und sich noch noch einen Shot vom Wohnzimmertisch hinter die Binde zu kippen. Oder drei.

Besser drei, drei klingt gut. Erst mal einer für diese blöde Zicke. Also nicht für sie, das verdient sie nicht. Gegen sie! Als ob es nicht tausend Mädchen gäbe, die schon vom Gedanken an mich weiche Knie kriegen! Du hast gar keine Ahnung, was du verpasst hast!

Und einen... für seine bescheuerte Einsamkeit. Oder Geilheit. Oder beides - beides klingt gut. Wahrscheinlich sollte er sich selber so langsam mal eine feste Freundin anschaffen, um den ganzen Kram an ihr auszulassen und vielleicht mal auf andere Gedanken zu kommen. Auch wenn Steve das wahrscheinlich voll bescheuert fände.

Und, klar, einen für Steve. Freund Steve. Und so. Gut, dass er nicht hier war, wahrscheinlich hätte er ihn gnadenlos ausgelacht. Vielleicht wären ihm sogar die Tränen gekommen, und er hätte den Kopf rückwärts gekippt und ein bisschen fassungslos ausgesehen, aber das wäre nur gespielt. Und dann hätte dieser blöde Teufel mit seinen Augen und seinem Mund und seinem Nacken die ganze Unternehmung, ihn für einen Abend zu vergessen, völlig obsolet gemacht.

Einfach so.

Und.

Und...

Fuck.
 

Der Eimer mit der ganzen bescheuerten Tragik, mit der sich diese Situation brüstete, kippte plötzlich direkt über Mads' Kopf um und durchnässte ihn bis auf die Knochen mit besoffener Emoness. Vor seinen Augen verliefen die Farben langsam ineinander und sammelten sich zu ausdruckslosen Flecken. Die Wohnung schwankte behäbig unter seinen Füßen und ihr Boden stieß ihn von Raum zu Raum, als wäre er ein Tennisball. In der Küche prallte er auf eine dunkle Ecke hinter dem Kühlschrank und kaum bekam er ein Stück Dekoleiste zwischen die Finger, grub er seine Nägel hinein, damit diese übelerregende Schwerkraftsverschiebung endlich aufhörte. Zitternd und schnaufend stand er da, das Laminat unter seinen Füßen bockte halbherzig, und schließlich gab er den Versuch auf, auf den Beinen bleiben zu wollen. Mit dem Kühlschrank im Rücken rutschte er zu Boden, zog die Schultern hoch und legte seinen Kopf auf die Knie. Wie auf so einem zu Tode gefilterten Foto, wo ein deprimiert aussehender Mensch mit Haarvorhang auf dem Kopf ästhetisch versiert in irgendeiner verdächtig szenisch beleuchteten Ecke saß - wo alle zwei Wochen lang irgendein anderer Idiot tiefsinnige Dinge in Handschrift-Fonts draufschrieb und das Bild dann in schlechter Qualität bei Facebook hochlud.

Nur, dass Mads schlecht war. Wahrscheinlich hatte er aufgequollene Augen und Colaflecken auf der Hose und kaputte Fingernägel. Und sein Gesicht war nass, und das Stück Boden, auf dem er saß, war es auch. Und morgen fand er dann heraus, dass er Krebs hatte.

Erneut schwappte eine Welle Hoffnungslosigkeit über ihn, gemischt mit einer viszeralen Übelkeit. Halb, weil seine eigene Pathetik ihm den Magen umdrehte, halb aber auch nur, weil er sich in den letzten drei Stunden ziemlich viel Nervengift in den Rachen gekippt hatte. Es schüttelte ihn und ein gutturales, kaputtes Geräusch wuchtete sich aus seiner Brust. Er spuckte es von sich. Zu spät zerrte er an seinen Knien, um eine Mauer um sich zu ziehen, und das nächste Geräusch rutschte durch den Spalt zwischen seinen Beinen. Der nächste Schluchzer. Ich bin so eine scheiß Memme. Heule hier los, wegen irgendso einer erbärmlichen emotionalen Differenz zwischen dir und mir. Das Kopfschütteln kam von ganz alleine, und er stieß mit seiner Stirn ein paar Mal gegen seine spitzen Knie. Gut, dass er das nicht mitkriegt. Sonst würde er mich wahrscheinlich lachend aus seinem Leben treten. Du Idiot! Du blödes Arschgesicht. Was machst du mit mir?

Ihm war bewusst, was für alberne, flache Gedanken das waren. Es machte die Sache nur noch schlimmer, weil er ganz genau wusste, was Steve mit ihm machte. Du machst aus mir einen blöden, verknallten Teenager, wie sie dir scharenweise kichernd auf den Fersen sind. "Scheiße, Mann..."

Schniefend zog er den Kopf zwischen den Knien hervor und wischte sich mit dem Handrücken unter der Brille entlang. In der Küche war es ziemlich still, bis auf seine eigene Geräuschentwicklung und die Ausläufer der Lärmbrandung vom Rest der Party. Hoffentlich würde das auch so bleiben. Gerade konnte er nicht einmal den Zipfel eines Menschen im Türrahmen gebrauchen - selbst, wenn es bloß Renard war: Zum Saufen ein großartiger Kumpane, aber mit einem Absturz traute Mads ihm etwa so weit, wie er ihn werfen konnte. Denn wenn das hier irgendjemand rausfand, war er geliefert; das würde seine Runden machen. Und das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war die überaktive Fantasie unterforderter Klassenkameraden. Wenn Steve denen auch nur ein Wort glaubt... Wenn der rausfindet, was für ein Dramallama ich bin, und der Gedanke boxte Mads die Luft aus der betrunkenen Brust; sein Kehlkopf knackte wie ein Peitschenknall in seinem Kopf und kickte seinen erbärmlichen Rest Stimme mit kribbelnder Wucht von sich.

Er lehnte sich an den Kühlschrank und drängte das rhythmische Schluchzen von sich, bis es ihm nicht mehr auf den Schoß kroch wie eine persistente, alte Katze, schnappte laut nach Luft und schob schließlich den rauschenden, mit Watte gefüllten Kopf zur Seite, um die Küche zu sondieren; an den Wänden bewegten sich Schatten - fuck! - sein kochend heißer Adrenalinspiegel ging durchs Dach - es sind nur Schatten - seine Augen beschlugen mit dem Dunst seiner blubbernden Stresshormone - und vor den Schatten sah er sie stehen und Nägel durchbohrten seine Handfläche und er würgte einmal trocken.

Zuerst starrte sie ihn nur an. Und er starrte zurück. Die hatte ihn heute schon einmal abblitzen lassen, und er hatte keine Lust darauf, sich jetzt noch eine Abfuhr zu holen - oder weiß Gott, was die noch Schlimmeres in petto für ihn hatte. Am besten, er ignorierte sie - nahm sie gar nicht zur Kenntnis - und dazu wollte er sich hinter den Kühlschrank verziehen, aber sein Körper erklärte ihm gerade lakonisch, dass er nicht mehr unter seiner Kontrolle stehe. Also machte er nichts. Außer ein bisschen zu zittern.

"... Alles klar?", fragte sie schließlich. Etwas widerwillig. Halb über den Getränkekasten gebeugt, aber noch waren ihre Hände leer.

Mads presste die Lippen aufeinander, um das rauschende Fiepsen in seinem Kopf einzusperren. Er hatte das Gefühl, als ob sein Körper unterhalb der Schulter langsam im Eismeer unterging. "Uh", machte er.

Sie legte den Kopf schief, richtete sich auf und trat einen Schritt näher. "Was machst du da? Bist du noch ansprechbar?" Irgendwoher kannte er ihr Gesicht, von früher als diesem beschissenen Abend, aber er konnte es nicht zuordnen. Die Schuhe, und sie trug eine Hornbrille-- die hatte er letztens vor der Schule gesehen. Dann war sie vermutlich auch von seiner Schule. Im schlimmsten Fall in seinem Jahrgang. In irgendeinem seiner Kurse.

Großartig.

"J-ja, klar." Er nickte. Gab sich Mühe, die Finger von seinen geschwollenen Augen zu lassen. Scheiße. Wenn die blöde Kuh das rafft. Wenn die das rumerzählt...!

"Okay, das ist gut... Brauchst du Hilfe oder versinkst du einfach nur so ein bisschen in Selbstmitleid?"

Zu den Nägeln in seinen Handflächen gesellten sich Stricknadeln in seinem Herzen - ihr blöder, trockener Tonfall machte es doppelt so lächerlich, doppelt so hautaufreibend peinlich - und er würgte noch einmal. Woher weißt du..?!

Gut, wahrscheinlich sah er gerade auch aus wie frisch heimatlos. "Ein... ich brauch 'n Wasser", erwiderte er. Vielleicht schluckt sie es. Scheiße aussehen wegen eines Absturzes ist kein Problem. Nur die ganze Emo-Komponente macht daraus ein Desaster.

Sie zuckte mit den Schultern. "Okay. Moment." Ihr Blick wanderte durch den Raum - kein Glas in Sichtweite. Um die Hängeschränke zu durchwühlen, musste sie sich auf ihre Zehenspitzen stellen. Glaub bloß nicht, dass du hier irgendeine bescheuerte Aktion abziehen kannst! Abgesehen... abgesehen davon, dass Mads selbst nicht einmal einfiel, was sie bitte Geheimnisvolles mit einem Küchenschrank unternehmen sollte, nicht mal mit dem eingeschränkten Realismus seines betrunkenen Zustandes. Wahrscheinlich hat sie es geschluckt. Zeit, sich zurückzulehnen. Und in Ruhe zu realisieren, wie bleiern sich die eigenen Beine anfühlen.

Müßig behielt er sie im Auge. Es war einfacher, etwas Bewegendes anzustarren, als sich in der Tapete zu verlieren und am Ende vielleicht doch nicht mehr ansprechbar zu sein. Sie fand ein Glas und zog es aus dem Schrank, und zog sich mit der anderen Hand den Rock ein Stück tiefer über ihren Arsch. Offenbar trug sie keine Strumpfhose, sondern nur wirklich lange Socken.

Dem Gedanken hing er noch einen Moment lang nach. Im nächsten schob sich ein Glas Wasser in sein Sichtfeld; irgendwo jenseits seiner Schärfentiefe hing ihr Gesicht als grobe Flecken. Aber selbst die schafften es, irgendwie unbegeistert auszusehen.

"Danke", murmelte er. Die Heiserkeit verschluckte die erste Silbe, und nachdem ein Schluck kühl und nass seine Kehle hinunter gesuppt war, räusperte er sich; seine Stimme war wie ein Motor, der nicht angehen wollte, und das Geknatter breitete sich auf eine traurig transparente Art in der Küche aus. Gott. Die Scham kroch ihm unerbittlich die Wirbelsäule hinauf, und er hatte das Gefühl, dass sich ihm sämtliche Körperhaare sträubten. Warum gerade diese Tussi?

"Wenn du so nett bist, krieg ich glatt wieder Lust, mich dir an den Hals zu werfen." Er schob sich ein blödes Lächeln in den Mundwinkel. Vielleicht konnte er so die Situation retten.

Sie hob eine Augenbraue, ehe sie Anstalten machte, aufzustehen. "Und tschüss."

Was. Moment. "Hah! Warte-- es ist nicht wegen deiner T... Brüste!"

... Darf ich vorstellen? Mr. Brain Besoffski. Mads' Hand prallte gegen seine Stirn. Als er zwischen seinen Fingern hindurch linste, erwischte er gerade noch den Ausläufer einer Mittelfingerfigur. "Wow! Danke! Das macht es sofort besser! Ekel."

Ah, fuck! Ah... ahahaha. Fuck. Das lief ja so furchtbar, dass es schon wieder lustig war. Unwillkürlich zog sich das blöde Lächeln in die Breite - auch wenn er sie hinter seiner Hand versteckte.

Er blinzelte ein paar Mal und sah sie abziehen. Shit!

"Hey! Sorry! Argh, warte bitte, das war... voll bescheuert..!"

Der Türrahmen blieb leer. Er starrte ihn trotzdem noch eine Weile an - in der Hoffnung, sie würde es sich vielleicht anders überlegen und umdrehen, und sich seiner Süßholz-Raspel-Seite aussetzen, damit sie kein Sterbenswörtchen darüber verlor, wie gnadenlos emo und kaputt sie ihn hier gerade aufgefunden hatte, und damit sie ihn möglicherweise ein bisschen anlächeln und ihm noch ein Glas Wasser bringen würde, und vielleicht könnten sie sich über irgendetwas Harmloses unterhalten, bis dieses saure Zittern nicht mehr durch seine Adern kursierte und das Kribbeln in seiner Nase aufhörte, und er meinte, den Heimweg antreten zu können, ohne zu Hause mit roten Augen und verschmiertem Gesicht anzukommen.

Er glotzte weiter. Verlor vielleicht ein bisschen das Zeitgefühl. Und kam sich mit dem irren Leuchten in seinem Kopf fast nicht mehr brutal verzweifelt vor. Seine Augen waren immer noch klebrig, und er hatte das Gefühl, Walnussschalen auf den Lidern zu haben. Du wirst noch sehen. So schnell entzieht sich mir keine. Du kommst noch zurück! ... Bitte?

Ha! Da bist du! Und--

Renard stand im Türrahmen und trommelte mit den Fingern darauf. Sein unruhiger Blick sondierte den Raum, und als er Mads sah, breitete sich ein blödes Grinsen auf seinem Gesicht aus.

Natürlich. Nicht mal sein großmütiges Eingeständnis, sich gerade eben benommen zu haben wie ein notgeiler Volltrottel, hatte sie beeindruckt.

"Mads. Ey, Mads. Was maaachst du hier?" Gratulation, du bist gerade mindestens genau so betrunken wie ich.

Abwesend schüttelte Mads den Kopf und stellte das leere Glas weg, das hilflos in seiner Hand gebaumelt hatte, um sich zum Kühlschrank zu drehen und an ihm in die Aufrechte zu ziehen. Seine Knie fühlten sich an wie glitschiges Naturkautschuk auf einem Spielplatz, das drohte, jeden Moment unter ihm weg zu rutschen. Aber er stand, und er blieb stehen, zumindest, wenn er sich am Kühlschrank fest hielt.

Er räusperte sich. Knatternd ging sein Motor an, und ein langer, zittriger Atemzug schüttelte ihm den erbärmlichen Rest seines Geheules aus den Knochen. "... Nichts. Alles klar."

Als Betroffener der Pubertät...

Die morgendliche Sonne knallte durch die ungeputzten Fenster, dass man ihre Strahlen hätte schneiden können. Die gelblichen Lamellenvorhänge links und rechts klemmten wahrscheinlich schon seit den Siebzigern, so dass sie ungenutzt in den Ecken des Raumes vor sich hin staubten. Dieser Klassenraum war einer der größten - an dem Kurs nahmen aus der gesamten Jahrgangsstufe an die vierzig Leute teil - und trotzdem war es stickig, als hätte sich hier drin drei Monate lang kein Stäubchen geregt.

Es war schon wieder Dienstag, und diesmal hatte sich Mads nicht zum Schwänzen durchringen können. Steve hatte mit wohlbemessen aufgetragener Apathie auf seinem Moped balanciert, in der knallenden Sonne auf dem Parkplatz, Ray Ban auf der Nase und Lederjacke auf dem Gepäckträger. Am Körper stattdessen ein viel zu gut geschnittenes weißes T-Shirt, als hielte er sich für John Travolta. Grinsend hatte er versucht, sich eine Kippe zu schnorren, und das war einfach zu viel gewesen nach einem Wochenende voller schlechter Ausreden, Ben & Jerry's und den ganzen anderen Klischees, die einander im fliegenden Wechsel abgeklatscht hatten. Mads war schlecht geworden, und er hatte seine Noten vorgeschoben, um in den Unterricht zu flüchten.

Etwas träge schob er sich auf seinen Platz. Beim strahlenden Anblick durch die speckigen Fensterscheiben entstand in ihm nur sehr eingeschränkte Vorfreude auf den folgenden Block; er fühlte sich etwa so ausgebrannt, wie es hier drin roch. Wahrscheinlich der Beamerlüfter, der seit der Produktion nicht mehr gereinigt worden war.

Erschöpft lehnte er sich vorwärts und stützte den Kopf in die Hände. Seine Gedanken stießen klickend aneinander wie Glasmurmeln. Ist wirklich schon Dienstag? Bin ich vielleicht einfach nur seit vier Tagen schwerst verkatert? Diese Shots müssen vom Pluto gewesen sein.

Er schüttelte sachte den Kopf und schob er die Zweifel beiseite, um stattdessen die Ohren zu spitzen. Wenn ihr auch nur irgendwas... Aber im Geflüster des Klassenraums fand er seinen Namen nicht - und auch nicht in den Gesprächen, die kaum zu überhören waren.

Und dann - er verbarg gerade ein Gähnen hinter seiner Handfläche - sank ihm der Magen trotzdem zwischen die Knie.

Im Türrahmen hing eine schwere Hornbrille und zog einen Menschen hinter sich her. Bei dem Anblick wich ihm sämtliches Blut aus dem Gesicht, aber er schaute auch nur eine Sekunde lang hin; dann tauchte er ab, um möglichst langsam irgendwelche Blöcke und Stifte aus seinem Rucksack zu manövrieren. Aus den Augenwinkeln sah er sie an sich vorbei ziehen und - so die Annahme - hinter ihm nieder sinken.

Unter der Tischplatte schoss ihm das Blut in den Kopf, und ihm wurde ein klein wenig schwindelig. Sollte er sie noch mal ansprechen? Bestimmt schaffte er es jetzt, sie um den Finger zu wickeln, so im nüchternen Zustand, aber es machte die Sache dann auch viel auffälliger, weil sie zuvor noch nie gequatscht hatten, und er kannte nicht einmal ihren Namen, er musste ihn vergessen haben - was, wenn er sie jetzt noch stärker anpisste und einer selbsterfüllenden Prophezeihung gleich überhaupt erst durch seine Interaktion verursachte, dass sie mit der Information hausieren ging? Sein Ruf an der Schule stand ohnehin schon auf wackeligen Stelzen - eine Hälfte, klar, waren sein provokantes Äußeres mit zerrissenen Hosen und Kippe im Mundwinkel, sein schneller Witz, seine Lust am Flirten, der Kram eben. Die andere Hälfte war erbarmungslos die Coolness von Steve, die beim ständigen gemeinsamen Rumhängen einfach auf ihn abgefärbt war. Und wenn das wegfiel - gewisse Personengruppen fanden ihn schon strange genug, wenn er mit gespielter Begeisterung auf ein traniges "Mir ist langweilig" einging, oder wenn er seinerseits darüber philosophierte, ob nicht in jedem Atom jeweils das ganze Universum stecken konnte, und dafür nur stumm verwirrte Blicke erntete. Wenn erst genug von ihnen morgens mit der Erkenntnis aufwachten, dass er gar nicht so cool war, wie sie gedacht hatten-- er hatte keine Lust darauf, dass irgendso ein Assi sein Verhalten persönlich nahm und die unsichtbare Grenze zwischen ihnen überschritt, um ihm eins auf die Fresse zu geben, weil er durch einen kleinen Ausrutscher sämtlichen Respekt verspielt hatte--

Er kniff die brennenden Augen zusammen. In der beschwichtigenden Dunkelheit seines freidrehenden Gehirns zwang er sich dazu, durchzuatmen.

Jetzt noch einmal ganz langsam, und zwar von vorne.

Sie ist auf der Party gewesen. Okay.

Inzwischen ist es Dienstag, und Gerüchte gibt es immer noch keine. Zumindest keine, die mir zu Ohren gekommen sind.

Vielleicht hat sie es geschluckt.

Vielleicht wartet sie auf den richtigen Zeitpunkt.

.... Vielleicht hat sie einfach keine Freunde.

Langsam zog er den Kopf wieder unterm Tisch hervor, einen Ringblock und einen Kugelschreiber in den Händen. Mit bedächtigen Bewegungen schob er sie auf den Tisch vor sich und hielt dabei den Kopf so still, wie er nur konnte.

Einfach nicht hinsehen. Dann löst sich das Problem von selbst.

Und bevor er es sich anders überlegen konnte, rauschte Frau Neubauer zur Tür hinein und begann mit einem abrupten Klatschen den Unterricht.
 

Der Block plätscherte im Frontalunterricht dahin. Erst auf seinem Höhepunkt füllte sich der Raum mit der Geräuschkulisse einer schriftlichen Aufgabe - das Geraschel von Arbeitsmaterialien und geflüsterte Gespräche. Es rauschte Mads zu einem Ohr hinein und zum anderen hinaus.

Sein Blick lag schon seit ein paar Minuten blank. Normalerweise hatte er kein Problem damit, in diesem Unterricht aufmerksam zu bleiben - Ablenkungen hatte er ganz gut unter Kontrolle, denn es lag ihm ziemlich, Texte auseinander zu nehmen. Besonders, wenn er den Platz fand, eine völlig absurde These zu formulieren und sich dafür auch noch Argumente zusammen zu schustern.

Aber heute schlug sein Herz zu schnell, zu laut gegen seinen Brustkorb. Wie im Zeitraffer spürte er alles gleichzeitig - Bissspuren auf seinen Lippen, raue Kekskrümel, das Nachbrennen von zu viel Alkohol. Nasse, salzige Spuren. Seine Konzentration war ein schaukelndes Blatt im Wind, das vor seinen Augen in Flammen aufging. Jetzt verfolgt mich die ganze Sache auch noch! Freitagabend sollte Ablenkung sein - mir mal eine Pause von diesem ganzen Liebesdrama ersaufen! - und stattdessen geht's mir jetzt schon wieder beschissen. Na danke auch. So langsam hab ich diesen Mist satt.

Sein Griff um den Stift wurde enger; als Frau Neubauer an seinem Tisch vorbei zog, schnaufte er leise und beugte sich vor. Linste über seine Armbeuge hinweg, während er sein Tag an den Rand des Papiers kritzelte, und kratzte es mit erratischen Strichen wieder weg. Fuck. Fuck! Er knirschte mit den Zähnen, seine Stirn wurde heiß. Das Gemurmel aus dem Hintergrund wurde lauter. Oh Mann. Ich brauch Kaffee. Oder 'nen Kopfschuss...

Eine klare Stimme durchbrach die Geräuschkulisse, und schlagartig herrschte Schweigen.

"Entschuldigen Sie, dass ich Brüste habe."

Der Fokus der Klasse schoss durch den Raum und kam auf dem Mädchen hinter ihm zum Erliegen.

Frau Neubauer beugte sich weiter vor. "Darum geht es nicht", murmelte sie. "Ihre Kleidung ist unangemessen. Ablenkend." Sie gab sich hörbar Mühe, leise zu bleiben. Aber in der plötzliche Stille verstand man jedes einzelne Wort. Und jedes einzelne von ihnen kratzte durch Mads' aufmerksame Gehörgänge.

Langsam richtete er sich auf. Mechanisch. Als ob ein Ventil plötzlich nachgegeben hatte und Luft zischend in seine Wirbelsäule schoss, bis sie sich spannte wie ein Luftballon. In seinem Kopf tickerte es. Was war das? Ablenkend? Sein Kehlkopf hüpfte gegen seinen Herzschlag an. Er atmete durch, legte den Arm beherrscht über seine Stuhllehne und schaute das Mädchen einen wohl bemessenen Moment lang an.

Sie trug ein schwarzes Oberteil mit dünnen Trägern, was zugegeben kein Geheimnis daraus machte, dass sie gut ausgestattet war. Viel mehr als das Vorhandensein ihrer Titten lenkte ihn jedoch die silberne Kette ab, die eng um ihren Hals lag. Ich würde ja gerne meine pubertäre Geilheitsrage als Entschuldigung für meine magere Anteilnahme am Unterricht benutzen... Aber erst muss ich wissen, ob das da ein Dinosaurier ist.

Das Mädchen durchbrach die Stille. Ihr Augenkontakt mit Frau Neubauer war fest, ihre Miene eine steinerne Skulptur aus Contenance, aber in ihrer Stimme vibrierte etwas. "Ich sehe nicht, inwieweit es unangemessen ist, sich bei diesem-- warmen Wetter ausreichend ventiliert zu halten." Ihre Fingernägel ritzten klickend über die Maserung der Tischplatte, als sich ihre Hände langsam zu Fäusten ballten.

Es blieb still. Nur Starren, von links, von rechts. Ihr Blick brannte. Ihre Nüstern weiteten sich. Unter der Haut ihrer Schultern bewegten sich millimeterweise Muskeln und Knochen. Vor der ganzen Klasse bloßgestellt, allein der Gedanke trieb ihm rostige Nägel bis auf die Knochen - obwohl das Mädchen doch eine blöde Kuh war. Sein sollte. Mads biss die Zähne zusammen; sein Blick wanderte zu der Lehrerin hinauf und wurde unscharf. In seiner Brust wuchs die Spannung. Die Muskeln eines Bullen, der wütend und richtungslos davon hetzte. Was soll das, warum gibt es jetzt um ein harmloses Oberteil so 'ne Diskussion?! Und zwischen den Flüchen, die in seinem Gehirn hochblubberten, kramte sein Hinterkopf im hochwohlgeborenen Register, probierte in Hochgeschwindigkeit imaginär Antwortmöglichkeiten aus. Der Rest der Klasse sagte auch nichts, aber der Rest der Klasse sagte auch nichts, und die Wut, diese zähneknirschende Wut, die seine zwei Zentimeter Rückgrat aufblies und sein Kreuz durchstreckte.

Er räusperte sich. Der Fokus riss sich von ihr los, schwankte im Raum. Betont abfällig wanderte sein Blick an der Lehrerin hinauf. Dann hob er pointiert seine Augenbrauen.

"Als Betroffener der Pubertät will ich hinzusetzen", er betonte jedes Wort mit einer bedächtigen Geschäftsmäßigkeit, "dass ich hier keinen ablenkenden Tatbestand feststellen kann."

"Halten Sie sich da bitte raus", antwortete Frau Neubauer lakonisch. "Das hat nichts mit Ihnen zu tun."

In der Klasse brach erratisches Gemurmel los.

Mads' Lippen wurden schmal. Was für eine Laus ist Ihnen heute über die Leber gelaufen? Schlecht gefickt oder was? Durchgedrehte Schlampe.

Die Worte klangen hohl in Mads' Kopf. Er presste Frau Neubauer hinein wie Fisch in Konserven; die Frau, deren Stimme sich vor Aufregung über einen Fontane-Text fast überschlug, die mit ein paar Stichworten neben jeden der Anwesenden eine Lene Nimptsch setzen konnte und mit Schülern ironische Fistbumps austauschte. Aber gerade konnte sie ihn gepflegt am Arsch lecken, und das stützte ihm unermüdlich den Rücken, sonst würde dieser einfach zusammenklappen.

Er leckte sich kurz über die Lippen. "Warum fangen Sie sie dann mitten im Unterricht damit an?"

Ich dachte ja insgeheim immer, Sie seien so ein bisschen cool. Aber das hat sich wohl erledigt.

Müde verdrehte Frau Neubauer ihre Augen. "Ich muss leider die Schulordnung vertreten. Das ist mein Job."

Das Mädchen lehnte sich zurück und mahlte mit dem Kiefer. "Also haben Sie ihre Seele an irgendso ein hirnrissiges Papier verkauft."

Das Gemurmel wurde lauter - zielsicher schälte Mads' Gehör Melas vorwurfsvolle Kadenzen aus dem restlichen Stimmgewirr - aber zu einem klaren Wort meldete sich niemand. "Respeeekt", murmelte er schließlich selbst und gab sich dabei keinerlei Mühe, leise zu sein.

"... Vergreifen Sie sich nicht im Ton. Ich will hier keine Diskussion. Sie kommen später ins Büro des Rektors", sie klopfte mit zwei Fingern auf den Tisch des Mädchens.

Mads schnaubte. Zwischen seinen Rippen kochte es; er artikulierte jedes Wort mit sarkastischer Klarheit. "Ich wiederhole..."

"Keine Diskussion."

"... Wenn sie..."

"Noch ein Wort und ich setze Sie vor die Tür."

"... keine Diskussion wollten..."

"Gehen Sie bitte raus."

Mads zog eine Grimasse und spuckte dänische Flüche in den Raum, packte seine Tasche und schob mit einer weitschweifigen, genervten Geste den ganzen Kram von seinem Tisch klappernd und raschelnd hinein. Fick dich doch! Er sprang auf, schwang sie sich auf die Schulter, stolzierte murmelnd an seinem Platz vorbei und knallte die Tür hinter sich zu.

Was für eine bekloppte Ziege. Wer glaubt sie, wer sie ist?! Fluchend trat er gegen das Geländer; das hohe, schmerzhafte Vibrieren trug durch das ganze Treppenhaus. Und der Rest von diesem ganzen Pack sitzt einfach dabei und guckt zu! Hauptsache, es erwischt sie selber nicht. Und wenn du was sagst, gaffen sie dich an, als wärst du vom Mond.

Seine Flüche hallten durch den Gang. Er brauchte nicht einmal still zu stehen, um seinen Herzschlag zu spüren, und raufte sich grob die Haare; hinter seinen Augen pochte es, und sein Blick saugte sich lange an dem hellen Licht fest, das durch die Fenster brach.

Für Sekundenbruchteile hatte er einen lebendigen Tagtraum davon, im Schatten eines Baumes zu hocken.

Natürlich konnte er jetzt einfach gehen. Auf den Parkplatz, auf eine Bank, auf Steves blödes, tolles Moped. Wahrscheinlich hätte er von Anfang an auf Steve hören und schwänzen sollen. Wenn der wenigstens diesen Kurs belegt hätte, wenn er da gewesen wäre...

Wem wolte er hier etwas vormachen? Wäre Steve da gewesen, hätte er selbst wahrscheinlich auch nichts gesagt. Sondern nur da gesessen und gegafft.

Schnaufend schleppte er sich zur Wand. Die Fenster auf dem Flur lagen hoch genug, dass er im Stehen seine gefalteten Arme auf das Fensterbrett legen und seinen Kopf auf sie stützten konnte. Hinter dem Glas hing still das grüne Laubwerk der Robinie auf dem Hof und warf darauf schaukelnde, scharf umrissene Schatten. Sein starrer Blick fraß sich an ihnen fest.

Ich weiß doch auch nicht, was ich hier tue.

Langsam löste sich die Spannung in seinen Gliedern. Sein Herz hörte damit auf, rhythmisch gegen seine Augäpfel zu krachen. Er hörte das Rascheln von draußen und das dünne Summen von Schulbetrieb, und dazwischen seinen Atem, wie er unscheinbar und lakonisch durch seinen Kopf pendelte. Sein Gewicht wanderte von einem Fuß auf den anderen.

Ich will doch nur, dass es aufhört.

Durch die Schatten des Baumes warf er noch einen langen Blick auf den Hof hinunter, ehe er sich über die Stirn rieb und von der Welt da draußen abwandte.

... Ich warte doch lieber oben.
 

In den langen Minuten bis zur Pause hatte sich Mads an den Sonnenstrahlen, die sich durch die schmutzige Scheibe pressten, den Rücken gewärmt. Er lehnte immer noch am Fensterbrett, und selbst als es klingelte, machte er wenig Anstalten, sich vom Fleck zu bewegen. Stattdessen schob er seine Hände in die Taschen und schaute er zu, wie sich kurz darauf die Tür des Kursraum öffnete und die erste Menschentraube schnatternd hinaus schwappte. Die Hinterköpfe segelten an ihm vorbei wie an einem Karussell.

Der ganze Kurs hatte seine Provokation beobachtet. Und damit hatte er das Mädchen und ihren Ausschnitt verteidigt, logischer Weise. Wenn man ihn jetzt mit ihr sprechen sah, hatte er auch nichts mehr zu verlieren -- ganz im Gegensatz zu dem Gnadenstoß, den sie ihm mit dieser Geschichte vom Freitag versetzen konnte.

Nicht, dass es dazu kommen würde.

Schließlich wartete er auf sie.

Der Türrahmen erbrach das nächste Grüppchen, und Melas blondes, hochtoupiertes Haar zog wippend an ihm vorbei. Sie schaute ihn nur kurz an, mit zur Brust gezogenem Kinn und schiefem Lächeln-- was guckst du so blöd?! Entrüstet zog Mads die Oberlippe hoch und zeigte mit einer provokativen Grimasse seine Zahnreihe; aber ihre Aufmerksamkeit war längst woanders.

Er kreuzte die Arme vor der Brust und versuchte, nicht besonders beeindruckt auszusehen, aber in seinem Hinterkopf schlug das Stimmchen Alarm. Wenn sich jetzt sogar diese Kuh sich traut, mich dumm anzumachen...

Nicht reinsteigern. Er biss die Zähne zusammen und lauschte seinem nächsten Atemzug. Das ist halt Mela. Die hat eine große Klappe. Die soll ruhig aufpassen, dass sie nicht mehr abbeißt, als sie kauen kann..!!

Die nächste Schülerwoge rauschte an ihm vorbei. Hintendrein schlurfte das Mädchen mit der Hornbrille. Die Schultern hochgezogen, und im Alleingang. Mit nichts anderem hatte er gerechnet.

Mads stieß sich vom Fensterbrett ab und machte zwei Schritte auf sie zu.

"Hey."

So ganz abgekanzelt war er bei ihr offenbar nicht mehr. Sie schob sich aus dem Einzugsbereich der Tür, blieb dann stehen und starrte ihn gleichmütig an. Oder vielleicht waren es auch nur ihre hellen Augen, die ihrem Blick eine kühle Distanz gaben.

"Respekt", sagte Mads noch einmal und gab ihr ein Thumbs Up. "Hast es ihr ordentlich gegeben."

In ihrer reservierten Miene passierte nicht viel, und gleichzeitig rotierten dort mindestens hundertzwanzig winzige Zahnräder. Ein dünnes Lächeln schlich sich in ihre Mundwinkel. "Ich schätze, deine... Kommunikation war auch ein bisschen weniger bescheuert als erwartet."

Mads teilte seine Lippen und offenbarte Zähne, als ob sie ihm gerade das schönste Kompliment gemacht hätte. "Die Restlichen in dem Kurs hätten das nicht hingekriegt. Aber du bist irgendwie nicht wie die anderen Mädels." Meistens zog das - wer hörte denn nicht gerne, etwas Besonderes zu sein? Er fuhr fort, bevor defensive Skepsis ihr Gesicht umwolken konnte. "Hör mal, wir haben... am Freitag voll auf dem falschen Fuß miteinander angefangen. Also... ich bin dir eigentlich voll auf deine rauf getreten."

Sie blieb still. Aber in ihrem Gesicht flackerte ein kurzes Grinsen auf.

"Können wir noch mal anfangen? Etwas zivilisierter vielleicht? So im Stil von, Hi, mein Name ist Mads, ich mag deine Brille..."

Sie machte keine Anstalten, näher zu kommen; stattdessen hielt sie sich am Treppengeländer fest und lehnte sich mit der Hüfte daran. Kurz fragte sich Mads, ob sie diesmal eine Strumpfhose trug, aber bemühte sich, ihr ins Gesicht zu sehen. Denn sie sah ihn an. Und legte den Kopf schief. "Dein Name ist wirklich Mess?"

"Mads. M-A-D-S."

"Mmmats?"

"Mads. Wie", er verdrehte die Augen leicht, "Mess, messy, Unordnung halt. Der Name kommt aus Dänemark, genau wie meine Eltern, und ganz dicht waren die auch nicht."

"... Wem sagst du das", murrte sie und schielte zur Seite. "Wahrscheinlich hat es dich nie interessiert, aber meine haben dieses Mädchen hier Thorine genannt."

"Thorinn?" Etwas hilflos zuckte Mads mit den Schultern. "... Den check ich nicht."

"Thorine. So wie der Donnergott. Nur für Mädels."

Mads' Augen weiteten sich. "... Woah. Ist doch geil!!"

"Nicht für mich", antwortete sie trocken.

Und dann musste er wieder grinsen. "Ich denke, ich weiß, was du meinst."

Der Gang, auf dem sie standen, hatte sich in atemberaubender Geschwindigkeit geleert, und als es zwischen ihnen still wurde, brandete der Lärm vom Innenhof der Schule durch die Fenster und Ritzen. Mads verfolgte aufmerksam, wie sich in einer zögernden Miene ihre Lippen knautschten. Dunkel. Wahrscheinlich geschminkt. Groß.

"Ich sollte...", begann sie leise; dann knallte die Klassentür zu. Frau Neubauer stand davor und schloss mit klimperndem Schlüssel ab. Kaum hatte sie den Schlüssel abgezogen, wandte sie sich um und fasste Mads und Thorine mit verstimmter Miene ins Auge.

"Sie kommen mit", sagte sie zu Thorine. Sie klang etwas erschöpft. "Und Sie sind mir gerade noch mal davon gekommen." Ihr Finger wedelte vage in Mads' Richtung, ehe sie vorlegte und die Treppe aufwärts stelzte.

Ergeben rollte Thorine mit den Augen und schlurfte hinterher. Die schweren Sohlen ihrer Boots pochten dumpf gegen die Stufen; ganz anders als das spitze Klackern von Frau Neubauers Absätzen.

"Gib's ihnen!", zischte Mads ihr nach.

Er hörte ein Kichern. Aber vielleicht kam es auch von draußen.
 

Wenig später drückte Mads sich durch den Hintereingang des Gebäudes und blinzelte kurzsichtig gegen das Licht an, das ihm ins Gesicht prallte. Er brauchte einen Moment, um seine Augen schmerzlos wieder aufzubekommen, und sah zunächst die versprengten Grüppchen einer großen Pause. Sein Blick arbeitete die verfransten Ränder ab, bis er Steve und - zum Glück - Renard neben der Fassade an dem vergitterten Zaun, der den Schulhof von der vorstädtischen Wildnis trennte, hängen sah. Steve rauchte, obwohl er das an dieser Stelle definitiv nicht sollte, und ihre Blicke trafen sich.

Mads zog die Augenbrauen hoch und gesellte sich dazu. Von wem hast du dir die Kippe geschnorrt?

Steve ignorierte ihn pointiert.

Nach einer langen Pause murmelte er schließlich: "Beweg deinen Arsch." Dabei sah er ihn trotzdem nicht an, sondern fand das Gebüsch, das sich durch die Maschen des Zaunes presste, unheimlich interessant. "Was brauchst du überhaupt so lange. Du weißt doch, dass du dich nicht immer an die Neubauer ranschmeißen sollst."

In Mads' Gesicht zuckte etwas. Er wartete darauf, dass die anderen zwei sich schlendernd in Bewegung setzten, ehe er sich ihnen anschloss. "Sorry, irgendwo müssen die guten Noten ja herkommen. Und die Frau steht einfach so hart auf mich..." Den Rest deutete er mit einem Schlag auf seine Arschbacke an.

Steve hustete etwas, und ein kratziges Lachen schälte sich heraus. "Wenn dir von diesen ganzen alten Schabracken der Schwanz abfällt - ich hab's dir ja immer gesagt..."

"Ich kotz gleich", maulte Renard mitten rein.

"Neidisch?" Mads grinste.

"Ach, fick dich."

"Brauch ich nicht." Zielsicher zeigte Mads auf seinen Schritt. "Es reißen sich genug Mädels darum, auf diesem Schwanz zu reiten."

Renard sagte nichts, sondern spuckte mit einem affektierten Geräusch auf die Pflasterung. Oh Mann... Nicht auch noch du. Eine Zicke reichte mir heute vollkommen.

Seufzend schob Mads sich die Brille hoch. "Ich dachte, du wolltest die Kleine mit dem Schal klar machen--" Und biss sich im nächsten Moment auf die Lippen. Verflucht. Diesen Abend hatte er die nächsten zwei Jahre eigentlich nicht mehr erwähnen wollen.

Aber Renard zuckte nur mit den Schultern und starrte mit gebrochenem Stolz auf ein paar Kiesel hinunter.

"Das ist in die Hose gegangen. Allerdings nicht in seine", erklärte Steve, während Renard stumm nach den Kieseln trat. "Komplett überraschend."

"'Nicht ihr Typ', hat sie gesagt...", brummte Renard und schob die Hände in die Taschen seines Hoodies. Mads biss sich immer noch auf die Lippen, aber diesmal, um nicht laut loszuprusten.

"... Und dabei hat sie wahrscheinlich ein bisschen tragisch geguckt", dozierte Steve mit weitschweifigen Handgesten, ihnen einen halben Schritt voraus, "und als es ihr zu awkward wurde, hat sie sich bestimmt einfach weggedreht und so getan, als würde sie mit ihren Freundinnen weiter quatschen. Während du an der Abfuhr, die sie dir den Rachen runter gerammt hat, erstickst. Oder so."

"Mhm..."

"Und ich hab dir schon letzte Woche gesagt, dass du für so ein Mädchen eine viel indirektere Tour brauchst. Wenn überhaupt. Du musst endlich lernen", er fasste Renard entschlossen ins Auge, "deinen Meister zu respektieren."

"Oho", machte Mads leise. "Steve plaudert aus dem Nähkästchen. Dass ich das noch erleben darf."

"Was?! Ich bin ja wohl der Mister Miyagi des Mädchendramas!", erwiderte Steve und setzte mit einer schüttelnden Handbewegung hinzu: "Auftragen, wichsen."

"Polieren", korrigierte Renard trocken.

Mads zuckte mit den Schultern. "Wichsen war früher ein anderes Wort für Polieren." Und erntete einen sanften Faustschlag von Steve gegen seine Schulter.

"Danke, Klugscheißer."

In Mads' Brust kitzelte es, als hätte er eine Pusteblume eingeatmet. Er wurde still und grinste etwas.

"Aber so wird das sowieso nichts." Vor dem Tor zur Straße blieben sie stehen und Steve blickte kurz daran hoch, ehe er sich mit einer präsentierenden Geste zu ihnen drehte. "Du bist schon über die Grenze. Verknallt sein ist da einfach scheiße." Woher weißt du das eigentlich so genau, Steve? "Und das--"

"-- hast du auch immer gesagt. Schreib doch gleich eine Bibel."

Rieche ich da unrühmliche Flecken in deiner coolen Vergangenheit?

"Cool. Die Steve-Bibel. Dafür könnte ich glatt religiös werden." Steve grinste effektvoll und holte einen kleinen Gefrierbeutel aus der Innenseite seiner Jacke, in den vorsichtig ein kleiner Keksengel eingepackt war. Nicht mal einer der Flügel war abgebrochen, als er ihn aus dem Tütchen zog und kurz darauf diese Errungenschaft zerstörte, indem er den Engel mit einem präzisen Ruck an seiner Taille teilte. Den Kopf schob er sich zwischen die Zähne, das Röckchen hielt er mit fragend hochgezogenen Augenbrauen Mads unter die Nase.

Die Fragen in seinem Kopf stoben auseinander. Seine Zahnreihe blitzte auf. "Sweet." So nonchalant wie möglich nahm er den halben Keks entgegen und schob ihn sich zwischen die Kiemen.

Renard hatte dieser Aktion mit milder Entrüstung zugesehen; jetzt, da seine zwei Kollegen am Knuspern waren, plusterte er sich entschieden auf. "Und was ist mit mir? Habt ihr den armen Franzosen vergessen?!"

"Back deine eigenen Cookies." Ein Krümel flog aus Steves Mundwinkel zu Boden.

"Ihr seid so miese Wichser... Barmherzigkeit kann man bei euch ja echt knicken! Habt nicht mal Lachkekse für mich, während ich an gebrochenem Herzen dahinsieche... Ich hielt euch ja für meine Freunde, aber ihr habt ja nicht mal Mitleid mit mir..!"

"Ach." Mads schluckte den letzten Engelsfuß und klopfte sich dann die Hände ab. "Wir kennen dich einfach. Wir sind so arme, kaputte Seelen - aber du? Du brauchst das nicht." Er klopfte Renard gönnerhaft auf die Schulter. "Du wirst schon wieder."

Narben machen sexy

Es war auf unausgesprochene Art und Weise schon ein bisschen peinlich, am Stadtrand zu wohnen. Zumindest, wenn man ins Zentrum fuhr und dort von grinsenden Baristas und Türstehern mit falschem Ausweis in den Händen als Dorfpomeranze tituliert wurde - ein Trip in die Stadt war oft eine nicht unerhebliche Maßnahme, in ihrem Vorort nicht an Langeweile zu krepieren.

Andererseits - wenn man es mal mit ungewohntem Optimismus betrachten wollte - konnte man am Stadtrand seine Zeit auch recht effektiv totschlagen.

Hier draußen gab es wenigstens genug Gebäude, die still gelegt worden waren und für die sich anschließend niemand mehr groß interessierte. Außer ihnen, natürlich - was gab es denn bitte für einen cooleren Ort zum Abhängen als ein total obskures Versteck, das voll von gelben Schildern und dazu noch mindestens einsturzgefährdet war? Mads war schon an ziemlich vielen Orten mit Gefahrenschildern herumgeklettert und seine Antwort war Fakt: Wirklich, wirklich weniges.

Außerdem stresste dort keiner - außer dem Wachdienst, da hieß es abdampfen, bevor die Bullen wieder Stress machten - und wenn einem doch langweilig war, konnte man die Wände mit Eddings und Farbe voll schmieren. Mads hatte in einem besonderen Anfall von Tatendrang zwei Mal zwei Meter an der Ostseite des kleinen Güterbahnhofs in dichter, ordentlicher Schrift mit wütenden YouTube-Zitaten zugekleistert. Steve hatte meistens daneben gesessen und es einfach nicht gerafft, bis Mads ihm irgendwann einen Silberedding in die Hand gedrückt hatte. Schließlich hatte Steve sich dazu entschlossen, die Fäkalausdrücke schimmernd nachzuzeichnen und mit ironischen Sparkles zu versehen, wahrscheinlich mangels einer sinnvolleren Idee zum Zeitvertreib. Am Güterbahnhof bekam er auf seinem Smartphone nicht mal 3G rein.

Inzwischen tauchten - natürlich - ab und zu Fotos von ihrer coolen Wand auf irgendwelchen Blogs da auf. Aber weil sie keine Lust auf irgendwelche Tourispacken hatten, gingen sie jetzt woanders hin.
 

An diesem Mittwoch Nachmittag trödelten sie zu dritt die spärliche Einkaufsmeile entlang, die sich fast schon stylish in den Überresten von Manufakturen und Lagerhallen eingenistet hatte, und - nachdem sie sich hinreichend mit Vorräten eingedeckt hatten - zogen noch ein bisschen weiter, wo der Bürgersteig allmählich wieder an Bröckeligkeit gewann. Renard knabberte an einem Bagel und schwärmte von irgendwelchen Klamottenläden in der Stadt, Mads hatte eine Dose Cola ergattert, er hörte nicht wirklich zu, und Steve hing an einem Weiße-Schokolade-Macadamia-Frappé. Oder irgendetwas ähnlichem, was arbiträr komplex und ein kleines bisschen albern klang. Aber Steve hatte eben Bock darauf gehabt, und hätte er stattdessen eine pelzige Mütze mit Katzenohren auf seinem Kopf spazieren getragen, hätte er das wahrscheinlich mit genau der gleichen, völlig selbstverständlichen Einstellung getan.

Mads schüttete sich ein bisschen mehr Cola in den Rachen und starrte geradeaus. Schon seit gestern hielt sich die seltsame Ruhe in seiner Brust mit zitternder Nervosität in der Schwebe. Es sah ganz danach aus, als würde der Freitag mit all seinen Gerüchten einfach ungehört versickern, und gerade deshalb wartete er auf das Gelächter, das in seine Magengrube prügelte, und gleichzeitig trieb gerade deshalb die alltägliche Normalität willkommen durch die Adern. Sie hatten sich verfrüht von der Schule abgesetzt und hingen seitdem zu dritt herum, streiften durch die Gegend, quatschten über sinnloses Zeug. So wie das eigentlich immer war.

Er warf einen prüfenden, klebrigen Blick auf Steve, ehe er wieder auf die Straße starrte, und lauschte auf das leise Kitzeln in seiner Brust.

Ich glaube wirklich, ich bin fast über dich hinweg.
 

An der nächsten Kreuzung bogen sie ab, und danach reduzierte sich die Gebäudedichte merklich. Baustellen versperrten ihnen die Sicht - irgendwelche findigen Investoren, die alte Hang-Out-Plätze gekauft und einfach platt gemacht hatten - aber das große Grundstück am Ende der Straße war noch unberührt.

Aufgebrochener Asphalt führte über eine desolate Grünfläche zu einem kaum benutzten Parkhaus, das allmählich überwuchert wurde. Es hatte nur drei Ebenen und die oberste war nur halb überdacht; schwere Betonsäulen mit tiefen Rillen und erstem Pflanzenbewuchs hielten die Stockwerke aufrecht.

Statt Wänden oder einer soliden Brüstung waren die Ebenen nur von rostigen, knapp höheren Gittern abgegrenzt. Knapp höher als Mads jedenfalls. Mit einer abgeflachten Oberkante.

Der Gedanke kam schnell. Sein Herz klopfte. Er ließ seine Dose fallen und nahm zwei Schritte Anlauf über verhärtete Schlammspuren, stieß sich ab und flog durch die Luft; seine Handflächen schrammten über das kratzige Metall der Kante und es klirrte unter seinen Füßen. Mit einem wohlgezielten Tritt katapultierte er sich aufwärts und griff nach; zog sich aufwärts, bis seine Fußspitze auf den Zaun rutschte.

Hinter sich hörte er Renard aufgeregt japsen. "Ooh, warte! Ich brauche meine Kamera!"

Vornüber gebeugt schob er die Fingerspitzen über den Zaun, bis er den Pfeiler rechts von sich zum Greifen bekam und sich an ihm ein Stück hoch zog. Haha, scheiß auf die Schwerkraft! Sein Herzschlag pochte fest durch seine Fingerspitzen, und gleichzeitig fühlte es sich an, als hätte sich sein Herz selbst in ein wohliges Leuchten aufgelöst.

Das Metall zitterte unter seinen Füßen, als er sich grinsend zu den anderen beiden umdrehte.

"Motherfucker Mads climbs again!", verkündete er stolz in Renards Kameralinse und schlug sich mit der freien Hand auf die Brust.

Steve war in einiger Entfernung stehen geblieben, der Mund dünn wie ein Strich. Was ist? Neidisch? Why so serious? Komm schon, wie schaffst du das nur? Ich mach mich hier zum Affen. Zum Äffchen.

Mads drehte sich zurück und streckte die Arme aufwärts im Versuch, die Kante des nächsten Stockwerks zu erfühlen - zwecklos, die lagen so verdammt hoch in diesem Parkhaus - und vergaß es prompt, da er ein paar grandiose Rohre unter der Decke entdeckte. Wenn er ein bisschen höher kam, war es höchstens noch ein Sprung von einem Meter. Einundhalb. In seiner Brust flatterte ein hektischer kleiner Spatz; er kletterte an den Rillen der Säule hoch, noch ein Meter, die kalten Poren des Betons juckten unter seinen Fingern; er schob sich ins Innere des Parkhauses, der Decke entgegen, lehnte sich vorwärts und stieß sich mit dem Fuß vom Beton ab. Sein Hechtsprung war wie Zeitlupe, und gleichzeitig viel zu schnell; kaum spürten seine Hände mehr als einen Luftzug, verkrallten sie sich in der kalten Installation und in seinen Armen spannte sich alles an und seine Füße baumelten drei Meter über dem Boden, als er kurz runtersah. Er schwang ein bisschen hin und her und ordnete seine Hände mühsam neu an, um zu den beiden anderen zu schauen.

"Na los! Mach 'n Foto für Facebook!", herrschte er Renard atemlos an und lachte dabei allumfassend.

"Klar doch! Mit oder ohne Happy Trail?"

Erneut warf er einen Blick abwärts - sein Shirt hing hauptsächlich zwischen seinen Schultern, und jetzt, wo er es wusste, spürte er um seinen Bauchnabel herum eine gewisse Brise. "Bist du blöd?", rief er. "Nix Happy Trail! Nix zu sehen, ist alles blond!"

"Kann ich ja reinshoppen." Hinter dem Zaun senkte Renard die Kamera und schaute dann kurz zur Einfahrt rüber. "Warte mal, ich brauch 'ne andere Perspektive. Bleib so!"

Er stürmte ins Parkhaus, die Linse im Anschlag - und hintendrein Steve, der widerstrebend nach oben blinzelte und dabei ein Gesicht zog, als kaute er sich insgeheim auf der Unterlippe herum.

"Soll ich mich mal hochziehen oder 'nen Kick machen oder so?" Mads wartete nicht wirklich auf eine Antwort, sondern fing an, gnadenlos poserig an dem Rohr herumzuhampeln - es geschah nur selten, dass er so viel Platz für seine Beine bekam. Das muss man ausnutzen!!

Und das warme, scharfe Prickeln in seinen Armen konnte er einfach weglachen; aber nicht das Knacken über sich, und nicht den lauwarmen Gedanke, sich nicht überlegt zu haben, wie er wieder runterkommen sollte; und erst recht nicht die eiskalte Realisation, dass er nicht mehr darüber nachzudenken brauchte-- über ihm knirschte es kurz und nicht besonders audiogen, er sackte ein kleines Stück tiefer; dann machte es ein splitterndes, bröckelndes Geräusch und ein Stück Rohr segelte in seinen Händen dem Boden entgegen-- und er segelte gnadenlos mit.

Der Aufprall kam plötzlich und mit einer dumpfen Explosion von Schmerzen, war aber auch erstaunlich still, bis auf ein müdes, unwirkliches Stöhnen, das klang wie von außen. Einen Moment lang sah er Sterne, und in seinen Atemwegen stachen tausend Nadeln; dann blinzelte er langsam und fand sich auf der Fresse, atemlos, mit einem schmerzenden Bein. Unter seinen Handflächen rauer, aufgerissener Beton. Er hustete kurz und schnaufte; auch das tat ein bisschen weh, und gleichzeitig war es wie ein frischer Luftzug, der durch seine Muskeln wehte. Seine Mundwinkel zuckten.

Er war gefallen. Aber eigentlich konnte er fliegen.

Behutsam setzte er sich auf und tastete sich über das Gesicht; seine Hände pieksten wie Säure und waren feucht und hinterließen glitschige Spuren. Er holte sie in seinen Schoß und starrte hinunter auf glänzendes Rot.

Ein schräges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sie langsam Renard entgegen streckte. "Foto", verlangte er. Und kassierte prompt einen Tritt in die Rippen.

"Pass doch auf!", fluchte Steve.

"Keine Sorge..." Auch ohne sich auf seine Hände zu stützen, fand Mads wieder auf die Beine und tätschelte sich mit spitzen Fingern die Wangen. "Ich verarbeite meine Visage schon nicht zu Hackfleisch. Du sollst dich ja noch mit mir blicken lassen! Außerdem, Narben machen sexy." Er legte den Kopf in den Nacken und glotzte ausführlich zur Decke, wo inmitten der Takelage aus Rohren ein Loch aus fehlendem Putz klaffte. Dann schaute er an sich herunter - ach fuck, natürlich hatte er sich bei dieser Aktion schöne, tiefdunkle Flecken auf seiner roten Hose geholt. Das war immer so ein bisschen das Problem am Rumklettern.

"Genug von dem Scheiß", murmelte Steve und wanderte an Renards kontinuierliches Klickern vorbei tiefer in das marode Parkhaus.

Neben der Auffahrt auf die nächste Ebene ruhte das schwarze Skelett eines ausgebrannten Autos. Auf dem Boden drumherum hatten sich die Überbleibsel eines rußigen Heiligenscheins abgesetzt; und wie in einem Akt moderner Kunst hatten sich drumherum neonviolette Papiere gesammelt, als wäre auf den Überresten der Motorhaube ein Ball aus Pappmaché explodiert und als buntes Schrapnell auseinander gestoben.

Mads sprang hinüber und bückte sich nach einem der Überbleibsel. "Was'n das?" Er betrachtete das Blatt näher und schloss derweil mit Steve auf. Ein Flyer - abgefasst in gestempelten Buchstaben, die senkrecht über das ganze Blatt verteilt waren, aber Datum und Uhrzeit in der Kopfzeile logen nicht - wahrscheinlich wirklich irgendso ein grandios behämmertes Kunstprojekt! Strahlend hielt er den Wisch in Steves Einzugsbereich.

"Sieht bescheuert aus." Gelangweilt rümpfte er die Nase.

"Langweiler." Mads streckte ihm die Zunge heraus.
 

Den Rest des Parkhauses erklommen sie auf konventionelle Art und Weise - sie stiegen die kreiselnde Rampe hoch, bis sie die oberste Ebene vor sich hatten und sich jeder ein Plätzchen suchte, das gerade noch so im Schatten der Überdachung lag. Es war still, aber nicht unangenehm - alle waren da, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Ein lauer Wind wehte vorbei und trug einen vagen Geruch von Döner und Backwaren heran. Mads spürte seinen Magen knurren, und er glotzte durch das Gitter vor sich vom Parkhaus herunter, um auf der Straße weiter vorne irgendeinen Futterladen ausfindig zu machen. Aus seinen Augenwinkeln sah er Renard, wie er sehr still stand und in eine andere Himmelsrichtung schaute, als ob er auf etwas wartete. Hinter ihnen kratzten Steves Schuhe in rhythmischen Schritten über den Beton.

Mads rollte den rauen Zettel zwischen seinen Fingern zu einem Röhrchen und schob ihn durch die Spalten im Gitter. Der Wisch war die schreiendste Form von Violett, die noch kein Pink war, und so ein bisschen wunderte er sich schon, wer dafür verantwortlich war.

Er zupfte den Zettel wieder aus dem Spalt, drehte sich um und lehnte sich an den Zaun. Langsam faltete er den Zettel noch einmal auseinander. Er brauchte einen Moment lang, um den Titel auszumachen - er war in fetten Lettern über das halbe Blatt verteilt - aber das ist Kunst! Das braucht kein gutes Design.

NArt Festival, was?

... Das klingt schon irgendwie bescheuert.

In seinem Mundwinkel zuckte ein Lächeln, als er den Zettel wieder zusammen faltete.

"Da drüben", sagte Renard unvermittelt und ziemlich unwirsch. "Man sieht schon den Bauzaun."

Mads versuchte, seinem Blick zu folgen, aber sah außer versprengten Stadtresten nicht viel. "Da drüben was?"

"Das Conradihaus!"

"Das... Kaufhaus?" Das nicht mal besonders interessant war, aber Mads hütete sich, das zu erwähnen. Steve hing da gerne rum, um sich dort durch Jacken, Sonnenbrillen und Videospielen zu wühlen und von den Rolltreppen hinunter in den verspiegelten Innenteil des Gebäudes zu glotzen; auch wenn er seine Neigung weiterhin hingebungsvoll mit Widerwillen maskierte. Stumm zählte Mads die Treppenfahrten ihrer letzten Tour. "Fünf Stockwerke, wenn ich mich richtig entsinne. Und?"

Renard schnaufte leise. "Für einen Klugscheißer bist du echt verpeilt."

"Sie machen es dicht", warf Steve ein und hob seine Frappéreste, als wollte er für seinen Homie Shopping Location einen ausgießen. "Zum Abreißen." Von Weitem sah er ziemlich nonchalant aus, aber Mads wusste, dass sich sein Amorbogen ein winziges bisschen kräuselte.

Renard rang die Hände. "Die Banausen. Scheiß Immobilienhaie. Die vernichten dort Geschichte..!" Er ließ sich auf die Knie sinken und zog seine Tasche in den Schoß. Das musste ihn ziemlich getroffen haben.

"... Und deshalb sollten wir dort demnächst mal schnuppern gehen", beendete Steve die Ausführung und sog geräuschvoll die halb aufgetauten Reste durch den dicken, schwarzen Plastikstrohhalm.

"Klar, klingt gut." Mads zuckte mit den Schultern und beobachtete Renard dabei, wie dieser - völlig aufgewühlt, bestimmt - in seiner Tasche herumkramte. "Habt ihr da schon genauere Pläne?"

Hingebungsvoll blätterte Renard in einem seiner Ordner, ehe er ein langes, sich unentwegt selbst einrollendes Stück Papier herauszog. "Ich hab hier zumindest schon einen Grundriss."

Mads warf nicht mal mehr einen waghalsigen Blick darauf; Renards gruseliges Informationsmonopol kannte er schon zu genüge. Skeptisch hob er die Augenbraue. "... Ist das nicht ein bisschen übertrieben?"

"Na... du hast nach 'nem Plan gefragt. Man muss doch wissen, wie man da rein kommt!"

"Letztes Mal hat ein Fenster auch gereicht..?"

Steve winkte ab. "Lass den. Wenn der nen Heist planen will, soll er doch." Er kippte den Kopf in den Nacken. "Wenigstens versinkt er dabei nicht in Selbstmitleid über seine Abfuhr."

Renards Mundwinkel sackten ab. "Danke", ätzte er, "ich hatte es gerade ein bisschen verdrängt."

Ein souveränes Lächeln schob sich in Steves Gesicht. Du bist manchmal schon so ein Arschloch, weißt du.

Klirrend stieß sich Mads vom Zaun ab und machte ein paar Schritte nach innen. In dem Augenblick pfiff eine Windbö durch den Unterstand und zerrte an seinen Haaren, und an denen von Renard. Welcher schweigend am Papier aus seiner Tasche herumknibbelte, und ein paar gestresste Falten in den Grundriss schlug.

Steve pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und stellte sich auf seine Storchenbeine, um ein paar Schritte über den Beton zu staksen. "Ach, Mann, jetzt zieh nicht so 'n Gesicht. Die Kleine hatte es eh voll nicht drauf."

Renard machte eine Pause davon, seinen Gebäudeplan zu zerfrotzeln, und sah auf. "... Wie meinst 'n das?"

"Naaa, hast du nicht gehört? Die ist ultra-spießig. Vor einem halben Jahr hatte es... wie hieß der noch", Steve stupste mit dem Zeigefinger seine Sonnenbrille an, "der Typ mit dem Afro aus der Oberstufe?"

"Timo?"

Der Zeigefinger schwang herum und zeigte abwärts auf Renards Nase. "Genau der. Hat's mit ihr probiert, für fünf Wochen." Verschwörerisch senkte Steve seine Stimme, wie bei dem Twist einer Horrorgeschichte am Lagerfeuer: "Und über Händchenhalten sind sie nicht hinaus gekommen..!"

Der Vibe kam bei Mads an; er nickte bedächtig und streckte die Hand nach Renard aus. "Ist die nicht so ein religiöser Freak?"

"Sowas, ja. Zeugen Jehovas vielleicht?"

"Ich hatte mal ein Mädchen in Dänemark, die war auch so drauf! Ich dachte mir, heh", er grinste und half dem Trauerkloß auf die Beine, "das ist bestimmt geil, wenn <em>ich</em> sie dann rumkriege. Aber nix. Nach drei Wochen hat die mich zu ihren Eltern geschleppt und von Heiraten geredet!!"

Wie ein Reh im Scheinwerferlicht glotzte Renard ihn an und brauchte glatt eine Sekunde, um seine Sprache wiederzufinden. "... Alter! Echt?"

"Mh-hm! Wenn ich's dir doch sage!"

"Und deshalb braucht ihr mich", seufzte Steve schwer; aber er sah aus, als hätte er sich mit seinem Schicksal ganz gut abgefunden. Eine Hand legte er auf Renards Schulter, die andere auf die von Mads. "Einer muss doch aufpassen, dass ihr euch nicht mit irgendwelchen Verrückten einlasst."

"... À propos!" Renard schoss einen scharfen Blick auf Mads ab - seine Eingeweide stolperten über einen scharfkantigen Stein-- was--?! "Ich hab gehört, die Neubauer hat dich gestern rausgeschmissen, weil du dich mit ihr angelegt hast."

Oh.

Schlagartig kam Ruhe über ihn. Gelangweilt zuckte er mit den Schultern. "Und? Ein weiterer Lehrer auf meiner Liste. Erzähl was Neues."

"... Du hast dich mit ihr angelegt wegen diesem Mädchen."

Uuund da ist der Stein wieder.

"Ooh!" Steve pfiff anerkennend. "Da gibt sich einer ganz schön Mühe. Du hast sie uns noch nicht mal vorgestellt."

Mads schnaufte sich ein bisschen Kälte aus der Lunge. "Ich hab mich mit der Neubauer angelegt, weil sie mir auf den Sack ging", erklärte er, und es war nicht mal gelogen, nicht sehr. "Das Mädchen war nur Kollateralschaden. Na ja, Schaden nicht. Dings eben. Vorteil."

"Ach, Madsi-Schatzi." Süßlich lächelnd zog Steve seine Sonnenbrille ein Stück tiefer, um ihm über den oberen Rand hinweg zuzublinzeln. "Du bist doch sonst so-- wie nennt man das? Wenn man so hübsch reden kann wie du?"

"... Eloquent?"

"Da hast du's. Ich hör doch, wie du dein Grab schaufelst." Steve deutete es mit seinen Armen an und grinste dabei genüsslich, "Immer tiefer und tiefer und tiefer..." Und erntete einen Box gegen seine Schulter; aber daraufhin lachte er nur.

"Pffh. Das gehört alles zu meinem ausgefuchsten Plan", er warf einen dramatischen Blick zu Renard, der gerade seine Linse auf sie richtete. Mads nutzte die Gelegenheit, um sich ein wenig vorzubeugen und Steve die Hand auf die Schulter zu legen, als wollte er ihm die Geheimnisse des Universums erläutern. "Und dementsprechend pflege ich mein Rebellen-Image, indem ich irgendwelche Lehrer ankacke, die Mädels dumm anmachen. Und aus Dankbarkeit, bäm, there we go. Eine Runde Rodeo in Mads' messy Bed &amp; Breakfast!"

"Ich muss zugeben", Steve rieb sich das Kinn und nickte fast schon anerkennend, "das klingt nach einer ungewöhnlich soliden Strategie. Für so jemanden wie dich." Mads spürte die Finger, die über seinen Arm und seinen Rücken tasteten, bis sie seine Haare fanden und genüsslich seine Frisur zerrauften. "Wann ist denn dein Dankbarkeits-Date, Herr Edler Ritter?"

Langsam blinzelnd ging Mads auf, dass hier mindestens eine elementare Komponente für seine Erklärung noch fehlte. "Nnnächste Woche", erwiderte er zögernd und gestikulierte vage, "ich arbeite noch daran."

"Ach so. Bestimmt." Ein nicht besonders überzeugtes Grinsen schob sich in Steves Mundwinkel.

"... Und wie ich daran arbeite!! Pass bloß auf!" Energisch zückte Mads sein Smartphone.

"Wer ist sie überhaupt?" Renard reckte den Kopf, um seinen Blick auf das Display zu richten, welches auf einen ungeduldigen Fingerzeig hin Facebook-blau anlief.

"Sie hat einen total abgefahrenen Namen, um..." Mads tat so, als müsse er überlegen. "Irgendwas mit... Thorette?"

"Tourette?"

"Ha. Nein. Warte."

Drei Köpfe beugten sich über das Telefon, als er mit spitzen Fingern darauf herum tippte. Was nicht ganz so actionreich wirkte, wie er gehofft hatte, aber er gab sich hier wirklich alle Mühe-- vielleicht, wenn man das mit zeitlupenhaften Soundeffekten untermalte? Pokk! Pchow! Boom! Aber er hielt die Klappe und schrieb T H O R, und dann stoppte er.

Seine Hoffnungen, sie spontan damit zu finden, hielten sich eher in Grenzen. Zwar glaubte er nicht, dass sie zu diesen Leuten gehörte, die sich auf Facebook so zielgerichtete Namen wie Clau Dia oder Liene Wunderschön gaben, aber irgendwie kam sie ihm oldschool (und von ihrem Namen gestraft) genug vor, um im Internet ihren Klarnamen zu benutzen. Auch nicht auf Facebook.

Der erste Hit war der erste Teil von Thor. Den er offenbar geliked hatte. Musste eine ziemlich bekiffte Nacht gewesen sein. Und dann...
 

Thorine Helweg. 2 gemeinsame Freunde.

Das wird sie ja wohl sein.
 

Mads tippte das Profil an.

"Ist sie das?", raunte Renard von der Seite.

"Denke schon."

"Glaube nicht, dass ich je mit der zu tun hatte..."

"Warum hat die Olle kein Profilbild drin?", mokierte sich Steve von der anderen Seite. "Als ob ich mir diese ganzen verkackten Namen in unserer Stufe merken kann!"

Mit der eigenen Schulter stupste Mads die von Steve an. "Ich weiß, Mads Hålvorsøn nimmt schon die Hälfte deiner geistigen Kapazitäten in Anspruch."

"Und da sind deine komischen Extra-Buchstaben noch gar nicht mit eingerechnet!"

"Du hast sie noch gar nicht gefriendet", mischte sich Renard schockiert ein.

Mads grinste etwas großspurig. "Ich wollte doch, dass ihr bei diesem glorreichen Moment dabei seid."

"... Warum, willst du sie später heiraten?"

"Alter, mal doch nicht den Teufel an die Wand...!"

Ein bisschen unbefriedigt starrten sie noch auf das Profil, bis Mads mit dem Mund eine kleine Fanfare anstimmte und den verheißungsvollen Knopf antippte.
 

✓ Freundschaftsanfrage gesendet
 

"There we go. Phase eins abgeschlossen." Ziemlich überzeugt nickte Mads in die Runde, senkte langsam sein Smartphone aus dem Einzugsbereich der zwei anderen und steckte es schließlich weg.

Nachdenklich schaute Renard ihn an, den Kopf schief gelegt. "Das war irgendwie anklimaterisch", stellte er trocken fest.

"... Du meinst antiklimatisch."

Entrüstet warf Renard die Hände in die Luft. "Halt die Fresse! Ich bin Ausländer!"

Als hätten sie dieses Stück einstudiert, erwiderte Mads: "Und ich nicht?!"

Und im Publikum saß Steve und lachte leise und ein kleines bisschen kratzig, und zündete sich dann eine Kippe an.

Eine Kritik an kontemporärer Kunst

Raubeinige Gitarrenriffs pressten sich in den viel zu kleinen Raum, und die Fensterscheiben zur Straße hin erzitterten unter Ted Winters norwegischem Gejohle. Das Haus wirkte kalt und zerbrechlich mit den schmucklosen Wänden und den unerbittlich sauberen Chrom- und Ledermöbeln, aber unter seiner blendend weißen Fassade ruhte das schwere Mauerwerk eines Rohbaus, der für Fluten und Wirbelstürme gebaut war und dieses Bisschen lärmigen Punkrock zum Frühstück fraß. Einmal war Mads in seinem Zimmer ein Regal auf den Kopf gefallen, da war er neun Jahre alt; die Tür war zu gewesen, und so wurde sein Geplärre zu einem Perpetuum Mobile in Anbetracht der Tatsache, dass es von seiner sonst so überbordenden Mutter völlig unbemerkt blieb. Erst mit Eintritt in die Pubertät hatte er die Vorteile dieser effektiven Schallisolierung zu schätzen gelernt.

Seine Füße lagen auf dem Fensterbrett und wippten im Takt. Hinter der Scheibe hatten sich ein paar schwere Wolken vor den Nachthimmel geschoben, aber drinnen brannte seine Schreibtischlampe auf Packen jeweils halbherzig angefangene Zigaretten und Hausarbeiten darunter. Er debattierte still mit sich selbst, ob er noch die Muße fand, sich um wenigstens eines davon zu kümmern; diese interne Diskussion allerdings stellte sich als so anstrengend heraus, dass er davon erst mal eine Pause brauchte. Immerhin hatte er hier einen Computer und keine Scheu, ihn zu benutzen.

Er musste sowieso sein neues Profilfoto hochladen. Wenn Renard schon den Arsch hochbekommen hatte. Seine Kamera in dem Parkhaus war die einzige gewesen - was normalerweise auch mehr als reichte - aber in letzter Zeit hatte er sich da etwas bitten lassen, von wegen Facebook und geistiges Eigentum. Es hatte Mads ja schon überrascht, dass ihn das juckte; aber er wolle nach dem Abschluss Fotograf werden, hatte er ihm anvertraut, und da müsse man sich ja auf dem Laufenden halten. Mads' Frage, ob man mit so einem Beruf nicht verhungere, hatte er mit einem hilflosen Schulterzucken beantwortet. Er werde ja sehen.

Ein neues Fotoalbum sah Mads in seinem Feed jedenfalls nicht. Der Gute mochte Talent haben, aber ein bisschen Unterricht in Social Marketing war bei ihm brennend nötig. Zu blöd, dass weder er noch Steve online waren.

Als sein Blick einen Moment länger auf der Liste verweilte, leuchtete ihn dafür ein ganz anderer Name an. Mit der Handkante schob er sein Schreibzeug beiseite und knackte wie ein Idiot mit seinen wunden Fingerknöcheln, an die er sich in genau diesem Moment wieder erinnerte; wimmernd wartete er einen Moment, bevor er die Tastatur heranzog und seine Finger ansetzte.

Emm Mads Sonofagun: Hi! :Dc
 

✓ Gesehen: 22:44
 

Thorine Helweg: oh. hi.

Zeit, seinen Charme spielen zu lassen.

Emm Mads Sonofagun: Sag mal was ist eigentlich aus der Sache mit der druchgedrehten Neubauer geworden?! :Dc

Oder zumindest den Teil, der sich ins Schriftliche übersetzte.

Thorine Helweg: uhh.
 

Thorine Helweg: sie hat mich zur friedrich geschleppt.
 

Emm Mads Sonofagun: Und was hat die alte Stasischlampe gesagt? :Dc

Immerhin wussten die anderen über sein Ansinnen Bescheid - wenn er nächste Woche nicht mindestens mit einer guten Story glänzen konnte, würde er in der Häme seiner undankbaren Freunde ersaufen. Mit den Fingerkuppen spielte er ein kleines Drumsolo auf seiner Tastatur, ohne die Tasten durchzudrücken, und wippte im geradlinigen Takt seiner Hintergrundbeschallung mit dem Kopf.

Thorine Helweg: schlampe ist das falsche wort.. die soziopathin hat mich zugenölt, dass ich zu beginn des schuljahres mit meiner unterschrift bestätigt habe, dass ich die schulordnung gelesen und mich damit einverstanden erklärt habe, sie zu befolgen.
 

Thorine Helweg: dann hab ich ihr gesagt, ob sie das mit diesem formular irgendwie belegen kann. natürlich war sie hochzufrieden, dass sie in ihren akten kramen durfte... als sie es fand, stellte sie bloß fest, dass ich wohl die unterschrift vergessen haben müsste. oops.

Mads grinste.

Thorine Helweg: jetzt überlegen sie, ob sie ihre zeit mit einer disziplinarmaßnahme verschwenden oder mich einfach doch von der schule werfen. :D die friedrich hasst mich eh.
 

Emm Mads Sonofagun: Woah!
 

Emm Mads Sonofagun: Bist ja n echter Rebell! °___°

Ob sie auch zu der Sorte gehörte, die nur Scheiße in ihr Profil tippten? Ihr Foto jedenfalls waren gekrümmte Tentakeln, die sich aus bunten Mosaikstücken zusammen setzten. Moment mal. Mads vergrößerte das Bild und beugte sich ein Stück vor. Kleine violette Sterne, die gemeinsam als Spiralen posierten, welche sich als Spiralen positionierten, welche... natürlich, das sind Fraktale! Hübsch. Und etwas nerdig.

Er klickte das Bild wieder weg und scrollte träge über ihr Profil, auf der Suche nach nach dem nächsten Gesprächsthema. Das Chatfenster blinkte ihn aus den Augenwinkeln an - aber erst einmal musste er ihren Musikgeschmack ausloten, und über sowas konnte man dann hoffentlich vernünftige Gespräche führen. Außer vielleicht mit Steve-- obwohl es Mads natürlich als seine heilige Pflicht verstand, ihm ab und zu einen Blick über den Tellerrand zu gewähren, war Betreffender von diesen missionarischen Versuchen meist weniger angetan. Zwar legte er mehr oder weniger subtil einen gewissen Respekt vor Mads' beachtlicher Musiksammlung an den Tag - zumindest nahm er sie in einer erkennbaren Form zur Kenntnis, das zählt! - aber selbst blieb er meist bei der Sorte Indie-Rock, die eigentlich schon wieder populär genug für ein Major Label war. Macht sich gut im Hintergrund, hatte er doziert, wenn man eine Schnecke dabei hat. Und Mads hatte gesagt, okay, aber so richtig Respekt hab ich erst, wenn wir zu Call of Ktulu gefummelt haben; aber nicht mal das hatte Steve gekannt, und wie sollte man mit so jemandem schon vernünftig reden.

Er seufzte schwer und überflog die ersten Einträge vor sich - Glitch Mob, das ist doch ein guter Ansatz - und klickte das Chatfenster wieder größer, weil es ihm sowieso auf den Sack ging.

Thorine Helweg: oh hey. wo du deinen musikgeschmack so öffentlich machst. hätte nicht gedacht, dass an unserer pennerschule noch jemand pornophonique hört.
 

Thorine Helweg: :>

Huh. Zwei Blöde, ein Gedanke.
 

*
 

Die nächste Woche verwendete Mads darauf, seine Überzeugungskraft spielen zu lassen. Im schriftlichen Bereich war das erfahrungsgemäß aufwändiger - zu viel Informationsaustausch, nicht genug Körpersprache - aber bei Thorine hatte er das Glück, dass es Themen gab, über die sie reden konnten. Sie versteckte nicht, dass sie täglich die Webseiten internationaler Zeitungen abgraste, und besonders furchtbare Boulevard-Schlagzeilen landeten regelmäßig auf ihrer Facebook-Chronik; und mittags, wenn er im zweiten Block unter seinem Tisch auf seinem Handy herumtippte, weil Steve in einem anderen Kurs saß, diskutierte er intensiv mit ihr, ob es einen Unterschied zwischen Coke und Pepsi gab. (Natürlich gab es den, davon war er überzeugt - Coke war ungefähr doppelt so süß, und die Kohlensäure war nur halb so dominant - aber Thorine ließ raushängen, dass sie beides für austauschbare Plörre hielt und die hiesige Hipstermarke Stud Cola sowieso das einzig Wahre sei.)

Sie verstand sogar ein bisschen was von der lokalen Indieszene - zumindest war das, was sie erwähnte, fundierter als das, was Steve in Clubs raushängen ließ, um die bunthaarigen Mädels am Rande des Dancefloors zu beeindrucken. Statt einfach in die Mitte zu gehen und dort ordentlich abzuspacken. Manchmal war Steve auch so ein ein verdammter Spielverderber.
 

Als wieder Dienstag war, hatte Mads seinen Hintern völlig übernächtigt in den Deutschunterricht geschleppt - ihre letzte Nachricht war um 4:37 Uhr gekommen - und ihre Blicke hatten sich getroffen, und sie hatte ihn verstohlen angegrinst. Und nach der Stunde hatte er seinen Stuhl umgedreht, einen zerknüllten violetten Flyer aus seiner Hosentasche gefischt und mühsam auf ihrer Tischplatte glatt gestrichen. "Das wird bestimmt voll schlimm", hatte er gesagt und ihn ihr unter die Nase geschoben.

"Bestimmt."

"Da müssen wir hin."

"--hah?"

"Wenn du noch nichts Besseres vorhast, als dich in niveauvoller Begleitung über moderne Kunst lustig zu machen. Morgen Abend zum Beispiel."

Und sie war ein bisschen rot geworden, ein winzigkleines bisschen - natürlich hatte Mads nichts gesagt, aber zumindest still bemerkt, wie gut ihr das stand - bevor sie ihre Contenance wiedererlangt und wie ein Schraubstock genickt hatte. "Okay. Warum nicht."
 

*
 

An der Bushaltestelle zog Mads noch einmal den Flyer aus seiner Tasche und warf einen längeren Blick auf die kryptische Wegbeschreibung. Nicht, dass er den Weg nicht schon längst auswendig kannte. NArt Kunstfritzen in der Roten Halle, alles klar. In diesem Kaff war es schwer, die Rote Halle nicht zu kennen; die Hälfte des hiesigen kulturellen Lebens konzentrierte sich auf die ehemalige Papierfabrik, und damit auch der Großteil aller schulischen Exkursionen.

Die Rote Halle selbst trug ihren Namen eigentlich zu unrecht. Die Fertigungshallen lagen im Komplex um den Grünen Bau - ein Idiot, wer sich diese Namen überlegt hatte - während in der Halle vielmehr ein Labyrinth steckte; ein Gewirr aus niedrigen Fluren, ehemaligen Büroräumen und schmalen Durchgängen. Im Herzstück lag die ehemalige Kantine, die von ihren Dimensionen her gerade so mit einer Aula konkurrieren konnte; und vielleicht waren die wuchernden Flure auch nur dessen Eingeweide - organische Fortsätze, die keines eigenen Namens bedurften.
 

Vor dem schweren Eingangsgebäude aus rotem Backstein sah Thorine klein und missmutig aus, die Füße überkreuzt und die Hände in den Taschen ihres Hoodies vergraben. Der Wind zerrte an ihrer Kapuze und den Haarsträhnen, die darunter hervor ragten, und hinter Luft hing die feuchte Schwere eines herannahenden Sturms. Aber ihr Rock war kürzer, und darunter blitzte ein Streifen bloßer Haut hervor.
 

Er spürte sein eigenes, kleines Grinsen wachsen, und beschleunigte seine Schritte. Ihre Blicke trafen sich, und ihre Mundwinkel kräuselten sich aufwärts.

Er breitete die Arme aus. "Wie schön, Sie hier begrüßen zu dürfen!" Sie machte einen halben Schritt auf ihn zu, und so zog er sie in eine Umarmung - eine freundschaftliche, natürlich, bei der er sich etwas zu ihr herunterbeugte und sich unterhalb ihrer Schultern nichts mehr berührte. Sie roch ein bisschen nach Minze und einer angesengten Kommode, und als Mads seine Arme wieder an sich nahm, hing der Geruch noch ein bisschen in seiner Nase. "Wenn ich bitten darf?"

Sie kippelte kurz mit ihrem Kopf. "Bitten darfst du immer." Zusammen setzten sie sich wieder in Bewegung in Richtung Eingang, der sich in eine Einbuchtung in der lustlos beschmierten Fassade schmiegte.

"Hast du lange gewartet?"

Sie zuckte mit einer Schulter. "Ich hätte wahrscheinlich länger gewartet, wäre der Bus pünktlich gekommen. You win some, you lose some."

"Nächstes Mal kann ich dich ja abholen."

"Damit wir... zusammen den Bus verpassen?"

"Nö; ich wollte mir sowieso wieder ein Moped anschaffen."

"Klingt überhaupt nicht todesgefährlich."

"Gefährlich?! Was für eine Unterstellung! Da rast man ein einziges Mal mit 'nem Moped durch eine Wand..."

"... Okay, die Geschichte musst du jetzt näher ausführen."

Sie nahmen die zwei Stufen vorm Eingang, und Mads öffnete die schwere Metalltür für sie.
 

"... Und deswegen ist Steve ein völliger Idiot dafür, dass er mich noch an seine Kiste lässt." Sie waren tief in die Eingeweide des Labyrinths vorgedrungen; auf dem engen Gang hallten dann und wann gedrückte Geräusche wider - Geraschel, Schritte, Geflüster. Museumsatmosphäre. Mads hatte die Hände halb in den Hosentaschen, und knibbelte versteckt an seiner Eintrittskarte herum.

Thorine lief einen halben Schritt vor ihm, den Kopf verdreht. "Das hielt ich für offenkundig", bemerkte sie beiläufig, und Mads präparierte schon die erste Salve, da prallte er einfach gegen ihren Rücken.

"Uh, sorry. Alles klar?"

Sie störte sich nicht im Geringsten daran, sondern ging mit einem Ruck wieder los. "Ohh, das ist gut", bemerkte sie halblaut und führte ihn ums Eck in einen der kleinen Büroräume.

An der fensterlosen Wand hing, viel zu nah an der Ecke, eine komplett rot gestrichene Leinwand, die von zwei an der Decke montierten Scheinwerfern angestrahlt wurde. Ansonsten war der Raum leer - weiße Wände und ein graublauer, fusseliger Teppichboden - bis auf einen kleinen Gummibaum, der achtlos in der Ecke neben dem Türrahmen stand. Über dem Raum hing eine wattige, pelzige Stille.

Sie machten etwa zwei Schritte in den Raum und blieben dann stehen. Thorine rieb sich das Kinn und beäugte die Zimmerpflanze mit Kennerblick.

"Man sieht hier eindeutig eine Kritik an kontemporärer Kunst", bemerkte sie trocken und zeigte mit der Handkante in Richtung Blattwerk.

Mads verkniff sich ein Grinsen und legte sich stattdessen nachdenklich die Faust ans Kinn. "In einer Kunstausstellung? Wie ironisch!"

"Während eine naive Imitation von Minimalismus ins rechte Licht gerückt ist", leierte sie nasal, "um die Aufmerksamkeit des Besuchers zu erregen, wird das kunstvolle Wunder der Natur als inhaltslose Dekoration abgetan."

Ohh, sie ist gut. "Unfassbar! Meisterhaft erkannt." Mads verkniff sich sein Gelächter und nickte wohlwollend. "Ohne dich hätte ich das garantiert nicht kapiert."

"Tja." Selbstzufrieden stemmte sie ihre Hände in die Seiten, aber im ersten Moment konnte sie sich das entwaffnete Grinsen nicht verkneifen. "Wenigstens warst du intelligent genug, die richtige bornierte Klugscheißerin mitzuschleppen."

Voller Tatendrang wandte sie sich zum Gehen und stockte abermals; im Türrahmen stapelten sich zwei Hipster mit pikierten Gesichtern. Sie warf einen kurzen Blick zurück auf Mads, ehe sie sich an den beiden vorbei presste. "Danke schön", murmelte sie, die Stimme angespannt vom unterdrückten Lachen, und presste ihre Lippen aufeinander.

Er folgte ihr auf dem Fuße und nickte den beiden Hipstern höflich zu.
 

Auch die nächsten Exponate enttäuschten nicht, was ihr Potential für blasiertes Geschwafel anging. Mads kniete vor einem Stuhl aus Fett und dozierte etwas von Kapitalismuskritik: "Allein die Existenz dieses Objektes... ist Satire." Und Thorine erkannte eine vernichtende Liebeserklärung an den Konsum in einem überfüllten Mülleimer, den eine Putzkraft auf den Gang gestellt haben musste. "Sektgläser aus Plastik", bemerkte sie mit einem Blick hinein. "Man ist umgeben von Genies, und die meisten merken es nicht einmal."

Und zwischen den Exponaten, wenn sie durch die verwinkelten Gänge zogen, sprachen sie halblaut über die schrecklichen Erfahrungen, die beide jeweils mit der Direktorin Doktor Friedrich gemacht hatten. Stellte sich heraus, dass keiner von ihnen in der Schule besonders brav gewesen war.

Schließlich spuckten die verwobenen Flure sie in die alte Kantine, wo ein paar komplexe Skulpturen von einem Wölkchen raunender Menschen umschwärmt wurden. Direkt vor ihnen wurde eine Statue aus Plastikflaschen und Aludosen von Scheinwerfern im Boden dramatisch ausgeleuchtet, und Thorine kam mit wippendem Kopf vor ihr zum Stehen. Fachmännisch tippte sie sich am Kinn herum, ehe sie überrascht feststellte:

"Das hier finde ich eigentlich ganz cool."

Durch die Beleuchtung wirkte die Skulptur überlebensgroß und surreal - als wäre sie erst im Nachhinein in den Raum hineingeshoppt worden. Die Silhouette war menschlich, aber wen sie darstellen sollte, konnte Mads nicht erkennen. "Wirklich?" Er betrachtete Thorine prüfend von der Seite.

Sie biss auf der Innenseite ihrer Lippen herum, so dass sich rhythmisch schmälerten und weiteten. "Yeah." Sie überflog den Aufsteller neben der Skulptur. "Den Kram hat die Künstlerin dort gefunden, wo er nicht hingehört, sagt sie. Im Hausmüll, in grünen Tonnen, auf der Straße. Sie hat Dr. Mertens nachgebaut, die Konservative, die die neue Pfandregelung gekippt hat."

"Hm." Es sah auf jeden Fall cool aus, wie glänzendes Aluminium durch transparentes Plastik hindurch schimmerte. Die Reste der Banderolen, die Coca-Cola oder Sternburg bewarben, warfen harte, physikalisch nicht ganz koschere Schatten in die Skulptur und verliehen ihr eine unerwartete Tiefe, als könnte man der Politikerin unter die Haut schauen.

"Man kann sich natürlich darüber streiten, ob die neue Regelung langfristig überhaupt etwas gebracht hätte. Sie hatte so ihre ganz eigenen Probleme. Aber das hier ist zumindest eine coole Art und Weise, Protest auszudrücken."

Mads nickte nachdenklich. "Hast recht. Macht auch ein bisschen mehr her als der Raum mit der Zimmerpflanze."

Thorine grimassierte gespielt und boxte ihm sanft gegen die Schulter. "Hey, das war Kunst. Die muss nichts hermachen. Das hier ist nur ein schnödes alltagspolitisches Statement."

Mads rieb sich grinsend den Arm und seufzte gespielt. "Ich seh schon, du hast den vollen Durchblick. Wie soll ich bloß mit dir mithalten?"

Jetzt grinste sie auch - und trotz der Menschenwolken war es einen Moment lang still, und sie waren unter sich, wie zwei Verschwörer, die einen Überfall auf ein Kasino planten.

Erst die xte Lunge voll schlechter Luft rief Mads zurück in die Realität. Von der Skulptur ging ein Geruch aus wie aus einem Pfandautomaten - klebriger Sirup und verbranntes Plastik. Mads rieb sich die Nase und ließ seinen Blick durch die Kantine schweifen.

"... Wollen wir gleich noch was essen? Ich kenne 'nen großartigen Falafelladen ganz in der Nähe."
 

Er reichte ihr das Dürüm. "Geht auf mich."

"Huh?" Ihre Hand stoppte auf halbem Wege in der Luft. Sie winkte ab. "Ach, lass doch."

Er wedelte ein bisschen mit dem Sandwich herum. "Ich bestehe darauf! Ich hab dich hier her geschleppt, also ist es nur gerechtfertigt, dass du wenigstens satt heimkommst."

Sie zog eine Augenbraue hoch, aber schließlich griff sie noch nach dem Sandwich. "Wie ungewohnt rücksichtsvoll." Ein dünnes Lächeln schob sich in ihre Mundwinkel. "Damit hatte ich nicht gerechnet."

"Manchmal wissen die vielen Schichten meiner Persönlichkeit doch zu überraschen." Er zwirbelte seinen imaginären Schnurrbart.

"Warum sonst sollte ein gefährlicher Punk so viele Uhren tragen."

"Hey, diesen Anti-Establishment-Look hab ich mir mühsam verdient."

"Bist du heimlich ein Muttersöhnchen?"

Mads teilte eine Haarpartie an der Front, um seine Ansätze zu offenbaren. "Ich bin eigentlich so ein richtig dänisches Blondchen."

"Das ist ja furchtbar." Thorine zuckte kurz mit der Augenbraue.

"Genau. Dann kauft mir ja keiner ab, dass ich so gar nicht mit dem Zustand der Welt und den Leuten um mich herum einverstanden bin." Mads knabberte an seinem Dürüm und redete hinter vorgehaltener Hand weiter. "Im Inneren bin ich Rebell, so wie du, und muss es doch irgendwie nach außen tragen."

Sie schwieg. Stattdessen nahm sie einen wirklich respektablen Bissen und sah ihn groß an, das Gesicht noch halb im Dürüm vergraben.

"... Und jetzt bin ich so Anti-Establishment, dass ich sogar auf Punks kacke", schloss Mads zufrieden. "Deswegen habe ich kaputte Klamotten UND Manieren. Und stinke nicht nach Bier."

"... Also bist du doch ein Muttersöhnchen."

Mit den Händen deutete er einen imaginären Regenbogen an und flüsterte: "Full... Circle."
 

Als sie durch die schummrig beleuchtete Unterführung schlenderten, verdrehte Thorine sich den Kopf ach den Aushängen.

"Was ist?"

"Huh, ich hab darauf gewartet, dass sie den Film hier zeigen."

Ein halbes Grinsen schob sich in Mads' Gesicht. "Willst du das Plakat?"

Sie zog die Augenbrauen hoch. "Wie meinen?"

Er kam näher und fuhr mit den Händen über die Glasscheibe, welche den Plakatkasten nach vorhe hin verkleidete. Probeweise rüttelte er daran - das Glas klickte ein bisschen, als es sich um Millimeter in seiner Fassung verschob - und fuhr dann mit seinen Fingern über die Ritze zwischen Metallkasten und Scheibe. "Irgendwie bekomm ich es bestimmt da raus." Seine Fingerspitzen tasteten über die Seiten des Kastens, auf der Suche nach einem Schlüsselloch. "Wenn du willst." Über seine Schulter sah er sie an.

Sie hatte ein schmales, dunkles Lächeln in ihren Mundwinkeln; das dämmrige Natronlicht schälte unter ihren Augen tiefe Schatten und kriminelle Energien heraus.

Sie zögerte einen Moment, ehe sie den Kopf schief legte. "Nee", sagte sie schließlich, zuckte mit den Schultern und ging weiter. "Ich will lieber den Film sehen."

Sein Herz pochte, als er das Plakat vor sich einen abschließenden Moment lang betrachtete. Probeweise ballte sich seine Hand zur Faust - nee, dafür würde er eine Brechstange benötigen, oder einen Baseballschläger. Und wenn ihm schon wieder ein Polizeibrief ins Haus flatterte, hatte es sich mit seinen Finanzen vorerst erledigt. Auch wenn Steve diese Aktion bestimmt unheimlich cool fände.

Als er Thorine wieder ansah, stand sie ein paar Meter weiter. Sie fing seinen Blick auf und nickte stumm in Richtung Straße.

Er nahm seine Hände von der Scheibe. Ohne Cash keine Dates. "Ist das so?" Forsch grinste er sie an, und als er mit ihr aufschloss, legte eine Hand auf ihr Schulterblatt. "Nächsten Mittwoch also? Um sechs?"

Sie wippte mit ihren Augenbrauen. "Wenn du willst."
 

*
 

Steve Weh: ich sehe, du bist noch wach
 

Steve Weh: der einsame strich auf deiner liste hat heute hoffentlich gesellschaft bekommen..
 

Emm Mads Sonofagun: Meine Strichliste ist mehr ein Strich-Buch, unwissender Freund ;p
 

Emm Mads Sonofagun: Aber Geduld, junger Padawan
 

Emm Mads Sonofagun: Es läuft. Indie Chicks wollen ein bisschen angewärmt werden.
 

Steve Weh: und das gibst du dir.. aus welchem grund noch mal
 

Emm Mads Sonofagun: ... Hast du ne Ahnung, wie kinky die sind?
 

Emm Mads Sonofagun: Du musst noch viel lernen, Schatz. ;D
 

Emm Mads Sonofagun: Aber keine Panik, Meister Mads wird für dich sorgen <3 Bis morgen!
 

Seufzend schob Mads sein Smartphone beiseite und drehte sich langsam auf den Rücken. Es war doch gut gelaufen, oder nicht? Die Sache kam ins Rollen. Sie fand ihn zweifellos cool, und war selbst ziemlich süß, irgendwie. Wie sie bei ihren trockenen Bemerkungen völlig unbegeistert aussah. Und wie ihre apathische Miene bröckelte, wenn er einen Witz machte. Oder wenn sie über etwas Interessantes redeten, und ihre Augen plötzlich glänzend und groß wurden.

Nicht zu vergessen ihre kolossale Oberweite. Und das Stückchen Haut zwischen Rock und Overknees. Seine Kehle zuckte im Takt seines Herzschlags. Schwarze Haare. Volle, weiche Lippen. Das Zungenpiercing, und der Geruch von Gras und Keksen...

Augh.

Schnaufend fuhr er sich mit kühlen Händen über das Gesicht und schloss die Augen.

Ich muss aufhören, so ein verfickter Idiot zu sein.



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  Ye-het
2015-02-20T09:51:47+00:00 20.02.2015 10:51
Hab mir dein Geschreibsel gerade genehmigt und muss zu geben: Gefällt mir! ;) Wirklich nette und nachvollziehbare Charaktere. Ich hatte gleich ein Bild vor Augen und konnte auch nicht mit dem lesen aufhören, bis ich wirklich am Ende angekommen war. Ich bleib auf jeden Fall dran, falls es noch weiter geht ;)
Antwort von:  kumquat
20.02.2015 13:11
Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, mir diese Zeilen zu schreiben!! <3 Ich habe nicht vor, die Geschichte abzubrechen, auch wenn zwischen Kapiteln durchaus ein Jahr liegen kann. Zu viele Pläne, zu wenig Zeit...
Aber das Wissen, dass andere Menschen mitlesen und Spaß daran haben, lässt das nächste Kapitel auf meiner Liste hinauf rutschen :D
Von:  Fumy
2014-10-12T18:56:51+00:00 12.10.2014 20:56
Richtig geiler Schreibstiel reißt einen richtig mit ;)
Will mehr davon XD

Antwort von:  kumquat
12.10.2014 21:05
Danke! Wenn das so weiter läuft wie bisher, sollte ich spätestens 2020 fertig sein. XD
Antwort von:  Fumy
13.10.2014 13:22
Ich les es auch dann noch :) wirklich toll mach weiter so!!!!
Von:  Blacksad
2013-11-09T12:08:07+00:00 09.11.2013 13:08
BÄM! Warum hat die Story so wenig kommentare? Frechheit!

Ich find dein Schreibstil hat was ganz eigenes, seltsames, wirres aber auf die gute Art. Ich mag diese irreren Metaphern mit denen du um dich schmeißt, als gäbs die gratis als Werbegschenk bei Aldi. Irgendwas zwischen Genie und Wahnsinn, lustig und ernst. Nicht richtig Greifbar aber deswegen gerade gut.

LG
Maike
Antwort von:  kumquat
09.11.2013 16:37
haha, ich weiß nicht? ich schätze, ich bin auf animexx nicht populär oder so. ich mach ja auch so gut wie keinen fankram zu serien. :Dc

dein kommentar hat mich sehr gefreut und mir motivation gegeben, dieses wochenende mal wieder am nächsten kapitel rumzuhämmern!
Antwort von:  Blacksad
09.11.2013 20:43
Alles Kunstbanausen hier..zumindest was Schriftstellerei angeht XD Desto weniger 08/15 man schreibt umso weniger Kommentare bekommt man XD Naja aber trifft sich gut ich les nämlich so gut wie keinen Fankram.

Das freut mich :D Ich werd mir auch noch die folgenden Kapitel durchlesen (will ja wissen wies weiter geht. Musste aber vorhin erstmal sacken lassen..ich glaub wenn man zu viel auf einmal liest macht das High XD) und meinen Senf darunter schmieren.
Von:  Blacko-o
2013-10-06T23:26:58+00:00 07.10.2013 01:26
Huuu! Das ist so super geschrieben! O: Ich mag deinen Schreibstil total! Und die beiden Jungs hier finde ich auch sehr sympathisch :D
Antwort von:  kumquat
07.10.2013 20:12
oh, das freut mich sehr! c:


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