Auf Regen folgt stets Sonnenschein von funnymarie ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Auf Regen folgt stets Sonnenschein Das Mädchen von damals erkannte er nicht mehr wieder. Ihre eisgrauen Augen hatten lebhaft gestrahlt vor Übermut. Ihre langen zotteligen Haare waren zu einem einfach Pferdeschwanz zusammen gebunden gewesen und doch hatten sich immer wieder freche mattbraune Strähnen aus ihm heraus gewunden. Sie war zierlich und dürr gewesen mit häufig schmutzigen Knien und emsig geröteten Wangen. Aber diese junge Frau, der er nun ansichtig wurde, ließ fast nichts mehr von dem Kind erkennen, dass sie vor zehn Jahren gewesen war. Haku betrachtete sie ganz genau, als sie näher kam. Er wartete auf sie am Fluss, wo sie sich zuletzt gesehen und verabschiedet hatten mit dem Versprechen, sich wieder zu begegnen. Sie kam langsam über die weite Grasebene auf ihn zugelaufen. Dennoch hatte der Flussgott sich so getarnt, dass sie ihn nicht bemerken konnte. Haku war eins geworden mit seiner Umgebung und nur seine Aura ließ erahnen, wo er sich befand. Spüren konnten sie allerdings nur höchst magisch begabte Wesen aus seiner Welt. Da sie ein Mensch war, konnte es ihr unmöglich gelingen, ihn bewusst wahrzunehmen. Seine moosgrünen Irden beobachten sie dabei, wie sie durch die feinen Halme des grünen Grasteppichs schritt. An ihrer Seite zwei Kinder. Ein kleines Mädchen und ein Junge im selben Alter. Sie gingen eifrig und immer ein Stück voraus laufend vor ihr her. Doch Haku hatte nur Augen für sie. Chihiro hatte sich sehr verändert in der verstreichenden Zeit. Ihre mattbraunen Haare, die ihn an die Rinde seiner Kastatien erinnerten, die nah bei seinem Fluss gestanden hatten, waren kurz geschoren, wie bei einem Jungen. Dadurch kamen ihre eisgrauen Augen zum Vorschein, aber auch tiefe Sorgenfalten, die sich in ihre Stirn gegraben hatten. Ein verbitterter Zug um ihren Mund ließ Haku erahnen, dass viel geschehen sein musste. Chihiro trug ein einfaches weißes Sommerkleid, was aufzeigte, wie ungesund blass ihre Haut war. Doch ihre Gestalt hatte sich gerundet an den Hüften und auch ihr Busen war gewachsen. Doch äußerst irritierend fand der Flussgott, dass sich im Bereich ihres Bauches eine kleine Wölbung kaum bemerkbar abhob und sichtbar war bei dem weiten Kleid. Die Kinder sprangen die ganze Zeit fröhlich um sie herum wie zwei kleine Gummibälle. Das sie beide Geschwister waren, war unverkennbar. Sie hatten die gleichen eisgrauen Augen wie Chihiro, doch nussbraunes Haar, welches um einige Nuancen heller war als das kastanienbraune. Plötzlich hielt Chihiro inne und sah durchdringend genau in seine Richtung für ein paar Sekunden, dann wandte sie ihren Blick wieder ab. Aber Haku wusste, dass sie ihn unmöglich sehen, denn spüren konnte. Schließlich war sie ein Mensch!? Also schaute er weiterhin zu, wie die Drei unaufhaltsam näher kamen. Dabei fiel dem Flussgott auf, dass die Kinder immer einen sicheren gut begehbaren Weg für Chihiro zwischen dem Halmen heraussuchten und ihn ihr lautstark verkündeten. „Jetzt musst du nach rechts gehen und dann zwei Schritte nach links. Dann gehst du um ein großes Loch herum.“, rief der Junge übermütig. „Dankeschön, TK.“, lächelte Chihiro das Kind warm am. Das Mädchen war eher zurückhaltend und flüsterte ihre Worte fast, als dass sie sich so laut artikulierte wie ihr Bruder. Bald waren sie am Rande der Wiese angekommen und wieder sehr behutsam kletterte Chihiro über die großen Felsen, die den Fluss säumten, hinweg. Dabei hatte sie gleichzeitig immer ein prüfendes Auge auf das kleine Geschwisterpaar. Als sie den Fluss überwunden hatten, beschloss Haku, dass er weiterhin unsichtbar bleiben wollte. Er mochte sie alle beobachten. Seine Freude, sie wieder zu sehen, war enorm. Dennoch war er vorsichtig. Chihiro hatte sich sehr verändert. Allein an diesem vorsichtigen alles erwartenden Blick, den sie ständig umher schweifen ließ, konnte Haku feststellen, wie stark sich ihr offenes fröhliches Wesen gewandelt hatte. Doch Chihiro machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie ließ die Kinder an ihm vorbei sausen und als sie mit ihm auf einer Höhe war, sah sie ihn wieder an. „Ich weiß, dass du da bist, Haku.“, hauchte sie zu ihm gewandt. Erschrocken machte der Flussgott einen Satz nach hinten. „Wie?“ Ein flüchtiges Lächeln, das ihn an die junge Chihiro erinnerte, glitt über ihre Lippen, ehe es wieder verschwand. „Ich kann dich spüren. Bitte zeige dich, wenn ich den Kindern gesagt habe, dass du hier bist.“ Haku bekam nicht die Gelegenheit, noch etwas zu erwidern, da sie bereits die Kinder zu sich gerufen hatte. Erwartungsvoll liefen die Kleinen zu ihr zurück. Mit einiger Mühe beugte sich Chihiro zu ihnen herunter, um mit ihnen von Angesicht zu Angesicht sprechen zu können. Ihre gerundete Leibesmitte machte ihr dieses Unterfangen aber nicht so einfach. „Ihr wisst doch, warum wir hier sind?“, fragte sie schließlich mit weicher Stimme nach, als es ihr doch noch gelang, sich einigermaßen bequem herunter zu beugen. Eifrig nickten beide. „Weil wir hier sicher sind.“, erklärte der Junge mit gewichtiger Miene. „Weil du hier einen guten Freund hast, der auf uns aufpasst.“, fügte seine kleine Schwester leise, aber fest hinzu. „Richtig, Kari und TK.“ Chihiros Gesichtsausdruck wurde noch eine Nuance weicher. Wieder trat ihr Jugendlächeln zum Vorschein. „Ich möchte euch diesen Freund nun vorstellen. Er ist etwas ganz besonderes und hat mir geholfen, als ich zehn Jahre alt war. Wisst ihr noch die ganzen Gute-Nacht-Geschichten von dem Flussgott Haku, die ich euch immer erzählt habe?“ Wieder erntete sie ein Nicken der Kleinen. Doch dieses Mal sah man in ihren Augen, dass diese aufgeregt glänzten. „Nun, wir sind hier an dem Ort, den ich euch in meiner letzten Geschichte gestern beschrieben habe. Genau hier haben wir uns Lebewohl gesagt.“ Bei diesen Worten sah Haku, wie nur für einen flüchtigen Augenblick eine Bitternis in ihre Augen aufloderte, die ihn erschreckte. Sie ließ ihre Iriden für diese kurze Zeitspanne so leer und hoffnungslos wirken, dass es ihn auch entsetzte. Was war nur passiert?, frage sich der Flussgott im Stillen. Aber genauso schnell verging der Moment wieder. Chihiro lächelte noch kurz falsch. Aber dann kehre ein ehrliches freches Grinsen auf ihre Konturen zurück. „Ich stelle ihn euch nun vor! Haku, bitte zeige dich!“ Widerwillig tat der Flussgott, worum ihn die junge Frau gebeten hatte. Er veränderte dank seiner magischen Fertigkeiten sein Erscheinungsbild so, dass er wieder sichtbar auch für sterbliche Augen war. Für die Kinder war die Materialisierung von einer Sekunde auf die andere von statten gegangen. Kari kreischte überrascht und versteckte sich ängstlich hinter den Beinen von Chihiro. Während ihr Bruder TK mutig die paar Schritte überwand, die ihn trennten von Haku und ihn berührte, um sich zu überzeugen, dass dieser Fremde aus dem Nichts wirklich real war. TK starrte zu dieser unglaublichen Erscheinung empor. Haku wirkte riesig auf den kleinen Jungen und wie verzaubert. Seine Kleidung war sehr altertümlich und entsprach dem Kleidungsstil aus dem Mittelalter im Japan. Er trug verschiedene Schichten azurblau gefärbter Seide und ein robustes Lederhemd, dass wie Wasser aus dem Ozean schimmerte und sich in fließenden Wellen bewegte. Er hatte sein langes ebenholzfarbenes Haar zu einem hohen Zopf am Hinterkopf zusammen gebunden. Einige Strähnen jedoch rahmten sein ebenmäßiges Gesicht ein und betonten die kobaltblauen Augen. Insgesamt wirkte der Flussgott mächtig und stark. Nun durch den Mut ihres Bruders angesteckt, kam auch Kari hinter den Beinen von Chihiro hervor und gesellte sich an die Seite ihres Zwillings. Chihiro indessen beobachtete amüsiert, wie die Kinder Haku auch wirklich überall anfassten. Der Flussgott ließ alles geduldig über sich ergehen, hatte aber eigentlich nur Augen für die junge Frau, die am Rand des Flusses stehen geblieben war und ihre Hände vor ihrer Brust verschränkt hielt. „Das reicht!“, setzte sie den neugierigen Händen so ein Ende. Sofort eilten beide an ihre Seite zurück und klammerten sich links und rechts an ihrem Kleid fest. „Es ist lange her!“, sagte Chihiro schließlich nach einer Minute des Schweigens. Haku nickte ob dieser Aussage nur. Er wusste nicht recht, was er nun tun sollte. Doch als er Chihiro gefährlich schwanken sah, war er blitzschnell bei ihr und fing sie im letzten Moment auf, bevor sie auf den Boden aufgeschlagen wäre. Chihiro war schon vorher schwindelig gewesen und nicht gut. Jetzt machten sich die Anstrengungen der letzten Wochen deutlich bemerkbar. Doch als sie die warmen und starken Hände von Haku spürte, die sie so sanft umfingen, fühlte sie sich geborgen. Endlich war sie in Sicherheit. Bei ihm. Schockiert gewahrte Haku, wie kühl sich Chihiros Haut unter seinen Fingern anfühlte. Sie war zu kalt! Und dennoch war es auch berauschend nach der langen Zeit, ihre Nähe wieder zu spüren. Besorgt erklang es „Mama“ aus den Mündern der Kinder und als Haku sie wieder sicher auf einen Felsen gesetzt hatte, waren Kari und TK an ihrer Seite. Sie streichelten sie und das Mädchen fing sogar an, leise zu weinen. Ihre Tränen verschwanden in dem weißen Sommerkleid, als sie ihren Kopf an den weichen Stoff drückte. „Schhh!“, beruhigte Chihiro die Kleinen. Sie strich mit ihren Händen zärtlich über die Köpfe der Kinder. „Jetzt ist alles gut!“ Chihiro linste noch kurz in den Raum hinein. Kari und TK schliefen friedlich aneinander gekuschelt zusammen in einem Bett. Nur noch das wuschelige nussbraune Haar der Kleinen lugte gut sichtbar hervor. Die Kinder hatten es sich angewöhnt, die Decke immer über ihr Gesicht zu ziehen. Die mit Blumen bestickte Daunendecke hüllte die Kinder gänzlich ein und sorgte dafür, dass sie es warm hatten. Denn der Sommer neigte sich auch in dieser Welt dem Ende zu und so hatten die Nächte bereits ein Hauch von herbstlicher Kälte. Aber sie war deswegen nicht traurig. Es gab eine Zeit, da hatte sie den Sommer geliebt. Aber nun verabscheute sie ihn fast gänzlich. Eine tröstliche Hand legte sich auf ihre Schulter und veranlasste Chihiro, sich umzudrehen. Lin sah nicht einen Tag älter aus. Da war immer noch das tintenschwarze Haar, die feinen Augenbrauen und dieser alt bekannte Schalk, der ihren Augen inne wohnte. Es war, als wären keine zehn Jahre vergangen für sie. Doch für Chihiro schon. Lautlos schob sie die Tür bis auf einen kleinen Spalt zu und drehte sich vollendens zu ihrer Freundin um. Haku hatte sie nach ihrem Schwächeanfall zu Jubabas Badehaus geleitet, während die Kleinen die ganze Zeit besorgt um sie herum gehüpft waren. Gleichzeitig hatte Chihiro das kindliche Staunen der Geschwister gesehen, als diese die vielen Imbissbuden und deren sonderbare Gestalten gesehen hatten. Schüchtern hatten sich die beiden im Gehen so nah an sie heran geschmiegt, wie es möglich gewesen war. Auch gleich nachdem sie die Stadt betreten hatten, hatte Haku ihnen kleine süße Bonbons gegeben, damit sie gar erst nicht Gefahr liefen, sich aufzulösen, wie sie damals bei ihren ersten Besuch in der Welt der Götter. Ein schreckliches Gefühl war das gewesen und Chihiro hatte Haku ein leises Danke ins Ohr geflüstert, als Kari und TK noch mit dem Essen beschäftigt gewesen waren, dass besonders lecker gewesen zu sein schien. Sie selbst hatte aufgrund ihres vorherigen Aufenthaltes nichts mehr zu sich nehmen müssen. Bei ihrer Ankunft im Badehaus hatte große Aufruhr geherrscht. Viele bekannte, aber auch unbekannte Wesen hatten sich um sie gedrängt und sie offen regelrecht begaft. Chihiro war sehr unwohl dabei gewesen, denn viele hatten nicht nur neugierig, sondern auch sehr wütend ausgesehen, warum auch immer. Aber ein Machtwort von dem Flussgott und sie würden augenblicklich durchgelassen von den vielen wusseligen Gästen. Haku persönlich hatte sie direkt in dieses Zimmer geführt und sie dann mit Lin allein gelassen. Diese hatte sich unbemerkt an Haku, sie und die Kinder heran gehangen und als Haku sie verließ, um einige „Dinge“, wie er es ausgedrückt hatte, zu klären, war Lin bei ihr und den Kleinen geblieben. Wo all ihre anderen Freunde waren, wusste Chihiro nicht, denn sie hatte auch keinen weiteren aus dem Augenwinkel bemerkt. Aber sie dachte auch nur flüchtig an sie. Sie würde Zeit haben, nach ihnen zu schauen und mit ihnen zu reden. Aber jetzt nicht. Chihiro hatte zuerst die quirligen Kinder zu Bett gebracht und Lin währenddessen nur einmal kurz am Anfang ein warmes Lächeln geschenkt, um ihr zu zeigen, dass sie sie wahrgenommen hatte. Doch nun waren TK und Kari ins Reich der Träume entschwunden, wenn auch nur widerwillig. Beide hatten noch versucht, sie mit vielen Fragen zu löchern, aber Chihiro hatte sie auf morgen Früh vertröstet. Als sich die warme Hand von Lin auf ihre Schulter legte, drehte sich Chihiro vom Türspalt weg und die Frauen setzten sich im Stillen einvernehmen auf die beiden Sitzkissen an den kleinen runden Tisch. Chihiro sah zwei dampfende Tassen Tee auf diesem stehen und lächelte. „Danke.“, sagte sie schlicht und Lin nickte ihr. Sie nahmen sich die Tassen und tranken in aller Ruhe. Dabei fiel kein einziges Wort und dennoch war die Atmosphäre entspannt. Irgendwie brachte Lin es fertig, Ruhe auszustrahlen, die nun auch auf Chihiro überging. Automatisch hatte sich die Hand der jungen Frau auf ihren schon leicht gewölbten Bauch gelegt. Lins Blick folgten dieser Bewegung und sie sah, wie Tränen in die Augen ihrer Freundin traten. Lautlos stand sie auf, setzte sich neben Chihiro und umarmte sie ganz fest. „Was ist passiert?“, fragte Lin. So kannte sie Chihiro gar nicht. Sie hatte sich sehr verändert, dass sie kaum das Mädchen von einst in dieser Frau wieder erkennen konnte. „Zu viel!“, wisperte diese erstickt und drückte ihren Kopf fest in das tintenschwarze Haar. Weitere Tränen perlten auf Lins Kimono. „Weine ruhig!“ Mit diesen Worten war der Damm gebrochen und Chihiros Schluchzen nahm zu. Dennoch blieb sie leise, um die Kinder nicht zu wecken. Die Schiebetür war nur angelehnt und die Kleinen hatten schon immer sensibel auf ihr Weinen reagiert. Eine Stunde später hatte sich Chihiro so weit beruhigt, dass sie Lin wieder in die Augen schauen konnte. Sanft zückte diese ein Taschentuch aus ihrem weiten Kimonoärmel und wischte die letzten Spuren der Tränen fort. Lin lächelte sie sanft an. „Ein bisschen besser?“ Halbherzig hoben sich die Mundwinkel von Chihiro. „Ein wenig.“ Mit dem gereichten Taschentuch wischte sich die junge Frau die letzten Spuren ihrer Tränen fort und atmete einmal tief durch. Unbehagen machte sich nun in Chihiro breit, da sie ihre Geschichte nicht mehr länger aufsparen wollte. Lin war so geduldig gewesen mit ihr und vor allem verständnisvoll. Ermunternd wurde sie von ihrer Freundin angesehen. „Du kannst es mir auch morgen erzählen oder wann immer du willst?“ Aber Chihiro schüttelte vehement den Kopf. „Nein. Morgen früh sind die Kleinen wach und ich weiß nicht, ob ich noch einmal den Mut finden kann. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht nie.“ Lin nahm ihre Hand in ihre und drückte sie ganz fest. „Ich habe euch vermisst. So sehr. Doch mit der Zeit wurde es besser. Ich gewann neue Freunde, lebte mich ein und es war schön. Als ich 14 Jahre alt wurde, ist meine Mutter noch einmal schwanger geworden. Sie brachte Zwillinge auf die Welt. Hikari und Takeru. Und sie waren wirklich unsere Hoffnung und unser Licht. Zwei Jahre später starben mein Eltern bei einem Autounfall im Sommer. Danach kam ich mit meinen Geschwistern zu einem Bruder meines Vaters, der ganz in der Nähe wohnte. Er war nett, aber der Aufgabe nicht gewachsen. So war ich es, die fortan für die Zwillinge sorgte und nach einem Jahr sprachen sie mich mit Mama an. Ich ließ es zu. Schließlich kam ich dem am nächsten. Mit 18 zog ich dann aus und mietete uns eine eigene Wohnung. Finanziell unterstützte mich mein Onkel aber weiterhin, wenn er auch sonst nicht viel geben konnte.“ Nach ihrem langen Monolog hielt Chihiro kurz inne und atmete schwer, als ob sie gerade einen großen Berg hinauf gerannt wäre. Doch es hatte viel Kraft gekostet, bis hier zu erzählen. Lin hielt weiterhin ihre Hand fest. Die ganze Zeit, während die Worte aus ihr nur so heraus geströmt waren, hatte Chihiro auf den Tisch gestarrt mit leerem Blick und so geklungen, als ob das alles einer Fremden passiert wäre und nicht ihr selbst. Seufzend richtete sie schließlich ihren Blick auf und erzählte weiter. Nur schaute sie dieses Mal direkt in die Augen ihrer Freundin. „Dann lernte ich Hogi kennen. Er war süß und beliebt, witzig und charmant und er hatte es auf mich abgesehen. Ein Jahr ließ ich ihn zappeln und gab dann nach. Es war schön und er war rücksichtsvoll. Danach dachte ich, wir wären zusammen. Eine Weile ließ er mich in dem Glauben und wir taten, was Päärchen so machen. Gingen aus, wenn auch nicht oft, wegen der Kleinen, trafen uns mit seinen Freunden. Dann wurde ich schwanger. Ich war nicht glücklich darüber. Immerhin hatte ich die Kleinen, meine Schule und eigentlich keine Zeit für ein weiteres Kind, geschweige denn wollte ich noch mehr Verantwortung tragen. Aber als ich dann das Ultralschalbild sah, war für mich klar, dass ich es behalten wollte. Also erzählte ich es Hogi. Aber......“ Chihiro fasste sich mit ihrer freien Hand an ihr kleines Bäuchlein und streichelte ganz sanft darüber. Dann löste sie bestimmt die Hand von ihrer Freundin und fing an, sich sanft hin und her zu schaukeln. Die Hände verschränkte sie dabei schützend vor ihrem Leib. Besorgt erhob sich Lin und setzte sich neben Chihiro. Sie wollte sanft ihre Arme um sie legen. „NEIN!“ Ihr Ton war scharf wie ein Messer, aber dennoch leise. Mitten in der Bewegung hielt Lin inne. Erschrocken darüber, wie verstört Chihiro zu sein schien. Wieder liefen Tränen ihr Gesicht hinunter. Doch dieses Mal still und leise. Kein Ton kam über ihre Lippen, noch ein Schluchzen. Sie wippte einfach nur vor und zurück, hin und her. Hilflos sah Lin dem zu. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Schließlich hörte sie, wie die Schiebetür vom Korridor aus vorsichtig aufgemacht wurde. Es war Haku, der eintrat. Sofort erfasste er die Situation. Es war offensichtlich, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. „Was ist los mit ihr, Lin?“ Nicht wissend schüttelte sie ihren Kopf. „Ich weiß es nicht, Meister Haku.“ Gerade als auch Haku Chihiro berühren wollte, hielt Lin ihn davon ab. „Aber sie wollte sich nicht von mir berühren lassen.“ Eisig blitzen seine Augen sie an. Das Kobaltblau schien ihr wie eisige Gletscher. „Geh hinaus.“, befahl er ihr. „Aber...!“, wollte sie einbringen. „Geh.“, erklang seine Stimme kalt. Lin erhob sich auf der Stelle und verließ eilig den Raum. Lautlos zog sie die Schiebetür hinter sich zu. Mit einer magischen Geste verschloss Haku auch stumm die Tür zum Zimmer der Kinder. Dann wandte er sich Chihiro zu. Vorsichtig näherte er sich und ließ sich dann neben ihr nieder. „Chihiro!“ Sanft war nun seine Stimme und warm. Aber sie reagierte nicht. „Chihiro.“ Ein bisschen eindringlicher sprach er nun, doch noch immer zärtlich. Ganz langsam hörte sie auf hin und her zuwippen. Aber noch immer hielt sie weiterhin schützend ihre Arme verschränkt vor ihrem Bauch. „Ich berühre dich jetzt.“, informierte er sie und hoffte, dass sie es zulassen würde. Ganz langsam umarmte er sie und Chihiro wehre sich nicht. Im Gegenteil, sie kuschelte sich an ihn an und kroch auf seinen Schoss. Ihr Kopf lehnte sich schutzsuchend an seine Brust. Nur ihre Arme blieben in derselben Position und rührten sich keinen Millimeter. „Ich hab es ihm gesagt!“, hauchte sie matt. Haku hielt sie ganz fest an sich gedrückt. „Und ich wusste, es würde ihm nicht gefallen. Aber....aber....“ Der Flussgott ließ ihr Zeit. Beruhigend streichelte er über ihr kurzes Haar, ihre viel zu kalte Haut und ihr von Tränen benetztes Gesicht. „Aber ich wusste es doch nicht.“ Hemmungslos schluchzte sie nun in seinen Kimono. „Wie hätte ich es wissen sollen?“ Ihre Stimme war erstickt und sie musste heftig Atem holen, weil sie fast keine Luft bekam vor lauter Weinkrämpfen. „Er hat mich zu Boden geworfen und dann...dann hat er einfach zu getreten. Immer wieder. Er hat nicht aufgehört.“ Erneut wallten in ihr ihre Trauer auf über diesen heimtückischen Verrat. „Er wollte es töten. Er wollte mein Baby töten.“ Haku zog scharf die Luft ein und drückte sie noch fester an sich. In diesem Moment hatte dieser Mensch sein Leben verwirkt, beschloss der Flussgott noch in dieser Sekunde. Er würde ihn finden und zur Strecke bringen, für das, was er Chihiro angetan hatte. „Schhhhh. Es ist gut. Er hat es nicht geschafft.“, versuchte Haku sie zu trösten. Nun wiegte er sich sanft mit ihr vor und zurück. Tatsächlich half diese Bewegung und von Minute zu Minute wurde sie ruhiger. Immer wieder strich Haku über ihre Haut, die zwar kalt, aber unendlich weich war. Er hatte sein Gesicht auf ihren Kopf abgelegt und von Zeit zur Zeit flüsterte er ihr freundliche Worte ins Ohr. Schließlich hatte sich Chihiro vollkommen beruhigt und sie war auch ausgelaugt. Dieser ganzer Moment hatte sie völlig erschöpft. Behutsam hob Haku sie hoch und dank seiner magischen Fähigkeiten hatte er schnell einen Futon ausgebreitet. Sanft legte er sie hin, aber als er ihre Finger von seiner Kleidung löse wollte, verkrampften sie sich. „Bleib.“, wisperte sie. Eine Sehnsucht nach Sicherheit war deutlich in ihrer Stimme auszumachen. „Ich bleibe.“ Zusammen mit ihr kroch er unter die Decke und sie schmiegte sich an ihn an. Deutlich bemerkte er die Rundung ihres Leibes, welcher immer noch beschützend umschlungen wurde von ihren zarten Fingern. Sie lag auf der Seite und er direkt hinter ihrem Rücken. Auch seine Hände umschlossen wieder fest ihren Körper und bald konnte er hören, sie schlief. Erleichterung durch zog sein Herz, da sie endlich zur Ruhe kam. In dieser Nacht machte er kein Auge zu. Er stellte sich vor, wie er diesen Bastard zur Strecke brachte und ihn langsam zu Grunde richtete. Das half ihm, nicht einfach aufzustehen und Jagd zu machen auf seine Beute. Der Drache würde auf seine Rache warten, solang bis Chihiro wieder stabil war und er sich sicher sein konnte, sie für ein paar Stunden allein lassen zu können. Zögerlich hauchte er ihr einen Kuss auf das kurze Haar. Als seine Lippen ihre Strähnen streiften, seufzte sie kurz auf und dann zierte ein kleines Lächeln ihre Konturen. In diesem Augenblick schwor sich Haku auf sie und ihre Kinder aufzupassen, so lange wie sie es wollte und er würde sein Wort halten. 5 Jahre später Chihiro saß neben Lin auf dem Balkon, der freie Sicht auf die Zugleise gewährte. Es war ein friedvoller Moment, wie es sie selten gab bei ihnen. Denn Hikari, Takeru und Nigihaijami hielten sie ständig auf Trab. Doch die Kinder tollten irgendwo durch das Badehaus und schon lange störte sich keiner mehr daran. Die Gäste, wie auch die Bediensteten waren dieses Schauspiel schon gewohnt. Es wagte auch keiner die Pflegekinder ihres Dienstherren zu behelligen. Der Grund, weswegen Haku es versäumt hatte, ihr in die Welt der Sterblichen zu folgen. Yubaba hatte auf Drängen ihres Sohnes hin und Flussgott zu ihrem Partner gemacht, weshalb es Haku auch nicht möglich gewesen war zu kommen. Die Hexe hatte schnell erkannt, wie gut ihr ehemaliger Schüler sowohl mit den Gästen als auch mit den Angestellten umgehen konnte und überließ ihm bald den größten Teil der Arbeit. Als Chihiro schließlich wieder hier herkam, hatte sich auch der Flussgott verändert. Er war erwachsener geworden und auch der Drache in ihm hatte an Kraft und Einfluss gewonnen. Ein Jahr nach ihrer erneuten Ankunft war sie mit Haku zusammen gekommen und bei ihm war sie sich sicher, dass er sie nie enttäuschen würde. Stets war er aufmerksam, sanft und liebevoll zu ihr und den Kindern. Doch es gab auch eine andere Seite an ihm, die dunkel, wild und gefährlich war. Doch selten hatte sie diese erlebt. Ein seichtes Strampeln erinnerte Chihiro daran, dass bald noch ein vierter Racker mit den drei großen durch das Badehaus ziehen würde. Zärtlich schaute Chihiro auf ihre kleine Tochter hinab. Nanami war das komplette Ebenbild ihres Vaters und bisher auch sehr ruhig. Die meiste Zeit ihres fünf Monate andauernden Lebens verschlief sie in den Armen ihrer Mutter. Sanft strich Chihiro ihr über das winzige Gesichtchen und hauchte ihr einen Kuss auf den zarten Flaum. Als sie wieder aufschaute, sah sie Lin lächeln. „Bist du glücklich?“ „Ja.“, war die schlichte Antwort Chihiros. Sie hatte ihren Kummer aus der Welt der Sterblichen endlich verarbeitet und Haku, die Kinder, ihre Freunde und auch ihre neugeborene Tochter hatten ihr geholfen damit fertig zu werden. Hier in der Welt der Götter war nun ihr Zuhause und das ihrer Familie. Um nichts in der Welt wollte sie mit jemanden tauschen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)