Wish Upon A Star von Kathey (Viele Welten, viele Herzen) ================================================================================ Kapitel 1: One-Shot ------------------- “There are some things one remembers even though they may never have happened.” - Harold Pinter Man konnte sich einreden, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens seltsame Träume hatte. Dass nichts dabei war, wenn man von Dingen träumte, die von der Realität nicht weiter hätten entfernt sein können. Vielleicht gab es ja viele Leute auf dieser Welt, die von schwebenden Städten weit oben im Himmel träumten, und von seltsamen Kräften, mit denen man Krähen beschwören und Feuer entfachen konnte? Die Meisten würden das alles sicherlich als Hirngespinste abtun, als Wahnvorstellungen, ausgelöst durch den übermäßigen Konsum von Alkohol oder Rauschgiften. Andere würden sagen, dass es Erinnerungen waren, an ein früheres Leben, und in Geist und Seele so tief verankert, dass sie ab und an hervortraten und die Menschen glauben ließen, dass sie schlicht und ergreifend den Verstand verloren hatten. Aber diese Dinge, von denen er in letzter Zeit des Nachts oft träumte, das waren keine Hirngespinste, keine Einbildungen, keine Nachwirkungen eines Rausches, dessen war er sich sicher. Doch wie nannte man Geschehnisse wie solche? Wenn man vom Leben eines anderes Ichs phantasierte? ~*~ „Daddy, spielst du noch etwas für mich? Bitte, nur noch ein Lied, ein einziges!“ Er seufzte schwer. Wie, im Namen von allem, was ihm lieb und teuer war, sollte er denn diesem flehenden Blick widerstehen können? Wahrscheinlich gar nicht, nicht, wenn sie ihn aus diesen meerblauen Augen ansah, als würde die Welt untergehen, wenn er jetzt nicht jeden Moment zur Gitarre griff und etwas darauf spielte. Dass ihn dieses Mädchen aber auch immer wieder um den Finger wickeln konnte, er sollte sich wirklich schämen, dass er einfach nicht konsequenter war. „Anna DeWitt“, sagte er streng und blickte seine Tochter mit einem mahnend erhobenen Zeigefinger an, von dem er wusste, dass er sie nicht weiter interessieren würde, so lange er nicht an den Saiten der Gitarre zupfte. „Was hattest du mir versprochen? Keine Bettelei mehr, wenn ich dir abends etwas vorspiele.“ Die kleine Anna saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, im Arm ein kleines Kuscheltier in Form eines Vogels und die dunkelbraunen Haare fielen ihr wirr ins Gesicht, seit sie ihren Zopf gelöst hatte. Seine Tochter pustete sich eine Strähne aus der Stirn, ehe sie die Lippen schürzte, um so ihren schönsten Schmollmund zu präsentieren und wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich würde sogleich auch ein „Aber“ auf ebenjenen folgen. „Aber Daddy!“ Ah, da war es auch schon. „Ich bettele nicht! Ich wünsche es mir nur! Und ich darf das, immerhin habe ich morgen Geburtstag!“ Sie ließ ihren kleinen Vogel los, um selbstsicher die Arme verschränken zu können, so, als sei ihre Logik unmöglich zu bestreiten und als ob ihr Vater nun keine Einwände mehr haben dürfte, da sie unwiderruflich und endgültig Recht hatte. „Wenn du doch aber erst morgen Geburtstag hast, dann darfst du dir auch erst Morgen etwas wünschen.“ Er stand auf und hörte seine Tochter in diesem Moment auch schon vorwurfsvoll aufstöhnen, ehe sie sich rücklings auf das Bett fallen ließ, als Zeichen, dass sie sich vorerst ihrem Schicksal ergab. Booker deckte sie bis zum Kinn zu und Anna hielt ihren kleinen Vogel nun wieder fest in Arm, von dem sie seit jeher der Meinung war, dass er über ihren Schlaf wachen würde, wie ein zuverlässiger Beschützer. Nur wovor er sie schützen sollte, das hatte ihm Anna bisher wirklich noch nie gesagt. „Schlaf gut, Liebling“, sagte er leise und gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. Fast hätte er erwartet, dass sie noch einmal versuchen würde, ihn davon zu überzeugen, dass ein einziges, letztes Lied jetzt notwendig war, um sie zum Einschlafen zu bringen, aber sie lächelte nur recht zufrieden und vergrub dann das Gesicht bis zur Nase unter ihrer Bettdecke. „Du auch, Daddy!“ Er verließ Annas Zimmer und blickte sich in der kleinen Wohnung um. Wobei diese Bezeichnung vielleicht noch übertrieben war, immerhin bestand sie nur aus einem großen Raum, der ihm früher als Büro gedient hatte, als er noch für die Pinkertons gearbeitet hatte, dann noch aus Annas viel zu kleinem Zimmer und einem Bad sowie der kleinen Küche. Aber es reichte ihnen, es hatte ihnen seit nunmehr fast zehn Jahren gereicht. Sie hatten hier alles, was sie brauchten, sich selbst, etwas Essen, das durch Gelegenheitsarbeiten und von ein bisschen Gitarrenspiel in einer angrenzenden Bar kam. Kurzum gab es nichts, was sie dringend gebraucht hätten – abgesehen von ein paar Dollar mehr in der Tasche, die sicherlich nicht geschadet hätten. Aber aus irgendeinem Grund war die Arbeit für die Pinkertons von einem Tag auf den anderen einfach nicht mehr das Richtige gewesen. Es war, als hätte jemand einfach einen Schalter in seinem Kopf umgelegt gehabt. Und seitdem schlug sich Booker mehr schlecht als recht mit den Arbeiten durch, die man ihm gab und er war nun wirklich nicht wählerisch dabei, denn er wollte alles tun, damit Anna eine zumindest gute, wenn nicht sogar eine schöne Kindheit hier verbringen konnte. Denn das schuldete er ihr. Müde strich sich Booker durch die dunklen Haare, vermutlich sollte er sich lieber schlafen legen, denn Annas Ehrentag würde ein langer, sehr langer Tag werden, da dieses Kind zuweilen eine Ausdauer hatte, die alles andere weit in den Schatten stellte. Und da er für sie einiges geplant hatte, sollte er entsprechend ausgeruht genug dafür sein. Mit einem schweren Seufzer ließ er sich auf die mittlerweile doch sehr lädierte und durch gelegene Couch fallen, nachdem er sich irgendwie auf dem Weg aus seiner Kleidung geschält hatte und schloss die Augen. Annas zehnter Geburtstag... die Jahre vergingen wirklich wie im Flug. ~*~ Er lief durch Straßen, die er nicht kannte und die ihm dennoch bekannt vorkamen. Er rief den Namen einer Frau, aber es war nicht Annas Name, es war auch nicht der seiner verstorbenen Frau. Hinter sich hörte er Männer rufen, die etwas von Märtyrern und Mördern brüllten. Die Häuser, an denen er vorbei eilte, standen in Flammen und Menschen liefen panisch davon, und er konnte nicht genau sagen, ob sie vor ihm flüchteten oder vor den Flammen oder vor denen, die ihn verfolgten. Er wusste nur, dass er weiter musste. Dass er sie finden musste, dass er dieses Wesen finden musste, das sie mit sich genommen hatte, dass er sie retten musste vor diesem Mann, dessen Gesicht er nur von Plakaten kannte. Er musste für sie da sein, er musste sie beschützen. Denn das schuldete er ihr. „Elizabeth!“ ~*~ „Wach auf, Daddy!“ Zwei kleine Hände rüttelten an seiner Schulter und Booker gab einen unartikulierten Laut von sich, von dem er nicht wusste, ob es Stöhnen oder doch eher ein überraschter Ausruf sein sollte, weil er urplötzlich aus diesem seltsamen Traum gerissen worden war. Er blinzelte ein paar Mal, um die Müdigkeit und das Schwindelgefühl loszuwerden und blickte dann zu dem kleinen Mädchen, das noch immer an ihm zerrte und ihn mit großen Augen ansah. „Ich brauche noch einen kleinen Moment, Anna“, murmelte Booker verschlafen und rieb sich über die Augen, aber er wusste, dass seine Tochter ihm diesen Moment vermutlich nicht gönnen würde. „Aber ich bin jetzt zehn!“ „Und dein Vater ist alt und braucht etwas länger, um wach zu werden.“ Annas glockenhelles Lachen erfüllte den Raum, und sie kniete sich vor die Couch, verschränkte die Arme auf dem dunkelblauen Stoff und legte den Kopf darauf. „Du bist nicht alt. Meine Lehrerin, Mrs Whitmore, die ist viel älter als du. Ihre Haare werden schon grau!“ Booker schnaubte leise und stemmte sich von der Couch hoch, fuhr Anna einmal durch die wirren Haare, ehe er zu seinem Schreibtisch ging und das große Paket, das darunter lag, in die Hände nahm und seiner Tochter präsentierte. „Du hast also heute Geburtstag, hm?“, fragte er lächelnd und überreichte ihr das Päckchen, das sie sofort mit großen Augen betrachtete. Womöglich war schon der weiße Karton mit der blauen Schleife drum herum interessanter als das, was sich darin befand. Doch am Ende hielt sich Anna nicht lange damit auf, die Schachtel einfach nur anzusehen, sie setzte sich auf den Boden und nestelte ungeduldig mit ihren kleinen Händen an der Schleife herum, so dass sie kurz darauf den Deckel anheben und das Geschenk an sich erblicken konnte. Er hörte das leise „Oooh“, das sie von sich gab, und lehnte sich zufrieden gegen den Schreibtisch, sah seiner Tochter dabei zu, wie sie ihr Geschenk in die Hände nahm und eingehend musterte. Es waren eigentlich nur eine weiße Bluse mit blauem Kragen und kleinen, goldenen Knöpfen und ein blauer Faltenrock, die darin gewesen waren, aber Annas Reaktion ließ ihn vermuten, dass er mit dieser Auswahl nicht falsch gelegen hatte. „Das ist wunderschön, Daddy, danke!“ Booker kreuzte die Arme vor der Brust und sah dabei zu, wie seine Tochter die Bluse an sich drückte und ihn überglücklich anstrahlte. Nun, das war augenscheinlich schon einmal ein Erfolg gewesen. Mittlerweile fragte er sich nur, warum er dieses Kleid beim örtlichen Schneider in Auftrag gegeben hatte. Er hatte eine ganz genaue Vorstellung davon gehabt, wie es aussehen sollte, Himmel, wahrscheinlich hätte er dem Schneider sogar ein Bild davon zeichnen können, obwohl das gar nicht seine Stärke war. Ob dieses Mädchen etwas damit zu tun hatte? Diese Elizabeth…? „Du kannst die Sachen in ein paar Tagen zum Stadtfest anziehen, was hältst du davon?“ Anna sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, als hätte er ihr gerade gesagt, dass er die Sachen wegschließen würde, bis das Fest stattfinden würde. „Aber ich will sie doch jeden Tag anziehen!“ ~*~ Der Jahrmarkt lockte immer wieder eine Menge Leute aus dem ganzen Land an. Es war nicht so, als wäre er etwas Besonderes – denn das war er sicherlich ganz und gar nicht, aber dennoch schienen die Leute solche Veranstaltungen wirklich geradezu zu lieben. Bude drängte sich an Bude, überall gaben Artisten kleine Vorstellungen, Feuerspucker wie Jongleure und von allen Seiten drangen die verschiedensten Gerüche zu einem vor. Dort die Hot Dogs, hier das Popcorn, von dort drüben das Feuer, um das ein paar Kinder standen und ihr Stockbrot hinein hielten. Er fühlte sich hier nicht wirklich wohl und das war etwas, was er wirklich nicht verstand. Es war schließlich nicht so, als wäre ihm auf einem Jahrmarkt schon einmal etwas Seltsames zugestoßen (oder?), oder als wäre er jemand, der sich zwischen anderen Menschen nicht sicher fühlte. Aber dennoch war es ihm etwas unangenehm, hier zu sein. „Junger Mann!“ Einer der Männer, die für die verschiedenen Buden und Attraktionen warben, winkte ihm zu. „Sie sehen aus, als könnten Sie mit einem Luftgewehr umgehen! Versuchen Sie ihr Glück doch an unserem Schießstand!“ Anna griff fest nach seiner Hand und sah mit einem Blick zu ihm auf, der ihm eindeutig sagte, dass sie keine Schusswaffen mochte und dass sie lieber weitergehen wollte. Booker nickte seiner Tochter zu und sah dann wieder zu dem Marktschreier, ehe er den Kopf schüttelte, während es Anna ihm gleich tat, während sie sich fest an ihn drückte. „Der Tag hier gehört der kleinen Lady hier. Und ich glaube, sie möchte sich lieber weiter umsehen.“ Auf das Stichwort setzte sich Anna in Bewegung und zog ihren Vater hinter sich her - mehr oder minder zumindest. Sie liefen an einigen Buden vorbei – man konnte Lose ziehen, Dosen mit Bällen umwerfen, sich beeindruckende Masken kaufen… Hier und da stellten manche sogar ihre neuesten Erfindungen vor, mit denen man angeblich das Leben von Herzkranken verlängern oder durch andere Dimensionen reisen konnte. Den üblichen Unfug eben. Anna hielt an den wenigsten Attraktionen an, um sie sich anzusehen und entweder staunend oder doch gelangweilt weiterzugehen. Zumindest schien sie Spaß zu haben, denn ihre schier unermüdliche Energie trieb sie immer weiter voran, während sie auf verschiedene Läden und Stände deutete und ihn von einem Ort zum nächsten trieb. Erst nach guten anderthalb Stunden gönnte sie sich selbst und damit auch ihm eine Pause. Lächelnd saß sie auf einer Parkbank, ihre Beine baumelten über der Sitzfläche, weil sie noch lange nicht bis zum Boden reichten und sie sah sich augenscheinlich glücklich um, bis sie einen Stand entdeckte, der wohl ihre Aufmerksamkeit weckte. „Daddy?“, fragte sie mit ihrer unverkennbaren „Darf ich“-Stimme, wie er sie mittlerweile nannte. Er wusste doch, was jetzt folgen würde, darum war ein leises „Hm“ alles, was er zur Antwort von sich gab. „Darf ich Zuckerwatte haben?“ Ihr ausgestreckter Arm deutete in die Richtung, in der der Süßigkeitenstand lag und Bookers Mundwinkel zuckte leicht nach oben, als er den bittenden Blick seiner Tochter sah. „Wenn du hier brav auf mich wartest, dann hole ich dir welche“, antwortete er schließlich und stand langsam auf, während Anna nur fröhlich jauchzte und es sich auf der Bank etwas bequemer machte. Booker drängte sich durch die Masse an Menschen hindurch zum Stand, der neben Zuckerwatte auch sämtliche anderen Dinge verkaufte, die mehr als schlecht für die Zähne waren und den Kindern darum umso besser schmeckten. Er betrachtete nachdenklich die Masse an kandierten Äpfeln, die ganze Schokolade und die Bonbons, ehe ihm die Dame hinter dem Verkaufstresen die Zuckerwatte reichte. „Sie sehen gar nicht wie eine Naschkatze aus“, merkte die Verkäuferin an und zwinkerte ihm verschwörerisch zu, ehe er sich mit einem leicht amüsierten Schnauben umwandte und sich auf den Weg zurück zu seiner Tochter machen wollte. Das einzige Problem war, dass an dem Ort, an dem sie sein sollte, nur eine leere Bank stand. „Anna…?“ ~*~ „ANNA!“ Wohin konnte ein kleines Mädchen denn so schnell verschwinden? Zumal sie ihm doch versprochen hatte, sich nicht vom Fleck weg zu bewegen? Er drängte sich zwischen den Menschen hindurch, stieß sie um und nahm sich nicht die Zeit, sich dafür zu entschuldigen, zu intensiv suchte er nach dem Mädchen mit dem blauen Rock und der Schleife im Haar, aber es schien unmöglich zu sein, sie inmitten all dieser Leute zu finden, von denen die meisten ihn ansahen, als hätte er den Verstand verloren. Vielleicht hatte er das auch. Ein seltsames, beklemmendes Gefühl kroch in seine Glieder und schnürte ihm halb die Luft ab. Verlust. Und das Schlimme daran war, dass ihm dieses Gefühl so verdammt bekannt vorkam, obwohl Anna noch nie weg gewesen war, sie war noch nie einfach so verschwunden. Warum also fühlte es sich auf grausame Art und Weise so vertraut an? Booker schüttelte den Kopf, dafür hatte er jetzt keine Zeit. Was auch immer den Eindruck in ihm erweckt hatte, dass er diese Situation kannte, es war nicht halb so wichtig, wie Anna wiederzufinden! Aber je mehr Zeit verstrich, umso panischer wurde er, schob sich weiter durch die Menschenmenge, fragte hier und dort, ob jemand seine Tochter gesehen hatte und spürte jedes Mal diesen Stich, wenn jemand den Kopf schüttelte oder mit den Schultern zuckte. Sie war einfach nicht mehr da. Er drehte Kreise auf dem Marktplatz, suchte an den verschiedensten Ständen, lief zu den Kutschen, um zu sehen, ob Anna nicht vielleicht von den Pferden von ihrem sicheren Platz auf der Bank gelockt worden war. Aber sie war einfach nicht mehr da. Nicht beim Lose ziehen, nicht bei den Gauklern. Nirgendwo. Er machte kehrt, rannte wieder in Richtung der Docks, vielleicht war sie zum Wasser gelaufen, warum auch immer sie so etwas tun sollte. Aber auch hier war keine Anna zu sehen, es gab nur ein paar Boote auf dem Wasser und die wenigen Leute hier am Ufer, die das schöne Wetter genossen und denen es egal war, dass für Booker DeWitt gerade eine Welt unterzugehen schien. Er stoppte seinen Lauf und sah sich gehetzt um. Sie war nicht hier. Sie war nicht hier. „Elizabe-“ Er unterbrach sich selbst, noch bevor er den Namen fertig ausgesprochen hatte und presste die Handballen gegen die Schläfen, während er die Augen fest schloss. Nicht durchdrehen, ermahnte er sich selbst. Ihr Name ist Anna. Anna! Und sie muss hier irgendwo sein! Jemand muss sie gesehen haben! Dennoch war das alles hier ein einziger Albtraum für ihn, ein Albtraum, der ihm wieder so ungemein vertraut war. Mit einem gequälten Geräusch auf den Lippen stützte er die Hände auf die Knie und zwang sich, ein paar Mal ruhig durchzuatmen. Wo war er noch nicht gewesen? Wo könnte sie hin sein? Anna würde niemals mit Fremden mitgehen, sie wusste, dass sie das nicht durfte. Aber eigentlich würde sie auch nicht einfach von ihrem Platz verschwinden, wenn ihr Vater ihr sagte, dass sie dort zu bleiben hatte! Das alles passte nicht zusammen, nichts davon! Booker richtete sich wieder auf und nahm sich vor, zur Bank zurückzugehen, dem Ort, wo er Anna zuletzt gesehen hatte. Vielleicht war sie ja wieder zurück? Vielleicht hatte sie sich nur einmal erleichtern müssen, vielleicht hatte sie einen Hund gesehen, den sie unbedingt hatte streicheln wollen? Vielleicht. Aber sicher war nichts von alledem. Er lief an den Docks entlang und blickte auf das sich kräuselnde Wasser. Gott, was sollte er tun, wenn sie ins Wasser gefallen war? Anna war keine gute Schwimmerin, ganz und gar nicht! Diesen sich ihm aufdrängenden Gedanken wollte er gar nicht weiterdenken, aber was, wenn das passiert war? Seine Kehle schnürte sich zu, als er ein paar schnelle Schritte auf einen älteren Herren mit Fischerhut und Angel in den Händen zu machte. Der Mann blickte nicht auf, als Booker näher kam, sondern betrachtete mit grimmiger Entschlossenheit den Köder, der auf der Wasseroberfläche tanzte und Fische anlocken sollte. „Sir?“ Der Fischer blickte auf und murrte leise, als er angesprochen wurde, wohl als Zeichen, dass Booker jetzt seine Aufmerksamkeit hatte. „Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen?“ Er hob die Hand in der Luft, etwa auf Annas Größe. „Sie ist etwa so groß, hat braunes Haar und… und sie trägt eine weiße Bluse und einen blauen Rock.“ Der alte Mann schnaubte und blickte wieder auf seine Angel und Booker wollte sich schon wieder auf den Weg machen, als er dann doch noch seine Antwort bekam. „'Türlich hab' ich sie gesehen. Die Kleine is' mit ihrer Mutter rüber zum Leuchtturm. Mein Sohn hat sie rüber gebracht.“ Booker wirbelte mit vor Entsetzen geweiteten Augen herum. Es gab keine Mutter. Keine Mrs DeWitt. Aber es gab immer einen Leuchtturm. Immer wieder in seinen Träumen. ~*~ „Geht das nicht etwas schneller?“ Der alte Mann ruderte mit dem kleinen Boot hinüber in Richtung des Leuchtturms, und ließ ein lautes und abfällig anmutendes Schnauben hören, als Booker ihn kritisierte. „Ich bin keine verdammte Maschine, Jungchen“, blaffte der Fischer ihn an, während ein paar kleine Wellen gegen die Seite des alten Boots schlugen. „Sie könnten ja auch mal rudern. Aber sie rudern ja nie. Sie können alle nur meckern.“ Booker, der bis eben nur Augen für den Leuchtturm gehabt hatte, blickte den Mann ihm gegenüber blinzelnd an. „Was haben Sie gerade gesagt?“ „Meine Gäste! Die können nur meckern, aber selbst rudern will nie einer von denen!“ Annas Vater erlaubte sich einen tiefen Atemzug. Wenn selbst schon solche einfachen Sätze ihn derart aus der Fassung brachten... Was sollte das denn in Zukunft werden? Früher hatte er nie solche Déjà-Vus gehabt, aber in der letzten Zeit hatten sie immer weiter zugenommen. Wobei er sich nicht mal sicher war, ob er sich nur einbildete, dass der all das erlebt hatte, oder ob dem nicht wirklich irgendwann einmal so gewesen war. Aber er kannte noch immer keine Elizabeth und er hatte sich ganz sicher auch noch niemals mit dem Boot zum Leuchtturm bringen lassen. Aber dennoch, das alles hier, das war mehr als einfach nur seltsam. „So, da sind wir, einfach dem Steg folgen und dann sind Sie am Turm. Ist 'ne Attraktion geworden in letzter Zeit, warum auch immer. So toll ist der auch wieder nicht.“ Booker griff nach der Leiter, vor der das Boot schwankend im Wasser lag und bedankte sich mit ein paar Münzen bei dem Fischer, ehe er von Bord ging und den Steg betrat. „Sie können ja nachher mit meinem Sohn zurückfahren. Der müsste hier irgendwo rumlungern und angeln.“ Er nickte lediglich zum Zeichen, dass er verstanden hatte und lief dann in Richtung des Gebäudes. Schon von Weitem konnte er erkennen, dass die Tür offen stand. Fast hätte er erwartet, eine Nachricht vorzufinden (warum auch immer, er wusste selbst nicht mehr, warum er dachte, wie er eben dachte), aber dort war nichts. Stattdessen betrat er den spärlich ausgeleuchteten Raum, und wieder fehlte jede Spur von seiner Tochter und dieser seltsamen Frau, die der Fischer als Annas Mutter betitelt hatte. Und wenn sie nicht hier waren, dann blieb ihm nur ein Weg – der nach weiter oben. Mit mittlerweile rasselndem Atem rannte er Stufe und Stufe nach oben, vorbei an einem Mann, der entweder der Leuchtturmwärter war oder aber sich hier auf der zweiten Etage nur eine Pause gönnte, vorbei an Schränken und Fässern und jeglichem anderen Mobiliar. So lange sich Anna nicht irgendwo hier befand, gab es für ihn keinerlei Grund, stehen zu bleiben. Die Treppe führte ihn nach oben, immer weiter und weiter, bis er die Tür sah, die nach draußen zum Ausguck führte. Er vergeudete keine Zeit, sondern stieß sie schwer atmend auf – und blieb dann wie vom Blitz getroffen auf der Stelle stehen. Da stand Anna, glücklich lachend und irgendwo in die Ferne deutend, als würde sie die Person, die neben ihr stand, schon eine gute Ewigkeit lang kennen. Booker starrte sie an. Blickte auf das kurz geschnittene, braune Haar, dass ihr Gesicht umspielte. Er sah in die auffallend blauen Augen, die ihn anzustrahlen schienen, als sie ihn entdeckten und das aus einem Gesicht, das Annas unglaublich ähnlich war. Er bemerkte das ihm so verdammt bekannt vorkommende blaue Kleid samt Jacke und Korsett, das durch den doch sehr starken Wind um ihre Beine wehte, als sie sich ihm schlussendlich zuwandte. „Schön, dass Sie auch hierher gefunden haben, Mr. DeWitt.“ ~*~ Einen ewig anmutenden Moment stand Booker einfach nur da und blickte die Frau vor sich an. Sie war vielleicht Mitte Zwanzig, vielleicht auch etwas älter, aber was viel, viel wichtiger war, war, dass er wusste, wer sie war. „Elizabeth.“ Er wusste nicht einmal, warum er sich so sicher war, dass sie es war, aber dieses Gesicht und ihr Auftreten und einfach alles an ihr, sie musste es sein, das wusste er, obwohl er sie noch nie zuvor getroffen hatte. Die junge Frau lächelte und legte den Kopf etwas schief, ehe sie langsam und bedächtig nickte. „Ich bin die letzte. Es gibt sonst keine Elizabeth Comstock mehr. Es wird in keiner Dimension jemals wieder eine geben.“ Wie zum Beweis hob sie beide Hände und spreizte die Finger weit auseinander, präsentierte ihm alle zehn Finger. Nur der kleine Finger ihrer rechten Hand... es fehlte ein Stück davon, und die Kuppe wurde durch einen Fingerhut abgedeckt. Booker wusste nicht, was das bedeuten, was es ihm beweisen sollte. „Ich glaube, ich verstehe nicht ganz“, sagte er grimmig, ehe er zu seiner Anna hinüber ging und sie etwas hinter sich zog. „Was ich aber verstehe ist, dass du meine Tochter entführt hast.“ In diesem Moment stieß ihn Anna schwach, aber bemerkbar in die Rippen und sah böse zu ihm auf, während er voller Unverständnis auf seine Tochter hinunterblickte. „Sie hat mich nicht entführt! Ich kenne sie, Daddy! Ich habe ganz oft von ihr geträumt!“ Er hatte das Gefühl, dass sich in seinem Kopf alles drehen würde. Anna kannte diese Person. Diese Person kannte sie beide, und zu allem Überfluss sah diese Person auch noch aus wie eine ältere Version seiner Tochter! Was auch immer hier vor sich ging, er war keinesfalls darüber im Bilde! „Ich bin nur ein Echo“, fuhr die Frau fort, die Elizabeth zu sein schien und es irgendwie wohl doch nicht gänzlich war. „Eine Erinnerung, die nicht mehr existieren sollte. Ich bin sie alle und doch keine von ihnen.“ „Und was willst du hier?“, fragte er noch immer skeptisch. Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte, er wusste nicht, woher sie kam und wer sie nun war und was ihr Ziel war! Er wusste nichts von alledem! „Es gibt wieder Risse zwischen den Dimensionen. Vor einigen Jahren, in einer anderen Welt, da wurde verhindert, dass jemand Geldgeber für die Experimente an den Rissen werden konnte. Aber so wurde nur die Zeit verzögert, die benötigt wurde, bis sie überhaupt entdeckt wurden. Und jetzt ist es wohl so weit, sonst wäre ich nicht hier.“ Booker hob die Hände und bat sie somit, einen Moment zu warten. Das alles war im Moment etwas zu viel für ihn. Von fremden Dimensionen und irgendwelchen Experimenten wusste er nichts und er wollte auch nichts davon wissen. „Bist du hier, um die Leute aufzuhalten, die diese Risse finden wollen?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Das wird nicht möglich sein. Irgendwann wird jemand diese Entdeckung machen, ohne, dass es jemand verhindern kann. Menschen sind nun einmal so.“ Was ihn nur noch mehr verwirrte, welchen Sinn hatte ihre Anwesenheit hier denn sonst? Wo sie doch extra aus einer anderen Welt hierher gekommen war? All das machte für ihn nicht wirklich Sinn. „Aber ich habe eine Bitte, Mr. DeWitt. Darum wollte ich, dass Sie hierher kommen.“ Er überlegte nicht wirklich lange. Selbst, wenn er sie eigentlich nicht kannte und im Grunde noch wütend auf sie und Anna war, so war sie ihm immerhin doch bekannt und aus welchem Grund auch immer, er wollte ihr nicht misstrauen. Er hatte das Gefühl, ihr nicht misstrauen zu dürfen. „Vielleicht kommen noch mehr Erinnerungen zurück, wenn die Risse geöffnet sind. Von all den anderen, aus all den anderen Dimensionen. Aber bitte erinnern Sie sich dann daran, dass das hier und nur das Ihr Leben ist. Das, das Ihnen beiden gehört. Nur dieses eine Leben. Nutzen Sie es. Diese Chance hat das Leben eines sehr, sehr guten Freundes gekostet. Und Sie tragen nun seine Erinnerungen davon in sich.“ Booker blickte ihr ins Gesicht, und ihre Miene spiegelte Glück und Trauer gleichermaßen. Und Stolz. Und auch wenn er nicht wusste, was all das hier bedeuten sollte, so nickte er doch langsam. „Oh, und ehe ich es vergesse, von hier aus hat man den besten Blick auf das Feuerwerk, das gleich stattfinden wird! Darum habe ich Sie und Anna ja auch hierher bringen wollen!“ Ihr plötzlicher Stimmungswechsel riss ihn komplett aus seinen Gedanken und er blickte in Richtung der Docks und der Stadt. Er hatte nicht einmal bemerkt, wie dunkel es bereits geworden war, natürlich würde gleich das Feuerwerk beginnen. Anna kletterte freudig halb am Geländer hinauf und blickte erwartungsvoll in den Himmel, während ihr Vater noch immer die junge Frau vor sich betrachtete. „Es tut mir leid, Mr. DeWitt“, sagte Elizabeth leise und mit einem entschuldigenden Lächeln und Booker hätte ihr fast gesagt, dass sie ihn einfach beim Vornamen nennen sollte. „Dass ich Anna hierher gebracht habe, doch Sie hätten mir sonst sicher nie zugehört. Aber ich wollte Ihnen das hier zeigen. Ihr Leben. Sie beide haben etwas, das vielen anderen verwehrt geblieben ist. Bitte lassen Sie nicht zu, dass Ihnen jemand das wegnimmt. Dass Ihnen jemand Anna wegnimmt. Vor allem nicht Sie selbst.“ Erinnerungen. Und noch mehr Erinnerungen. So viele Erinnerungen, dass er glaubte, unter ihrer Last in die Knie gehen zu müssen. Bilderfetzen von ihm selbst, von rothaarigen Zwillingen, von dem Mann mit dem Vollbart, den sie einen Propheten nannten. So viele Bilder und doch ergaben sie für ihn noch immer keinen Sinn. „Daddy, sieh nur! Das Feuerwerk!“ Booker wandte sich für den Moment um. Vor ihnen stiegen die ersten Raketen in die Luft und zeichneten bunte Bilder in den Nachthimmel. Das Getöse der Explosionen, die den Lichterregen begleiteten, war sogar noch hier zu hören. Erst einige Sekunden später bemerkte er die Hand, die sich auf seinen Rücken legte. Es war schwer, die leisen Worte zu verstehen, die das Feuerwerk fast verschluckte, aber er hörte jedes einzelne davon. „Danke, dass Sie sie nicht aufgegeben haben.“ Schweigen. Er wusste jetzt, was es bedeutete. Langsam formten die einzelnen Puzzleteile ein Ganzes, eine vollständige Erinnerung an alles, was geschehen sein musste. Was ihnen passiert war. „Ich bin nicht er, Anna.“ „Hast du etwas zu mir gesagt, Daddy?“ Booker schüttelte den Kopf und wandte sich zu der anderen Anna um, aber der Platz, an dem sie bis eben noch gestanden hatte, war jetzt vollkommen leer, so, als wäre sie niemals hier gewesen. Hier, in dieser Welt.  „Nein, Liebling. Alles in Ordnung.“ ~*~ Selbst nach dem Ende des Feuerwerks standen sie noch auf der Aussichtsplattform des Leuchtturms und blickten in den Nachthimmel. Jeden Stern konnte man sehen, jeden einzelnen von ihnen. Allein bei der Vorstellung, dass ein jeder eine andere Welt repräsentieren konnte, wurde ihm mulmig zumute. „So, Anna... Hast du auch seltsame Träume?“, fragte er schließlich in die Stille hinein. Seine Tochter neben ihm rutschte ein wenig auf ihrem Platz hin und her, ehe sie schließlich nickte. „Manchmal, ja. Manchmal bin ich in einem Turm. Und manchmal bist du auch da, aber ich glaube, du erkennst mich nicht. Und manchmal schießt du ganz viel, um mich zu beschützen und tust dabei anderen Leuten weh. Ich mag diese Träume nicht.“ Booker wandte sich zu seiner Tochter um und hob sie hoch. Sofort drückte sich Anna fest an ihn, schlang die Arme um seinen Hals, als würde sie ihn nie wieder loslassen wollen. „Das bin niemals wirklich ich gewesen, Anna. Nie.“ Seine Tochter vergrub das Gesicht an seiner Schulter und murmelte ein leises „Ich weiß“ in den Stoff seiner Jacke. Das war es wohl, was die andere Anna gemeint hatte. Diese Träume, die sie hatten, die kamen von anderen Bookers und anderen Annas. Aber das hier, das war ihre Welt und er würde sie sich nicht von irgendeiner Erinnerung stehlen oder verändern lassen! „Oh, eine Sternschnuppe!“ Anna streckte den Arm aus und aus den Augenwinkeln heraus sah Booker noch den Schweif des gefallenen Sterns über den Nachthimmel ziehen. „Dann darfst du dir etwas wünschen, Anna“, meinte er lächelnd und setzte seine Tochter wieder auf dem Boden ab. „Aber du darfst es niemandem verraten, sonst erfüllt sich der Wunsch nicht.“ Seine Tochter holte tief Luft, fast so, als glaubte sie, dass das eine Voraussetzung für einen erfolgreichen Wunsch wäre und nickte dann nach einem Moment zufrieden, ehe sie nach der Hand ihres Vaters griff. „Wenn ich flüstere, vielleicht geht es dann trotzdem in Erfüllung? Es hört ja sonst niemand...“ Booker kniete sich neben sie und Anna lehnte sich zu ihm hinüber, formte mit ihren kleinen Händen ein Sprachrohr, ehe sie ihm die Worte ins Ohr flüsterte, die nur er hören durfte. „Ich hab' mir nur gewünscht, dass die anderen Du's und die anderen Ich's alle so glücklich sein können wie wir beide.“  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)