Zerschmettert von Flordelis (Eternal Chronicles ~ Another Side) ================================================================================ Prolog: Zerbrochen ------------------ Das Schwert schleifte auf dem Boden, während er sich voranschleppte. Das dadurch entstehende Geräusch wurde von niemandem außer ihm gehört und er kümmerte sich nicht darum. Das einzige, worauf er achtete, waren die Körper der Gefallenen. Die meisten von ihnen waren noch da, was dafür sprach, dass sie normale Menschen waren. Überall auf dem Hof lagen Ritter, deren Rüstungen mit nur einem einzigen Hieb seiner Waffe zerstört worden waren. Früher einmal hätte ihm das zu denken gegeben und er hätte sich das nie verziehen, aber nun war ihm das vollkommen gleichgültig. Die Luft war erfüllt von violetten Funken, die sich auf seiner grauen Kleidung absetzten, sein silbernes Haar erhellten und jedem möglichen Zuschauer nun gezeigt hätte, dass in seinen blauen Augen keinerlei Menschlichkeit mehr zu erkennen war. Sein Blick ging umher, als suche er etwas, von dem er selbst nicht wusste, worum es sich handelte, könne es aber nicht finden. Doch die Funken eilten ihm rasch zur Hilfe und versammelten sich um einen Gegenstand, der zwischen einigen anderen Leichen, am Fuß der hölzernen Tribüne lagen. Es war eine silberne Klaue mit haarscharfen Krallen, die einst jemandem gehört hatte, dem sein ganzer Hass galt – wenn er solchen noch besitzen würde. Im Moment war sein Inneres vollkommen leer. Aber der Gedanke, dass der andere gestorben war, ohne seine Waffe zu halten, erfüllte ihn mit einer eigenartigen Form von Schadenfreude, die ihm unbegreiflich war. Er hob sein Schwert und stieß es direkt in die Klaue hinein, worauf diese sich in silbernen Staub auflöste, als wäre sie nur durch diesen einen Schwertstreich zermahlen worden. Sein Blick wanderte weiter und entdeckte schließlich eine Pistole, die dem Besitzer ebenfalls aus den Händen gefallen war, ehe er diesen getötet hatte. Diesmal ließ er sich nicht einmal von Schadenfreude aufhalten und zerstörte die andere Waffe einfach. Das war alles gewesen, was es zu tun gab. Er hatte die Spuren derjenigen ausgelöscht, die ihm diesen Schmerz bescherten. Diesen Schmerz, von dem er nicht einmal sagen konnte, wo er überhaupt herrührte. Er erinnerte sich schlichtweg nicht daran, als ob ein undurchdringlicher Schleier vor seine Gedanken gelegt worden wäre. Es war etwas Wichtiges gewesen, das man ihm weggenommen hatte. Etwas sehr Wichtiges. Aber was nur? Das Nachdenken darüber, bescherte ihm furchtbare Kopfschmerzen, sie bohrten hinter seiner Stirn, breiteten sich wie ein glühender Reif um seinen Schädel herum aus. Mit einem leisen Stöhnen sank er in die Knie und griff sich dann an den Kopf. Der Schmerz vernebelte nicht nur seinen Verstand, sondern ließ auch alles vor seinen Augen verschwimmen. So erkannte er die Gestalt, die auf ihn zugelaufen kam, nicht, aber er spürte, dass sie ihm nicht freundlich gesinnt war. Er wollte sich wieder aufrichten, sich verteidigen, aber der Schmerz intensivierte sich noch einmal und ließ ihn mit einem neuerlichen Stöhnen wieder zusammenfahren. Als die Gestalt vor ihm stehenblieb, stieg ihm der, seltsam wohltuende, Rauch einer Zigarette in die Nase. Der Geruch beruhigte ihn und linderte gleichzeitig seine Schmerzen, doch seine Sicht verbesserte sich nicht mehr. Müde, fast schon willenlos, legte er sich zu Boden und schloss die Augen. Alles war gut, solange er nur hier war. Alles war gut, solange er schlief und wenn er wieder erwachte, würde alles so sein, wie er sich wünschte. Mit diesen Gedanken fiel er in einen tiefen Schlaf, während die Gestalt vor ihm ein leises Seufzen ausstieß. „Ich hoffe, du weißt, was du tust, Orakel.“ Kapitel 1: Vollkommen normal ---------------------------- Zetsu fluchte leise, als er fast die Treppe hinunterfiel. Glücklicherweise fing er sich rechtzeitig wieder, während er seine Schuljacke anzog und brachte dann die letzten Stufen hinter sich. Er hastete durch das Wohnzimmer, an der Küche vorbei, in der eine schwarzhaarige Frau gerade am Herd stand und etwas in der Pfanne zubereitete, Sie wollte etwas sagen, aber er kam ihr rasch zuvor: „Keine Zeit, Tante Hinome. Ich komme zu spät!“ Er ließ Wohnzimmer und Küche hinter sich und trat in den Korridor, wo er nach seiner vorbereiteten Tasche griff und seine Schuhe anzog. Dann hastete er nach draußen und rannte die Straße hinab. Es war vielleicht kein sonderlich eleganter Anblick, den er da bot, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Wenn er zu spät käme, würde das zu einem weiteren Eintrag in seine Akte führen und das wollte er lieber vermeiden – schon allein, weil es dann eine weitere Standpauke seines Onkels gäbe und das wollte er erst vermeiden. Erst an einer Ampel angekommen, blieb ihm endlich wieder die Gelegenheit, innezuhalten und durchzuatmen. Dabei dachte er wieder an den seltsamen Traum der letzten Nacht zurück, in dem er mit einem Schwert über einen mittelalterlich anmutenden Hof, angefüllt mit toten Rittern, gelaufen war. Was es damit allerdings auf sich hatte, wusste er nicht. Ich sollte mir auch nicht zu viele Gedanken machen. Es war immerhin nur ein Traum. Also verwarf er ihn vorerst wieder und wartete darauf, dass es grün wurde – und hörte dann plötzlich eine bekannte Stimme hinter sich: „Akatsuki-kun~!“ Irritiert sah er sich um und entdeckte Satsuki Ikaruga, die ihn anstrahlte. Das überraschte ihn doch ein wenig, immerhin ... „Senpai! Kommst du heute etwa auch zu spät?“ „Natürlich nicht“, erwiderte sie und strich sich das rote Haar zurück. „Ich bin eher überrascht, weil du viel zu früh dran bist. Das sieht man bei dir nicht häufig.“ Ratlos hob er die Augenbrauen, dann sah er auf seine Uhr hinunter. Tatsächlich zeigte diese ihm an, dass es noch ungewöhnlich früh war und er eigentlich erst beim Frühstück setzen sollte. Mit einem leisen Seufzen lehnte er sich gegen die Ampel. „Na toll, ich bin zu früh.“ „Vielleicht können wir das in deiner Akte vermerken lassen“, sagte Satsuki lachend. „Dann hättest du eine Verspätung in der Zukunft gut.“ „Als ob. Man wird mir ewig vorhalten, dass ich doch einmal pünktlich gewesen bin und es deswegen keinen Grund mehr gibt, irgendwann einmal zu spät zu kommen.“ „Aber wenn du schon unterwegs bist, kannst du ja trotzdem mit mir zur Schule kommen. Ich bräuchte auch deine Hilfe.“ Er hob die Hand und streckte sie ihr mit gespreizten Fingern entgegen. „Du hast mich bestimmt verhext, damit ich heute zu früh aufstehe und du Nozomu nicht zu Hause abholen musst.“ Sie lachte noch einmal, schüttelte dabei aber den Kopf. „Oh, den werde ich auch noch abholen. Denkst du, er kommt um diese ganze Sache herum?“ „Stimmt, er hätte mir das sonst ewig gedankt und das kannst du ja nicht zulassen, hm?“ Dieses Geplänkel mit ihr war so vertraut, wie es ihm fremd war. Etwas stimmte einfach nicht, aber er konnte nicht erkennen, was genau falsch war – und nur eine Sekunde später, war es ihm auch schon vollkommen gleichgültig und der Gedanke war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Er setzte seinen Weg gemeinsam mit Satsuki fort, wobei sie einen Umweg machten, um Nozomus Haus zu erreichen. Sie klingelte – aber die Tür wurde, zu Zetsus Erstaunen, nicht von Nozomu geöffnet, sondern von einer Frau mit langem braunen Haar, die er erst auf den zweiten Blick als die Mutter seines besten Freundes erkannte. Sie hatte aber ein wesentlich besseres Gedächtnis, weswegen sie sofort lächelte. „Satsuki-chan, Zetsu-kun, wie schön, euch beide zu sehen.“ Ihre Stimme war so sanft und liebenswürdig, dass sofort allerlei Erinnerungen an sie wach wurden und er sich fragte, wie er sich für kurze Zeit nicht hatte an sie erinnern können. „Guten Morgen, Kaname-san“, antworteten sie gleichzeitig und mit aller Höflichkeit, die sie aufbringen konnten. „Seid ihr hier, um Nozomu abzuholen? Er ist bestimmt gleich fertig. Wollt ihr nicht reinkommen?“ Zetsu wollte sofort bejahen, aber Satsuki schüttelte rasch den Kopf und lächelte selbstgefällig. „Nein, besser nicht. Akatsuki-kun macht es sich sonst zu gemütlich und er kommt doch noch zu spät – und wir anderen dann mit ihm.“ Kaname lächelte daraufhin verständnisvoll und kehrte dann wieder ins Haus zurück. Dabei ließ sie die Tür offen, worauf der angenehme Geruch ihres Essens bis zu ihnen nach draußen reichte. Zetsu bereute bereits, nicht gefrühstückt zu haben, wenn er schon viel zu früh unterwegs war – und wenn er so darüber nachdachte, hatte er nicht einmal etwas zu essen dabei. Er würde sich vermutlich etwas borgen müssen, sei es nun Geld oder Essen. Noch einmal kam ihm der Traum von letzter Nacht in den Sinn, als wäre es wirklich wichtig darüber nachzudenken. Aber der Geruch des Essens half ihm ein wenig, es zu verdrängen. Gerade als er richtig hungrig wurde, tauchte endlich Nozomu auf, rief einen Abschiedsgruß hinter sich und schloss dann die Tür. „Guten Morgen, Senpai, guten Morgen, Zetsu.“ Er schien nicht im Mindesten überrascht, Zetsu so früh zu sehen, seine blauen Augen musterten ihn nur einen kurzen Moment. Aber so kannte er Nozomu, weswegen es ihn nicht weiter störte. Satsuki hakte ihren Arm bei Nozomu unter und zog ihn so mit sich, während Zetsu sich ihr aus vollkommen freien Stücken anschloss. „Du bist heute so früh unterwegs, Senpai“, bemerkte Nozomu nach wenigen Metern. „Lass mich raten, du musst irgendetwas organisieren und ich soll dir dabei helfen.“ „Organisieren?“, fragte Satsuki unschuldig, dann lächelte sie schelmisch. „Aber nein. Ihr müsst mir jede Menge Stühle aus dem Keller holen, um sie in der Sporthalle aufzubauen.“ „Auch das noch“, entfuhr es Zetsu, während Nozomu nur seufzte. Er hatte nicht erwartet, dass sie so etwas machen müssten. Aber es passte zu Satsuki, wie er fand ... zumindest irgendwie. Sie war immerhin eine Sklaventreiberin. „Aber nur, weil du so nett bittet“, sagte er deswegen. Nozomu nickte zustimmend, worauf Satsuki nur lachen konnte. In einer derartig friedlichen Atmosphäre fiel es Zetsu leicht, sich zu entspannen und es einfach nur, vollkommen gedankenlos, zu genießen. Ohne auch nur einen Moment daran zu denken, was er in der Nacht zuvor, geträumt hatte. Zum Mittagessen war diese Entspannung allerdings längst wieder hinfällig. Mit schmerzenden Gliedern saß er auf einer Bank auf dem Dach der Schule und gab dabei immer wieder leise Klagelaute von sich, die Satsuki bald zu einem entnervten Seufzen führten. „Stell dich nicht so an, Akatsuki-kun. Man könnte man, du machst nie Sport.“ „Unzählige Stühle schleppen empfinde ich nicht als Sport“, erwiderte er. Es wunderte ihn ohnehin, dass Nozomu sich nicht beschwerte, obwohl er mindestens genauso hart gearbeitet hatte. Normalerweise war er immer einer der ersten, der sich gern beklagte. Stattdessen saß er einfach nur neben Satsuki und aß seine von ihr zubereitete Bento-Box, ohne daran zu denken, dass Zetsu gerade am Verhungern war. „Dämonen jagen ist auch kein Sport“, konterte Satsuki. Das ließ Zetsu stutzen. Warum erwähnte sie so etwas? Warum sollte er Dämonen jagen? Es war ein weißer Fleck in seiner Erinnerung, ein unangenehmes Gefühl, aber keiner wollte ihm diesen füllen. Doch dieser Gedanke schwand rasch, als er weitere Schritte hörte und im nächsten Moment jemand neben ihm erschien. Er hob den Kopf und entdeckte eine Person, deren bloßer Anblick ihn mit derart viel Freude erfüllte, dass er es kaum in Worte fassen konnte – und er wusste nicht einmal, weswegen. Wenn seine Erinnerung ihn nicht trog, hatte er sie erst am Tag zuvor gesehen. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er von seinem Platz hochfuhr und sie umarmte. „Leana, ich bin so froh, dich zu sehen!“ Sie erwiderte seine Umarmung nicht und als er sich von ihr löste, sah er sogar, dass sie die Stirn gerunzelt hatte und ihre braunen Augen ihn überraschend dunkel anblickten. „Akatsuki ... was soll das?“ Nur widerwillig ließ er sie ganz los und neigte den Kopf. Er glaubte, in Erinnerung zu haben, dass sie sich nahegestanden waren, sehr nahe sogar. Aber nun reagierte sie auf diese Weise und stieß ihn damit quasi von sich. Er konnte es nicht verstehen. „Was soll was?“, fragte er. Satsuki kicherte leise, während Nozomu nach wie vor keine Miene verzog. Aber er konnte anhand des Blicks, den sein Freund ihm zuwarf, sagen, dass er überaus neugierig war, wie sich das alles weiterentwickeln würde. „Diese Umarmung“, sagte Leana mit zusammengezogenen Brauen und senkte dann die Stimme. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht will, dass du das vor den beiden machst.“ Dabei wirkte sie für einen kurzen Moment so sanft, wie er sie in Erinnerung hatte. Aber natürlich würde er sich daran halten, wenn sie das wollte – besonders wenn sie ihm dabei diesen Blick zuwarf. „Es kommt nicht wieder vor“, entschuldigte er sich. Nachdem sie zufrieden genickt hatte, setzte er sich gemeinsam mit ihr auf die Bank und blinzelte dann überrascht, als sie eine Bento-Box zutage förderte und ihm reichte. „Das ist für dich, Akatsuki.“ „Womit habe ich das verdient?“ Er nahm ihr die Box ab und öffnete diese, worauf er deren köstlich aussehenden Inhalt entdeckte. Dies war ein weiterer Fakt, den er an diesem Tag nicht verstand: Er glaubte, sich zu erinnern, dass ihr Essen nicht gut schmeckte, aber gleichzeitig war er der Überzeugung, dass es wirklich köstlich war – und als er es probierte, gewann die Überzeugung. Er seufzte zufrieden, als er endlich seinen knurrenden Magen beruhigen konnte, noch dazu mit dem wirklich leckeren Essen von Leana. Alles war gerade perfekt. „Ich denke, du solltest mehr essen“, beantwortete sie darauf seine Frage endlich. „Letzte Nacht hast du eine unheimlich schlechte Show abgeliefert.“ Das ließ ihn beim Essen innehalten und sich Leana zuwenden. „Letzte Nacht?“ Noch immer kam ihm da nur der Traum in den Sinn und sonst nichts weiter, weswegen er nicht verstand, worauf sie da eigentlich gerade anspielte. Statt ihm eine Erklärung zu liefern, gab sie ein genervtes Seufzen von sich und wandte sich Nozomu zu. „Verdrängt er all seine Fehlschläge so gut?“ „Was dachtest du denn, warum er behauptet, so etwas nicht zu kennen?“, erwiderte der Gefragte zwischen zwei Bissen. „Das verdankt er alles nur seinem selektiven Gedächtnis.“ „Ich würde es wirklich großartig finden, wenn mir jemand sagen könnte, worum es überhaupt geht.“ Satsuki wog ihren Oberkörper hin und her, als würde sie im Sitzen tanzen wollen. „Akatsuki-kun hat wirklich ein furchtbares Gedächtnis. Erinnerst du dich schon gar nicht mehr daran, dass der Dämon letzte Nacht beinahe wegen dir entwischt wäre?“ Er wollte noch etwas fragen, aber im selben Moment setzte seine Erinnerung ein und er sah sich selbst mit den anderen drei gegen ein Wesen kämpfen, das er nicht so ganz erkennen konnte. Aber es war eindeutig, dass sie alle verschiedene Schwerter trugen, mit denen sie gegen diese Dämonen antraten. „Oh, natürlich. Tut mir leid, das kommt auch nie wieder vor.“ „Das will ich doch hoffen“, sagte Satsuki. „Wir können nicht immer deine Fehler für dich ausbügeln. Zeig dich lieber endlich so zuverlässig, wie Nozomu dich angepriesen hat.“ Zetsu sah zu seinem besten Freund hinüber, der sich inzwischen wieder auf sein Essen konzentrierte und deswegen das Lächeln, das ihm galt, nicht einmal bemerkte. Im nächsten Augenblick wurde er aber auch schon von Leana wieder aus den Gedanken gerissen: „Iss endlich auf, die Pause dauert nicht ewig.“ „Natürlich“, erwiderte er und aß sofort weiter. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Satsuki plötzlich mit einem Seufzen noch etwas einfiel: „Oh, Nozomu-kun! Du müsstest mir mit noch etwas helfen, ginge das?“ „Noch mehr Stühle?“, fragte er. „Nein, du müsstest mir helfen, ein paar Flyer abzuholen und zu verteilen. Die Schulsprecherwahl steht doch bald an und ich möchte natürlich gewinnen.“ Da konnte er natürlich nicht widersprechen, wie Zetsu wusste – allein schon weil Satsuki dieses einnehmende Lächeln aufsetzte, das keinen Widerspruch zuließ. Nozomu leerte den Rest der Bento-Box und stand dann auf, um sich Satsuki anzuschließen. Die beiden verabschiedeten sich und verließen das Dach dann. Kaum waren sie fort, kam es Zetsu vor, als würde eine Maske von Leana abfallen. Sie lehnte sich an ihn und seufzte leise. „Ich mache mir manchmal wirklich Sorgen um dich, weißt du?“ Es kam ihm vor wie die natürlichste Sache der Welt, weswegen er sich trotz ihres abweisenden Auftretens zuvor, nicht über ihr jetziges Verhalten wundern konnte. „Das musst du nicht“, erwiderte er. „Ich kann gut auf mich selbst aufpassen. Ich werde ab sofort auch achtsamer sein.“ „Das will ich dir auch geraten haben.“ Sie versuchte, streng zu klingen, musste dabei aber auch lachen, was den Effekt zerstörte. „Immer kann ich dich nämlich nicht retten können.“ Seine Erinnerung versuchte, darauf anzusprechen, aber er schob es bereits beiseite, weil er diesen Moment mit Leana einfach nur genießen wollte. „Wir werden heute Abend wieder Dämonen jagen gehen“, sagte sie. „Sieh zu, dass du bis dahin fit bist, ja? Heute Nacht wirst du dich wirklich beweisen müssen, sonst wird Ikaruga noch ungeduldig.“ „Ich weiß. Die großartige Veteranin möchte nur Leute in der Nähe, die ihr eigenes Gewicht tragen können. Keine Sorge, ich schaffe das schon.“ Sie lächelte wieder zufrieden und trieb ihn dann dazu an, weiterzuessen, was er sofort tat. In diesem Moment war alles gut, wie er fand und so schwand die Erinnerung an den Traum der letzten Nacht, damit er all das endlich genießen konnte. Kapitel 2: Dämonenjagd ---------------------- In der Nacht war die Stadt immer überraschend still. Früher hatte Zetsu nie verstanden, woran das lag, aber inzwischen, da er nun ein Jäger war, wusste er, was der Grund dafür war. Die Dämonen, die nachts umherstreiften, waren zwar für normale Menschen nicht zu sehen, aber das änderte nichts daran, dass sie gefürchtet waren. Man spürte sie, wenn sie an einem vorbeistreiften, fühlte den kurzen, brennenden Schmerz in der Seele, wenn sie nach einem griffen und die plötzlichen Anfälle von Depressionen, wenn sie erst einmal einen Teil der Seele verschlungen hatten. Zetsu erinnerte sich mit Grauen an jene Tage zurück, in denen er nichts von diesen Wesen gewusst hatte, eine Zeit, in der erfolglos Therapien besucht und Medikamente geschluckt hatte, ohne dass jemals etwas besser geworden war. Aber dann, an jenem Tag, an dem seine Verzweiflung einen Höhepunkt erreicht und er nur noch hatte springen wollen, war er Leana und Nozomu begegnet. Sie hatte ihn gerettet und ihm war das Potential in Zetsu aufgefallen – und so war er schließlich selbst zu einem Shinkenträger geworden, der Dämonen jagte. So gab es keine Verzweiflung mehr, keine Depressionen, nur noch die Jagd und das gefiel ihm. Auch in dieser Nacht wieder. Ein kalter Wind wehte, aber er war derart angespannt, dass er das nicht einmal wirklich bemerkte. Sein Blick war, von dem Dach aus auf dem er stand, konzentriert auf die Kreuzung gerichtet, die vollkommen ruhig war. Die Ampelanlage lief dennoch und schaltete in regelmäßigen Abständen von Grün auf Rot und wieder zurück, was bedeutete, dass sich in ihrer Nähe gerade keine Dämonen aufhielten. Erst als er bemerkte, dass jemand zu ihm auf das Dach kam, wandte er den Blick endlich ab. Leana bewegte sich mit langsamen Schritten auf ihn zu, ihr Shinken war sicher an ihrem Gürtel befestigt und glühte in einem weißen Licht, was es geradezu überirdisch erscheinen ließ. Neben ihm blieb sie wieder stehen und sah hinunter. „Weckt das keine schlechten Erinnerungen?“ Er hob die Schultern. „Nicht so sehr. Immerhin habe ich dich so auch richtig kennen gelernt.“ Zwar war er in derselben Klasse wie Leana, aber bis zu diesem Ereignis hatte er sie nie wirklich beachtet. Sie war still und abweisend gewesen, ganz anders als die anderen Mädchen, die sogar für ihn schwärmten und um seine Aufmerksamkeit buhlten. Damals hatte er sich deswegen nicht für sie interessiert, inzwischen war dies genau der Fakt, der dafür sorgte, dass er so fasziniert von Leana war. Jedenfalls ... glaubte er, dass es sich dabei um seine Vergangenheit handelte. Noch immer kam ihm das alles ein wenig seltsam vor, als ob es eine Geschichte wäre, die einem anderen gehörte und er war nur zufällig in diese Sache hineingeraten. „Verstehe“, erwiderte sie darauf nur. Ihr Blick war immer noch vollkommen auf den Ort konzentriert, an dem sie einen weiteren Angriff vermuteten. Woher genau sie eigentlich wussten, wo die Dämonen erscheinen würden, wusste Zetsu nicht. Er hatte nie gefragt und eigentlich interessierte es ihn auch gar nicht weiter, er wollte sie nur bekämpfen und töten, wo immer er sie fand. „Es ist bald Mitternacht“, sagte er nach einem kurzen Blick auf seine Uhr. „Dann sollte es eigentlich wieder soweit sein, oder?“ „Spätestens. Aber denk daran, diesmal nicht so unverantwortlich zu sein.“ Er versprach ihr, vorsichtig zu sein – und in diesem Moment reagierte die Ampelanlage. Ihr Rhythmus veränderte sich und sprang geradezu blitzartig zwischen den einzelnen Farben hin und her, was immer ein erstes Anzeichen für das Erscheinen von Dämonen war. Zetsu blickte rasch hinüber und bemerkte die dunkle Wolke, die dennoch von glitzernden Funken durchzogen war. Sie bewegte sich langsam, fast schon bedächtig, über die Kreuzung. Dies war die bekanntere Fortbewegungsmöglichkeit der Dämonen, die sie normalerweise nutzten. Menschen konnten diese nicht wahrnehmen, aber ihnen als Shinkenträger, war das durchaus möglich. Beim ersten Einsatz, vor wenigen Nächten, war es ihm wie ein wunderschöner Anblick vorgekommen, er hatte nicht glauben wollen, dass es sich dabei um etwas Böses handelte, aber inzwischen war er ihn bereits derart gewohnt, dass er keinerlei Emotionen mehr dafür empfand. Leana zog ihr Shinken, worauf sich das weiße Glühen auf ihren gesamten Körper ausbreitete. „Endlich!“ Sie hob das Schwert, was das Zeichen für Satsuki und Nozomu zu handeln war. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Wolke gegen eine Wand aus weißem Mana prallte, die erst im Moment des Zusammenstoßes sichtbar wurde. Im selben Augenblick erschienen in der Wolke die Gestalt von gut einem Dutzend Dämonen. Es waren weiße Kreaturen, deren Augen zugenäht zu sein schienen, sie trugen weiße Umhänge, die ihre schwächlichen, knorrigen Körper verhüllten. Aber obwohl sie derart zerbrechlich aussahen, verfügten sie über Fähigkeiten, die sie zu keinen sonderlich einfachen Gegnern machten. Zetsu hatte bereits mehrmals den Fehler gemacht, sie zu unterschätzen und es stets bereut, dennoch kam er in dieser Sache einfach nicht aus seiner Haut. „Es ist soweit“, sagte Leana und sprang rasch vom Dach herab. Zetsu sah ihr hinterher, beobachtete, wie Flügel aus ihrem Rücken zu sprießen schienen, die dann ihren Sturz abfingen, so dass sie vollkommen sicher auf dem Boden landete. Nachdem er das wieder einmal fasziniert betrachtet hatte, folgte er ihrem Beispiel und wurde ebenfalls von seinen eigenen, wenngleich schwarzen, Flügeln abgefangen. Kaum war er aufgekommen, konnte er sehen, wie Leana vorpreschte. Dank der Energie des Shinken war sie wesentlich schneller, als das menschliche Auge es beobachten könnte, aber er wollte nicht nur zusehen und folgte ihr stattdessen in derselben Geschwindigkeit. Innerhalb von Bruchteilen von Sekunden befanden sie sich bereits im Inneren der Wolke. Es war ein unangenehmes Gefühl, immer noch, es drückte Zetsus Brust zusammen und drohte manchmal, ihm regelrecht den Atem zu nehmen, deswegen versuchte er, sich nur auf die Dämonen zu konzentrieren. Diese wendeten sich ihnen bereits zu, streckten die Arme nach ihnen aus, um sie zu ergreifen und sie davon abzuhalten, etwas zu tun. Leana wich den Gestalten flink aus, riss in derselben Bewegung noch ihr Shinken hoch und trennte damit die Arme eines Dämons ab. Die abgetrennten Körperteile lösten sich in weißes Mana auf, das wiederum gierig von ihrer Waffe aufgesogen wurde. Zetsu folgte ihrem Beispiel, wurde dabei aber wieder etwas zu mutig. Ohne auf seine Verteidigung zu achten, stieß er sein eigenes Shinken vor und durchbohrte damit einen der Dämonen, der sich sofort auflöste. Ein wenig zu spät bemerkte er die Hände eines anderen Gegners, die direkt auf ihn zurasten – aber bevor sie ihn erreichen konnten, löste sich der dazugehörige Dämon ebenfalls auf. Er ließ den Blick schweifen und entdeckte Satsuki, die sich ihnen inzwischen angeschlossen hatte und ihn tadelnd ansah. „Ich sagte, du sollst vorsichtig sein! Hör mir doch endlich zu!“ Statt sich zu entschuldigen, begab er sich direkt in den Kampf mit einem anderen Dämon, der bereits versuchte, die Flucht zu ergreifen. Mit einem gezielten Angriff erwischte er diesen, worauf er ebenfalls verschwand. Die schwarze Wolke verlor langsam ihren Schrecken, mit jedem Dämon, der verschwand, wurde sie kleiner und weniger intensiv. Zetsus Atmung wurde wesentlich freier – doch dann entfernte sich die Wolke tatsächlich von ihnen und kehrte auf den Mittelpunkt der Kreuzung zurück. Es waren nur noch drei Dämonen vorhanden, die allerdings ihre Strategie änderten. Es war jedes Mal dasselbe, wie Zetsu in diesem Moment auffiel, auch wenn die Erinnerung noch immer ein wenig verschwommen war. Statt einzeln anzugreifen, versuchten die Dämonen, miteinander zu verschmelzen. Das taten sie vollkommen ohne jedes Effektfeuerwerk, sie liefen einfach ineinander und wuchsen auf diese Art und Weise zu einem Dämon, der sogar die Ampeln überragte. Er öffnete den Mund und stieß einen schrillen, furchterregenden Schrei aus. Beim ersten Mal war Zetsu dabei zurückgewichen, Furcht hatte ihn ergriffen und den Drang zu fliehen in ihm ausgelöst. Aber diesmal stand er vollkommen furchtlos mit Leana und Satsuki da und wartete lediglich, bis der Dämon den Mund wieder schloss. „Zumindest hat er keinen Mundgeruch“, kommentierte Satsuki schmunzelnd. Die weißen Flügel, die an ihrem Kopf anlagen, wann immer sie kämpften, zuckten ein wenig, als wären sie über diese Aussage amüsiert. Das grün leuchtende Schwert in ihrer Hand warf ein unheimliches Licht auf ihre weiße Kampfkleidung. „Ist es nicht langsam Zeit?“, fragte Leana gelangweilt. „Er ist noch nicht ganz fertig.“ „Also ist unser Ablenkungsplan aktiv“, bemerkte Zetsu. „Verstanden.“ Ohne ein weiteres Kommando preschten sie in verschiedene Richtungen davon. Der Dämon streckte die Hand nach Satsuki aus, sein Arm verlängerte sich dabei so sehr, dass er sie problemlos erreichte. Doch bevor er sie ergreifen konnte, sprang Leana bereits auf den Arm und stach ihr Schwert in diesen hinein. Schmerzerfüllt schrie das Wesen auf und ließ den Arm wieder sinken, so dass Leana hinunterspringen musste. Kaum stand sie wieder auf der Straße, rannte sie weiter, um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden. Zetsu stieß derweil einen Pfiff aus, um die Aufmerksamkeit des Dämons auf sich zu ziehen. Er bekam diese auch sofort, als das Wesen die Hand zur Faust ballte, um sie dann auf ihn niederfahren zu lassen. Mit einem Sprung zur Seite brachte er sich in Sicherheit, die Faust traf auf den Asphalt, der unter der Wucht nachgab. Ein Graben, der Zetsu verriet, wie ungesund es wäre, sich treffen zu lassen, entstand an der Stelle, an der er zuvor gestanden hatte. Komm schon, Nozomu, betete er in Gedanken. Beeil dich. Als sich weiße Funken um den Dämon zu bilden begannen, hielt Satsuki eilig wieder inne. „Oh nein!“ Sie fuhr sich durch das Haar, worauf sich nun blaue Funken um sie sammelten, wenngleich es rasch wesentlich mehr waren als bei dem Dämon. „Ice Banisher!“ Die gesamte Umgebung wurde plötzlich in blaues Licht getaucht, ein Würfel bildete sich um den Dämon und zersplitterte im nächsten Moment bereits wieder, worauf das Wesen einen gepeinigten Schrei von sich gab – die weißen Funken waren wieder erloschen. „Danke, Senpai!“, rief Zetsu ihr zu, worauf sie lediglich zufrieden schmunzelte und sich noch einmal, diesmal allerdings aufgrund ihres Selbstbewusstseins, durch das Haar fuhr. Der Dämon legte derweil den Kopf in den Nacken und stieß ein Heulen aus, das einen weiteren Angriff ankündigen sollte – doch in diesem Moment wurde Nozomu endlich aktiv. Er sprang von einem der der anderen Dächer, hielt aber nur ein Schwert in der Hand, statt der zwei Klingen, die er normalerweise trug. Bei genauerem Hinsehen war genau zu erkennen, dass sein breites Schwert lediglich aus zwei zusammengesteckten Klingen bestand. „Namebreaker!“ Er riss die Waffe hoch, traf damit auf den Dämon – und zerteilte ihn in einer einzigen Bewegung sauber in zwei Hälften, worauf er sich vollkommen lautlos in weiße Funken auflöste. Es waren derart viele, quasi ein ganzer Ozean voll, wie es Zetsu vorkam, dass Nozomus Schwert sie nicht alle aufnehmen konnte, so dass auch die anderen Shinken davon profitieren konnten. Zetsu stemmte eine Hand in die Hüfte. „Na bitte, ist doch prima gelaufen, oder?“ Bevor einer der anderen etwas sagen konnte, schnappte Satsuki sich wütend sein Ohr. „Akatsuki-kun!“ Er stieß einen erschrockenen Schrei aus, gefolgt von einem Fluch. „He! Was soll das?!“ „Was habe ich dir gesagt?“, fauchte sie. „Du sollst nicht immer so unvorsichtig sein! Und schau mal, was du da angerichtet hast!“ Sie deutete auf den Krater, der durch sein Ausweichmanöver entstanden war. „Genau so etwas sollte nicht geschehen! So etwas fördert doch nur das Misstrauen und macht uns in Zukunft unsere Arbeit schwerer!“ Er konnte sich das nicht vorstellen, glaubte aber, aus seiner Erinnerung, dass sie diese Diskussion bereits mehrmals geführt hatten, deswegen widersprach er nicht und entschuldigte sich stattdessen: „Schon gut, schon gut, es tut mir leid! Ich mache das nie wieder!“ „Das hast du letzte Nacht schon gesagt!“, erwiderte sie wütend. „Wenn du nicht endlich damit aufhörst, dann-“ Er blendete ihre Schimpftirade aus und sah zu Nozomu und Leana hinüber, die das ganze aus einiger Entfernung beobachteten. Nozomu wirkte ein wenig peinlich berührt, er seufzte ganz sicher sogar, auch wenn er das auf diese Entfernung nicht hören konnte. Leana hatte dagegen die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf ein wenig geneigt, während sie ihn tadelnd ansah. Dennoch hatte er in diesem Moment das Gefühl, dass alles gut war, so wie es gerade war. Alles war perfekt, wenn sie einfach immer so weitermachen könnten. Er, Nozomu, Satsuki – aber vor allem Leana, deren Anblick in seinem Inneren viel zu viele Gefühle freisetzte. Ja, ganz sicher, alles war gut und wenn es nach ihm ginge, sollte das für immer so sein. Kapitel 3: Gespräche am Morgen … -------------------------------- Am nächsten Morgen wachte Zetsu wesentlich früher auf, so dass er noch am Frühstück teilnehmen konnte. Dabei fiel ihm stets auf, wie unterschiedlich er und sein Onkel sich waren. Seine Tante, die nur angeheiratet war, fiel für ihn dabei raus, auch wenn ihr schwarzes Haar und ihre dunklen Augen ohnehin schon einen Kontrast zu seinem silbernen Haar und seinen stahlblauen Augen bildete. Aber bei seinem Onkel, dem Bruder seines Vaters, war das etwas anderes. Gekkyu hatte im Nacken zusammengebundenes schwarzes Haar, das über seine Schultern fiel, die goldenen Augen musterten Zetsu mit gerunzelter Stirn, als dieser sich nach einem Morgengruß an den Tisch setzte. Er kümmerte sich nicht darum und nahm sich stattdessen etwas von dem Toast und etwas kaltem gebratenen Fisch, der noch vom Abendessen übrig geblieben war. Hinome saß noch nicht am Tisch, vermutlich war sie noch in der Küche beschäftigt, aber im Moment war nichts von dort zu hören. „Stimmt etwas nicht?“, fragte Zetsu betont ruhig, damit sein Onkel keinen Grund bekam, sich aufzuregen. Als er ein Kind gewesen war, daran erinnerte er sich noch äußerst gut, war Gekkyu ein netter, verständnisvoller Mann gewesen. Aber damals war er auch noch nicht für ihn verantwortlich gewesen. Zetsus Eltern hatten noch gelebt, also war es Gekkyu möglich gewesen, vollkommen sorgenfrei in den Tag hineinzuleben. Dann war er schlagartig für einen Jugendlichen verantwortlich geworden und damit war offenbar jegliche Sorglosigkeit von ihm gewichen. „Zetsu, ich habe neulich deinen Lehrer getroffen.“ Er fragte sich, wie es dazu wohl gekommen war und ob das Treffen wirklich rein zufällig geschehen sein mochte. Äußerlich beschloss er aber, sich nichts davon anmerken zu lassen. „Das ist ja schön.“ Die Falten auf Gekkyus Stirn schienen sogar noch tiefer zu werden, grabengleich. „Bist du sicher, dass du mir nicht noch etwas erzählen möchtest?“ „Wenn du schon so fragst, hat er dir vermutlich ohnehin schon alles mögliche erzählt. Sag mir lieber, was du von mir hören möchtest.“ Zetsu fiel eigentlich nichts ein, was sein Lehrer irgendjemandem erzählt haben könnte. Er konnte sich jedenfalls an keine Missetat der letzten Zeit erinnern. Aber vielleicht gaben die Lehrer es auch schon auf, ihm mitzuteilen, was sie an ihm störte. Gekkyu stieß ein schweres Seufzen aus. „Mir wurde mitgeteilt, dass du im Unterricht öfter einschläfst. Oder zu spät kommst.“ Das lag nicht nur an den nächtlichen Aktivitäten. Auch schon bevor Zetsu ein Jäger geworden war, hatte er oft nächtelang wachgelegen und war dann während des Unterrichts eingeschlafen, nur um dann unruhige Träume zu durchleben, in denen er sich von Dämonen verfolgt fühlte. Damals hatte er schon die ein oder andere Ermahnung bekommen, aber nie war seinem Onkel etwas erzählt worden. Nun war es wohl doch zu gehäuft aufgetreten, irgendwann hatte das einmal geschehen müssen, deswegen überlegte er aber auch, wie er darauf reagieren sollte. Mit einer einfachen Entschuldigung war diese Sache wohl kaum getan. Aber erneut nachzuhaken, wie er laut seinem Onkel reagieren sollte, war auch eine schlechte Idee, wie er wusste. „Kannst du mir das erklären?“ Gekkyu bestand immer noch auf eine Antwort. „Nun ...“ Zetsu nahm den Blick von seinem Onkel und sah stattdessen auf den Toast hinunter. „Ich bin eben ziemlich müde.“ Das war offensichtlich nicht das, was Gekkyu sich erhofft hatte. „Willst du mich auf den Arm nehmen? Du bist die halbe Nacht wach, nur um dann am Tag danach in der Schule zu schlafen.“ Es überraschte Zetsu, dass sein Onkel mitbekommen hatte, dass er nachts wenig schlief. Dabei gab er sich Mühe, dass es nicht auffiel. Glücklicherweise war er schon immer nachts sehr leise gewesen, da musste er sich keine Gedanken machen, dass es an der Abwesenheit jeglicher Geräusche lag, dass er aufgefallen war. „Hast du denn gar kein Verantwortungsgefühl?“, fuhr Gekkyu fort. Davon besaß er sogar reichlich – auch wenn andere ihm sagen würden, dass er diese nächtlichen Streifzüge nicht aus Verantwortungsgefühl heraus, sondern aus purem Egoismus durchführte. Das störte ihn allerdings nicht weiter, er machte es so oder so und das war doch die Hauptsache. Aber das konnte er seinem Onkel nicht einfach auf die Nase binden. Schade, vielleicht hätte das seine Meinung über Zetsu geändert. Dieser seufzte leise, theatralisch, hoffte jedoch, dass es nicht weiter auffiel. „Ich kann dir versichern, dass ich ausreichend Verantwortungsgefühl besitze. Ich kann nichts dafür, dass wir so viele Hausaufgaben bekommen oder ich lernen muss.“ Das gefiel Gekkyu allerdings auch nicht. „Ich weiß genau, dass du nachts nicht mit Hausaufgaben oder lernen beschäftigt bist. Außer es ist dir gelungen, in vollkommener Dunkelheit zu lernen.“ Zetsu fluchte innerlich. Ihm war nicht aufgefallen, dass es möglich sein könnte, festzustellen, dass unter seiner Tür kein Lichtschimmer hervorkam. Bislang hatte er eher darauf gehofft, dass die beiden tief genug schliefen, dass sie nicht einmal auf die Idee kämen, nachzusehen, ob da Licht hervorkam. Aber nun war es zu spät, diesen Punkt noch zu bedenken, er müsste eher eine neue Ausrede finden. „Ich benutze eine Taschenlampe, weil ich weiß, dass ihr es nicht gut fändet, wenn ich so spät nachts noch wach wäre. Aber wenn ihr mich schon erwischt habt, kann ich es ja zugeben.“ Das sagte er in einem vollkommen ruhigen Tonfall, der hoffentlich nicht verriet, wie nervös er sich gerade fühlte. Gekkyu musterte ihn misstrauisch. Alles in seinen Augen verriet, dass er seinem Neffen nicht im Mindesten glaubte, aber auch kein wirkliches Argument mehr gegen ihn einzusetzen wusste. Zetsu fühlte ein bitter-süßes Gefühl darüber in seinem Inneren. Es war schön, gewonnen zu haben und nicht entdeckt worden zu sein, aber gleichzeitig fühlte er sich schlecht darüber, dass er die Person, die ihn aufgezogen hatte und die sich seit Jahren gut um ihn kümmerte – wenn man von kleinen Streitereien absah – anlügen musste. Aber Satsuki hatte ihm eingeschärft, dass er niemandem von den Dämonen erzählen durfte und erst recht nicht, dass er gegen sie kämpfte. Weswegen das verboten war, wusste er zwar nicht, aber er akzeptierte, dass es eine schlechte Idee war, einfach jedem zu erzählen, was vor sich ging. Gekkyu würde ihm vermutlich nicht einmal glauben, anders als Hinome – aber wie auch immer es am Ende aussah, sie würden sich nur Sorgen um ihn machen und das wollte er auch verhindern. Obwohl Zetsu nicht glaubte, jemals im Kampf zu fallen, wollte er Gekkyu und Hinome doch ersparen, sich jede Nacht Sorgen machen zu müssen, dass er ebenfalls sterben könnte. Also war es besser, wenn es weiterhin sein eigenes kleines Geheimnis blieb und sie nichts davon erfuhren. „Sieh zu, dass du nachts schläfst“, sagte Gekkyu schließlich. „Wenn du in der Schule aufmerksam bist, musst du zu Hause weniger lernen. Notfalls musst du deine Clubs kürzen.“ Sehr viel gab es da nichts zu kürzen. Zetsu war in keinem einzigen Club – außer jenem, in dem Satsuki ihre Einsatzbesprechungen abhielt, dessen Deckname Vitalisierung lautete. Ihrer Aussage nach glaubten die Lehrer, es handele sich um einen einfachen Sportclub, der sich mit ungefährlichen Parcour-Einlagen fit hielt. Scheinbar kümmerte es keinen genug, um wirklich nachzuforschen oder Satsuki genoss einfach ausreichend Ansehen, dass niemand daran dachte, ihre Clubs zu überprüfen. Diese Tätigkeit könnte und wollte er jedenfalls nicht einschränken. Er müsste also einfach aufpassen, dass er nicht doch noch erwischt wurde. „Verstanden. Ich werde ab sofort darauf achten.“ Wenn er sich gut anstellte, dürfte er es schaffen, alles unter einen Hut zu bekommen und Gekkyu nicht misstrauisch genug zu machen, dass er nachzuforschen begann. Für den Moment war sein Onkel jedenfalls zufrieden, er nickte und nahm dann die Zeitung an sich, die bereits auf dem Tisch lag, nur darauf wartend, gelesen zu werden. Kaum hatte er sie geräuschvoll aufgeschlagen, vertiefte er sich bereits darin und war für den Rest des Frühstücks nicht mehr ansprechbar, wie Zetsu ihn kannte. Für ihn kam das gelegen, da er sich nun auf sein eigenes Frühstück konzentrieren konnte – jedenfalls bis Hinome ebenfalls dazukam. Sie lächelte wie gewohnt unverwandt, während sie zwischen ihnen hin und her sah. Bei Gekkyu traf ihr Blick nur auf die Zeitung, aber Zetsu nahm ihn dankbar entgegen und erwiderte ihn mit einem eigenen Lächeln. „Worüber habt ihr gerade gesprochen?“, fragte sie. „Über mein nächtliches Fehlverhalten.“ Er bemühte sich, einen scherzenden Ton einzuhalten, damit niemand Verdacht schöpfte – und er hatte Erfolg. „Aha!“, erwiderte Hinome mit einem hintergründigen Schmunzeln. „Gekkyu will dir also endlich beibringen, wie man sich eine Freundin angelt, wird aber auch Zeit~.“ Sein Onkel hustete hinter der Zeitung. Er war zumindest noch ansprechbar, sofern er namentlich erwähnt wurde, aber eine größere Reaktion war nicht mehr zu erwarten. Zetsu hätte nun natürlich erwidern können, dass er schon längst eine Freundin hatte, er sie auch nachts traf, aber nicht in dieser Art – doch er erwähnte nicht einmal das erste Thema. Seine Familie wusste nichts von Leana, was dieser wohl auch ganz recht war, wie er zu wissen glaubte. Wüsste Hinome von ihr, müsste Leana zu einem förmlichen Essen antanzen, ihre Lebensgeschichte erzählen und peinliche Fragen über sich ergehen lassen, und das wollte er ihr doch lieber ersparen. Er war schon froh, dass es ihm stets erspart blieb, da Leanas Familie nicht in Japan war, sondern in Europa – und mit Sicherheit wussten diese Leute auch nichts von ihm. Also warum etwas ändern, das so gut funktionierte? „Nein, nein, für so reif hält er mich noch nicht“, erwiderte Zetsu schmunzelnd. „Es geht nur darum, dass ich gefälligst nachts schlafen soll, statt mich um die Schule zu kümmern.“ Da schien in Hinomes Gehirn geradewegs ein Schalter umgelegt worden zu sein. Zetsu glaubte sogar, zu sehen, wie sie verstand, was gemeint war. „Stimmt ja, Gekkyu hat gestern deinen Lehrer getroffen.“ Und direkt nach dem Verstehen, setzte sie eine tadelnde Miene auf, die nicht so recht zu ihr passen wollte. „Du solltest wirklich im Unterricht aufmerksamer sein. Denk daran, dass deine Bildung wichtig ist.“ „Ich weiß“, seufzte er ergeben. „Das hast du mir schon mal gesagt.“ „Und ich meine es auch so“, fuhr sie fort. „Im Moment hast du Glück, dass wir für dich da sind. Aber du hast gesehen, wie schnell sich so ein Zustand ändern kann.“ Quasi über Nacht, wie er sich selbst wieder sagte. Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, dass er eines Abends ins Bett gegangen war – und zwei Wochen später war er in einem Krankenhaus wieder aufgewacht. Sie hatten gesagt, er leide an schweren Verbrennungen und sei deswegen in eine Spezialklinik gebracht worden. Nach und nach – und weil er immer nach seinen Eltern gefragt hatte – war ihm schließlich mitgeteilt worden, dass sein Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt war, und er als einziges hatte gerettet werden können. Seine Eltern waren ein Opfer der Flammen geworden, ohne dass er sie jemals wiedersehen könnte. An viel mehr aus dieser Zeit erinnerte er sich auch nicht mehr. Seine Verbrennungen waren wie durch ein Wunder geheilt, deswegen sah man heute nichts mehr von diesem Unglück, aber er erinnerte sich noch immer lebhaft an das Gefühl, an einem vollkommen fremden Ort aufzuwachen, ohne jede Erinnerung, wie er überhaupt dorthin geraten war. Es war, als begleitete es ihn überallhin, und war immer präsent, selbst wenn er jeden Morgen in seinem jetzigen Zimmer, das er eigentlich gut kennen sollte, aufwachte. „Deswegen“, fuhr Hinome fort, „muss etwas Gutes aus dir werden, damit du dich selbst versorgen kannst. Das verstehst du doch, oder?“ „Natürlich.“ Warum auch nicht? Das war ein einfaches Prinzip, das er nachvollziehen konnte, obwohl er nicht daran denken wollte. Die pure Vorstellung, noch mehr Leute zu verlieren, die er mochte und kannte, graute ihm. Das durfte niemals geschehen, das war noch ein Grund, wegen dem er kämpfte – was ihn gleich daran erinnerte, dass er heute unbedingt noch mit den anderen über die letzte Nacht sprechen musste. Immerhin galt es, Satsuki wieder zu besänftigen, ehe sie doch noch auf die Idee kam, ihm das Jagen wieder zu verbieten, sollte er weiterhin so rücksichtslos beim Kämpfen vorgehen. Nun zufrieden mit dem Ergebnis des Gesprächs, widmete Hinome sich endlich ihrem Frühstück, so dass Zetsu die restliche Atmosphäre genießen konnte, ehe er losmusste, um sich mit den anderen zu treffen. Solange er eine Familie hatte, wollte er diese genießen, in allen Facetten, die das Leben zu bieten hatte – auch den negativen, wie dem Gespräch zuvor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)