Steven von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 4: Escape ----------------- Die Sonne ging auf und tauchte den Himmel in mattes Licht. Kein Geräusch wagte es, die frühmorgendliche Stille zu durchdringen. Steven saß an die Wand gelehnt auf seinem Bett und sah aus dem Fenster. Er war bereit. Bereit, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Wie viele Pläne hatten er und Stanley gemeinsam geschmiedet, große Pläne, die nun keine Rolle mehr spielten und einfach zu Staub zerfallen waren, als hätte es sie nie gegeben? Aber dieser Plan würde nicht zu Staub zerfallen. Ihn zu schaffen hatte nur einen Moment gedauert und doch konnte niemand diesen Plan zerstören. Der Tag war gekommen, an dem er demjenigen, der ihm alles genommen hatte, alles zurückzahlen würde. Denn eines hatte er ihm nicht genommen: Seinen Stolz. Das hatte er am gestrigen Tage begriffen. Es war bereits alles fertig für seinen großen Auftritt, der ihm kurz bevor stand. Seine Mutter war nicht mehr in der Wohnung; er hatte gehört, wie sie die Haustüre hinter sich geschlossen hatte. Leise, aber er hatte es gehört. Es war schwierig gewesen, sie davon zu überzeugen, an diesem Morgen noch vor Sonnenaufgang aufzustehen, sich unbemerkt davonzuschleichen und erst nach ein paar Stunden zurückzukommen. Mehr als schwierig war es gewesen. Natürlich hatte sie von ihm wissen wollen, warum sie das tun sollte und es hatte erst so ausgesehen, als könne er sie in diesem Leben nicht mehr dazu bringen, ihm diesen Gefallen zu tun. Verständlich. Trotzdem hatte er es irgendwie doch noch geschafft, sie zu überzeugen. Obwohl er ihr nichts Genaueres von seinem Vorhaben erzählt hatte - das Einzige, was er gesagt hatte, war, dass er alles im Griff hatte und für sie beide in Zukunft alles gut werden würde, wenn sie tat, was er sagte - schien er damit irgendetwas in ihr ausgelöst zu haben, dass sie ihm vertraute, ohne weiter nachzufragen. Vielleicht war es ihre mittlerweile eins mit ihr gewordene Hoffnungslosigkeit, die ihr sagte, dass es ohnehin nicht schlimmer werden konnte, egal, was sie tat. Vielleicht war es der Gedanke, dass es besser war, irgendetwas zu tun, als weiterhin jeden Tag das Gleiche durchzumachen und nichts zu unternehmen. Egal, was sie dazu bewogen hatte - sie war weg. Und er war mit seinem Vater alleine. Jetzt konnte er vorerst nur warten. Die ganze Nacht über hatte er gewartet. Zum Schlafen war er viel zu aufgeregt gewesen. Aber das war überhaupt kein Problem, denn er war kein bisschen müde. Er war voller Tatendrang. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sein Vater aufstehen würde. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Für einen kurzen Moment war sein Tatendrang, den er sich stundenlang konstant bewahrt hatte, komplett verschwunden und er war sich tatsächlich auf einmal nicht mehr sicher, ob es richtig war, es zu tun. Es war, als würde der unschuldige Teil in ihm sich melden, der schwache Teil, den er so mühevoll versucht hatte, beiseitezuschieben. Das kannst du nicht machen! Er ist dein Vater!, schien er ihm sagen zu wollen. Aber er hatte Unrecht. Er war nicht sein Vater, sondern ein Monster. Ein noch viel bösartigeres Monster als die, die ihn manchmal in seinen Träumen heimsuchten oder jene Kreaturen, die ihm damals auf dem Jahrmarkt einen Schrecken eingejagt hatten. Er war das böseste Monster, das er sich nur vorstellen konnte, deshalb war es an ihm, endlich das Richtige zu tun, indem er es endgültig besiegte. Jetzt oder nie! Leise schlich er in die Küche, genau darauf achtend, keinen verräterischen Laut zu verursachen. Er wunderte sich selbst darüber, wie rasch er sich wieder in den Griff bekommen hatte. Tausende von Gedanken und Gefühlen waren ihm eben noch durch den Kopf geschwirrt, gepaart mit den üblichen Stimmen, die ebenfalls durcheinander auf ihn einredeten. Doch jetzt, da es soweit war, war seine Unsicherheit reiner Entschlossenheit gewichen. Er durfte jetzt nicht mehr kneifen. Ein Geräusch ließ ihn in der Bewegung verharren. Konnte es sein, dass sein Vater schon aufgewacht war? Angestrengt versuchte er, ein weiteres Anzeichen zu erkennen, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Und wenn er sich nicht täuschte, konnte er in der Tat undeutlich gemurmelte Worte verstehen. Mit einem Mal war die Nervosität, die er bereits vor wenigen Minuten verspürt hatte, zurückgekehrt. Allerdings aus einem anderen Grund. Was, wenn er es nicht schaffte? Wenn er nicht stark oder nicht schnell genug war oder wieder vor Angst erstarrte? Nicht drüber nachdenken!, sagte er sich, so gut es ging bemüht, seine Sorgen zu verdrängen. Er schaute sich in der Küche um, doch als er Schritte hörte, wusste er, dass ihm keine Zeit blieb, lange zu überlegen. Mit einer zittrigen Bewegung griff er nach dem Gegenstand, der am nächsten in seiner Reichweite lag - einer Schere - und hielt das Werkzeug fest in der Hand, während er an all die Dinge dachte, die er und seine Familie wegen dieses Mannes durchlebt hatten. Selbstverständlich hasste er es, daran zu denken. Aber genau dieser Hass war es, den er jetzt am meisten brauchte. Deshalb war es wichtig, dass er sich noch einmal ganz genau in allen Einzelheiten ins Gedächtnis rief, was dieser Mann ihnen angetan hatte. Ihm, seiner Mutter und... ja, auch seinem Bruder. „Wo bist du, Liebling? Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn du dich vor mir versteckst!“ Ja, such nur nach ihr...! Heute wirst du sie nicht mehr finden!, dachte er halb verbittert, halb amüsiert. „Scha-atz! Komm schon her! Du willst mich doch nicht verärgern, oder?“ Du wirst dir wünschen, du wärest netter zu uns gewesen...! Es war früh am Morgen und auf den Straßen schien es friedlich, während dort draußen alles seinen gewohnten Lauf nahm. Normalerweise wäre er um diese Zeit auf dem Weg zur Schule gewesen oder würde noch in seinem Bett liegen und von surrealen Szenarien träumen, je nachdem, was für ein Tag es war. Stattdessen stand er im Türrahmen, hasserfüllt, ohne auch nur ein bisschen Platz für jegliche andere Emotionen, und wartete. Er wartete auf seine Beute. Denn diesmal war er der Wolf, der auf die Jagd ging und keine Gnade kannte. „Liebling...?“ Da war er. Mit dem Rücken zu ihm stand er im Flur auf der Schwelle des Wohnzimmers, Ausschau nach seiner Frau haltend, unwissend, dass hinter ihm im Kücheneingang sein eigener Sohn auf ihn lauerte. Ein Lächeln huschte ihm über die Lippen. Es gab kein Zurück mehr. „Hi, Daddy!“, sagte er, und bevor Daddy die Gelegenheit hatte, sich in irgendeiner Weise darauf vorzubereiten, stürmte er auf ihn zu, den Moment der Überraschung nutzend, und warf ihn mit aller Kraft zu Boden. „Steven...! Was...“ Noch nie hatte er sich so stark gefühlt. Es war wie im Traum, einem wunderbaren Traum, von dem er nie zu hoffen gewagt hätte, er könne Wirklichkeit werden: Sein Vater am Boden, erschrocken zu ihm aufblickend, während er selbst auf dessen Brustkorb kniete und ihn mit seiner neu gewonnenen Kraft -wo auch immer er sie plötzlich hernahm- an Ort und Stelle festhielt - und all das in nur einem einzigen, kurzen Augenblick, den er leider nicht so lange auskosten konnte, wie er es gern getan hätte. Schließlich war der, mit dem er es zu tun hatte, viel größer und stärker als er. Seine Stimme klang gebrochen, als er ihn bei seinem Namen nannte. Weitersprechen konnte er allerdings nicht, weil seine Worte, sobald er die Schere über seinem Gesicht entdeckte, zu einem angsterfüllten Schreien wurden, das sich schnell in ein schmerzerfülltes Schreien verwandelte, als Steven die Klingen mit voller Wucht hinabsinken ließ. Gut genug gezielt hatte er, dass der Mann unter ihm sich wohl nie wieder an dem Leiden eines Anderen erfreuen konnte. Diese Augen konnten niemanden mehr leiden sehen. Genau genommen konnten sie wahrscheinlich gar nichts mehr sehen. Immer wieder stach er auf ihn ein, immer fester, bis die Klingen voller Blut waren. Blut, für das er verantwortlich war, er allein, und es fühlte sich gut an, so gut, dass er nicht aufhören konnte. Die Schreie waren wie Musik in seinen Ohren. „Gefällt dir das, Daddy? Du hörst dich an, als würde dir das gefallen...!“ Nicht einmal mehr den widerlichen Geruch, der von dem Anderen ausging, nahm er wahr. Den Geruch von dem Zeug, das er sich jeden Tag herunterkippte und das ihn zu einem noch größeren Mistkerl machte, als er es ohnehin schon war. Nichts nahm er mehr wahr, außer dem Rausch, dem Triumph, dem einzigartigen Gefühl, etwas vollbracht zu haben, das alles ändern würde. Als die Schreie aufgehört hatten, starrte er den Körper unter sich eine Weile lang an, um sich das Bild vor seinen Augen möglichst detailgetreu einzuprägen, bevor er wieder von ihm herunterstieg. Das einzige, was der Mann noch von sich gab, war ein gelegentliches Zucken, und kurze Zeit später hatte auch das aufgehört, sodass nur noch ein entstelltes, von seinem eigenen Blut besudeltes Ding übrig blieb, das kein Zeichen des Lebens mehr aufwies. Steven beugte sich über den reglosen Körper, legte sein Gesicht an dessen Brust und wartete einige Atemzüge, ob er noch etwas hören konnte. Stille. Kein einziger Herzschlag war zu vernehmen. Er war tot. Die Erkenntnis kam langsam, erst Stück für Stück wurde ihm bewusst, was er gerade eigentlich getan hatte. Er hatte seinen Vater umgebracht. Er hatte es tatsächlich geschafft. Einen unwirklichen Moment lang saß er bloß neben der Leiche auf dem Boden, die Schere noch immer mit einer Hand umklammert, und konnte nicht glauben, was eben geschehen war. Er dachte an das, was ihm vor Kurzem bei dem Anblick seines wehrlosen Peinigers durch den Kopf gegangen war. Es war wie im Traum. Was, wenn es wirklich nur ein Traum war? Wenn er bald aufwachte und alles wieder genauso war wie vorher? Der Gedanke, dies hier könnte in Wahrheit gar nicht die Realität sein und er würde möglicherweise in der Wirklichkeit noch in seinem Bett liegen, ebenso schwach wie sonst auch, wühlte ihn plötzlich ungemein auf. Vielleicht lag er auch gar nicht in seinem Bett, sondern war wieder im Klassenzimmer eingeschlafen und würde nach dem Aufwachen erneut dem unerträglichen Gespött seiner Mitschüler ausgesetzt sein. Es würde kein Ende nehmen. Woher sollte er wissen, ob er träumte oder nicht? Die Umgebung wirkte auf einmal unheimlich blass, wie ein Abbild ihrer Selbst, im Kontrast zu dem Grauen, das der tote Körper dort ausstrahlte. Er passte nicht ins Gesamtbild. Das hier konnte nicht echt sein! Einem plötzlichen Impuls folgend sprang er auf und lief in sein Zimmer. Er musste sich vergewissern, dass dort alles an seinem Platz stand. Dass es noch so aussah, wie er es zurückgelassen hatte. Wenn das hier ein Traum war, konnte es schließlich sein, dass es sich in irgendeiner Weise verändert hatte. Aber das hatte es nicht. Zumindest nicht auf den ersten Blick, das konnte er sicher feststellen. Trotzdem - es war kein Beweis dafür, dass seine Situation real war. Und wenn er darüber nachdachte, war er sich nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt wollte, dass sie real war. Wie sollte es jetzt weitergehen? Was sollte er tun? Egal, ob es ein Traum war oder nicht - er begann, sich wieder schwach zu fühlen. Wie der hilflose, kleine Junge, der sich, wenn es unangenehm wurde, zwischen seine Stofftiere flüchtete. Der kleine Junge, der er sein ganzes Leben lang gewesen war und der er niemals wieder sein durfte, wenn er in der harten Welt zurechtkommen wollte. Er durfte es nicht, aber es war so verdammt schwierig, es gerade jetzt nicht zu sein. Er war nunmal nur ein Junge. Und er hatte jemanden umgebracht! Nein, dachte er. NEIN...! Er hatte es verdient! Er hatte es absolut verdient... Ich habe nichts Falsches getan! Nein, er durfte nicht zulassen, dass er schwach wurde. Er musste es verhindern. Reflexartig glitt sein Blick zu dem kleinen Spalt unter seinem Bett. Ob es noch dort war...? Vorsichtig kniete er sich an der entsprechenden Stelle hin, streckte einen Arm aus und tastete nach dem Gegenstand, den er immer dort aufbewahrt hatte. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dabei leise sein zu müssen, obwohl doch niemand in der Wohnung war, der ihn hörte. Nachdem er erfühlt hatte, wonach er suchte, zog er es unter dem Bett hervor, sah es sich an, klappte es auf und seufzte. Das Notizbuch, das er wie einen Schatz hüten sollte. Er hatte es versprochen, sein Ehrenwort hatte er gegeben. Lange hatte er es nicht mehr angerührt. Es war total eingestaubt, wie ein echter Schatz, den er nach einer Ewigkeit wiedergefunden hatte und nun in Händen hielt, voller Erinnerungen an die Tage der Vergangenheit, deren fester Bestandteil dieses kostbare Stück gewesen war. Und was war es jetzt? Wertlos. Er war nicht der Einzige, der etwas versprochen und sein Ehrenwort darauf gegeben hatte. Im Gegenzug hatte er ebenfalls ein Versprechen bekommen. Du wolltest mir schreiben und mich besuchen. Du hast gesagt, wir würden unsere Pläne irgendwann in die Tat umsetzen. Aber du hast NICHTS getan. Du hast mich im Stich gelassen, Stan... Angespannt hielt er das Buch fest; die Seite, auf der sie ihre Zukunftsträume notiert hatten, war aufgeschlagen. Ich habe mein Versprechen gehalten. Ich hätte jedes Versprechen für dich gehalten, Stan. Wieso konntest du es nicht auch...? Die Anspannung verstärkte sich bis zu einem Punkt, an dem es nicht mehr auszuhalten war. Er musste irgendetwas tun, und da er nicht vor hatte zu schreien, riss er das Papier, das er selbst einmal beschriftet hatte, auseinander. Erst diese eine Seite, die ihn andauernd verfolgte, dann die nächste. Eine Seite nach der anderen riss er aus dem Buch heraus, ehe er es vollends entzwei teilte und frustriert zu Boden schmetterte. Was für einen Sinn hatte es noch, jetzt, wo ohnehin alles kaputt war? Gab es überhaupt noch etwas, das Sinn hatte? Steven sank erschöpft in sich zusammen und schloss für ein paar Minuten die Augen. Zu viele Fragen schwebten im Raum, auf die er keine Antwort wusste. Er brauchte Ruhe, wenn auch nur kurz. Ein paar wenige Minuten, in denen er an nichts dachte und frei war von sämtlichen Fragen, die sich unaufhörlich in sein Bewusstsein brannten. Als er das Gefühl hatte, wieder ruhiger geworden zu sein, öffnete er seine Augen. Dämmriges Licht drang durch das Fenster in sein Zimmer, das Notizbuch lag zerfetzt in der Ecke. Anscheinend war er noch immer nicht aus seinem eigenartigen Traum erwacht. Schön, was machte das schon? Er stand auf, ging Richtung Badezimmer, das Chaos, das er im Flur angerichtet hatte, ignorierend, und wusch sich das inzwischen eingetrocknete Blut von der Haut. Dann ging er in seine eigenen vier Wände zurück und zog sich ein sauberes Shirt und darüber eine Jacke an, damit er nicht mehr allzu offensichtlich nach dem aussah, was er nun war - ein Mörder. Ja, er war ein Mörder. Bisher hatte er nur im Fernsehen hin und wieder von Morden gehört. Jetzt hatte er selbst einen begangen, noch dazu auf eine mehr als skrupellose Weise. Kurz überlegte er, was er nun am besten tun sollte, bevor er sich entschied, das Wohnzimmer aufzusuchen und seiner Mutter eine Nachricht zu hinterlassen. Es stand außer Frage, dass er hier nicht bleiben konnte. Ein Mörder suchte immer das Weite, nachdem er seine Tat vollendet hatte, und verweilte nicht am Ort des Geschehens. Er musste weg. Weg von hier. Schnell hatte er einen Stift und einen Zettel vor sich auf dem Tisch liegen, auf den er in gut lesbaren Buchstaben schrieb: „Ich habe uns beide vor dem Ungeheuer gerettet. Es tut mir leid, dass ich nicht hier bleiben kann. Ich hoffe, du wirst jetzt glücklich, Mommy. Hab dich lieb. Steven“ Prüfend betrachtete er die Nachricht noch einmal, dann zog er sich seine Schuhe an, verließ die Wohnung und ging, vollkommen ruhig und gelassen, ohne eine Spur von Reue, Angst oder anderen hinderlichen Gefühlen, durch die Straßen, kein bestimmtes Ziel vor Augen. Er ging dorthin, wohin es ihn zog, befreit von jeglicher Last, die er sonst mit sich trug. Er hatte nichts mehr zu verlieren. In der Stadt war nicht viel los. Wenige Menschen kreuzten seinen Weg, nicht ohne ihm gespielt mitleidige oder erstaunte Blicke zuzuwerfen, vermutlich weil sie sich wunderten, wo denn seine Eltern abgeblieben seien, obwohl es sie in Wirklichkeit wahrscheinlich kein bisschen kümmerte. Von ein paar Münzen, die er zufällig in seiner Jackentasche gefunden hatte, kaufte er sich etwas zu essen, als er im Laufe des Tages hungrig wurde. Er fragte sich, wohin seine Mutter am Morgen wohl gegangen war und wie es ihr jetzt ging. Ob sie schon zuhause war? Eine Weile lang versuchte er, diese Gedanken zu verdrängen. Er war gegangen, um sein altes Leben hinter sich zu lassen und von Neuem anzufangen. Bereits am Abend musste er jedoch feststellen, dass das gar nicht so einfach war, wie er in seiner anfänglichen Euphorie angenommen hatte. Eigentlich hatte er bloß einen Spaziergang machen wollen, doch wie es aussah, war er, ohne dass es ihm aufgefallen war, wieder zum Ausgangspunkt zurückgekehrt. War er zu sehr in Gedanken versunken gewesen, um zu bemerken, dass er geradewegs auf sein Haus zulief ? Unschlüssig schaute er hinüber zu dem Gebäude, das er aus guten Gründen verlassen hatte, und hatte auf einmal seine Zweifel, ob es eine gute Idee war, so überstürzt abzuhauen. Er wollte nicht wieder hineingehen, aber er konnte auch nicht ohne Geld und ohne Schlafplatz hier draußen bleiben. Echt toll, Steven, dachte er. Hättest du deinen Plan von Anfang an ein bisschen besser durchdacht, hättest du jetzt nicht dieses Problem. Nachdenklich starrte er in die vertraute Gegend. Sollte er noch einmal zurückgehen oder nicht? Wenn er es tat und seiner Mutter begegnete, würde sie ihn mit Sicherheit nicht wieder gehen lassen. Aber so, wie er war, hier zu bleiben, wäre Wahnsinn. Ihm blieb keine andere Wahl... Während er seinen Schlüssel hervorkramte, näherte er sich dem Eingang, öffnete die Tür und trat schließlich ein. Etwas stimmt hier nicht, war das Erste, das ihm durch den Kopf ging, als er in der Wohnung eintraf. Er wusste nicht, was genau ihn zu der Ansicht brachte, aber es war eindeutig, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Als er weiter in den Flur hineinging, hätte er beinahe einen gewaltigen Schrecken bekommen, wegen dem, was er dort vorfand - oder viel eher: wegen dem, was er nicht vorfand. Die Leiche seines Vaters... Sie hatte hier gelegen. Sie konnte sich doch nicht aufgelöst haben... Oder war er am Ende überhaupt nicht tot gewesen und war mittlerweile wieder aufgestanden? Nein, das war unmöglich. Nicht einmal die Leichen, die er im Fernsehen gesehen hatte, hatten so tot ausgesehen wie er, als er ihn zurückgelassen hatte. Niemals war dieses Ding noch am leben. Ein einleuchtender Gedanke kam ihm plötzlich in den Sinn und erleichterte ihn ungemein. Sicher hatte seine Mutter den leblosen Körper beiseite geschleift, damit sie den ekelhaften Anblick nicht den ganzen Tag ertragen musste. Natürlich. Es lag auf der Hand. Wer würde denn auch ein blutverschmiertes Mordopfer einfach in seinem Flur liegen lassen? Steven lachte innerlich über sich selbst. Darauf hätte er wirklich auch früher kommen können, anstatt den lächerlichen Einfall zu haben, sein Vater könne wieder aufgestanden sein. Bestimmt saß seine Mutter längst im Wohnzimmer auf der Couch und war damit beschäftigt, zu realisieren, dass es nun keinen mehr gab, der sie umherscheuchen und andere abscheuliche Dinge mit ihr tun würde, während er selbst sich daran erfreute, sich von ihr bedienen zu lassen. Wahrscheinlich konnte sie ihr Glück noch gar nicht fassen. Er lächelte. Vielleicht war die Aussicht, hier, bei ihr, zu bleiben, doch nicht so verkehrt. Der Entschluss, alleine von zuhause abzuhauen, war genauso schnell wieder verschwunden, wie er ihn gefasst hatte. Wer sagte, dass er von jetzt an nicht ein ganz normales, besseres Leben führen konnte, indem er hier blieb, bei der einzigen Person, die er noch hatte und die nun, da das Übel aus der Welt geschafft war, sogar für ihn da sein konnte, wie jede andere Mutter auch? Er musste doch gar nicht fort von hier. Eigentlich gab es dafür keinen Grund. Und dann sah er im Wohnzimmer etwas, das nicht nur seine gerade eben geschöpften Hoffnungen, sondern alles, restlos alles, zunichte machte. Tik. Tak. Tik. Tak. Tik. Tak. Das Klicken des Sekundenzeigers der großen Wanduhr war das einzige Geräusch, das den Raum erfüllte. Steven wollte etwas sagen, aber die Worte wollten sich nicht formen. Die Stille schien sämtliche Worte in seinem Geist zu verschlingen, bevor er sie auch nur ansatzweise herausbringen konnte. Dort lag sein Vater, mitten im Zimmer, unverändert, abgesehen davon, dass er seinen rechten Arm zur Seite ausgestreckt und das Gesicht in die gleiche Richtung gewandt hatte. Daneben lag seine Mutter - in seinem Arm, das Gesicht ebenfalls ihrem Mann zugewandt, ein glückliches Lächeln auf den Lippen. In ihrer Brust klaffte eine furchterregende Wunde, in ihrer Hand lag lose ein blutiges Messer. Sie sahen aus wie ein verliebtes Ehepaar, das soeben gemeinsam diese Welt verlassen hatte. Zusammen, sowohl im Leben als auch im Tod. Lange konnte Steven seinen Blick nicht von den Beiden abwenden. Erst als das Ticken der Uhr gefühlt mehrere hundert Mal im Raum verklungen war, zog die Nachricht, die er seiner Mutter da gelassen hatte, seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie lag nicht mehr an derselben Stelle, an der er sie verfasst hatte, und es sah so aus, als würde außerdem einiges mehr auf dem Zettel stehen, als die Zeilen, die er am Morgen geschrieben hatte. Stumm nahm er den Zettel an sich und las, was darauf stand: „Steven... Wo auch immer du bist: Ich weiß, dass du zurückkommen und diese Zeilen lesen wirst. Ich weiß eigentlich gar nicht genau, was ich schreiben soll. Aber ich wollte dich wissen lassen, dass ich dich immer lieben werde und dir sehr dankbar bin, für alles, was du mir gegeben hast. Anscheinend bin ich ein genauso schreckliches Ungeheuer, wie es dein Vater gewesen ist... Es tut mir furchtbar leid, mein Häschen. Aber ich kann weder mit ihm noch ohne ihn leben, das ist mir jetzt klar geworden. Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen, was ich getan habe, auch wenn du es jetzt vielleicht nicht verstehst. Lebe wohl, deine Mommy.“ Drei Mal las er den Zettel, bevor er ihn wieder auf den Tisch legte. Es waren die letzten Worte seiner Mutter, ihr Abschiedsbrief, der nun ihm gehörte. Das Letzte, was ihm von ihr geblieben war. Scheinbar gab es Dinge, die einfach nicht zu erklären waren, egal, wie lange man darüber nachdachte. Trotz allem, was dieser Mann ihr angetan hatte... Sie hatte ihn geliebt. Wieder sah er sich die Beiden an, wie sie miteinander da lagen. Das Monster und der Schmetterling - bis in alle Ewigkeit vereint. Wenigstens konnte sie jetzt glücklich werden. Ihr Lächeln verriet es ihm. Es war wie ein letztes Geschenk, sie noch einmal auf diese Art lächeln zu sehen. Es war das, was er sich so sehnlichst gewünscht hatte. Jetzt hatte sich sein Wunsch erfüllt, und er konnte das klaffende Loch in ihrer Brust beinahe gänzlich ausblenden. Sie war so schön wie niemals zuvor. Eine volle Stunde lang, vielleicht auch länger - er war sich nicht sicher - hatte er damit verbracht, ihr Gesicht zu betrachten. Dann beschloss er ein zweites Mal, zu gehen. Und dieses Mal würde er keinen Rückzieher machen. Es war bereits Nacht, als er ziellos in die Dunkelheit hinauslief. Das Einzige, was er mit sich trug, war der Zettel, den er kurzerhand eingesteckt hatte, bevor er aus der Wohnung verschwunden war. Er brauchte nichts weiter; weder etwas zu essen noch einen Schlafplatz oder sonst irgendetwas. Was jetzt mit ihm passierte, war völlig egal. Ob er im Dreck schlafen, irgendwann verhungern oder in der Kälte erfrieren würde, machte keinen Unterschied. Seine Eltern waren tot und sein Bruder wollte offenbar nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er hatte nichts mehr, nichts und niemanden. Hätte er gewusst, wie dieser grausame Tag enden würde, wäre er gar nicht erst aufgestanden. Es wäre alles beim Alten geblieben, hätte er nicht diesen Tag auserwählt, um auf eigene Faust Schicksal zu spielen und über das Leben Anderer zu entscheiden. So entschlossen hatte er sich gefühlt, als er auf das Erscheinen seines Vaters gewartet hatte, damit er dessen ungerechten Taten ein Ende setzen konnte. Zwischendurch war er unsicher geworden, dann war es blanker Hass gewesen, der sein Handeln bestimmt hatte. Als nächstes hatte seine übliche Schwäche die Oberhand gewonnen, dann Wut, bis schließlich die inzwischen allzu vertraute Leere in ihm zurückgekehrt war. Mit dieser Leere hätte er leben können. Es wäre in Ordnung gewesen. Doch jetzt, da er erkannte, dass er alles verloren hatte, fühlte er nichts als erschlagende Einsamkeit. Trauer und Einsamkeit. Er war machtlos, alleine gegen den Rest der Welt. Und trotzdem lief er, rannte er so schnell er konnte, als würde es irgendetwas an seiner Lage ändern. Als könne er auf diese Weise der düsteren Realität entkommen; und nicht nur ihr - auch seinen Verfolgern, die zwar nicht real waren, ihn aber ebenso mit ihren scharfen Klauen in die Finsternis reißen konnten wie Geschöpfe aus Fleisch und Blut. Ihm blieb nichts anderes übrig, als davonzulaufen, wie immer die Flucht zu ergreifen vor den Kreaturen, die er selbst erschaffen hatte. Deshalb rannte er, lange, solange bis seine Beine unter ihm nachgaben und er auf den Knien im Gras landete. Während einiger tiefer Atemzüge wurde ihm schwarz vor Augen, und er musste sich mit den Händen auf dem Boden abstützen, um sich zumindest einigermaßen aufrecht halten zu können. Als er wieder klar sehen konnte, besah er sich seine Umgebung ein wenig genauer und versuchte, sie irgendeiner Erinnerung zuzuordnen. Aber es gab keine Erinnerung, die er mit diesem Ort verband. Er war das erste Mal hier. Sieh an, Steven... So weit bist du gelaufen, dass du noch nicht einmal weißt, wo du gelandet bist, sagte eine Stimme in seinem Kopf, die seiner eigenen verdächtig ähnelte. Eines muss man den Feiglingen dieser Welt lassen: Sie können rennen, als gäbe es kein Morgen mehr. Menschenleere Wiesen waren das Einzige, das er weit und breit ausmachen konnte. Er hatte keine Vorstellung davon, wie spät es sein mochte, ob die meisten Menschen bereits schliefen und er deshalb niemanden sah, und wie weit er eigentlich wirklich gelaufen war. All diese Dinge schienen unwichtig geworden zu sein und verschwammen miteinander, wie Wasserfarben, die man nicht mehr auseinanderhalten konnte. „Dann bin ich eben ein Feigling“, antwortete er der Stimme, noch immer außer Atem. „Was soll ich anderes tun, als wegzurennen? Ich habe kein Recht mehr auf... auf...“ Du hast JEDES Recht, und zwar auf alles, was du willst!, wurde er von seiner eigenen Stimme unterbrochen. Willst du dich wirklich verkriechen und dich geschlagen geben, nur weil etwas nicht so gelaufen ist, wie du es geplant hast? Wie WIR es geplant haben? Ich dachte, die Zeiten, in denen du dich wie ein hilfloses, kleines Kind vor allem versteckst, wären vorbei! Ich dachte, du würdest endlich einmal zurückschlagen, wenn das Leben dich unfair behandelt! „Ich habe zurückgeschlagen! Und was habe ich nun davon...? Meine Mutter hat sich umgebracht, weil ich so egoistisch war, ihr ihren Mann wegzunehmen... ohne darüber nachzudenken, ob ich ihr damit überhaupt einen Gefallen tue... oder nicht...“ Ehrlich?, erwiderte die Stimme fassungslos. Ist das dein Ernst? Jetzt hör mir mal gut zu: Nicht DU warst egoistisch. Sondern SIE war es! Welche Mutter überlässt ihren Sohn einfach sich selbst und verschwindet mir nichts dir nichts von der Bildfläche? Sie hatte es nicht leicht. Natürlich nicht. Aber du hattest es auch nicht leicht, Steven. Es ist egal, ob du ihr damit einen Gefallen getan hast. Hättest du dich etwa lieber weiterhin von diesem Mistkerl demütigen lassen? Dich benutzen und aussaugen lassen wie ein verdammtes Insekt im Netz einer Spinne? Ist es das, was dir lieber gewesen wäre? „Im Netz... einer Spinne“, wiederholte er leise die eben gesagten Worte und musste dabei unweigerlich an den Rächer mit seiner Hausspinne denken, den Stanley sich ausgedacht hatte. Damals war er noch bei ihm gewesen. Ständig. Er war immer an seiner Seite gewesen, jeden Tag. Doch jetzt hatte er das beklemmende Gefühl, als wären diese gemeinsamen Tage bloß eine schöne Illusion gewesen, als hätten sie in Wirklichkeit nie existiert, sondern sich nur in den Tiefen seiner kranken Seele abgespielt. Die Erinnerungen an seinen Bruder schienen sich Stück für Stück aufzulösen. Wenn er darüber nachdachte, konnte er sich weder an Bilder von ihm erinnern, die er zuletzt in der Wohnung hätte sehen müssen, noch an etwas anderes, das davon zeugte, dass er nicht bloß ein Teil seiner Einbildung gewesen war. Es war nichts mehr da, das seine Existenz unter Beweis stellte. „Nein... Jetzt drehe ich komplett durch“, sagte er zu sich selbst. „Stanley war echt! Ich habe mir doch meinen Bruder nicht eingebildet!“ Zweifelsohne hatte es ihn gegeben, nicht nur in seiner Fantasie. Und es gab ihn auch jetzt noch! Stan war an einem anderen Ort, weit weg von hier. Aber er war nicht tot. Er lebte, auch wenn er ihn nicht sehen und nicht hören konnte und nicht wusste, wie es ihm ging... oder? Steven schloss die Augen und dachte an den Jahrmarkt, in dem sie, zusammen mit ihren Eltern, gewesen waren - der letzte Familienausflug, den sie unternommen hatten. Er stellte sich vor, wie er dort auf dem Boden kniete, anstatt hier, an diesem verlassenen Platz, und wie er Stan auf sich zukommen sah, der überall nach ihm gesucht hatte, nachdem er aus dem Geisterhaus gekommen war. Anfangs noch verschwommen sah er es nun deutlich vor sich. „Stan...! Ich... Ich wusste, du würdest kommen!“ Ein Fünkchen Hoffnung flammte in ihm auf, als sein Bruder ihm direkt gegenüberstand und ihm seine ausgestreckte Hand hinhielt. Als er jedoch danach greifen wollte, um aufzustehen, zog er sie sogleich wieder weg, lächelte ihn spöttisch an, drehte sich um und ging. „Nein, bitte geh nicht! Stan, du darfst nicht gehen...! Nimm mich mit!“, rief er, aber es war zu spät. Stan war schon wieder fort; er beobachtete, wie seine Silhouette stetig kleiner und dunkler wurde, bis sie schließlich mit den Schatten in der Umgebung verschmolz und nicht mehr zu erkennen war. Zitternd krallten sich seine Hände ins Gras, während der Wind eiskalt und gnadenlos über ihn herfiel. Er fühlte sich, als hätte er nicht das Notizbuch, sondern sich selbst auseinandergerissen und würde jetzt in seinen eigenen Einzelteilen quälend langsam hier draußen verrotten. Sogar in seiner Vorstellung ließ er ihn alleine. Er konnte nicht einmal mehr an ihn denken, ohne enttäuscht zu werden... Hast du es jetzt endlich kapiert?, meldete sich die Stimme in seinem Inneren wieder. Ja, Steven, er hat dich allein gelassen. Und er wird auch nicht mehr zurückkommen. Es ist sinnlos, dir immer wieder neue Hoffnungen zu machen. Vergiss Stanley! „Das... kann ich nicht...!“, wimmerte er schwach. Du MUSST es!, schrie die Stimme eindringlich. Wie oft willst du dir selbst noch weh tun mit deinen falschen Hoffnungen und Erwartungen? Sieh endlich ein, dass niemand mehr kommen wird, um dich zu retten! Weder er noch irgendwer sonst! Aber du brauchst auch niemanden. Du bist stark, Steven. Wenn du willst, kannst du sehr stark sein. Anstatt dich selbst aufzugeben, vergiss einfach die Anderen. Vergiss deine Eltern, deinen Bruder und die idiotischen Typen aus deiner Schule... und jetzt steh auf und zeig mir, dass du KEIN erbärmlicher Jammerlappen bist! Zögerlich kam er wieder auf die Beine, als er sich dazu in der Lage fühlte. Er wollte kein Jammerlappen sein. Sehr gut. Greif in deine Hosentasche. Auch dieser Aufforderung kam er nach, zog den Zettel hervor, den er eingesteckt hatte, kurz bevor er gegangen war, und sah sich die traurigen Zeilen, die darauf standen, erneut schuldbewusst an. Wenn du deine Familie vergessen willst, dann darfst du diesen Zettel nicht mit dir herumtragen. Du musst ihn vernichten. „Nein... Das kannst du nicht von mir verlangen! Er ist das letzte, was mir von meiner Mutter geblieben ist!“ Und genau deshalb darfst du ihn nicht behalten! Wie willst du über sie hinwegkommen, wenn du dauernd etwas mit dir herumschleppst, das dich an sie erinnert? Es ist nur zu deinem Besten. Zerreiße ihn, genau wie die Seiten aus dem Buch. Das konntest du doch auch. „Nein, das werde ich nicht tun! Das wäre, als würde ich sie nochmal töten...! Ich kann ihren Abschiedsbrief nicht einfach wegschmeißen... Auf keinen Fall!“ Schön. Du willst ihn also unbedingt behalten. Dann schluck ihn runter. „Was...?!“ So trägst du ihn bei dir, ohne ihn sehen zu müssen. Du hast deinen Abschiedsbrief ganz für dich alleine, keiner kann ihn dir mehr nehmen... Und trotzdem ist er dir nicht mehr im Weg. Verstört von der Vorstellung, den Zettel auf solch eine Weise zu beseitigen, blickte er sich ein weiteres Mal um, um sicherzustellen, dass auch wirklich niemand in der Nähe war. „Warum sollte ich eigentlich tun, was du mir sagst? Wer bist du überhaupt?“, fragte er und kam sich lächerlich vor, weil er seinen Gesprächspartner nicht ansehen konnte. Die Stimme lachte leise. Wer ich bin... Spielt es denn eine Rolle, wer ich bin? Ich helfe dir und das ist das Einzige, worauf es ankommt. Wenn du mich nicht hättest, wärst du jetzt verloren. Deshalb würde ich dir raten, auf mich zu hören. Steven schwieg zur Antwort. Einen Moment lang dachte er nach, bis er zu dem Schluss kam, dass der Andere Recht hatte. Er brauchte ihn, wenn er von Neuem anfangen wollte. Wenn er ihm vertraute, konnte immer noch alles gut werden. Langsam zerknüllte er das Papier in seiner Hand und verzog kurz angewidert das Gesicht, bevor er es verschwinden ließ, genau wie der Unbekannte es ihm aufgetragen hatte. Brav, Steven!, hörte er ihn daraufhin sagen, während er damit beschäftigt war, zu verarbeiten, was er gerade abartiges getan hatte. Und jetzt... Lass uns gehen! Wie ein willenloses Spielzeug hatte er sich in dieser Nacht leiten lassen, sich von jemandem führen lassen, dessen Namen er nicht einmal kannte - sofern der Andere so etwas wie einen Namen überhaupt besaß. Dank seiner Hilfe hatte er es fertig gebracht, sich auf den Beinen zu halten und weiterzulaufen, ohne zurückzuschauen auf das, was hinter ihm lag. Später hatte er sich ein Stück von einer jungen Autofahrerin mitnehmen lassen, die glücklicherweise scheinbar selbst von der rebellischen Sorte war und ihn daher ohne Weiteres gehen ließ, anstatt ihn wie einen dummen, kleinen Jungen zu behandeln, der nicht für sich allein entscheiden konnte. Im Nachhinein war er sich nicht mehr so sicher, ob diese Tatsache wirklich von Vorteil für ihn gewesen war oder nicht. Noch in derselben Nacht hatte er mitten auf dem Bürgersteig das Bewusstsein verloren und war erst am nächsten Tag in einer fremden Wohnung wieder zu sich gekommen. In diesem Fall konnte er jedoch tatsächlich von Glück sprechen, dass er von einem fürsorglichen, älteren Ehepaar gefunden worden war, das sich um ihn gekümmert hatte, bis er in einer anderen Bleibe untergekommen war. Es war ein anstrengendes Hin-und-Her, und, obwohl er am liebsten bei dem netten, alten Paar geblieben wäre, war er froh, als er letztendlich wieder ein festes Zuhause hatte, in dem er wohnte - oder zumindest etwas, das ansatzweise dieser Bezeichnung gerecht wurde. Seinen zehnten Geburtstag verbrachte er zwischen etwa gleichaltrigen Kindern, von denen keines besonders viel für ihn übrig hatte, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Wenigstens ließen sie ihn die meiste Zeit über in Ruhe und das machte sie wiederum ein wenig sympathischer als seine ehemaligen Mitschüler, die keine Gelegenheit ausgelassen hatten, sich provokant über ihn lustig zu machen. Aber das war jetzt nicht mehr wichtig. Schon bald hatte er ihre Namen sowie ihre Gesichter vollkommen aus seinem Gedächtnis gelöscht. Jedem, der ihn danach fragte, erzählte er, er habe keine Erinnerung mehr daran, wo oder wer er gewesen war, bevor es ihn hierher verschlagen hatte. Es war eine Lüge, die er irgendwann sogar selbst glaubte, weshalb es ihm zunehmend leichter fiel, die Vergangenheit zu verdrängen, als wäre sie nie da gewesen. Es gab nur noch das Hier und Jetzt; die Erwachsenen, die alle Hände voll damit zu tun hatten, den Alltag im Heim einigermaßen im Griff zu behalten, und die Kinder, die entweder viel zu laut miteinander spielten, sich rauften oder - zu seiner Freude- lernten und sich dabei ausnahmsweise ruhig verhielten. Die Zeit verging, er vergaß immer mehr von dem, was hinter ihm lag, und er gewöhnte sich an sein neues Leben. Es war nicht das, was er sich immer schon gewünscht hatte, aber es war auch bei Weitem nicht das Schlechteste. Es war schlichtweg normal. Zumindest konnte er sich das lange Zeit einreden. Seine Jugend verlief normal, er wurde erwachsen, wie ein ganz normaler Mensch, lernte eine normale Frau kennen und heiratete sie, absolut normal. Sein ach so perfektes Leben verlief so normal, dass er keinen Gedanken mehr daran verschwendete, was früher einmal gewesen war. Es war weit außerhalb seines Bewusstseins gerückt und er genoss das scheinbar harmonische Zusammenleben mit seiner Frau - solange, bis seine Albträume wiederkehrten. Anfangs hatte er es ignorieren können. Jeder hatte schließlich manchmal Albträume, oder nicht? Doch als sie nicht aufhörten, fing er an, über sie nachzudenken. Ihre Bedeutung. Was sagten diese Träume über ihn aus? Warum waren es immer die gleichen Kreaturen, die ihn heimsuchten, wenn es dunkel wurde? Und warum wurde er das Gefühl nicht los, dass zwischen all diesen merkwürdigen Figuren jemand auf ihn wartete, der jede Nacht nach ihm rief, ohne ihn jemals wirklich erreichen zu können? Die Fragen beschäftigten ihn und je länger er sich mit ihnen auseinandersetzte, desto weniger hatte er das Gefühl, seine eigenen Gedanken zu verstehen. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der zu seiner Mutter ins Bett kroch, weil er fürchtete, ein Monster könne sich in seinem Zimmer versteckt halten. Alles hatte er versucht, um seiner Frau und dem Rest der Welt, vor allem aber sich selbst zu beweisen, dass es ihm gut ging. Dass er ein echter Mann war. Vergebens. Er hatte versucht, seinen Kummer mit verschiedenen Hilfsmitteln zu betäuben. Nichts hatte funktioniert und irgendwann, als er sich sicher war, wahnsinnig geworden zu sein, hatte er im Traum eine vertraute Stimme gehört. Steven, hatte sie gesagt. Du bist nicht wahnsinnig. Die Anderen sind es. Wenn du glaubst, du wärest schuld an der Hölle, durch die du gehst, dann liegst du falsch. Niemand versteht dich, nicht wahr? Armer, kleiner Junge... Das musst du dir nicht gefallen lassen! „Ja... Du hast Recht“, hatte er geantwortet. „Das muss ich mir nicht gefallen lassen...!“ Dann hatte er dem Wahnsinn wie ein echter Mann ein Ende gesetzt, und das letzte, was er sah, war rot... bevor alles schwarz wurde. Schwarz und kalt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)