It's Majestic von KradNibeid (Quartäre Quartalsgeschichten) ================================================================================ Freiheit für das Volk! ---------------------- „Wer hat Robert eigentlich zu unserem Chef gemacht? Im Ernst, sowas müssen wir uns doch nicht bieten lassen!" Empört verschränkte Enrico die Arme. Nur weil Robert mit Grippe im heimatlichen Bett lag und sie hier in Basel bei den europäischen Meisterschaften waren hieß das noch lange nicht, dass sie sich immer noch alles von ihm gefallen lassen mussten! Vor allem nicht diesen Notfallplan – ein im Trainingsraum deponierter Brief, in dem im Grunde stand, dass keiner von ihnen alleine etwas taugte und es deshalb keinen stellvertretenden Teamkapitän geben würde. Stattdessen war nur ein Notfall-Handy mit Roberts Nummer in der Kurzwahl Eins beigelegt. Das war eine Unverschämtheit! "Hiermit beantrage ich offiziell eine institutionelle Demokratie!" Skeptisch zog Oliver eine Augenbraue hoch, und Johnny lachte. "Eine Demokratie? Das ist alles, was dir dazu einfällt?" "Natürlich! Wir müssen uns das von Robert nicht gefallen lassen - hiermit startet die Revolution! Freiheit für das Volk!" Aufgeregt fuchtelte Enrico mit den Armen und schien dabei sehr überzeugt von der Wichtigkeit seiner Worte. Umso enttäuschender war es für ihn, dass offensichtlich keiner der anderen motiviert schien, mitzuziehen. Johnny zeigte ihm galant den Vogel, während Oliver sein Schläfen massierte und unglücklich drein blickte. "Komm schon, Oliver, du als Frazose musst das doch verstehen! Liberté! Égalité! Paternité!" Energisch ging Enrico zu Oliver und fasste ihn an den Schultern, woraufhin dieser versuchte, sich aus Enricos Griff herauszuwinden. "Was hat denn bitte meine Herkunft mit deiner Schnapsidee zu tun?! Und außerdem heißt das Fraternité, branque. Es sei denn, du hast es geschafft, tatsächlich ein deiner Liebschaften zu schwängern." Verletzt ließ Enrico wieder von Oliver ab. "Et tu, Oliver?" Genervt verdrehte Johnny die Augen. "Jetzt reicht es mit den schlechten Zitaten! Und nur damit das klar ist: ich finde deine Idee absolut idiotisch, Enrico", mit diesen Worten kam Johnny zu den beiden und verschränkte die Arme vor der Brust, "aber andererseits muss ich gestehen, dass ich nicht einsehe, dass Robert uns jetzt schon per Brief Vorträge hält und einfach pauschal sagt, wir kriegen es nicht auf die Reihe, uns zu organisieren." "Nun ja, Johnny, wenn ich dich daran erinnern darf: Noch vor einer knappen Stunde habt ihr beide euch angebrüllt wie zwei brünftige Hirsche, um zu entscheiden, wer der stellvertretende Teamkapitän wird - frei nach dem Motto: Der Lautere gewinnt", entgegnete Oliver pikiert, und fügte etwas leiser hinzu: "Außerdem bin ich nach wie vor überzeugt, dass wenn dann ich der Einzige hier bin, der es auf die Reihe kriegen würde, Roberts Platz einzunehmen." "Aber genau deswegen schlage ich doch die Demokratie vor!", mischte sich wieder Enrico ein und strahlte über das ganze Gesicht, weil seine Idee nun doch Fuß zu fassen schien. "Wenn wir einfach über alles abstimmen, dann müssen wir uns nicht mehr anschreien - wir müssen nur vorher abmachen, dass wir die Wahlen in jedem Fall akzeptieren, egal, was dabei heraus kommt." "Du meinst, so, wie wir beschlossen haben, Roberts Entschluss anzunehmen, egal wie er lautet?" Der ironische Unterton in Olivers Stimme war kaum zu überhören, doch scheinbar war Dummheit seit Neuestem ansteckend: Denn nun war es Johnny, der den Faden weitersponn. "Denk doch mal drüber nach, Oliver: Robert meinte doch, wir sollen zusammenarbeiten, weil jeder sein Bestes dazu geben soll. Wie sollte das besser funktionieren als mit Abstimmungen unter der Leitung eines gewählten Präsidenten?" Selbstgefällig grinste Johnny, und Oliver schnappte nach Luft. "Und seit wann bist du auf Enricos Seite? Und was soll auf einmal dieses Gerede von wegen ‚gewählter Präsident‘?" "Zum einen bin ich nicht auf Enricos Seite; ich habe lediglich beschlossen, dass ich mich nicht von Robert herumkommandieren lassen will, wenn er nicht mal anwesend ist. Zum anderen braucht jede Demokratie einen gewählten Volksvertreter, der für das Volk regiert - sonst ist es ja eine Anarchie, und keine Demokratie, oder?" Johnnys Ausstrahlung verriet klar, dass er sich jetzt schon als Präsident sah - und Oliver erkannte seine letzte Chance, einzugreifen, bevor alles zu spät war: "Wir werden keinen Präsidenten wählen, Johnny! Wir wissen doch alle, dass jeder nur für sich selbst stimmen würde, und das würde niemandem etwas bringen! Und außerdem funktioniert Anarchie anders." Gestresst begann Oliver wieder, sich die Schläfen zu massieren. "Ich meine, wir werden um Abstimmungen nicht herum kommen, denn ansonsten gibt es ja gar keine Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, aber wir brauchen noch eine Alternative, die wir alle Bedingungslos annehmen, wenn das scheitern sollte" - in diesem Moment warf Oliver Johnny einen giftigen Blick zu - "und damit meine ich keinen Präsidenten!" Unmerklich senkten sich Johnnys Schultern, als Enrico Oliver auf einmal eine Hand mit Zündhölzern - wo auch immer er die her hatte - vor die Nase hielt. "Lose!" Übers ganze Gesicht strahlend blickte er seinen Teamkollegen an. "Und es ist so toll, dass du jetzt auch dabei bist, Oliver!" Kurz überlegte Oliver. "Hm... Lose sind tatsächlich eine- Moment! Was heißt hier, ich wäre dabei?!" Empört blickte Oliver die anderen an, die ihn nur angrinsten. "Nun, du hast es selbst gesagt, Oliver: Abstimmungen lassen sich nicht vermeiden", ergriff Johnny das Wort, und Enrico führte den Satz fort: "Und damit verlief unsere erste Abstimmung einstimmig positiv für eine Volkherrschaft. Hiermit rufe ich die freie demokratische Mannschaft der Majestics aus!" Stolz breitete Enrico seine Arme aus und ließ dabei die Zündhölzer fallen. Entgeistert klappte Oliver der Mund auf. In der Tat war er so schockiert von dieser Entwicklung, dass er es nicht einmal fertig brachte, Enrico darauf hinzuweisen, dass alle seine Streichhölzer die gleiche Länge gehabt hatten und daher als Lose vollkommen untauglich gewesen wären. "Ha! Das traust du dich doch auch nur, weil Robert nicht da ist", meinte Johnny abfällig grinsend. "Immerhin traue ich es mich überhaupt", giftete Enrico zurück, und unglücklich seufzte Oliver auf. "Na gut, wenn ihr unbedingt eure Demokratie haben wollt, bitte sehr. Aber hört endlich auf, euch anzubrüllen - wenn ihr irgendetwas klären wollt, dann ruft doch eine Abstimmung aus." Für einen kurzen Moment blickten Enrico und Johnny Oliver an, und man konnte die Luft zwischen ihnen fast knistern hören. Doch sehr zu Olivers Erleichterung entspannten sich die beiden wieder, und Enrico ergriff das Wort. "Nun gut, dann eine Abstimmung: Wer ist dafür, dass wir nicht hier trainieren, sondern draußen am Pool bei den belle bocconcini, eh?" Begeistert grinste Enrico seine Teamkollegen an, den Arm in die Höhe gereckt. Oliver und Johnny tauschten kurz einen Blick aus, und gerade wollte Oliver das Wort ergreifen, als Johnny ebenfalls grinsend die Hand hob. "Weißt du was? Ich bin dafür. Es heißt doch immer, dass man sich am Tag vor einem großen Kampf ein bisschen entspannen soll, oder?" Entsetzt blickte Oliver seine Teamkollegen an. "Was...? Das kann doch nicht euer Ernst sein! Morgen ist die Meisterschaft, wir müssen trainieren! Und zwar hier!" Demonstrativ deutete Oliver auf den Boden, und Enrico betrachtete ihn mit großen Augen. "Das ist dann eine Negativ-Abstimmung, oder?" Grinsend legte Johnny seine Hand auf Olivers Schulter. "Weißt du, es tut mir ja wirklich Leid, aber da Enrico und ich zu zweit für das Training am Pool gestimmt haben - und wir mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit auch voll beschlussfähig sind - kannst du leider nicht mehr viel machen." "Aber du musst natürlich nicht mit, wenn du nicht möchtest. Ich kann verstehen, dass es dir unangenehm wäre, wenn am Pool alle ragazze zu mir kämen und keine mehr für dich übrig bliebe." Selbstüberzeugt strich sich Enrico durch die Haare, und Johnny kicherte gemein. "Als ob die irgendwas von einem dürren Stängel wie dir wollten." Demonstrativ rempelte Johnny Enrico an, als er an ihm vorbei in Richtung Ausgang lief. "Aber wisst ihr was? Die Abstimmung ist gefallen, und als artiges Glied der Demokratie beuge ich mich dem Willen der Mehrheit und gehe zum Pool. Wir sehen uns - oder auch nicht." Mit diesen Worten verschwand er durch die Tür, und wutentbrannt stürmte Enrico ihm hinterher. "He, warte! Bleib gefälligst hier, du... du Schafkuschler, du!" Mit einem kräftigen Schlag fiel die Tür des Trainingsraumes ins Schloss, und vollkommen überrumpelt und verzweifelt stand Oliver da und wusste nicht so recht, was eben eigentlich passiert war. Von draußen konnte er die Stimmen der beiden hören, die sich langsam entfernten, aber immer weiter aufschaukelten. Sein Gefühl sagte ihm, dass das kein gutes Ende nehmen würde. Während er sich hilflos im Raum umsah fiel sein Blick wieder auf Roberts Notfallplan und das Notfall-Handy. Gequält seufzte er auf. Das, was er gleich tun würde, ging gegen alles, was ihm sein Stolz gebot, und er hasste sich selbst dafür, doch er wusste einfach keinen anderen Ausweg. Mit zitternden Händen nahm er das Handy, drückte die Taste Eins und hielt sich das Gerät an sein Ohr. Während sich die Verbindung aufbaute überlegte er, was er Robert eigentlich sagen sollte - wobei ihm schmerzlich bewusst wurde, dass dieser Anruf die Bestätigung dafür war, dass Robert mit seinem Brief doch richtig gelegen hatte. Ein wenig schmerzte diese Erkenntnis ja schon. Gerade überlegte er, ob er vielleicht doch auflegen sollte, als am Anderen Ende der Leitung abgehoben wurde: „Swei Minu'en.“ Verwirrt runzelte Oliver die Stirn. Das war Roberts Stimme gewesen - wenn auch sehr verschnupft - aber was meinte er mit "zwei Minuten"? "Swei Minu'en länger, als ich ge'ach' hab. Immerhin." Das traf - im ersten Moment wollte Oliver heftig protestieren, doch dann besann er sich eines Besseren. Robert anzugiften würde der aktuellen Situation auch nicht helfen - und Robert war der einzige, der ihren Sieg jetzt noch retten konnte. "Du hattest mit allem vollkommen Recht", war alles, was Oliver daher sagte, und klang dabei ungewollt trostlos. "Ich weiß, 'ass ich Recht habe. Un' je's ersähl, was 'ie bei'en angerich'e' haben." Und Oliver begann, zu erzählen. Als Oliver seinen Bericht beendet hatte seufzte er einmal tief. Er hatte sich schon lange nicht mehr so unfähig gefühlt, doch er wusste, dass das der einzige Weg war. Womit er allerdings nicht gerechnet hatte war, dass Robert einfach wortlos auflegte. Verdutzt starrte er das Handy an. War Robert versehentlich auf die "Auflegen"-Schaltfläche gekommen? Sicherheitshalber rief er nochmal Robert an, doch der Anschluss wurde als "nicht erreichbar" deklariert. Ob Roberts Akku leer war? Nein, so eine Nachlässigkeit würde er sich nicht leisten. Das bedeutete - Robert hatte ihn ohne ein Wort abgespeist, nachdem er ihm seine umfassende Unfähigkeit gebeichtet hatte. Wie charmant. Beleidigt stopfte Oliver das Handy in seine Hosentasche und packte auch den Brief dazu. Fein. Wenn Robert sich nicht weiter um sein Team kümmern wollte, dann war das eben sein Pech. Wenn er den Titel verlieren wollte, bitte sehr. Er würde jedenfalls nicht aufrecht in die Niederlage rennen! Wütend nahm er sein Blade - ihm fiel auf, dass die Blades der anderen beiden noch im Safe lagen, soviel also zum Training am Pool - und startete es in den Trainingsparcours. Wenn sie morgen schon als Team untergehen würden, dann wollte zumindest er gewinnen! Bis Oliver den Trainingsraum verließ war es draußen Dunkel. Enrico und Johnny hatten sich nicht wieder blicken lassen, doch das war ihm egal. Bei so einem Teamzusammenhalt konnte er gerne auf sie verzichten. Am besten würde er sich einfach ein neues Team suchen. Oder sich für die Einzel-Wettkämpfe anmelden. Wütend ging er zurück in seine Suite, ohne danach zu sehen, was mit den anderen beiden war, und ließ sich ein warmes Bad ein. Während er sich seinen favorisierten Badezusatz zurechtmischte dachte er nochmal über den Tag nach und konnte nicht umhin, enttäuscht von Robert zu sein. Er hatte mehr von seinem Teamkapitän erwartet. Seufzend stieg er in die Wanne und genoss das Gefühl des warmen Wassers, das seinen Körper umspielte. Nach den Meisterschaften würde er sich einfach ein neues Team suchen. Nachdem er sich ausgiebig gebadet und danach nochmals gründlich geduscht hatte legte er sich schlafen. Er würde morgen mit Sicherheit nicht verlieren - das wusste er. Der Morgen kam - wie es Morgen so an sich haben - viel zu früh. Unwillig setzte sich Oliver in seinem Bett auf, als der Weckruf kam, und hob den Hörer des Hoteltelefons ab. "Guten Morgen, Monsieur, dies ist Ihr Weckruf. Es ist sechs Uhr." "Vielen Dank", murmelte Oliver und legte wieder auf. Seine Wirbelsäule knackte, als er sich streckte, und zügig begann er, sich anzuziehen. Bis um zehn Uhr musste ihre Teamaufstellung bei der Turnierleitung eingereicht sein, weshalb sie für acht Uhr eine Teambesprechung angesetzt hatten. Doch Oliver bezweifelte, dass die anderen sich daran noch erinnern würden. Der Zimmerservice klopfte an der Tür und brachte sein Frühstück. Gemütlich las Oliver in der Zeitung, während er sein Croissant verspeiste, und nach einer knappen Stunde hatte er sein Mahl beendet. Für einen kurzen Moment überlegte er, selbst die Teambesprechung ausfallen zu lassen und der Turnierleitung einfach eine willkürliche Kampf-Reihenfolge zu sagen, entschied sich jedoch dagegen; zum einen für den Fall, dass seine Teamkollegen wider Erwarten doch auftauchten, zum anderen, damit er mehr Munition hatte, wenn es darum ging, ihnen klar die Meinung zu sagen, wenn er das Team verließ. Unzufrieden begann er, um das Hotel zu joggen. Wirklich glücklich war er mit seiner Entscheidung nicht, das musste er zugeben, aber unter diesen Umständen würde sein guter Ruf als Blader unter dem Team leiden - und das konnte und wollte er sich nicht leisten. Er war ein Profi, und das sollte die Welt wissen. Und wenn das bedeutete, dass er sich von diesem Haufen Stümper trennen musste, dann war es eben so. Auch wenn sie, das musste er sich eingestehen, inzwischen wirklich gute Freunde geworden waren. Natürlich gab es ab und zu (oder, im Falle von Johnny und Enrico: immerzu) Streit und Zank, aber... irgendwie hatte er sie doch ins Herz geschlossen. Schließlich hatte Oliver seine Runde beendet und machte sich auf den Weg in den Trainingsraum. Er war etwas zu früh dran, doch eventuell konnte er so noch einmal eine seiner Attacken festigen, bevor es zum Match ging. Vor der Tür blieb er kurz stehen und runzelte die Stirn. Er hörte eindeutig die Geräusche kreiselnder Blades. Mit einem Schnauben straffte er seine Schultern. Jetzt war es zu spät für die beiden, sich wieder lieb Kind zu machen. Energisch stieß er die Türe auf. "Ich finde euer Verhalten ist echt..." Er beendete den Satz nicht, denn zu überrascht war er von dem, was er da sah: Vor ihm stand Robert, mit Mundschutz, Schal und Mütze und in eine dicke Jacke gepackt, im Trainingsraum und war offensichtlich gerade dabei, Enrico und Johnny, die beide sehr unglücklich drein blickten, durch den Parcours zu scheuchen. Er nickte Oliver kurz zu, dann wandte er sich wieder seinen Teamkollegen zu. Ungläubig trat Oliver auf seinen Teamkapitän zu und fasste ihn kurz an den Arm, wie, um sich zu vergewissern, dass er wirklich da wäre. "Aber... ich dachte, du wärst...?" "Bin ich auch. Aber sons' wir' 'as 'och mi' 'en bei'en nich's." Genau konnte Oliver es nicht erkennen, doch er hatte das Gefühl, dass Robert ihn unter dem Schal angrinste. In diesem Moment gab auch Enrico Laut: "Hast du ihn gerufen? Das war total undemokratisch!" Empört fuchtelte er mit seinen Armen in der Luft und hätte es dabei fast geschafft, Amphilyon aus dem Parcours zu bugsieren. "Konsen'rier 'ich!", blaffte Robert ihn an, und Enrico zog den Kopf ein. Johnny, der den Parcours beendet hatte, sammelte sein Blade auf und ging zu Robert und Oliver. "Ist dir eigentlich klar, was du angerichtet hast?! Gestern Mittag stand das da", mit diesen Worten wies Johnny auf Robert, der ihn unbeeindruckt ansah, "auf einmal vor uns, und ehe wir uns versahen, hat er uns gezwungen, alle Strategien und Attacken unserer Gegner auswendig zu lernen!" "Und dann mussten wir mit ganz billigen Blades trainieren, weil wir nicht in den Trainingsraum durften", maulte Enrico, der nun auch endlich mit dem Parcours fertig war. Zufrieden lächelnd blickte Oliver Robert an und überging die Beschwerden seiner Teamkollegen. „Ich gehe davon aus, wir haben eine Teamaufstellung?" "Ers' Enrico, 'ann Johnny, 'ann 'u, Oliver. 'as is' am sichers'en. Wenn es ein Pa' gib', 'ann kämpfe ich. Aber sorg' 'afür, 'ass heu' keiner einen Urin'es' bei mir mach' - ich bin mir sicher, ich wür'e 'urchfallen." Wie um seine Aussage zu bestätigen musste Robert kräftig husten und rückte seinen Schal zurecht. "Blö'e Grippe." Eine Frage - eine Antwort ------------------------- „Du hast ein Loch in der Hose.“ Mit hochgezogener Augenbraue blickte Johnny auf das Mädchen, das vor ihm in ausgebeulten Jeans und sackigem T-Shirt breitbeinig auf dem Sofa saß. „Ich weiß“, meinte sie nur und zuckte mit den Schultern, während sie weiterhin auf den Bildschirm vor sich starrte und ein paar Knöpfe auf dem Controller des SNES betätigte. „Ich kann dein Höschen sehen!“ Aufgebracht deutete Johnny auf den Schritt ihrer Hose, in den ein Loch gerissen war, das groß genug war, um einen ganzen Arm hindurch zu stecken. Durch das Loch hindurch konnte man einen guten Blick auf ihre Unterwäsche werfen, was sie aber offensichtlich nicht im Geringsten tangierte. „Du musst ja nicht hingucken“, murmelte sie, ohne die Augen von ihrem Spiel zu lösen – Legend of Zelda, wenn Johnny sich nicht irrte – und griff dann in eine Chipstüte, die neben ihr auf dem Sofa lag. Verzweifelt warf Johnny die Hände in den Himmel, dann ließ er sich auf einen der Sessel fallen, die ebenfalls um den Fernseher herum standen. Er konnte Robert nicht verstehen. Er war das Inbild eines Ritters, stolz, ehrenhaft, höflich, gebildet, sportlich, reich – und er sah auch nicht ganz schlecht aus. Er hätte jedes adelige oder nicht-adelige Mädchen haben können, das er hätte haben wollen. Eine hübsche, zurückhaltende Freundin, die an seiner Seite das Bild der perfekten Sprosses aus gutem Hause ergänzte. Und stattdessen hatte er das da, dieses halb verwahrloste etwas, das nun in heruntergekommenen Klamotten auf dem Sofa im kleinen Herrenzimmer lümmelte und auf einem 30‘‘-Fernseher SNES spielte. Was hatte sich Robert dabei nur gedacht?! „Mir ist schlecht“, kam auf einmal der kleinlaute Kommentar vom Sofa, „ich kann den Pixeln beim Wandern zusehen…“ Das Mädchen hatte inzwischen den Controller neben sich auf das Sofa gelegt und lehnte sich zurück. Johnny bemerkte, dass sie tatsächlich etwas blass um die Nase war, und begann unwillkürlich, nach einem schnellen Fluchtweg zu suchen, sollte sie es tatsächlich fertig bringen, ihren Magen mitten auf Roberts teuren Teppich zu entleeren. „Vielleicht hättest du dir einfach vorher überlegen sollen, ob es klug ist, einen SNES an einen Dreißig-Zoll-Fernseher anzuschließen und auf Vollbild zu schalten“, meinte er gereizt und deutete auf den Bildschirm. „Aber SNES…“, maulte sie nur und zog eine Schnute. Gerade wollte Johnny etwas erwidern, als die Tür aufging und Robert den Raum betrat, in einem matt glänzenden Smoking mit passender Fliege. Das Mädchen auf dem Sofa lächelte ihn sofort an und streckte eine Hand nach ihm aus. „Hai!“ „Hey, Janka“, murmelte Robert und nahm ihre Hand in seine, ehe er sich an Johnny wandte. „Und, bist du so weit?“ „Das solltest du lieber sie fragen! Oder willst du mir ernsthaft weismachen, dass du sie in dem Aufzug zu deinem blöden Maskenball gehen lässt? Ihre Hose hat so große Löcher, dass man sogar ihre Unterwäsche sehen kann!“ Gereizt stand Johnny auf und zog seinen Kilt zurecht. Im Ernst, wenn er es mal wagte, seine Weste zu einem offiziellen Anlass zu tragen, dann bekam er von Robert gleich eine Strafpredigt, und dann durfte seine Freundin in einem Outfit zum Maskenball, das aussah, als wäre sie gerade von einer Erntemaschine überrollt worden? „Erstens ist das nicht mein blöder Ball, Johnny, sondern der blöde Ball der BBA, und zweitens-“ „-werde ich nicht hingehen“, führte Janka den Satz fort und stricht sich durch die braunen Haare. „Mal im Ernst, was will ich da? Ich kann ja nicht mal so wirklich bladen.“ Überrascht blickte Johnny sie an, dann wanderte sein Blick zu Robert, der sichtbar enttäuscht wirkte – wenn man wusste, wohin man blicken musste. „Janka meinte, sie würde nicht in die Gesellschaft passen, die unten versammelt ist; außerdem ist es wohl besser, wenn sie sich heute Abend wirklich etwas ausruht – du siehst blass aus“, das Ende des Satzes hatte Robert mit besorgter Miene zu Janka gesagt, die die Augen verdrehte. „Ich bin immer blass.“ „Aber nicht so blass wie heute!“ Lächelnd gab er ihr einen kleinen Kuss auf den Mund, dann wandte er sich wieder an Johnny. „Können wir? Bevor der Ball losgeht ist noch die Pressekonferenz für unser Team angesagt, und ich möchte nicht zu spät kommen.“ „Jaja, klar…“, murmelte Johnny und warf beim Verlassen des Zimmers einen düsteren Blick auf Janka, die ihnen zum Abschied winkte. Nicht nur, dass sie durch ihr Auftreten Roberts Aura abwertete, jetzt ließ sie ihn auch noch hängen – obwohl Robert dieser Maskenball, den die BBA auf den Gründen der Jürgens-Familie ausgerichtet hatte, offensichtlich sehr wichtig war. Er würde mit seinem Freund mal ein ernstes Wort über gesunde Beziehungen reden müssen. Die Tür fiel hinter den beiden zu, und für einen kurzen Moment betrachtete sich Janka das dunkle Holz. Dann fing sie an zu grinsen und huschte aus dem Raum in Richtung ihres eigenen Zimmers. „…Und damit danken wir Ihnen für das Interview!“ Die Kameras der Fotographen blitzen, und professionell lächelten die Majestics für die Presse. Das Team-Interview anlässlich des großen BBA-Maskenballs war endlich vorbei, und nun würden die eigentlichen Festivitäten beginnen, sobald sie den großen Festsaal betreten würden. Robert hatte eigens Sorge dafür getragen, dass eine der besten Tanzkapellen aufspielt, und es gab eine kleine Bühne, sodass im Verlaufe des Abends immer wieder kleinere Ansprachen und Laudationen gehalten werden konnten. Der Weg vom Foyer in den Festsaal kam Johnny viel zu weit vor, zumal sie von dutzenden Paparazzi begleitet wurden, die jeden ihrer Schritte dokumentieren. Es war anstrengend, der Presse so ausgesetzt zu sein, und er hoffte, dass sich die Aufmerksamkeit der Journalisten im großen Saal weiter ausbreiten würde. Immerhin waren auch viele andere Weltklasse-Blader anwesend, da würden sie hoffentlich andere Opfer finden. Kurz blickte er Robert von der Seite an. Das gesamte Interview über hatte er sich als der übliche gebildete Gentleman gegeben, und auch jetzt wirkte er Äußerlich ruhig, doch er wusste, dass Robert zu gerne diesen Anlass genutzt hätte, um das Balg, mit dem er nun immerhin schon fast zwei Jahre zusammen war – was auch immer er an ihr fand -, endlich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Endlich waren sie an der Saaltür angekommen, und der Anblick, der sich ihnen Offenbarte, war herrlich: Die verspiegelten Wände waren über und über mit Armleuchtern beleuchtet, und von den Decken hingen Kristall-Lüster. Goldene Ornamente schmückten Wände und Decke, und der Boden war aus poliertem Marmor. Überall standen Gäste in edlen Abendkleidern und mit exotischen Masken verkleidet und füllten die Luft mit dem melodischen Raunen angeregter Unterhaltungen. Am Kopfende des Saales war die Tanzkapelle in weißen Uniformen aufgebaut, und dahinter stand die Bühne mit reich verziertem Rednerpult, auf dem das Wappen der Jürgens-Familie prangte, und hinter dem Rednerpult, in einem ausladenden, weißen Kleid, stand- „Janka?“, keuchte Johnny erschrocken, und neben ihm blieb Robert abrupt stehen, als er seine Freundin bemerkte. Die braunen Haare hatte sie hochgesteckt, und ihr Kleid ähnelte fast schon eher einem Brautkleid als einem Abendkleid; Johnny musste ihr zugestehen, dass sie wirklich gut aussah – ausnahmsweise. Sie strahlte sie mit einem Lächeln an, das tatsächlich zu leuchten schien, und plötzlich wurde ein Scheinwerfer auf sie gerichtet. „Willkommen, Gäste und Freunde der BBA, auf diesem wunderbaren Benefiz-Maskenball in der ehrwürdigen Festhalle der alten Gemäuer des Familiensitzes des Hauses Jürgens. Dieser Abend ist den Kindern in Not gewidmet, für deren Wohl wir spenden wollen, und er ist den Bladern gewidmet, die mit ihrem Sport und ihrem Engagement den Grundstein gelegt haben für die Spenden, die wir nach Indien schicken wollen. Doch all dies haben wir vor allem zwei Personen zu verdanken: Demjenigen, der durch sein jahrelanges Engagement erst möglich gemacht hat, dass der Beyblade-Sport zu einer solchen Wichtigkeit gelangen konnte – Mister Stanley Dickenson!“ Mit einer einladenden Geste wies Janka auf Mr. Dickenson, der nun ebenfalls von einem Scheinwerfer angeleuchtet wurde, und der gerührt seinen Hut, auf dem ein vergoldetes Hirschgeweih saß, hob. Der Applaus verebbte, und Janka sprach weiter. „Doch noch ein weiterer Mann ist heute Abend hier, ohne den dieses Fest nicht möglich gewesen wäre. Er hat sich mit Spendern und Hilfswerken auseinandergesetzt, er hat seine Ländereien zur Verfügung gestellt, um diesen Ball auszurichten, und nicht zuletzt hat er dafür gesorgt, dass dieser Ball wohl für uns alle ein unvergessliches Erlebnis werden wird. Dieser Mann ist Robert Jürgens!“ Wieder applaudierten die Gäste, und diesmal wurde Robert angeleuchtet, der aus Routine heraus lächelnd winkte. „Doch für mich ist Robert nicht nur Gastgeber, Sponsor und Organisator, nein“, sprach Janka weiter, und der Applaus der Leute verebbte. „Für mich ist Robert auch seit zwei Jahren ein wundervoller Freund und Partner, auf den ich mich immer verlassen kann. Der für mich da ist, wenn ich ihn brauche, der mich respektiert für das, was ich bin, und der, mit allen seinen guten und schlechten Seiten, der Mann ist, mit dem ich mein Leben verbringen will.“ Einige Gäste begannen, aufgeregt zu raunen, während Janka sprach, und Johnny bemerkte, dass Robert neben ihm das Schwitzen begann. „Und deshalb, Robert Jürgens, frage ich dich“, und mit diesen Worten zog Janka eine Schatulle aus einer Tasche, die wohl irgendwo in den Röcken des Kleides versteckt war, und öffnete sie, „willst du mich heiraten?“ In diesem Moment geschahen viele Dinge auf einmal. Einige der weiblichen Gäste begannen, wild zu jubeln und Robert anzufeuern. Die Blitzlichter der Kameras veranstalteten ein wahres Feuerwerk – und neben Johnny fiel Robert in Ohnmacht. „…also, ich wusste ja schon, dass ich andere sprachlos machen kann, aber ich hätte nicht gedacht, dass ich tatsächlich so umwerfend bin.“ „Hör auf, blöde Witze zu machen! Hast du eigentlich eine Ahnung, was du getan hast?!“ „Ich habe ihm einen Antrag gemacht. Na und? Darf ich das als Frau wohl nicht?“ „Doch, aber… jetzt weiß die ganze Presse davon! Du weißt doch noch nicht mal, ob er ja sagt, und morgen wird das alles in den Zeitungen stehen! Weißt du eigentlich, was das für eine Rufschädigung ist?“ „Na hör mal, er hatte doch selbst gesagt, dass er mich heute Abend der Presse präsentieren will. …Pressentieren, verstehst du?“ „...Ich hasse dich.“ „Ich will ja auch nicht dich heiraten, von daher tangiert mich das eher weniger.“ Leise stöhnte Robert auf, und er spürte, wie sich eine Hand auf seine Wange legte. „Robert? Geht es dir gut?“ Langsam öffnete er die Augen und blickte in Jankas Gesicht, die ihn besorgt musterte. Er lag auf einem Kanapee in einem der Nebenräume des Festsaals, und außer ihm waren nur Johnny und Janka im Raum, die beide dicht bei ihm standen, wobei Janka sich über ihn gebeugt hatte. Ihm fiel auf, dass sie sich für den speziellen Anlass wirklich herausgeputzt hatte – sie sah wunderschön aus. Er hatte Schmetterlinge im Bauch, und lächelnd hob er seine Hand, um ihr über die Wange zu streichen. „Ja. Ja, ich wi- was…?“ Verwundert blickte er auf seine Hand, an deren Ringfinger ein schlichter, silberner Ring saß. Verlegen räusperte sich Janka. „Naja, also, weiß du… nachdem ich mir sicher war, dass du ja sagst, habe ich dir den Ring schon mal angesteckt, als du ohnmächtig warst. Damit er nicht verloren geht, weißt du?“ Mit einem schiefen Grinsen blickte sie ihn an, und für einen kurzen Moment spürte Robert den Drang, sie darauf hinzuweisen, wie naiv diese Einstellung war, und dass das auch irgendwo sehr unverschämt war, aber dann überwog ein intensives Glücksgefühl. Er war verlobt – sie waren verlobt. Sein Lächeln wurde breiter, und glücklich setzte sich Robert auf und küsste Janka auf den Mund. Plötzlich drückte sie ihm etwas kleines, rundes in die Hand. „Ich habe dir den Ring schon aufgesteckt“, flüsterte sie, „aber du musst mir noch die Ehre erweisen.“ Mit einem verschmitzten Grinsen blickte Robert auf den Ring, der in seiner Hand lag, fiel dann vor Janka auf die Knie und steckte ihr den Ring auf den Finger. „Ja, ich will.“ Mit diesen Worten küsste er ihre Hand. „…Wisst ihr was, Leute? Euch ist echt nicht mehr zu helfen.“ Mit einem Schnauben drehte sich Johnny um und verließ den Raum. Die Wahrheit wird mit dir verschwinden -------------------------------------- Konzentriert blickte Robert auf den leblosen Körper, der vor ihm auf dem Boden lag. Sein Puls raste, und seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte einen großen Fehler begangen – und doch hatte er keine andere Wahl gehabt, sonst hätte er alles, einfach alles verloren. Verzweifelt bohrten sich Finger in seinen Arm, doch das Adrenalin in seinen Adern sorgte dafür, dass er den Schmerz kaum wahrnahm. Mit aller Kraft schloss er seine Hände um den Hals seines sich wehrenden Opfers und drückte dabei immer fester zu. Schwer atmend nutzte Robert sein Körpergewicht, um den Mann auf den Boden zu pressen und ihn daran zu hindern, sich zu befreien. Seine Arme begannen, vor Anstrengung zu zittern, als das panische Röcheln seines Opfers erstarb, und schließlich lag er regungslos unter ihm. Noch eine Weile lang hielt Robert den Druck auf seine Kehle aufrecht, dann ließ er langsam von ihm ab und setzte sich auf. Schweiß rann über seine Haut, und außer dem Rasseln seines eigenen Atems war einige Zeit nichts weiter in der dunklen Seitenstraße zu hören. Nun hatte er ein großes Problem – um genau zu sein ein Problem, das einen Meter fünfundneunzig groß war und stattliche hundertundfünfzehn Kilogramm auf die Waage brachte. Und auf dem er in seinem verzweifelten Kampf zahllose Spuren hinterlassen hatte. Eine entfernte Sirene ließ ihn aufschrecken, und dringlich wurde ihm wieder bewusst, dass er sich in Las Vegas befand, in einer dunklen Seitengasse, und dass er jederzeit Gefahr lief, von einem Passanten – oder schlimmer, der Polizei – entdeckt zu werden. Wenn er nicht schnell handelte, dann würde es keine Chance mehr für ihn geben, jemals einer Anklage wegen Mordes zu entkommen. Und das alles nur wegen ihm. Angespannt betrat Robert sein Hotelzimmer und rieb sich die Schläfe. Er befand sich in Las Vegas, doch der Grund seiner Anwesenheit hier war nicht so angenehm, wie es der Aufenthaltsort hätte vermuten lassen. Angesichts der herannahenden neuen Beyblade-Weltmeisterschaft fand ein Kongress statt, auf dem alle möglichen Sponsoren und Investoren anwesend waren, um die neue Struktur und Planung der Weltmeisterschaften und der vorangehenden Kontinental-Meisterschaften zu beschließen. Als jüngst aufgestiegener Chef der Jürgens Corporation war es eine natürliche Verpflichtung, sich als Sponsor der europäischen Meisterschaften zu beteiligen – zumal das von ihm gebaute Olympia Stadium nach wie vor eines der größten und modernsten Beyblade-Stadien Europas war. Auch das gute Ansehen konnte seiner Firma nicht schaden; sein Vater, der noch bis vor einigen Monaten den Firmenvorstand inne gehabt hatte, hatte die Firma mit einigen riskanten Spekulationen fast in den Ruin getrieben, und der Ruf der Jürgens Corporation war aktuell auf dem Tiefststand. Eine Investition in die neuen Meisterschaften war für sie die einzige Möglichkeit, um die Anerkennung und den Respekt der Welt zurück zu gewinnen – doch ein spezieller Konkurrent machte es ihm sehr schwer, seinen Stand auf dem Wirtschaftsparkett der Beyblade-Branche zu halten, geschweige denn weiter Fuß zu fassen: Kai Hiwatari, der als Chef der Hiwatari Enterprises aus Russland auf den europäischen Markt drängte und alle alteingesessenen Unternehmen mit seiner rabiaten Art das Fürchten lehrte. Noch konnte er sich gegen diese Bedrohung behaupten, doch wenn der aktuelle Firmenkurs weiterhin so verlief, wie es die momentanen Trends andeuteten, dann würde es nicht lange dauern, bis die Jürgens Corporation selbst von Hiwatari Enterprises verschlungen würde. „Ich gehe davon aus, dass du eine anstrengende Konferenz hinter dir hattest – nach deinem Gesicht zu urteilen.“ Erschrocken fuhr Robert herum, als eine dunkle Gestalt hinter der Tür hervor trat und diese mit einer bestimmten Handbewegung schloss. „Es ist schon eine ganze Weile her, Robert.“ Mit schnellen Bewegungen zog er seinem Opfer die Kleidung aus. Erleichtert hatte er festgestellt, dass er während des Kampfes nicht verletzt worden war – das bedeutete, dass die Anzahl möglicher DNS-Spuren, die sich auf seinem Opfer befanden, immerhin beträchtlich gesunken war. Innerlich war er zudem dankbar dafür, dass er in fremden Städten immer eine Flasche Desinfektionsmittel sowie diverse Reinigungstücher in seiner Tasche bei sich trug, und dass er beides erst kürzlich in einem Geschäft der Stadt hatte nachkaufen müssen, da seine eigenen Vorräte erschöpft gewesen waren. Auch hatte er bar bezahlt, und das außerdem in einem ganz anderen Viertel der Stadt – als hätte ich es geplant, schoss es ihm durch den Kopf, während er den inzwischen vollständig entkleideten Mann auf den Boden legte und seine Kleidung zu einem Bündel band. Systematisch begann er, seinen Körper mithilfe des Desinfektionsmittels und der Tücher zu säubern – vor allem an solchen Stellen, an denen sie Kontakt gehabt hatten, also an Hals und Händen, war er besonders gründlich. Während der Reinigung hatte er zudem die Handschuhe seines Opfers übergezogen, um möglichst wenig eigene Spuren zu hinterlassen. Sorgenvoll runzelte er jedoch die Stirn, als ihm auffiel, dass während des Kampfes wohl einige Fasern seiner Jeansjacke unter den Fingernägeln des anderen hängen geblieben waren. Er entfernte sie so gut er konnte – doch wer konnte sagen, was das hiesige Forensik-Labor alles zustande brachte? Er musste in jedem Fall einen Weg finden, um seine Jacke möglichst schnell und unauffällig verschwinden zu lassen. Als Robert schließlich fertig war betrachtete er sein Werk: dort lag er, vollkommen nackt und von oben bis unten gesäubert, zwischen Unrat und Abfall und Dreck, die leeren Augen gen Himmel gerichtet, den Mund leicht geöffnet. Fast kam es ihm so vor, als könnte er jeden Moment aufspringen und ihn anfallen – ihn anklagen, und alles zerstören. Für einen kurzen Moment zögerte Robert, dann entschloss er sich, auf einen absichernden Kehlenschnitt mit seinem Taschenmesser zu verzichten – zu groß war die Gefahr, neue Spuren zu legen; und selbst wenn es irgendjemand schaffen würde, ihn wiederzubeleben, müsste der durch Sauerstoffmangel entstandene Hirnschaden inzwischen so groß sein, dass eine stichhaltige Anklage unmöglich sein sollte. Doch nun, da er sein Opfer fertig bearbeitet hatte, stand er vor einem neuen Problem: wie konnte er mit dem Kleiderbündel unauffällig die Straße verlassen ohne Aufsehen zu erregen? Für einen Moment betrachtete er sich alle Möglichkeiten, die sich ihm boten, und seufzte schließlich ergeben, als ihm bewusst wurde, dass seine beste Chance zugleich auch die unangenehmste war – doch was blieb ihm anderes übrig? Angewidert legte er seine Kleidung ab und begann dann, seine Haut mit dem Dreck einzureiben, der sich zwischen den Abfällen gesammelt hatte. „Was machst du hier?“ Kalt musterte Robert sein Gegenüber, der es jedoch sichtlich genoss, seine Forderung zu übergehen und sich Zeit nahm, das Hotelzimmer zu betrachten. „Du hast hier wirklich eine schöne Unterkunft, das muss ich schon sagen. Erstaunlich, dass du dir das leisten kannst – ich habe mir sagen lassen, um deine Firma stünde es aktuell nicht sonderlich gut.“ Mit einem süffisanten Grinsen drehte er sich zu ihm um und setzte sich dann auf das Sofa der Suite. „Die Angelegenheiten meiner Firma gehen dich nichts an“, presste Robert wütend hervor, „und jetzt verschwinde aus dieser Suite, bevor ich den Sicherheitsdienst rufen lasse!“ Abwehrend hob er seine Hände und lachte leise. „Wirklich, du überraschst mich – bisher hatte ich dich immer als sehr kontrolliert und kalt eingeschätzt; ich wusste gar nicht, dass du so viel Leidenschaft besitzt… Andererseits sind wir uns in dieser Hinsicht vielleicht doch einfach sehr ähnlich.“ „Wir sind uns nicht im Geringsten ähnlich!“, fuhr Robert ihn an und schlug mit der Faust gegen die Wand, an der er stand. „Es gibt nichts, was uns verbindet!“ „Oh, mein lieber Robert, da wäre ich mir nicht so sicher“, antwortete er mit einem selbstzufriedenen Grinsen und zog ein Papier hervor, das er an Robert weiterreichte, der es zögerlich annahm und mit finsterer Miene überflog. „Wie du siehst gibt es zwischen uns einiges mehr, als du wahrhaben willst, und auf diesem Brief ist der Beweis – natürlich ist das, was du in Händen hältst, nur eine Kopie; das Original ist sicher verwahrt, für den Fall, dass du dich nicht… kooperativ zeigen solltest.“ Scharf sog Robert Luft ein, um etwas zu erwidern, doch er hob die Hand und sprach sogleich weiter: „Aktuell weiß niemand darüber Bescheid, außer dem eingeschworenen Kreis aller Beteiligten“, an dieser Stelle zwinkerte er ihm vertraulich zu, und Robert wurde unwillkürlich schlecht, „allerdings könnte ich mir durchaus vorstellen, dass vielleicht das eine oder andere Detail aus diesem Brief – ich weiß nicht – vielleicht an eine Tageszeitung geraten könnte, oder vielleicht sogar an einen dieser kleinen, netten Fernsehsender, die sich auf Skandale im Reich der Prominenz spezialisiert haben…“ Zitternd vor Wut zerknüllte Robert das Papier in seiner Hand. „Was willst du?“, knurrte er mit kaum verhohlenem Zorn, der ihn jedoch vollkommen unbeeindruckt ließ. „Nicht viel, Robert“, kam die amüsierte Antwort, „nur etwas Unterstützung von dir in meinen Plänen – ich habe mir sagen lassen, dass deine Firma aktuell ohnehin nach neuen Geschäftsideen sucht, um sich von deinem Vater“, dieses Wort sprach er mit unverhohlenem Spott aus, „zu erholen. Vielleicht habe ich ja das eine oder andere Angebot für dich, das den Laden wieder in Schwung bringen kann, und von dem wir letztlich beide profitieren“, er wies auf den Sessel vor sich, „setz dich doch.“ Für einen Moment noch blieb Robert stehen, denn das, was hier gerade geschah, widerstrebte allem, wofür er in seinem Leben je eingestanden hatte. Doch er wusste, dass er keine andere Wahl hatte – wenn er sich jetzt nicht fügte, dann würden alle die Wahrheit erfahren, und das durfte niemals geschehen. Unwillig setzte er sich ihm gegenüber, der sich verschwörerisch zu ihm lehnte und ihn mit bedrohlich leuchtenden Augen ansah. „Und nun: Lass uns über das Geschäft reden.“ Mit bestimmten Bewegungen wusch sich Robert das Shampoo aus den Haaren und genoss das Gefühl, endlich wieder frei von Dreck zu sein – auch wenn er sich später in der Hotel-Suite wahrscheinlich noch einige Male duschen würde, bevor er sich wieder vor anderen präsentieren konnte. Schließlich stellte er das Wasser der Dusche ab und trat in das viel zu kleine Badezimmer, das zwar dringend renovierungsbedürftig, aber immerhin halbwegs sauber war. Seit der Verabredung in der kleinen Seitengasse und dem daraufhin folgenden Missgeschick waren inzwischen gut zwei Stunden vergangen – in sechs Stunden wurde von ihm erwartet, ausgeruht und überzeugend auf dem Kongress zu erscheinen und sich als geschickter Geschäftsmann und lukrativer Sponsor zu zeigen. Doch wenn sich das Glück weiterhin so hold zeigte wie bisher, dann würde ihm auch das mit genug Geschick und Fingerspitzengefühl gelingen. Nachdem er sich in der Gasse entkleidet hatte, hatte er sich mit Dreck eingerieben, um das Äußere – und den Geruch – eines Obdachlosen anzunehmen; glücklicherweise hatte er eine Schirmmütze dabei gehabt, sodass er sich nicht all zu viel Unrat in die Haare hatte schmieren müssen, dennoch aber seine markante Haarfarbe gut überdecken konnte. Bis auf die Jeansjacke hatte er sich hauptsächlich wieder seine eigene Kleidung angezogen, die er ebenfalls mit Dreck eingerieben hatte, sodass man kaum noch erkennen konnte, welche Farbe Hose und Pullover einmal gehabt hatten; darüber hatte er sich den ebenfalls mit Dreck getarnten Mantel seines Opfers geworfen. Natürlich hatte all das Zeit gekostet – doch Robert war schnell klar geworden, dass eine übereilte Flucht vom Tatort wesentlich schlimmer gewesen wäre als eine ordentliche Tarnung und Beweisvernichtung, selbst auf die Gefahr hin, auf frischer Tat ertappt zu werden. Die dunkle Seitengasse war gottverlassen gewesen, die angrenzenden Häuser hatten keine Fenster, aus denen man die Tat oder seine Vorsichtsmaßnahmen hätte sehen können – also war es geschickter gewesen, mit Ruhe die Beweise zu beseitigen, bevor am Ende Hinweise auf ihn bei der Leiche gefunden würden. Als er seine Kleidung nach Hinweisen und verdächtigen Gegenständen – und vielleicht sogar dem Original-Brief – durchsucht hatte, waren ihm der Zimmerschlüssel und die Adresse eines billigen Motels in die Hände gefallen, und in diesem Moment war ihm klar geworden, wie er weiter vorgehen würde. Und so hatte er die letzten eineinhalb Stunden hauptsächlich damit verbracht, als angeblicher Obdachloser durch die Straßen der Stadt zu streifen und an geeigneten, willkürlich verteilten Stellen Einzelteile der Kleidung seines Opfers sowie seine Jeansjacke an andere Obdachlose oder Sammelstellen zu geben, mit Ausnahme des Mantels. Schließlich war Robert zu dem Motel gegangen, in dem er sich niedergelassen hatte, und war nun dabei, sich und seine Kleidung zu reinigen. Ihm war bewusst, dass er dabei Spuren hinterließ – doch er baute darauf, dass niemand wusste, dass er hier abgestiegen war; zudem war er sich sicher, dass er genau so viel Wert darauf gelegt hatte, unerkannt zu bleiben, wie Robert selbst. Nervös spielte Robert mit dem Reißverschluss der Umhängetasche, die er über seine Schulter gehängt hatte. Nach dem Überraschungsbesuch in seinem Hotelzimmer hatte er mit ihm vereinbart, sich noch am selben Abend in einem abgelegenen Eck der Stadt zu treffen – Robert wollte vermeiden, dass zu viele Leute mitbekamen, mit wem er da Geschäfte machte, weshalb er ein weiteres Treffen im Hotel kategorisch abgelehnt hatte. Um möglichst unauffällig zu sein und wenig Aufsehen zu erregen hatte er an diesem Abend mit seiner Sporttasche das Hotel verlassen – auf dem Weg zu einem kleinen, privaten Trainingsgebäude, in dem er bereits häufiger mit seinem Team trainiert hatte. Sein Plan war, sich dort ein Alibi zu verschaffen, sodass er auf Nachfragen jederzeit antworten konnte wo er die Nacht verbracht hatte und eine Bestätigung für seinen Aufenthaltsort bekam, die sogar durch eine Kamera im Eingangsbereich belegt werden konnte. In die Tasche selbst hatte er neben diversen Papieren und seinem Alltagsgepäck eine alte Jeansjacke, eine ausgeblichene Hose, eine Schirmmütze, Turnschuhe und einen unauffälligen Pullover gepackt, die er auf längeren Geschäftsreisen mit sich führte, wenn er sich unerkannt in den Städten bewegen wollte, und von denen keiner wusste, dass er sie besaß. Nachdem er in der Trainingshalle angekommen war und beim Besitzer eingecheckt hatte begab er sich zu dem Trainingsraum, den er auch sonst mit seinem Team nutzte – er hatte Glück gehabt, dass er noch frei gewesen war. Das Gebäude war Rund um die Uhr geöffnet und sehr diskret, weshalb es gerne von Sportteams genutzt wurde, um vor Meisterschaften ohne Störung oder drohende Spitzeleien durch Konkurrenten in ruhe Trainieren zu können. Da er selbst noch aktiv bladete war es also nichts ungewöhnliches, wenn er sich für die Nacht einen Trainingsraum im dritten Stock mietete – und der Betreiber des Gebäudes würde sich hüten, den Raum zu betreten, während sich Robert darin befand, das wusste er; zumal er den Schlüssel hatte, um den Raum von innen zu verriegeln. In der Umkleidekabine überprüfte er sicherheitshalber, ob nach wie vor keine Überwachungskameras installiert worden waren, und zog sich schließlich seine Zivilkleidung an, als er sicher war, dass ihn niemand sehen oder ihm etwas nachweisen konnte. Dann betrat er den Trainingsraum und begab sich zu den Fenstern an der Rückwand, die in eine Seitengasse blickten, in die man – abgesehen von den anliegenden Häusern – keinen Einblick hatte. Er öffnete das Fenster und warf einen prüfenden Blick in die Gasse. Aus keinem anderen der Fenster drang Licht, und er konnte auch sonst niemanden entdecken, der ihn hätte beobachten können. Schnell blockierte er die Fensterverriegelung mit Kreppband und kletterte dann auf den Sims, der sich unterhalb des Fensters um das Haus herum zog. Nach unten waren es aus dieser Höhe gut acht bis neun Meter Falltiefe, doch die Feuerleiter des gegenüberliegenden Hauses war nur etwa drei Meter entfernt – eine Entfernung, die er mit einem geschickten Sprung problemlos überwinden konnte, wie er wusste. Johnny und Enrico waren es gewesen, die diese Mutprobe in einem seiner unachtsamen Momente ausprobiert hatten, und eines Tages hatten sie sogar ihn dazu gebracht, den Sprung zu wagen – er hätte niemals gedacht, dass ihm diese Lächerlichkeit eines Tages derart zugute kommen würde. Mit Schwung warf er seine Tasche voran auf die Feuerleiter, dann schob er das Fenster zu. Erleichtert stellte er fest, dass der Verschlussmechanismus durch das Kreppband erfolgreich blockiert war, und sprang mit einem kräftigen Satz auf die Feuerleiter. Noch immer brannte kein Licht in der Gasse, kein Beobachter war zu sehen, und auch eine Überwachungskamera konnte er nicht finden. Bestimmt zog er sich die Schirmmütze tief ins Gesicht, schulterte seine Tasche, in der seine Unterlagen leise knisterten, und stieg die Feuerleiter herab. Er wusste nicht wirklich, was er sich von dem Treffen erhoffte; er hatte nicht vor, auf seine Forderungen einzugehen, doch aktuell sah er keine Möglichkeit, sich der Erpressung zu entziehen, ohne, dass sein dunkles Geheimnis aufgedeckt würde, weshalb er sich Kopien der Unterlagen mitgenommen hatte, die sie brauchen würden, um das Geschäft, das von ihm verlangt worden war, abzuwickeln. Innerlich hoffte er jedoch, dass ihm noch die rettende Idee kommen würde, um sich diesem Schicksal zu entziehen. Mit einem zufriedenen Nicken betrachtete Robert das Motelzimmer. Inzwischen hatte er seine Kleidung in der kleinen Waschmaschine des Zimmers gewaschen und sich wieder angezogen; der nasse Stoff klebte unangenehm auf seiner Haut, doch für den Moment würde er sich damit abfinden. Während er auf die Waschmaschine gewartet hatte, hatte er die Gelegenheit genutzt, das Zimmer zu durchsuchen – und er hatte Glück gehabt: Bei seiner Suche hatte er den Original-Brief und einige andere, pikante Unterlagen über ihn und andere Kongressteilnehmer gefunden, die er sich sogleich eingepackt hatte. Diese Informationen durften niemals in falsche Hände geraten! Mit etwas Geschick würde er selbst sie jedoch gut einsetzen können – vor allem ein Papier über den aktuellen Obmann von Hiwatari Enterprises war ihm ins Auge gefallen. Wenn er nicht zu übereilt handelte, so hatte dieses Dokument die Macht, all seine Sorgen in Luft aufzulösen; und bis dahin musste er sehr, sehr vorsichtig sein. Ein letztes Mal ließ er seinen Blick über den Raum schweifen. Er hatte das Zimmer, nachdem er es durchwühlt hatte, wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurück versetzt und seine Habseligkeiten eingepackt. Die Kleidung würde er an der nächsten Altkleider-Sammelstelle abgeben, und den Koffer und die wenigen, persönlichen Habseligkeiten die sich im Zimmer befunden hatten wollte er auf einer Müllhalde ablegen, die er auf dem Weg zum Motel gesehen hatte. Natürlich blieb das Risiko bestehen, dass die Polizei in einer groß angelegten Suche alle Altkleider-Sammlungen der Stadt durchwühlen, die Kleidung finden und Hautschuppen und Haare – die er zweifelsohne auf den Kleidern hinterlassen hatte – auf der Kleidung nachweisen würde und das Verbrechen zu ihm zurückverfolgen konnte, doch Robert vertraute darauf, dass er es niemandem Wert war, einen solchen Aufwand zu betreiben. Nun musste er es nur noch unerkannt zurück zu dem von ihm gemieteten Trainingsraum schaffen, und niemand würde ihn je mit diesem Verbrechen in Verbindung bringen können. Wieder zog er sich seinen Mantel über und setzte die Schirmmütze auf. Um Verdachtsmomente zu beseitigen würde er aus dem Zimmer auschecken; er hoffte, dass die Betreiber nicht all zu genau hingesehen hatten, als er das Zimmer gemietet hatte, und dass er die körperliche Ähnlichkeit, die zwischen ihnen bestand, nutzen konnte, um sich als er auszugeben. Die Gasse war dunkel, als er sie betrat, und zu seiner Erleichterung befand sich kein Obdachloser in ihr. Die Menschen auf der Straße beachteten ihn nicht weiter, als er tiefer in die Schatten hinein lief und schließlich um die Ecke bog. Sein Blick verfinsterte sich unwillkürlich, als er sah, dass er bereits auf ihn wartete. Ein kurzer Blick auf die Häuser, die sie umschlossen, verriet ihm, dass sie hier tatsächlich unbeobachtet waren, sofern nicht ein Obdachloser oder Prostituierte auf die Idee kamen, sich in diese Gasse zu verirren. „Du bist spät“, kam die herausfordernde Begrüßung seines Geschäftspartners, und Robert straffte die Schultern. „Ich musste erst dafür sorgen, dass niemand bemerkt, dass ich hier her komme. Im Gegensatz zu dir habe ich noch einen Ruf zu verlieren.“ „Ist das so?“ Drei Worte und ein süffisantes Grinsen. Das war alles, und Roberts Beherrschung war wie weggeblasen. Wütend kam er auf ihn zu. „Was willst du überhaupt von mir? Warum kannst du nicht einfach in das Loch zurück kriechen, aus dem du gekommen bist, und mich in Ruhe lassen? Deine Zeit ist vorbei, kapier das endlich! Du hast gespielt, und du hast verloren. Ich werde dich niemals in dem Versuch unterstützen, ein drittes Mal deine absurden Pläne zu verwirklichen – du bist nichts weiter als der Dreck, der auf der Straße liegt; du bist sogar weniger als das!“ Robert stand nun direkt vor ihm und funkelte ihn zornig an. „Du bist die Luft nicht wert, die du atmest, und niemals auf der Welt werde ich mit Abschaum wie dir gemeinsame Sache machen!“ Inzwischen war das Amüsement aus seinem Gesicht verschwunden, und blanker, kalter Hass lag nun in seinen Zügen. „Nun, wenn ich weniger bin als der Dreck unter unseren Füßen“, begann er mit mühevoll unterdrücktem Zorn in der Stimme und hob dabei die rechte Hand, „dann frage ich mich, was du dann wohl bist, Robert.“ Kraftvoll packte er Roberts Kinn und kam mit dem Gesicht bedrohlich näher. „Verrate mir, was dein Wert ist – Sohn.“ Mit einem Mal sah Robert rot, und mit einem animalischen Schrei stürzte er sich auf sein Gegenüber, der einen Moment brauchte, um zu reagieren – einen Moment zu lange. Schon hatte Robert die Hände um Boris‘ Hals gelegt und drückte mit eisernem Griff zu. Sein Ofer hatte keine Chance, sich zu wehren – er würde diese Gasse nicht mehr lebend verlassen. „Vielen Dank, dass Sie es mir so kurzfristig ermöglicht haben, bei Ihnen zu trainieren – nach den anstrengenden Sitzungen heute habe ich etwas Abwechslung gebraucht.“ Charmant lächelte Robert den Mann an, der hinter der Rezeption des Trainingsgebäudes saß und den Schlüssel entgegennahm, den Robert ihm reichte. „Keine Ursache, Herr Jürgens, dazu sind wir da. Hoffentlich beehren Sie uns bald wieder!“ „Mit Sicherheit, Mister Clarke, mit Sicherheit. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Nacht.“ „Gute Nacht, Herr Jürgens, und viel Erfolg morgen.“ Freundlich lächelte Mister Clarke, Robert nickte noch einmal zum Abschied und verließ dann das Gebäude, auf einem Weg, der ihn präzise durch den Aufnahmebereich der Kamera führte. Seine noch nasse Kleidung hatte er in seine Sporttasche gepackt und sich wieder den Anzug angezogen, in dem er das Gebäude betreten hatte. Seine Haare waren nass von der Dusche, die er in der Nasszelle der Umkleide genommen hatte, und er war noch etwas außer Atem, da er noch einige Runden um den Raum gerannt war, nachdem er in das Zimmer zurück geklettert war. Der Sprung auf den Sims war wesentlich schwieriger gewesen, als er es vermutet hatte – zumal er die Tasche nicht voraus werfen konnte, ohne das Fenster zu beschädigen. Fast wäre er vom Sims abgerutscht und in die Tiefe gestürzt, und nur das ausgesprochene Glück, das ihn in dieser Nacht beseelte, hatte ihn vor schwersten Verletzungen oder Schlimmerem bewahrt. Im Raum selbst hatte er außerdem auch etwas Wasser auf den Boden gesprenkelt – das Reinigungspersonal würde hoffentlich nicht untersuchen, ob es sich wirklich um Schweiß handelte oder nicht. Vor dem Gebäude nahm er sich ein Taxi und fuhr zurück ins Hotel, wo er zielgerichtet in seine Suite zurückkehrte. Es war bereits früher Morgen, und Robert wusste, dass der heutige Tag ihn einige Anstrengung kosten würde, doch diese Mühen waren ihren Lohn wert. Ein leises Grinsen legte sich auf sein Gesicht, als er aus den Unterlagen, die er aus dem Motel mitgenommen hatte, das Original-Dokument zog, das seine gesamte Existenz bedrohte, und es ein letztes Mal betrachtete. Dann ging er zu dem stilvollen Schwedenofen, der seine Suite schmückte und zugleich beheizte, öffnete die Feuerkammer und warf das Papier hinein. Ihn erfüllte ein unbeschreibliches Gefühl, als er dabei zusah, wie sich die Vaterschaftsbescheinigung mit DNS-Abgleich in Asche verwandelte. „…Hier sehen Sie, wie der Chef von Hiwatari Enterprises, Kai Hiwatari, vor dem Gericht abgeführt wird. Nach den dreimonatigen Gerichtsverhandlungen wegen verschiedener Wirtschaftsdelikte sowie zweier Mordanklagen wurde Kai Hiwatari für schuldig in allen Anklagepunkten befunden und zu drei Mal lebenslänglicher Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Das Gericht sah es für erwiesen an, dass Hiwatari vor vier Jahren seinen eigenen Großvater und ehemaligen Leiter der Hiwatari Enterprises, Voltaire Hiwatari, in Brüssel ermordet hatte, sowie vor einem Jahr in Las Vegas Boris Balkov, den ehemaligen Leiter der Biovolt Corporation, einer Tochtergesellschaft der Hiwatari Enterprises. Ausschlag für die Verhandlungen hatten einschlägige Beweisdokumente gegeben, die vor einigen Monaten anonym an die Staatsanwaltschaft geschickt worden waren.“ Mit ruhigen, fließenden Bewegungen ließ Robert sein Weinglas kreisen und sah dabei zu, wie sich das Licht im Rotwein brach und leuchtende Muster auf den Boden malte. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, und er fühlte sich so befreit wie seit langem nicht. „Oh Mann – wer hätte das gedacht?“ Mit mäßig interessierter Miene lehnte sich Johnny auf den Sessel, in dem Robert saß, und blickte auf den Fernseher, aus dem die Stimme der Nachrichtensprecherin drang, die weitere Details der Gerichtsverhandlung preis gab und mit diversen Experten über mögliche Gründe der Geschehnisse sprach. „Ich meine, Kai war schon immer ein arrogantes Arschloch – aber dass er gleich zwei Menschen kalt macht? Das hätte ich ehrlich nicht gedacht.“ „Nun, Menschen sind Meister der Illusionen; sie schaffen sich mit jedem neuen Tag ihre eigene Realität, und niemand ist davor gefeit, von ihnen getäuscht und hintergangen zu werden.“ „Wow, das sind ja mal wieder erhebende Worte“, bemerkte Johnny mit unverhohlenem Sarkasmus in der Stimme und ließ sich dann in den Sessel neben Robert fallen, „aber was erwarte ich von dir.“ Ein leises Lachen war Roberts einzige Antwort, als er Johnny ebenfalls ein Glas mit Rotwein reichte. „Hier, bitte. Es ist zwar kein Whiskey, aber trotzdem sehr wohlgefällig.“ Mit gespielter Empörung schnaubte Johnny, als er das Glas annahm. „Weiß du, nur weil ich Schotte bin heißt das nicht, dass ich nur Whiskey trinke! Reduzier‘ mich nicht einfach nur auf irgendwelche billigen Klischees, die du in einem Reiseführer gelesen hast – und überhaupt, was soll ‚wohlgefällig‘ überhaupt für ein Wort sein?!“ Kaum hatte er das gesprochen, hatte Johnny auch schon den Großteil seines Weines mit einem kräftigen Schluck vernichtet. Dann stellte er das Glas neben sich auf einen eleganten Beistelltisch, und schweigend verfolgten beide eine Weile die Nachrichten, bis sich Johnny wieder zu Wort meldete. „Gratulation übrigens.“ „Gratulation wofür?“ Fragend hob Robert eine Augenbraue, wandte die Augen jedoch nicht vom Bildschirm ab. „Für die Hiwatari-Sache. Ich hätte ja echt nicht gedacht, dass du die Firma so schnell wieder hoch kriegst, aber andererseits sterben deine Konkurrenten auch aktuell weg wie Fliegen. Noch vor einem Jahr hätte ich gedacht, dass Hiwatari dich und deine Firma mit Haut und Haar verspeist, und jetzt ist es genau anders herum.“ „Es scheint wohl so.“ „Ich schätze mal, dass das Geld, dass du für die Übernahme gezahlt hast, schnell wieder einfließt – die Qualität der Firma ist top, und durch die Gerichtsverhandlung war sie ja quasi ein Schnäppchen.“ „Das kann man wohl meinen.“ „Außerdem steckt dieser Hiwatari-Entendreck in allen möglichen asiatischen Märkten drin, das eröffnet dir jede Menge neue Vertriebsmöglichkeiten.“ „In der Tat.“ Wieder breitete sich Schweigen zwischen den beiden aus, das von den Stimmen der Nachrichtensprecher ausgefüllt wurde. Keiner von ihnen rührte sich, bis Johnny schließlich verzweifelt die Arme in die Luft warf. „Das ist ja nicht zum Aushalten! Wie kannst du dir diesen langweiligen Blödsinn nur die ganze Zeit antun?!“ „Dieser langweilige Blödsinn hält mich auf dem Laufenden mit dem aktuellen Weltgeschehen, Johnny. Das ist nicht zu unterschätzen.“ „Ein bisschen Spannung von Zeit zu Zeit ist auch nicht zu unterschätzen.“ Schmollend verschränkte Johnny die Arme vor der Brust und starrte böse auf den Bildschirm, während Robert amüsiert lächelte. Still saßen beide nebeneinander, bis- „Wollen wir dann endlich Schach spielen?“ Mit quengelnde Stimme wandte sich Johnny an Robert, der ihn breit angrinste. „Ich dachte schon, du fragst nie.“ Überraschender Besuch --------------------- Tok. Tok. Tok. Tok. Unablässig wanderte Ian durch den Raum. Ungeduld stand ihm ins Gesicht geschrieben, während er rastlos seine Runden um die Couch drehte, auf der Spencer saß und in ein Buch vertieft war. Tok. Tok. Tok. Tok. Genervt stöhnte Ian auf und warf einen giftigen Blick zu Bryan, der am Fenster saß, mit gelangweiltem Blick in die Leere starrte und dabei seine Stirn immer wieder leicht gegen die Fensterscheibe schlug. Dieser monotone Takt füllte den Raum nun schon seit einer guten halben Stunde, und Ians Geduld hatte langsam ein Ende. Tok. Tok. To- „Es reicht!“ Aufgebracht warf Ian eines der Sofakissen auf Bryan, der ihn unbeeindruckt musterte, als das Kissen neben ihm von der Scheibe abprallte. „Im Ernst, Bryan, wir alle wissen, dass du diese Meet-and-Greet-Termine hasst, und uns geht es auch nicht anders, aber immerhin führen wir uns nicht auf wie bockige Kleinkinder. Also benimm dich gefälligst wie ein halbwegs Erwachsener und hör auf, jedes Mal so ein Drama zu machen!“ Wütend funkelte Ian Bryan an, der nur langgezogen seufzte und wieder aus dem Fenster blickte. „So lästig“, murmelte er leise, während er wieder damit anfing, seine Stirn gegen das Glas zu stoßen. Tok. Tok. Tok. Tok. Verzweifelt warf Ian seine Hände in die Luft und ließ sich auf das Sofa neben Spencer fallen. „Spenceeeer, tu doch waaas…“ Tief lachte Spencer und schüttelte den Kopf. „Da kann ich dir nicht helfen, fürchte ich“, brummte er und blätterte in seinem Buch um. Plötzlich öffnete sich die Tür zu dem gemütlichen Aufenthaltsraum, und sogar Bryan unterbrach seine Routine, um auf Tala zu blicken, der eben das Zimmer betrat und sie alle mit einem knappen, schicksalsergebenen Blick musterte. „Also, ich habe eben die Unterlagen vom Manager bekommen. Die beiden VIP-Gäste“, unverhohlener Spott schwang bei diesen Worten mit, „sind eben im Hotel angekommen und werden in ein paar Minuten hier sein. Denkt bitte daran, hier geht es um das Ansehen des Teams und um gute Publicity, deswegen benehmt euch bitte. Das heißt, keine bösartigen oder lebensgefährlichen Streiche“, er sah Ian an, der herausordernd zurückblickte, „keine Psychospielchen“, mit diesen Worten wandte er seine Aufmerksamkeit auf Bryan, der seine Aufmerksamkeit wieder auf einen undefinierten Punkt außerhalb des Fensters verlagerte, „und generell ein wenig Aufmerksamkeit den Gästen gegenüber wären nicht schlecht.“ Mit der letzten Aussage blickte er auf Spencer, der eine Augenbraue hob, ohne aus seinem Buch aufzublicken. Mit einem ergebenen Seufzen schüttelte Tala den Kopf. „Ihr seid echt hoffnungslos. Versucht euch wenigstens die Namen der beiden heute zu merken“, kurz blätterte Tala in seinen Unterlagen, „das wären eine Janka Hofmann und ein Robert… Jürgens?!“ Erstaunt zog Tala seine Augenbrauen hoch, und auch die anderen drei blickten ihn überrascht an. „Jürgens? Wie unser aufgeblasener Lieblings-Deutscher?“ Neugierig sprang Ian vom Sofa auf und blickte auf die Unterlagen in Talas Hand. „Warum sollte der bei einem Meet-and-Greet hier auftauchen? Ich meine, wenn er was von uns will, dann kann er uns einfach anrufen – oder mal wieder eine seiner protzigen Partys schmeißen.“ „Es wird wohl eher ein Namensvetter sein, nehme ich an. Dennoch ein interessanter Zufall“, kommentierte Spencer, bevor er sich wieder seinem Buch zuwandte. „Na, der kann einem leidtun, bei so einem Namen“, murmelte Ian und ließ sich wieder auf das Sofa fallen. „Hoffentlich ist es bald vorbei…“ In diesem Moment klopfte es, und schnell ließ Tala die Unterlagen in einem Bücherregal verschwinden, als auch schon die Tür geöffnet wurde und ein älterer Herr in einem intensivblauen Anzug den Raum betrat und etwas angespannt in die Runde grinste. „Und wie versprochen sind sie hier: Die einzig wahren DemolitionBoys! Im Namen von BlueRadioFreak möchte ich mich nochmals herzlich bei euch bedanken, dass ihr es diesen beiden jungen Leuten möglich macht, sich einen lang ersehnten Traum zu erfüllen. Janka, Robert, kommt doch herein!“ Mit einer einladenden Geste trat der Mann weiter in den Raum, und gab den Blick frei auf ein Mädchen mit kurzen, braunen Haaren, das zerschlissene Jeans und ein weites T-Shirt mit Batman-Logo trug. Sie argumentierte im Flüsterton mit einer weiteren Person, die neben der Tür wartete, sodass man sie nicht sofort sehen konnte. Nachdem sie offensichtlich so vertieft in dieses Gespräch war, dass sie nicht bemerkt hatte, dass sie bereits in den Raum gebeten wurde, räusperte sich der Herr von BlueRadioFreak vernehmlich und lächelte noch etwas angespannter. „Janka, Robert, wenn ihr so freundlich wäret…“ Endlich schien Janka zu bemerken, dass sie angesprochen war, und mit einem freudigen Strahlen betrat sie den Raum, nicht ohne ihren offensichtlich widerstrebenden Gefährten unsanft am Arm zu packen und hinter sich her zu zerren. Ungläubige Blicke ruhten auf ihnen, während sich der Herr vom Radio etwas nervös durch die Haare strich. „Nun, ich, äh, werde euch jetzt in Ruhe eure zwei Stunden genießen lassen; in zwei Stunden treffen wir uns zum gemeinsamen Interview wieder hier. BlueRadioFreak wünscht euch eine angenehme Zeit zusammen!“ Kaum hatte er diese Worte gesagt, verschwand er auch schon wieder aus dem Raum, doch keiner der Anwesenden schenkte ihm Beachtung. Stattdessen starrten alle vier DemolitionBoys auf den jungen Mann, der neben Janka im Raum stand und sich offensichtlich wünschte, an einem weit entfernten Ort zu sein. Schließlich war es Tala, der das Schweigen brach und sich etwas verlegen räusperte. „Nun, ähm, ich heiße euch beide ebenfalls im Namen des Teams und des Senders BlueRadioFreak willkommen. Wir- wir sind die DemolitionBoys, es freut uns, euch kennen zu lernen, Janka und, ähm, Robert- auch… wenn wir uns, ja, ähm, eigentlich schon kennen?“ Ein verzweifeltes Seufzen entrann Roberts Kehle und er vergrub sein Gesicht in den Händen, während er mit Grabesstimme antwortete. „Ich weiß, Tala. Glaub mir, ich weiß, dass wir uns kennen. Und ich weiß, dass ein Anruf gereicht hätte, um sich mit euch zu treffen.“ Gerade holte Ian Luft, um etwas zu sagen, als Robert ihn mit einer Geste zum Schweigen brachte. „Frag. Nicht.“ „Weißt du, Robert, freu dich doch einfach – ich meine, wir sind bei den echten DemolitionBoys!“ Voll Begeisterung wippte Janka auf der Stelle auf und ab und blickte strahlend in die Runde. Entgeistert wich Ian einen Schritt zurück, und Bryan verzog angewidert das Gesicht, während er vorsichtig nach dem Fenstergriff tastete. „Als gäbe es unechte DemolitionBoys“, murrte Robert und strich sich durch die Haare. „Natürlich gibt es die! Hast du noch nie Cosplayer gesehen?“ Skeptisch hob Janka eine Augenbraue, bis sie sich schwungvoll neben Spencer auf das Sofa fallen ließ. „In jedem Fall sind wir jetzt hier, und wehe, du verdirbst mir das hier, Robert! Du hast ja keine Ahnung, wie lang ich in diesen kostenpflichtigen Telefonleitungen von BlueRadioFreak hing, bis ich die Meet-and-Greet-Karten abgestaubt habe!“ „Um ehrlich zu sein, Janka, weiß ich das sogar sehr genau – denn immerhin hast du von meinem Anschluss aus dort angerufen und mir die Rechnung überlassen!“ Empört verschränkte Robert seine Arme vor der Brust, woraufhin Janka nur mit den Schultern zuckte und wie selbstverständlich das Buch aus Spencers Händen an sich riss. „Du bist hier der Reiche in der Beziehung, nicht ich“, meinte sie nur gleichgültig, während sie kurz den Buchtitel überflog und es dann mit einem gewinnenden Lächeln an Spencer, das eindeutig Beachte mich, oder du wirst es bereuen sprach, neben sich auf einen Beistelltisch fallen ließ. „Und jetzt… gehört ihr alle für die nächsten zwei Stunden mir!“ Mit einem fiesen Kichern rieb sich Janka die Hände, und den DemolitionBoys lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, während Robert so wirkte, als wolle er einfach in diesem Moment tot umfallen, damit diese Peinlichkeit ein Ende nahm. Worauf hatten sie sich da nur eingelassen? Zwei Stunden später „…Und das ist die ganze Geschichte dahinter.“ Entkräftet ließ sich Robert in seinem Sessel zurücksinken und nahm dann einen Schluck aus dem Whiskeyglas. Tala, der ihm gegenüber saß, pfiff anerkennend durch die Zähne und hob sein eigenes Glas zum Salut. „Meinen Respekt, dass du dir das selbst antust. Aber unter den Umständen kann ich natürlich verstehen, dass du mitgekommen bist.“ „Freut mich, dass du das verstehst“, antwortete Robert müde und warf einen Blick auf Janka, die gerade dabei war, angeregt mit Ian und Spencer über einen Filmtrailer zu diskutieren, den sie sich auf Ians Laptop angesehen hatten. Bryan saß verstört am Fenster und war bereits seit einer ganzen Weile damit beschäftigt, am Fenstergriff herum zu werkeln, in dem verzweifelten Versuch, ihn aufzubekommen. Seit Janka ihm in aller Breite von seinem Kampf gegen Ray vorgeschwärmt hatte und sämtliche Dialoge auswendig rezitiert hatte schien er mit der Situation etwas überfordert zu sein. Gerade wollte Tala noch etwas erwidern, als die Tür geöffnet wurde, und der ältere Herr im intensivblauen Anzug das Zimmer wieder betrat. „Guten Tag, meine Lieben. Ich hoffe, euch hat dieser besondere Tag gefallen, und ich darf euch nun bitten, mir zu den Interviews zu folgen.“ Ohne die Anwesenden eines Blickes zu würdigen verließ der Mann den Raum wieder, und mit einem Schulterzucken stand Tala auf, während Ian, Spencer und Janka sich in Richtung Tür begaben, ohne ihre Unterhaltung zu unterbrechen. „Tja, dann waren das wohl unsere zwei besonderen Stunden zusammen“, spottete Tala, während er Bryan vom Fenster weg zog und ihn bestimmt zum Ausgang bugsierte, „wobei ich gestehen muss, dass das mit Abstand der angenehmste Meet-and-Greet war, den ich bisher hatte. Ein Glas Whiskey zu trinken und dir dabei zuzuhören, wie du dich über deine Freundin ausheulst, ist wirklich bequemer als sich mit irgendwelchen hormongesteuerten Fangirls herumzuschlagen.“ „Ich hab dich auch lieb“, murrte Robert nur, während er mit den beiden den Raum verließ und dem noch immer in eine Unterhaltung vertieften Dreiergespann Ian, Spencer und Janka folgte. Als er seine Freundin dabei beobachtete, mit welcher Begeisterung sie sich mit den anderen unterhielt, musste er dennoch lächeln. Auch wenn er sich bei Tala beklagt hatte – letztendlich war es doch ein sehr angenehmer Nachmittag gewesen. Auch wenn er ihr das niemals verraten würde. Vergangen ist vergangen ----------------------- Unglücklich betrachtete sich Robert im Spiegel. Man hatte ihn in eine waldgrüne Filzjacke gesteckt, dazu eine reich verzierte Lederhose, passend mit Kniestümpfen und Schuhen. Sein Hemd war an der Knopfleiste mit Blumenstickereien verziert, und ein Filzhut mitsamt Gamsbart thronte auf seinem Kopf und komplettierte seine Tracht. „Babsi, ich sehe lächerlich aus!“, schmollend zog Robert die Mundwinkel nach unten und betrachtete das Spiegelbild der älteren Frau, die in einem schicken Dirndl bekleidet neben ihm stand und ihn freundlich anlächelte. „Du siehst bezaubernd aus, mein Spatz. Und zieh nicht so einen Mund, sonst bleibt dein Gesicht so!“ Lachend niete sie sich neben den Jungen und kitzelte ihn an den Seiten, woraufhin Robert unfreiwillig anfangen musste zu lachen. „Lass das, Babsi! Hey!“ Lachend versuchte Robert, sich gegen den Angriff seines Kindermädchens zu wehren, jedoch vergeblich. Nach einigen Minuten erwies sich die Frau jedoch als gnädig, und entließ Robert wieder in die Freiheit. „Siehst du, mein Spatz, so siehst du viel besser aus. Ein Lächeln ist doch viel schöner als immer so böse zu gucken.“ Liebevoll nahm Babsi Robert auf den Arm, der sich jedoch heftig wehrte. „Lass das, Babsi! Ich bin schön fünf, ich kann alleine Laufen!“ Als Robert schließlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, warf er noch einen letzten, schiefen Blick in den Spiegel. „…und ich sehe trotzdem lächerlich aus.“ „Das siehst du nicht, mein Spatz. Außerdem ist heute die Geburtstagsfeier deines Großvaters – da musst du doch schick aussehen. Und in deiner Tracht siehst du aus wie ein feiner, bayerischer Prinz!“ Bestimmt nahm Babsi Robert an den Schulten und schob ihn in Richtung Tür. „Prinzen müssen aber nicht so ein Zeug tragen, die dürfen anziehen, was sie wollen!“ Widerwillig ließ sich Robert von seinem Kindermädchen in den Gang schieben und nahm dann ihre Hand, als sie in Richtung Speisesaal durch die Flure gingen. „Wenn du meinst, mein Spatz, wenn du meinst. Und jetzt komm, dein Großvater wartet.“ „…und wie schon mein Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater zu sagen pflegte: Die Wahrheit ist nicht das, was du siehst, sondern das, was du nicht siehst!, was sich der Junge wohl auch mal besser zu Herzen genommen hätte!“ Gelächter breitete sich um den Tisch herum aus, und die anwesenden Herrschaften pflichteten dem alten Herren, der am Kopfende des Tisches saß, amüsiert bei. Gelangweilt stocherte Robert in dem Braten herum, der auf seinem Teller lag, und schob das Stück Fleisch vor sich herum. „Iss ordentlich, mein Spatz! Es gehört sich nicht, mit seinem Essen zu spielen“, flüsterte Babsi in Roberts Ohr, während sie ihn freundlich anlächelte. „Aber Wildhase schmeckt mir nicht. Und es ist langweilig hier. Es sind nur alte Leute da, und die erzählen nur langweiliges Zeug. Ich will lieber fernsehen. Gerade kommen die Power Rangers“, maulte der Fünfjährige und stütze demonstrativ sein Kinn auf seine Hände, die Ellenbogen auf dem Tisch. Sofort schob Babsi die Arme des Jungen wieder weg. „Bitte Robert. Die Ellenbogen haben auf dem Tisch nichts zu suchen, das weißt du. Und ich weiß, dass es dir hier nicht gefällt, aber dein Großvater freut sich, dass du da bist. Du weißt nicht mehr, wie lange du ihn noch hast!“ Als das Kindermädchen den trotzigen Blick des Jungen bemerkte, fügte sie außerdem mit einem Schmunzeln hinzu: „Und außerdem musst du erst deinen Teller leer essen, bevor du etwas vom Nachtisch bekommst.“ „Nachtisch gibt es eh erst in einer Ewigkeit“, moserte Robert und streckte Babsi die Zunge heraus, bevor er beleidigt das Fleisch auf seinem Teller in möglichst große Stücke zerschnitt und begann, sie mit möglichst wenig Kauen aufzuessen. Das Kindermädchen neben ihm lächelte milde und strich ihm über den Rücken. „Eines Tages wirst du dich schon daran gewöhnen.“ „…es war ein herzig’s Veilchen!“, schloss Robert das Lied, und die anwesenden Gäste applaudierten ihm. Lächelnd stand der alte Mann am Kopfende des Tisches auf, ging zu dem Jungen und schloss ihn in den Arm. „Danke, mein Junge. Das war wundervoll!“ Liebevoll strich er ihm durch die Haare. „Danke, Großvater“, antwortete Robert etwas verlegen, als auch schon Babsi und seine Eltern zu ihm kamen und ihm zu dem gelungenen Liedvortrag gratulierten. Mit vor Freude roten Ohren lächelte Robert seinen Großvater an. „Ich kann dir ja nächstes Jahr wieder ein Lied vorsingen, Großvater. Ich lerne jetzt bald Alma mia von Haydn!“ Stolz lächelte Robert den alten Mann an, der mit sanften Augen zurücklächelte. „Das würde mich sehr freuen, mein Junge.“ Der Himmel war strahlend blau, und es war viel zu heiß, um in einem schwarzen Anzug in der prallen Sonne zu stehen. Unruhig und schwitzend stand Robert vor seinem Vater auf der Wiese des Friedhofs und beobachtete, wie der mit kunstvollen Schnitzereien und Messingbeschlägen verzierte Sarg in die Kluft innerhalb der Grablege herabgelassen wurde. „Und da ist wirklich Großvater drin?“, flüsterte er unsicher und griff nach der Hand seines Vaters, der ihn traurig anblickte. „Ja, Robert, da ist dein Großvater drin. Aber jetzt musst du leise sein, der Pfarrer möchte noch etwas sagen. Du kannst zu Hause fragen“, flüsterte sein Vater zurück. „Okay“, meinte Robert still und hörte dem Pfarrer dabei zu, wie er einige Worte an die Trauergäste richtete, wobei er das meiste nicht wirklich verstand. Erwachsene redeten meistens so komisch, da war es schwierig, herauszufinden, was sie eigentlich meinten. Nach einer Weile durfte jeder von ihnen zu einer geschmückten Schubkarre gehen und mit einer kleinen Handschaufel Erde auf das Grab kippen, wobei die meisten noch ein paar Worte sagten. Als sein Vater vortrat, nahm Babsi Robert kurz an der Hand. „Warum machen die das, Babsi? Dabei wird doch der ganze Sarg dreckig“, fragte Robert verständnislos und blickte in die tränenfeuchten Augen seines Kindermädchens, das ihn mütterlich anlächelte. „Das stimmt, Robert, aber der Sarg muss eingegraben werden. Und um den letzten Abschied zu nehmen darf jeder dabei ein bisschen mithelfen und seinen Abschiedsgruß sagen“, wisperte Babsi dem Jungen zu. „Ach so“, meinte Robert, als sein Vater vom Grab zurück trat und Babsi mit ihm nach vorne ging. Der Pfarrer blickte ihn bedeutungsschwer an und reichte ihm die Handschaufel, die Robert zögerlich entgegen nahm. Mit Babsis Unterstützung nahm er etwas Erde auf die Schaufel und kippte sie in das Grab, wo der Sarg bereits mit etwas Erde bedeckt war. „Mach’s gut, Großvater. Ich hätte dir gerne noch das neue Lied vorgesungen – du weißt schon, das von Haydn. Schade, dass du vorher gehen musstest“, murmelte er und ging dann wieder zu seinen Eltern zurück, als Babsi unter Tränen ihren letzten Gruß entrichtete. Als er sich zwischen die beiden stellte nahm ihn seine Mutter an die Hand, und nachdem alle Anwesenden Erde auf den Sarg geschüttet hatten, sprachen sie zusammen das Vaterunser. Nachdenklich blickte Robert auf das Notenblatt in seiner Hand, auf das er mit grober, krakeliger Handschrift Für Grosfaters Geburztag geschrieben hatte. Inzwischen war er neunzehn, und seit dem Stimmbruch war für ihn nicht mehr daran zu denken, ein Lied in Sopranlage zu singen. Dennoch hatte er die Noten die ganze Zeit behalten – die Erinnerungen an seinen Großvater, die er damit verband, waren zu kostbar. Zu gerne hätte er es ihm vorgesungen, als er sechs Jahre alt war und sein Großvater siebenundachtzig hätte werden sollen, doch dazu war es nie gekommen. Damals hatte er die Erwachsenen und ihre seltsamen Rituale nicht verstanden, heute war er selbst ein fester Teil dieser Gesellschaft und konnte vieles besser verstehen. Er bedauerte, dass er sich nur so wenige der Geschichten seines Großvaters angehört und sich noch weniger gemerkt hatte. Die Weisheiten des alten Mannes waren ihm durch seinen Vater erhalten geblieben – und heute, wo sein Vater nicht mehr war, trug er sie fort, um sie eines Tages seinen Nachkommen weiterzugeben. Bestimmt heftete er das Notenblatt in seinem Ordner ab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)