It's Majestic von KradNibeid (Quartäre Quartalsgeschichten) ================================================================================ Die Wahrheit wird mit dir verschwinden -------------------------------------- Konzentriert blickte Robert auf den leblosen Körper, der vor ihm auf dem Boden lag. Sein Puls raste, und seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte einen großen Fehler begangen – und doch hatte er keine andere Wahl gehabt, sonst hätte er alles, einfach alles verloren. Verzweifelt bohrten sich Finger in seinen Arm, doch das Adrenalin in seinen Adern sorgte dafür, dass er den Schmerz kaum wahrnahm. Mit aller Kraft schloss er seine Hände um den Hals seines sich wehrenden Opfers und drückte dabei immer fester zu. Schwer atmend nutzte Robert sein Körpergewicht, um den Mann auf den Boden zu pressen und ihn daran zu hindern, sich zu befreien. Seine Arme begannen, vor Anstrengung zu zittern, als das panische Röcheln seines Opfers erstarb, und schließlich lag er regungslos unter ihm. Noch eine Weile lang hielt Robert den Druck auf seine Kehle aufrecht, dann ließ er langsam von ihm ab und setzte sich auf. Schweiß rann über seine Haut, und außer dem Rasseln seines eigenen Atems war einige Zeit nichts weiter in der dunklen Seitenstraße zu hören. Nun hatte er ein großes Problem – um genau zu sein ein Problem, das einen Meter fünfundneunzig groß war und stattliche hundertundfünfzehn Kilogramm auf die Waage brachte. Und auf dem er in seinem verzweifelten Kampf zahllose Spuren hinterlassen hatte. Eine entfernte Sirene ließ ihn aufschrecken, und dringlich wurde ihm wieder bewusst, dass er sich in Las Vegas befand, in einer dunklen Seitengasse, und dass er jederzeit Gefahr lief, von einem Passanten – oder schlimmer, der Polizei – entdeckt zu werden. Wenn er nicht schnell handelte, dann würde es keine Chance mehr für ihn geben, jemals einer Anklage wegen Mordes zu entkommen. Und das alles nur wegen ihm. Angespannt betrat Robert sein Hotelzimmer und rieb sich die Schläfe. Er befand sich in Las Vegas, doch der Grund seiner Anwesenheit hier war nicht so angenehm, wie es der Aufenthaltsort hätte vermuten lassen. Angesichts der herannahenden neuen Beyblade-Weltmeisterschaft fand ein Kongress statt, auf dem alle möglichen Sponsoren und Investoren anwesend waren, um die neue Struktur und Planung der Weltmeisterschaften und der vorangehenden Kontinental-Meisterschaften zu beschließen. Als jüngst aufgestiegener Chef der Jürgens Corporation war es eine natürliche Verpflichtung, sich als Sponsor der europäischen Meisterschaften zu beteiligen – zumal das von ihm gebaute Olympia Stadium nach wie vor eines der größten und modernsten Beyblade-Stadien Europas war. Auch das gute Ansehen konnte seiner Firma nicht schaden; sein Vater, der noch bis vor einigen Monaten den Firmenvorstand inne gehabt hatte, hatte die Firma mit einigen riskanten Spekulationen fast in den Ruin getrieben, und der Ruf der Jürgens Corporation war aktuell auf dem Tiefststand. Eine Investition in die neuen Meisterschaften war für sie die einzige Möglichkeit, um die Anerkennung und den Respekt der Welt zurück zu gewinnen – doch ein spezieller Konkurrent machte es ihm sehr schwer, seinen Stand auf dem Wirtschaftsparkett der Beyblade-Branche zu halten, geschweige denn weiter Fuß zu fassen: Kai Hiwatari, der als Chef der Hiwatari Enterprises aus Russland auf den europäischen Markt drängte und alle alteingesessenen Unternehmen mit seiner rabiaten Art das Fürchten lehrte. Noch konnte er sich gegen diese Bedrohung behaupten, doch wenn der aktuelle Firmenkurs weiterhin so verlief, wie es die momentanen Trends andeuteten, dann würde es nicht lange dauern, bis die Jürgens Corporation selbst von Hiwatari Enterprises verschlungen würde. „Ich gehe davon aus, dass du eine anstrengende Konferenz hinter dir hattest – nach deinem Gesicht zu urteilen.“ Erschrocken fuhr Robert herum, als eine dunkle Gestalt hinter der Tür hervor trat und diese mit einer bestimmten Handbewegung schloss. „Es ist schon eine ganze Weile her, Robert.“ Mit schnellen Bewegungen zog er seinem Opfer die Kleidung aus. Erleichtert hatte er festgestellt, dass er während des Kampfes nicht verletzt worden war – das bedeutete, dass die Anzahl möglicher DNS-Spuren, die sich auf seinem Opfer befanden, immerhin beträchtlich gesunken war. Innerlich war er zudem dankbar dafür, dass er in fremden Städten immer eine Flasche Desinfektionsmittel sowie diverse Reinigungstücher in seiner Tasche bei sich trug, und dass er beides erst kürzlich in einem Geschäft der Stadt hatte nachkaufen müssen, da seine eigenen Vorräte erschöpft gewesen waren. Auch hatte er bar bezahlt, und das außerdem in einem ganz anderen Viertel der Stadt – als hätte ich es geplant, schoss es ihm durch den Kopf, während er den inzwischen vollständig entkleideten Mann auf den Boden legte und seine Kleidung zu einem Bündel band. Systematisch begann er, seinen Körper mithilfe des Desinfektionsmittels und der Tücher zu säubern – vor allem an solchen Stellen, an denen sie Kontakt gehabt hatten, also an Hals und Händen, war er besonders gründlich. Während der Reinigung hatte er zudem die Handschuhe seines Opfers übergezogen, um möglichst wenig eigene Spuren zu hinterlassen. Sorgenvoll runzelte er jedoch die Stirn, als ihm auffiel, dass während des Kampfes wohl einige Fasern seiner Jeansjacke unter den Fingernägeln des anderen hängen geblieben waren. Er entfernte sie so gut er konnte – doch wer konnte sagen, was das hiesige Forensik-Labor alles zustande brachte? Er musste in jedem Fall einen Weg finden, um seine Jacke möglichst schnell und unauffällig verschwinden zu lassen. Als Robert schließlich fertig war betrachtete er sein Werk: dort lag er, vollkommen nackt und von oben bis unten gesäubert, zwischen Unrat und Abfall und Dreck, die leeren Augen gen Himmel gerichtet, den Mund leicht geöffnet. Fast kam es ihm so vor, als könnte er jeden Moment aufspringen und ihn anfallen – ihn anklagen, und alles zerstören. Für einen kurzen Moment zögerte Robert, dann entschloss er sich, auf einen absichernden Kehlenschnitt mit seinem Taschenmesser zu verzichten – zu groß war die Gefahr, neue Spuren zu legen; und selbst wenn es irgendjemand schaffen würde, ihn wiederzubeleben, müsste der durch Sauerstoffmangel entstandene Hirnschaden inzwischen so groß sein, dass eine stichhaltige Anklage unmöglich sein sollte. Doch nun, da er sein Opfer fertig bearbeitet hatte, stand er vor einem neuen Problem: wie konnte er mit dem Kleiderbündel unauffällig die Straße verlassen ohne Aufsehen zu erregen? Für einen Moment betrachtete er sich alle Möglichkeiten, die sich ihm boten, und seufzte schließlich ergeben, als ihm bewusst wurde, dass seine beste Chance zugleich auch die unangenehmste war – doch was blieb ihm anderes übrig? Angewidert legte er seine Kleidung ab und begann dann, seine Haut mit dem Dreck einzureiben, der sich zwischen den Abfällen gesammelt hatte. „Was machst du hier?“ Kalt musterte Robert sein Gegenüber, der es jedoch sichtlich genoss, seine Forderung zu übergehen und sich Zeit nahm, das Hotelzimmer zu betrachten. „Du hast hier wirklich eine schöne Unterkunft, das muss ich schon sagen. Erstaunlich, dass du dir das leisten kannst – ich habe mir sagen lassen, um deine Firma stünde es aktuell nicht sonderlich gut.“ Mit einem süffisanten Grinsen drehte er sich zu ihm um und setzte sich dann auf das Sofa der Suite. „Die Angelegenheiten meiner Firma gehen dich nichts an“, presste Robert wütend hervor, „und jetzt verschwinde aus dieser Suite, bevor ich den Sicherheitsdienst rufen lasse!“ Abwehrend hob er seine Hände und lachte leise. „Wirklich, du überraschst mich – bisher hatte ich dich immer als sehr kontrolliert und kalt eingeschätzt; ich wusste gar nicht, dass du so viel Leidenschaft besitzt… Andererseits sind wir uns in dieser Hinsicht vielleicht doch einfach sehr ähnlich.“ „Wir sind uns nicht im Geringsten ähnlich!“, fuhr Robert ihn an und schlug mit der Faust gegen die Wand, an der er stand. „Es gibt nichts, was uns verbindet!“ „Oh, mein lieber Robert, da wäre ich mir nicht so sicher“, antwortete er mit einem selbstzufriedenen Grinsen und zog ein Papier hervor, das er an Robert weiterreichte, der es zögerlich annahm und mit finsterer Miene überflog. „Wie du siehst gibt es zwischen uns einiges mehr, als du wahrhaben willst, und auf diesem Brief ist der Beweis – natürlich ist das, was du in Händen hältst, nur eine Kopie; das Original ist sicher verwahrt, für den Fall, dass du dich nicht… kooperativ zeigen solltest.“ Scharf sog Robert Luft ein, um etwas zu erwidern, doch er hob die Hand und sprach sogleich weiter: „Aktuell weiß niemand darüber Bescheid, außer dem eingeschworenen Kreis aller Beteiligten“, an dieser Stelle zwinkerte er ihm vertraulich zu, und Robert wurde unwillkürlich schlecht, „allerdings könnte ich mir durchaus vorstellen, dass vielleicht das eine oder andere Detail aus diesem Brief – ich weiß nicht – vielleicht an eine Tageszeitung geraten könnte, oder vielleicht sogar an einen dieser kleinen, netten Fernsehsender, die sich auf Skandale im Reich der Prominenz spezialisiert haben…“ Zitternd vor Wut zerknüllte Robert das Papier in seiner Hand. „Was willst du?“, knurrte er mit kaum verhohlenem Zorn, der ihn jedoch vollkommen unbeeindruckt ließ. „Nicht viel, Robert“, kam die amüsierte Antwort, „nur etwas Unterstützung von dir in meinen Plänen – ich habe mir sagen lassen, dass deine Firma aktuell ohnehin nach neuen Geschäftsideen sucht, um sich von deinem Vater“, dieses Wort sprach er mit unverhohlenem Spott aus, „zu erholen. Vielleicht habe ich ja das eine oder andere Angebot für dich, das den Laden wieder in Schwung bringen kann, und von dem wir letztlich beide profitieren“, er wies auf den Sessel vor sich, „setz dich doch.“ Für einen Moment noch blieb Robert stehen, denn das, was hier gerade geschah, widerstrebte allem, wofür er in seinem Leben je eingestanden hatte. Doch er wusste, dass er keine andere Wahl hatte – wenn er sich jetzt nicht fügte, dann würden alle die Wahrheit erfahren, und das durfte niemals geschehen. Unwillig setzte er sich ihm gegenüber, der sich verschwörerisch zu ihm lehnte und ihn mit bedrohlich leuchtenden Augen ansah. „Und nun: Lass uns über das Geschäft reden.“ Mit bestimmten Bewegungen wusch sich Robert das Shampoo aus den Haaren und genoss das Gefühl, endlich wieder frei von Dreck zu sein – auch wenn er sich später in der Hotel-Suite wahrscheinlich noch einige Male duschen würde, bevor er sich wieder vor anderen präsentieren konnte. Schließlich stellte er das Wasser der Dusche ab und trat in das viel zu kleine Badezimmer, das zwar dringend renovierungsbedürftig, aber immerhin halbwegs sauber war. Seit der Verabredung in der kleinen Seitengasse und dem daraufhin folgenden Missgeschick waren inzwischen gut zwei Stunden vergangen – in sechs Stunden wurde von ihm erwartet, ausgeruht und überzeugend auf dem Kongress zu erscheinen und sich als geschickter Geschäftsmann und lukrativer Sponsor zu zeigen. Doch wenn sich das Glück weiterhin so hold zeigte wie bisher, dann würde ihm auch das mit genug Geschick und Fingerspitzengefühl gelingen. Nachdem er sich in der Gasse entkleidet hatte, hatte er sich mit Dreck eingerieben, um das Äußere – und den Geruch – eines Obdachlosen anzunehmen; glücklicherweise hatte er eine Schirmmütze dabei gehabt, sodass er sich nicht all zu viel Unrat in die Haare hatte schmieren müssen, dennoch aber seine markante Haarfarbe gut überdecken konnte. Bis auf die Jeansjacke hatte er sich hauptsächlich wieder seine eigene Kleidung angezogen, die er ebenfalls mit Dreck eingerieben hatte, sodass man kaum noch erkennen konnte, welche Farbe Hose und Pullover einmal gehabt hatten; darüber hatte er sich den ebenfalls mit Dreck getarnten Mantel seines Opfers geworfen. Natürlich hatte all das Zeit gekostet – doch Robert war schnell klar geworden, dass eine übereilte Flucht vom Tatort wesentlich schlimmer gewesen wäre als eine ordentliche Tarnung und Beweisvernichtung, selbst auf die Gefahr hin, auf frischer Tat ertappt zu werden. Die dunkle Seitengasse war gottverlassen gewesen, die angrenzenden Häuser hatten keine Fenster, aus denen man die Tat oder seine Vorsichtsmaßnahmen hätte sehen können – also war es geschickter gewesen, mit Ruhe die Beweise zu beseitigen, bevor am Ende Hinweise auf ihn bei der Leiche gefunden würden. Als er seine Kleidung nach Hinweisen und verdächtigen Gegenständen – und vielleicht sogar dem Original-Brief – durchsucht hatte, waren ihm der Zimmerschlüssel und die Adresse eines billigen Motels in die Hände gefallen, und in diesem Moment war ihm klar geworden, wie er weiter vorgehen würde. Und so hatte er die letzten eineinhalb Stunden hauptsächlich damit verbracht, als angeblicher Obdachloser durch die Straßen der Stadt zu streifen und an geeigneten, willkürlich verteilten Stellen Einzelteile der Kleidung seines Opfers sowie seine Jeansjacke an andere Obdachlose oder Sammelstellen zu geben, mit Ausnahme des Mantels. Schließlich war Robert zu dem Motel gegangen, in dem er sich niedergelassen hatte, und war nun dabei, sich und seine Kleidung zu reinigen. Ihm war bewusst, dass er dabei Spuren hinterließ – doch er baute darauf, dass niemand wusste, dass er hier abgestiegen war; zudem war er sich sicher, dass er genau so viel Wert darauf gelegt hatte, unerkannt zu bleiben, wie Robert selbst. Nervös spielte Robert mit dem Reißverschluss der Umhängetasche, die er über seine Schulter gehängt hatte. Nach dem Überraschungsbesuch in seinem Hotelzimmer hatte er mit ihm vereinbart, sich noch am selben Abend in einem abgelegenen Eck der Stadt zu treffen – Robert wollte vermeiden, dass zu viele Leute mitbekamen, mit wem er da Geschäfte machte, weshalb er ein weiteres Treffen im Hotel kategorisch abgelehnt hatte. Um möglichst unauffällig zu sein und wenig Aufsehen zu erregen hatte er an diesem Abend mit seiner Sporttasche das Hotel verlassen – auf dem Weg zu einem kleinen, privaten Trainingsgebäude, in dem er bereits häufiger mit seinem Team trainiert hatte. Sein Plan war, sich dort ein Alibi zu verschaffen, sodass er auf Nachfragen jederzeit antworten konnte wo er die Nacht verbracht hatte und eine Bestätigung für seinen Aufenthaltsort bekam, die sogar durch eine Kamera im Eingangsbereich belegt werden konnte. In die Tasche selbst hatte er neben diversen Papieren und seinem Alltagsgepäck eine alte Jeansjacke, eine ausgeblichene Hose, eine Schirmmütze, Turnschuhe und einen unauffälligen Pullover gepackt, die er auf längeren Geschäftsreisen mit sich führte, wenn er sich unerkannt in den Städten bewegen wollte, und von denen keiner wusste, dass er sie besaß. Nachdem er in der Trainingshalle angekommen war und beim Besitzer eingecheckt hatte begab er sich zu dem Trainingsraum, den er auch sonst mit seinem Team nutzte – er hatte Glück gehabt, dass er noch frei gewesen war. Das Gebäude war Rund um die Uhr geöffnet und sehr diskret, weshalb es gerne von Sportteams genutzt wurde, um vor Meisterschaften ohne Störung oder drohende Spitzeleien durch Konkurrenten in ruhe Trainieren zu können. Da er selbst noch aktiv bladete war es also nichts ungewöhnliches, wenn er sich für die Nacht einen Trainingsraum im dritten Stock mietete – und der Betreiber des Gebäudes würde sich hüten, den Raum zu betreten, während sich Robert darin befand, das wusste er; zumal er den Schlüssel hatte, um den Raum von innen zu verriegeln. In der Umkleidekabine überprüfte er sicherheitshalber, ob nach wie vor keine Überwachungskameras installiert worden waren, und zog sich schließlich seine Zivilkleidung an, als er sicher war, dass ihn niemand sehen oder ihm etwas nachweisen konnte. Dann betrat er den Trainingsraum und begab sich zu den Fenstern an der Rückwand, die in eine Seitengasse blickten, in die man – abgesehen von den anliegenden Häusern – keinen Einblick hatte. Er öffnete das Fenster und warf einen prüfenden Blick in die Gasse. Aus keinem anderen der Fenster drang Licht, und er konnte auch sonst niemanden entdecken, der ihn hätte beobachten können. Schnell blockierte er die Fensterverriegelung mit Kreppband und kletterte dann auf den Sims, der sich unterhalb des Fensters um das Haus herum zog. Nach unten waren es aus dieser Höhe gut acht bis neun Meter Falltiefe, doch die Feuerleiter des gegenüberliegenden Hauses war nur etwa drei Meter entfernt – eine Entfernung, die er mit einem geschickten Sprung problemlos überwinden konnte, wie er wusste. Johnny und Enrico waren es gewesen, die diese Mutprobe in einem seiner unachtsamen Momente ausprobiert hatten, und eines Tages hatten sie sogar ihn dazu gebracht, den Sprung zu wagen – er hätte niemals gedacht, dass ihm diese Lächerlichkeit eines Tages derart zugute kommen würde. Mit Schwung warf er seine Tasche voran auf die Feuerleiter, dann schob er das Fenster zu. Erleichtert stellte er fest, dass der Verschlussmechanismus durch das Kreppband erfolgreich blockiert war, und sprang mit einem kräftigen Satz auf die Feuerleiter. Noch immer brannte kein Licht in der Gasse, kein Beobachter war zu sehen, und auch eine Überwachungskamera konnte er nicht finden. Bestimmt zog er sich die Schirmmütze tief ins Gesicht, schulterte seine Tasche, in der seine Unterlagen leise knisterten, und stieg die Feuerleiter herab. Er wusste nicht wirklich, was er sich von dem Treffen erhoffte; er hatte nicht vor, auf seine Forderungen einzugehen, doch aktuell sah er keine Möglichkeit, sich der Erpressung zu entziehen, ohne, dass sein dunkles Geheimnis aufgedeckt würde, weshalb er sich Kopien der Unterlagen mitgenommen hatte, die sie brauchen würden, um das Geschäft, das von ihm verlangt worden war, abzuwickeln. Innerlich hoffte er jedoch, dass ihm noch die rettende Idee kommen würde, um sich diesem Schicksal zu entziehen. Mit einem zufriedenen Nicken betrachtete Robert das Motelzimmer. Inzwischen hatte er seine Kleidung in der kleinen Waschmaschine des Zimmers gewaschen und sich wieder angezogen; der nasse Stoff klebte unangenehm auf seiner Haut, doch für den Moment würde er sich damit abfinden. Während er auf die Waschmaschine gewartet hatte, hatte er die Gelegenheit genutzt, das Zimmer zu durchsuchen – und er hatte Glück gehabt: Bei seiner Suche hatte er den Original-Brief und einige andere, pikante Unterlagen über ihn und andere Kongressteilnehmer gefunden, die er sich sogleich eingepackt hatte. Diese Informationen durften niemals in falsche Hände geraten! Mit etwas Geschick würde er selbst sie jedoch gut einsetzen können – vor allem ein Papier über den aktuellen Obmann von Hiwatari Enterprises war ihm ins Auge gefallen. Wenn er nicht zu übereilt handelte, so hatte dieses Dokument die Macht, all seine Sorgen in Luft aufzulösen; und bis dahin musste er sehr, sehr vorsichtig sein. Ein letztes Mal ließ er seinen Blick über den Raum schweifen. Er hatte das Zimmer, nachdem er es durchwühlt hatte, wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurück versetzt und seine Habseligkeiten eingepackt. Die Kleidung würde er an der nächsten Altkleider-Sammelstelle abgeben, und den Koffer und die wenigen, persönlichen Habseligkeiten die sich im Zimmer befunden hatten wollte er auf einer Müllhalde ablegen, die er auf dem Weg zum Motel gesehen hatte. Natürlich blieb das Risiko bestehen, dass die Polizei in einer groß angelegten Suche alle Altkleider-Sammlungen der Stadt durchwühlen, die Kleidung finden und Hautschuppen und Haare – die er zweifelsohne auf den Kleidern hinterlassen hatte – auf der Kleidung nachweisen würde und das Verbrechen zu ihm zurückverfolgen konnte, doch Robert vertraute darauf, dass er es niemandem Wert war, einen solchen Aufwand zu betreiben. Nun musste er es nur noch unerkannt zurück zu dem von ihm gemieteten Trainingsraum schaffen, und niemand würde ihn je mit diesem Verbrechen in Verbindung bringen können. Wieder zog er sich seinen Mantel über und setzte die Schirmmütze auf. Um Verdachtsmomente zu beseitigen würde er aus dem Zimmer auschecken; er hoffte, dass die Betreiber nicht all zu genau hingesehen hatten, als er das Zimmer gemietet hatte, und dass er die körperliche Ähnlichkeit, die zwischen ihnen bestand, nutzen konnte, um sich als er auszugeben. Die Gasse war dunkel, als er sie betrat, und zu seiner Erleichterung befand sich kein Obdachloser in ihr. Die Menschen auf der Straße beachteten ihn nicht weiter, als er tiefer in die Schatten hinein lief und schließlich um die Ecke bog. Sein Blick verfinsterte sich unwillkürlich, als er sah, dass er bereits auf ihn wartete. Ein kurzer Blick auf die Häuser, die sie umschlossen, verriet ihm, dass sie hier tatsächlich unbeobachtet waren, sofern nicht ein Obdachloser oder Prostituierte auf die Idee kamen, sich in diese Gasse zu verirren. „Du bist spät“, kam die herausfordernde Begrüßung seines Geschäftspartners, und Robert straffte die Schultern. „Ich musste erst dafür sorgen, dass niemand bemerkt, dass ich hier her komme. Im Gegensatz zu dir habe ich noch einen Ruf zu verlieren.“ „Ist das so?“ Drei Worte und ein süffisantes Grinsen. Das war alles, und Roberts Beherrschung war wie weggeblasen. Wütend kam er auf ihn zu. „Was willst du überhaupt von mir? Warum kannst du nicht einfach in das Loch zurück kriechen, aus dem du gekommen bist, und mich in Ruhe lassen? Deine Zeit ist vorbei, kapier das endlich! Du hast gespielt, und du hast verloren. Ich werde dich niemals in dem Versuch unterstützen, ein drittes Mal deine absurden Pläne zu verwirklichen – du bist nichts weiter als der Dreck, der auf der Straße liegt; du bist sogar weniger als das!“ Robert stand nun direkt vor ihm und funkelte ihn zornig an. „Du bist die Luft nicht wert, die du atmest, und niemals auf der Welt werde ich mit Abschaum wie dir gemeinsame Sache machen!“ Inzwischen war das Amüsement aus seinem Gesicht verschwunden, und blanker, kalter Hass lag nun in seinen Zügen. „Nun, wenn ich weniger bin als der Dreck unter unseren Füßen“, begann er mit mühevoll unterdrücktem Zorn in der Stimme und hob dabei die rechte Hand, „dann frage ich mich, was du dann wohl bist, Robert.“ Kraftvoll packte er Roberts Kinn und kam mit dem Gesicht bedrohlich näher. „Verrate mir, was dein Wert ist – Sohn.“ Mit einem Mal sah Robert rot, und mit einem animalischen Schrei stürzte er sich auf sein Gegenüber, der einen Moment brauchte, um zu reagieren – einen Moment zu lange. Schon hatte Robert die Hände um Boris‘ Hals gelegt und drückte mit eisernem Griff zu. Sein Ofer hatte keine Chance, sich zu wehren – er würde diese Gasse nicht mehr lebend verlassen. „Vielen Dank, dass Sie es mir so kurzfristig ermöglicht haben, bei Ihnen zu trainieren – nach den anstrengenden Sitzungen heute habe ich etwas Abwechslung gebraucht.“ Charmant lächelte Robert den Mann an, der hinter der Rezeption des Trainingsgebäudes saß und den Schlüssel entgegennahm, den Robert ihm reichte. „Keine Ursache, Herr Jürgens, dazu sind wir da. Hoffentlich beehren Sie uns bald wieder!“ „Mit Sicherheit, Mister Clarke, mit Sicherheit. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Nacht.“ „Gute Nacht, Herr Jürgens, und viel Erfolg morgen.“ Freundlich lächelte Mister Clarke, Robert nickte noch einmal zum Abschied und verließ dann das Gebäude, auf einem Weg, der ihn präzise durch den Aufnahmebereich der Kamera führte. Seine noch nasse Kleidung hatte er in seine Sporttasche gepackt und sich wieder den Anzug angezogen, in dem er das Gebäude betreten hatte. Seine Haare waren nass von der Dusche, die er in der Nasszelle der Umkleide genommen hatte, und er war noch etwas außer Atem, da er noch einige Runden um den Raum gerannt war, nachdem er in das Zimmer zurück geklettert war. Der Sprung auf den Sims war wesentlich schwieriger gewesen, als er es vermutet hatte – zumal er die Tasche nicht voraus werfen konnte, ohne das Fenster zu beschädigen. Fast wäre er vom Sims abgerutscht und in die Tiefe gestürzt, und nur das ausgesprochene Glück, das ihn in dieser Nacht beseelte, hatte ihn vor schwersten Verletzungen oder Schlimmerem bewahrt. Im Raum selbst hatte er außerdem auch etwas Wasser auf den Boden gesprenkelt – das Reinigungspersonal würde hoffentlich nicht untersuchen, ob es sich wirklich um Schweiß handelte oder nicht. Vor dem Gebäude nahm er sich ein Taxi und fuhr zurück ins Hotel, wo er zielgerichtet in seine Suite zurückkehrte. Es war bereits früher Morgen, und Robert wusste, dass der heutige Tag ihn einige Anstrengung kosten würde, doch diese Mühen waren ihren Lohn wert. Ein leises Grinsen legte sich auf sein Gesicht, als er aus den Unterlagen, die er aus dem Motel mitgenommen hatte, das Original-Dokument zog, das seine gesamte Existenz bedrohte, und es ein letztes Mal betrachtete. Dann ging er zu dem stilvollen Schwedenofen, der seine Suite schmückte und zugleich beheizte, öffnete die Feuerkammer und warf das Papier hinein. Ihn erfüllte ein unbeschreibliches Gefühl, als er dabei zusah, wie sich die Vaterschaftsbescheinigung mit DNS-Abgleich in Asche verwandelte. „…Hier sehen Sie, wie der Chef von Hiwatari Enterprises, Kai Hiwatari, vor dem Gericht abgeführt wird. Nach den dreimonatigen Gerichtsverhandlungen wegen verschiedener Wirtschaftsdelikte sowie zweier Mordanklagen wurde Kai Hiwatari für schuldig in allen Anklagepunkten befunden und zu drei Mal lebenslänglicher Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Das Gericht sah es für erwiesen an, dass Hiwatari vor vier Jahren seinen eigenen Großvater und ehemaligen Leiter der Hiwatari Enterprises, Voltaire Hiwatari, in Brüssel ermordet hatte, sowie vor einem Jahr in Las Vegas Boris Balkov, den ehemaligen Leiter der Biovolt Corporation, einer Tochtergesellschaft der Hiwatari Enterprises. Ausschlag für die Verhandlungen hatten einschlägige Beweisdokumente gegeben, die vor einigen Monaten anonym an die Staatsanwaltschaft geschickt worden waren.“ Mit ruhigen, fließenden Bewegungen ließ Robert sein Weinglas kreisen und sah dabei zu, wie sich das Licht im Rotwein brach und leuchtende Muster auf den Boden malte. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, und er fühlte sich so befreit wie seit langem nicht. „Oh Mann – wer hätte das gedacht?“ Mit mäßig interessierter Miene lehnte sich Johnny auf den Sessel, in dem Robert saß, und blickte auf den Fernseher, aus dem die Stimme der Nachrichtensprecherin drang, die weitere Details der Gerichtsverhandlung preis gab und mit diversen Experten über mögliche Gründe der Geschehnisse sprach. „Ich meine, Kai war schon immer ein arrogantes Arschloch – aber dass er gleich zwei Menschen kalt macht? Das hätte ich ehrlich nicht gedacht.“ „Nun, Menschen sind Meister der Illusionen; sie schaffen sich mit jedem neuen Tag ihre eigene Realität, und niemand ist davor gefeit, von ihnen getäuscht und hintergangen zu werden.“ „Wow, das sind ja mal wieder erhebende Worte“, bemerkte Johnny mit unverhohlenem Sarkasmus in der Stimme und ließ sich dann in den Sessel neben Robert fallen, „aber was erwarte ich von dir.“ Ein leises Lachen war Roberts einzige Antwort, als er Johnny ebenfalls ein Glas mit Rotwein reichte. „Hier, bitte. Es ist zwar kein Whiskey, aber trotzdem sehr wohlgefällig.“ Mit gespielter Empörung schnaubte Johnny, als er das Glas annahm. „Weiß du, nur weil ich Schotte bin heißt das nicht, dass ich nur Whiskey trinke! Reduzier‘ mich nicht einfach nur auf irgendwelche billigen Klischees, die du in einem Reiseführer gelesen hast – und überhaupt, was soll ‚wohlgefällig‘ überhaupt für ein Wort sein?!“ Kaum hatte er das gesprochen, hatte Johnny auch schon den Großteil seines Weines mit einem kräftigen Schluck vernichtet. Dann stellte er das Glas neben sich auf einen eleganten Beistelltisch, und schweigend verfolgten beide eine Weile die Nachrichten, bis sich Johnny wieder zu Wort meldete. „Gratulation übrigens.“ „Gratulation wofür?“ Fragend hob Robert eine Augenbraue, wandte die Augen jedoch nicht vom Bildschirm ab. „Für die Hiwatari-Sache. Ich hätte ja echt nicht gedacht, dass du die Firma so schnell wieder hoch kriegst, aber andererseits sterben deine Konkurrenten auch aktuell weg wie Fliegen. Noch vor einem Jahr hätte ich gedacht, dass Hiwatari dich und deine Firma mit Haut und Haar verspeist, und jetzt ist es genau anders herum.“ „Es scheint wohl so.“ „Ich schätze mal, dass das Geld, dass du für die Übernahme gezahlt hast, schnell wieder einfließt – die Qualität der Firma ist top, und durch die Gerichtsverhandlung war sie ja quasi ein Schnäppchen.“ „Das kann man wohl meinen.“ „Außerdem steckt dieser Hiwatari-Entendreck in allen möglichen asiatischen Märkten drin, das eröffnet dir jede Menge neue Vertriebsmöglichkeiten.“ „In der Tat.“ Wieder breitete sich Schweigen zwischen den beiden aus, das von den Stimmen der Nachrichtensprecher ausgefüllt wurde. Keiner von ihnen rührte sich, bis Johnny schließlich verzweifelt die Arme in die Luft warf. „Das ist ja nicht zum Aushalten! Wie kannst du dir diesen langweiligen Blödsinn nur die ganze Zeit antun?!“ „Dieser langweilige Blödsinn hält mich auf dem Laufenden mit dem aktuellen Weltgeschehen, Johnny. Das ist nicht zu unterschätzen.“ „Ein bisschen Spannung von Zeit zu Zeit ist auch nicht zu unterschätzen.“ Schmollend verschränkte Johnny die Arme vor der Brust und starrte böse auf den Bildschirm, während Robert amüsiert lächelte. Still saßen beide nebeneinander, bis- „Wollen wir dann endlich Schach spielen?“ Mit quengelnde Stimme wandte sich Johnny an Robert, der ihn breit angrinste. „Ich dachte schon, du fragst nie.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)