Liebe auf den zweiten Blick von Kalliope ================================================================================ Kapitel 1: Ethan und Allison ---------------------------- Sie war neunzehn gewesen, als ihr Leben zum zweiten Mal vollkommen zusammenbrach – und dieses Mal war es seine Schuld gewesen. Ethan betrachtete das Foto von jenem Tag, das ihre Großeltern gleich bei seiner Ankunft geschossen hatten. Er konnte sich noch so gut daran erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Der Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen hing in der Luft, die Nachbarskatze drückte sich rollig im Vorgarten herum und Allison öffnete die Tür, wobei sie Ethan nach kurzem Zögern sofort in die Arme schloss. Der seichte Pfirsichduft ihres Shampoos. „Ethan, Ally, schaut mal in die Kamera!“ Dann das Blitzlicht. Ally schaute ihn mit großen Augen an, riesige Augen, die immer größer wurden und ihn anstarrten, als wäre er direkt aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht. Und genau das war er ja im Grunde genommen auch. Verdammt, die Idee, sie damals direkt nach ihrem dreijährigen Klinikaufenthalt zu besuchen, war eine Schnapsidee gewesen. Wütend warf Ethan das Foto auf die Tischplatte vor sich. Die Kanten waren wellig und schon ein wenig vergilbt. Allison lächelte schüchtern in Richtung Kamera und die dunklen, schokobraunen Haare trug sie damals schon genauso wie heute. Das alles war nun sieben Jahre her und trotzdem machte Ethan sich Vorwürfe, wann immer er das Foto zu sehen bekam, doch wegschmeißen konnte er es auch nicht, da zu viele Erinnerungen daran hingen. Allison war immer die nervige, kleine Schwester seines besten Freunds gewesen. Elliott hatte sie auf brüderliche Weise sehr geliebt und an manchen Tagen genauso sehr gehasst. Mädchen gehörten schließlich nicht in ihren coolen Club im Baumhaus hinten im Garten. Erst recht keine kleinen Mädchen, die heulten, wenn man sie schubste. Mädchen wie Allison, die einfach nur seltsam waren. Wenn er als Kind auch nur geahnt hätte, wie anders sie war, hätte er sie nicht so gemein behandelt, aber damals war es Elliott und ihm wie ein riesengroßer Spaß vorgekommen, dass sie Ballons mit Wasser füllten und Ally damit vom Baumhaus aus bewarfen. In der High School wurde es dann anders. Auf einmal waren Mädchen nicht mehr ganz so doofe Ziegen und Ethan verknallte sich zum ersten Mal. Rosalyn, seine Angebetete, stammte aus gutem Hause und hatte das tollste, zuckersüßeste Lächeln auf der ganzen Welt. Langes, rotblondes Haar und Augen so Blau wie das Meer in den Reiseprospekten, die seine Mutter immer vom Einkaufen mitbrachte. „Wenn wir uns ausruhen, verweichlichen wir. Der Geist kriegt Pause genug, wenn wir uns die Bilder angucken.“ Diese Logik hatte Ethan nie verstanden, aber auch nie in Frage gestellt. Also tat er genau das, was seine Eltern von ihm erwarteten: Er suchte sich einen Nebenjob und begann in einer kleinen Eisdiele im Viertel zu jobben. Jedes Mal, wenn Rosalyn sich ein Eis kaufen kam, schien die Welt für einen winzigen Moment still zu stehen und er starrte sie an. „Du benimmst dich wie ein Idiot“, hatte Elliott immer gesagt und ihn damit aufgezogen. Allison, die vier Klassen unter ihnen gewesen war, saß stumm mit ihnen am Küchentisch und hatte den Kopf auf ihre Hände gestützt. „Erzähl von Rosalyn, wieso hast du dich in sie verliebt?“ „Ally, davon verstehst du nichts, du bist noch ein Kind“, maulte Elliott und stand augenrollend auf, sobald Ethan einen Seufzer von sich gab. Anstatt zuzuhören, holte er sich eine Coladose aus dem Kühlschrank und äffte Ethan hinter dessen Rücken nach. „Rosalyn sieht unbeschreiblich gut aus. Ihr Lächeln ist ganz süß und diese langen Beine erst! Bestimmt wird sie mal modeln, so toll, wie sie aussieht. Oder sie wird Schauspielerin. Jessica hat Brian erzählt, dass Rosalyn mit Ian schlussgemacht hat, weil sie jetzt auf einen anderen Jungen von unserer Schule steht. Damit meint sie bestimmt mich.“ „Klar, wer es glaubt.“ Grinsend ließ Elliott sich wieder auf seinen Stuhl sinken und stupste seine Schwester mit dem Ellbogen an. „Rosalyn war ein Jahr mit Ian zusammen, sie ist viel erfahrener als Ethan und würde sich nie auf jemanden wie ihn einlassen. Frauen wollen einen Mann, der weiß, was er macht.“ „Als ob du so viel Ahnung von Frauen hast“, spottete Ethan nun und rollte das Hausaufgabenblatt vor sich zu einer Papierkugel, die er seinem besten Freund mitten ins Gesicht warf. „Du hast doch noch nie ein Mädchen geküsst.“ „Brit-“ „Nein, Brittany zählt nicht, das war beim Flaschendrehen und da musste ich Carol küssen, das war viel schlimmer und ein richtiger Kuss ist sowas sowieso nicht.“ Sowohl Ethan als auch Elliott begannen bei der Erinnerung daran leise zu kichern und keiner von ihnen hätte wohl gedacht, dass Ethan ein halbes Jahr später nach dem Abschlussball ausgerechnet mit Rosalyn Baker im Bett landen würde. Allison, die schweigend neben ihnen gesessen hatte, schaute nun mit großen Augen von ihrem Bruder zu Ethan und zurück. Dann begann sie auf ihrer Unterlippe zu kauen und faltete Ethans Papierkugel langsam wieder auseinander, um das Papier glatt zu streichen und quer über den Tisch zurück zu schieben. „Ich will auch mal einen tollen Freund haben.“ Zeitgleich begannen Ethan und Elliott zu lachen, dann wuschelte Elliott seiner kleinen Schwester durch die dunklen Haare, woraufhin sie empört quietschte. „Ally, du bist erst dreizehn“, sprach ihr Bruder und setzte eine grimmige Miene auf. „Außerdem werde ich nicht zulassen, dass du mit irgendeinem Vollidioten ausgehst, der dich nur ins Bett kriegen will.“ Sie sah sehr enttäuscht aus und Ethan hatte beinahe Mitleid mit ihr, konnte jedoch Elliotts harsche Worte vollkommen nachvollziehen. Sie beide wussten, wie die anderen über Allison redeten und über sie tratschten. Irgendwie hatte Ally nie den Anschluss an ihre Klasse gefunden und jetzt, mit dem Wechsel auf die Middle School, war es nicht besser geworden. Dabei war Allison eigentlich ganz okay, wenn man davon absah, dass sie wie eine Klette an ihrem Bruder hing. Kurzes, dunkelbraunes Haar, dazu braune, ausdrucksstarke Augen und ein wohlgeformtes Gesicht mit Stupsnase, zarten Sommersprossen und makelloser Haut. Ja, Ethan ließ sich sogar dazu hinreißen, dass er sie als hübsch bezeichnen würde. Sicherlich wäre sie sehr beliebt, wenn sie nicht… sie selbst wäre: Irgendwie immer anders als die anderen, obwohl sie immer so wirkte, als würde sie sich krampfhaft anpassen wollen. „Ja, da stimme ich Elliott zu. Du kriegst keinen Freund, der dich ausnutzen will.“ „Bloß keinen Sportler, die sind zu sehr mit ihrem Ego beschäftigt.“ „So wie du?“ „Haha.“ Elliott boxte Ethan in die Seite. „Ich meine das ernst. Ally ist viel zu zart besaitet für jemanden, der sie zu irgendetwas drängen könnte.“ Die beiden philosophierten noch eine ganze Weile weiter und bemerkten gar nicht, wie Ally sich im Laufe des Gesprächs klammheimlich aus dem Staub gemacht und in ihrem Zimmer verkrochen hatte. Elliotts Tod hatte sie beide vollkommen aus der Bahn geworfen. Ethan, der sich zu diesem Zeitpunkt schon von seinem Elternhaus losgesagt hatte, fiel in ein tiefes, schwarzes Loch. Los Angeles, überhaupt ganz Kalifornien, wurde zu einem unerträglichen Ort. An jeder Straßenecke, an jedem Fleckchen Erde, schien irgendeine Erinnerung zu kleben, die ihn mit in den Schlaf verfolgte. Doch was für Ethan der größte Schmerz seines Lebens war, war für Allison die pure Hölle. In einer Nacht verlor sie nicht nur ihren über alles geliebten großen Bruder, sondern auch ihre Eltern. Ethan hatte sich nie vorstellen können, was sie durchmachte, da er für seine Eltern nie Liebe empfunden hatte. Doch Elliott war immer wie ein Bruder für ihn gewesen und auf einmal fehlte die zweite Hälfte seiner selbst. Keine zwei Wochen später war er mit Sack und Pack abgehauen und streunte daraufhin lange Zeit durch die Staaten. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Allison zurück. Zarte sechzehn war sie, als dieses Unglück geschehen war und Ethan hasste sich dafür, dass er ihr kein Freund sein konnte, weil er zu sehr mit seinem eigenen Kummer beschäftigt war. Damals, als Elliott und er mit der Ausbildung in der Polizeiakademie begonnen hatten, hatten sie einen Schwur geleistet: Sollte einem von ihnen jemals etwas zustoßen, so würde der andere immer für dessen Familie da sein. Und bei der erstbesten Gelegenheit hatte Ethan diesen Schwur gebrochen. Erst drei Jahre später war er zurückgekehrt, um Allison, die gerade aus der Klinik entlassen worden war, zu besuchen. Drei Jahre, in denen er sich beruhigt hatte und die Trauer und Wut endlich begraben konnte. Drei Jahre, in denen er sich kein einziges Mal nach ihr erkundigt hatte, obwohl er so oft an sie denken musste. Und nach drei Jahren sah sie all die Erinnerungen in ihm, die auch ihn vorher so geschmerzt hatten. Drei Jahre, eine kurze Freiheit und seinetwegen dann der erneute Nervenzusammenbruch. Nein, das würde Ethan sich nie verzeihen. Noch immer lag das Foto auf dem Tisch. Sollte er es wegschmeißen oder nicht? Daneben ein Auszug aus Allisons Patientenakte. Obwohl er nicht persönlich für sie da sein konnte, wachte er über sie wie ein Schutzengel. Das hatte sie verdient und er musste die Schuld begleichen, die an ihm klebte. Ethan atmete tief durch, als er das Foto noch ein letztes Mal betrachtete und schließlich wegpackte. Auch die Kopie wanderte in die Akte, die er über Ally angelegt hatte und einzig und allein eine unscheinbare, dunkelrote Schachtel blieb zurück. Eigentlich hatte er ihr nichts schenken wollen, aber gottverdammt, es war Weihnachten und sie hatte lange Zeit in der Psychiatrie fest gesessen, da hatte sie ein bisschen Freude verdient. So gerne würde er sie wieder lächeln sehen wie früher. Dieses süße, zauberhafte Lächeln. Mit einem Edding schrieb er direkt auf die Geschenkverpackung Fröhliche Weihnachten, Allison, von einem Freund. Er wusste nicht, ob sie das Geschenk bekommen würde oder wie sie darauf reagierte. Ethan hoffte einfach nur, dass es ihr für einen kurzen Augenblick wieder das Lächeln zurückgeben konnte, denn Allison war etwas Besonderes. Und als er daran dachte, lächelte auch er. „Fröhliche Weihnachten, Ally.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)