Beyblade N. G. von KradNibeid (Aktuell: Kapitel 15 - Garys Galzzly) ================================================================================ Kapitel 11: Die Kunst der Attacke --------------------------------- - 2. Mai, Moskau – Konzentriert blickte Kenny auf Dizzis Bildschirm und bemühte sich, den Datenbergen, die sich ihm präsentierten, einen Sinn zu entnehmen. Kai hatte ihm noch einige Aufzeichnungen der vergangenen Störsignale zukommen lassen, die er nun zu analysieren versuchte, und er hatte es sich zum Ziel gesetzt, aus den Datenfragmenten der Cyberbitchips ein Profil zu erstellen, das ihnen helfen würde, den Ursprung dieser Technologie zu finden; doch bisher blieb er erfolglos. Er konnte auch nicht verleugnen, dass ihn seine Gedanken im Moment eher an der Arbeit hinderten – sowohl die Situation mit Max als auch das Gespräch mit Ian, das sie am Vorabend geführt hatten (oder eher: das Kai mit Ian geführt hatte, da er Kenny kein einziges Mal zu Wort hatte kommen lassen), drängten sich immer wieder in sein Bewusstsein und verlangten seine Aufmerksamkeit. Nachdem Tyson verschwunden war hatte Kenny erkannt, dass er abgesehen von Tyson und Dizzi keine wirklich Freunde hatte, und er hatte sich furchtbar gefühlt; doch nun, da er mit Kai zusammen arbeitete kam er nicht umhin, sich zu fragen, ob Kai womöglich noch einsamer war als er selbst. Die Stimmung zwischen ihm und Ian war unterkühlt – zwar besaß Kai eine Art von natürlicher Autorität, die Ian akzeptierte, doch er hatte deutlich gemacht, dass er Kai ebenso wenig leiden konnte wie die Biovolt selbst; und in Hinblick auf Kais Verhalten ihm gegenüber konnte er es ihm nicht verübeln. Es verwunderte ihn eher, dass Ian überhaupt bereit war, Kai zu unterstützen und ohne große Widerworte zugesagt hatte, den Weg zu Tala zu finden (wie auch immer er das anstellen wollte; nach Kais Aussage zu urteilen war Tala so tief untergetaucht, dass seit acht Jahren niemand mehr etwas von ihm gehört oder gesehen hatte – doch Ian schien sich seiner Sache sehr sicher). Doch warum hatte Max Kai angegriffen? Das wollte Kenny nicht in den Kopf. Max und Kai hatten keine Vorgeschichte wie Ian und Kai. Sie waren nicht gemeinsam von der Biovolt gefoltert worden, und Kenny hätte es gewundert, wenn Max in seinem aktuellen Zustand von Kai in irgendeiner Art und Weise als nützlich betrachtet worden wäre. Nein, an Kais Verhalten gegenüber Max konnte es nicht liegen; es musste einen anderen Grund geben. Und er wusste einen Weg, wie er ihn herausfinden konnte… „Erbarmst du dich noch, mich in deine Gedanken einzuweihen, oder wirst du mich heute den ganzen Tag schweigend anstarren?“, klagte da auf einmal Dizzi, und Kenny fasste einen Entschluss. „Entschuldige Dizzi, aber ich kann mich momentan einfach nicht auf diese Daten konzentrieren. Aber du könntest mir einen Gefallen tun und meinen Webmailer öffnen – ich muss eine E-Mail verschicken.“ - 3. Mai, Tulýmski Kámen – Liebevoll strich Ian über die kühle Außenhaut des Helikopters, dann ließ er seine Hand sinken und trat ein paar Schritte zurück, um sich das Fluggerät nochmals zu betrachten. Die schwarze Lackierung der Sikorsky X2 glänzte matt im Sonnenlicht, und der Hubschrauber wirkte auf ihn wie ein Raubtier, elegant und gefährlich, so, wie er auf dem frischen Grün des jungen Grases stand und die Rotorblätter sich langsam ausdrehten. Er war schon lange nicht mehr geflogen, und er musste sich eingestehen, er hatte es vermisst, mit einer wendigen Maschine über das Gelände zu gleiten, die Erde weit unter sich – und allein das machte die Tatsache, dass er mit Kai neun Stunden Flug hinter sich gebracht hatte, wieder um einiges wett. „Und wohin müssen wir jetzt? Ich hoffe für dich, dass du uns nicht einfach nur mitten in die Pampa geflogen hast, um mir eins auszuwischen, Papov“, murrte Kai, der neben ihn trat und sich missmutig umsah. Ringsum waren sie umgeben von wilder Natur: Die kleine Lichtung am Fuße des Berges Tulýmski Kámen, auf der Ian die Sikorsky X2 gelandet hatte, befand sich inmitten des Wischera-Sapowednik-Naturschutzgebietes, das am Rande der Perm-Region im Uralgebirge lag. Diese bewaldete Gegend war mit dem Auto nicht zu erreichen – und Ian hatte all seine Flugkünste gebraucht, um den Helikopter heil in das Gebiet zu fliegen und gleichzeitig dem Radar zu entkommen; der Flug von Moskau nach Kirov (wo sie zum ersten Mal getankt hatten) und auch die Strecke von Kirov nach Berezniki (wo sie zum zweiten Mal nachgetankt hatten – Hochgeschwindigkeits-Hubschrauber brauchten eine Menge Benzin, zumal auf einer Strecke von etwa tausendachthundert Kilometern), waren angemeldet und genehmigt worden. Ihren spontanen Ausflug von Berezniki zum Tulýmski Kámen hatten sie jedoch unter dem Deckmantel eines kleinen Rundfluges unter den Tisch fallen lassen – und eine Zwischenlandung im Naturschutzgebiet würde bestimmt keiner Behörde gefallen. Und nun standen sie hier, mit dampfendem Atem, in der frischen Nachmittagssonne, und abgesehen vom Wald, der sich an den felsigen Hängen ein Stück weit empor schob, gab es nichts um sie herum. Ian zuckte mit den Schultern. „Mach dir nicht ins Hemd, Süßer. Ich weiß, wo wir sind, und ich weiß, wo wir hin müssen; nur einen Heli an einem Steilhang zu landen übersteigt selbst meine gottgleichen Fähigkeiten“, erklärte er munter und lief zielgerichtet in den Wald hinein. „Komm mit, wir haben ein schönes Stück Weg vor uns.“ Pikiert blickte Kai auf Ians Rücke, verbiss sich jedoch einen rüden Kommentar und folgte ihm; Streit hatte jetzt keinen Zweck, und er musste darauf vertrauen, dass Ian ihn zu Tala führen würde. „Woher willst du überhaupt wissen, dass Tala hier ist? Ich suche schon seit Jahren nach ihm und habe ihn nicht ausfindig machen können.“ „Und deswegen hast du ja mich um Hilfe gebeten, oder?“, entgegnete Ian mit einem Schulterzucken. „Nur weil du versagt hast, heißt das noch lange nicht, dass es dem Rest der Welt auch so gehen muss. Und ich habe meine eigenen Quellen.“ „Ach ja?“ Mürrisch kickte Kai einen Stein beiseite, der ihm im Weg lag. „Und die wären?“ Kurz warf Ian ihm einen unsicheren Blick zu, dann seufzte er. „Tala hat es mir gesagt. Um genau zu sein habe ich ihn sogar hierher gebracht.“ Abrupt blieb Kai stehen, und Ian rollte mit den Augen, als er dessen empörten Blick sah. „Im Ernst, Hiwatari, wenn du ein Problem damit hast, dann klär das mit Tala selbst, und nicht mit mir – immerhin bringe ich dich zu ihm, oder? Und jetzt komm mit, ich will das so schnell wie möglich hinter mich bringen“, murrte er und setzte seinen Weg unbeirrt fort. Kai würde ihm schon folgen, wenn er eingesehen hatte, dass Ian nicht auf ihn warten würde. Oder er würde ihn aus den Augen verlieren, sich im Wald verlaufen und elendig krepieren – im Moment schienen beide Optionen für Ian durchaus annehmbar. Enttäuscht sackten seine Schultern in sich zusammen, als Kai ihm nach einigen Momenten wieder folgte und ihn mit eisernem Schweigen strafte. Ihm sollte es recht sein. Der Waldboden unter ihren Füßen stieg stetig an, und schließlich wurde er merklich felsiger. Die mächtigen Fichten, unter denen ihr Weg entlang führte, wichen langsam aber sicher den hellen Stämmen von Birken, die an den Hang gedrängt wuchsen und der Kälte trotzten; auf dem Gipfel des Berges überdauerte der Schnee häufig den ganzen Sommer, und an den Hängen des Tulýmski Kámen behielt der Wind auch im späten Frühling noch den bissigen Hauch des Winters. Das Klima hier verlangte Pflanzen und Tieren einiges ab, und doch war ein schier unbezwingbarer Lebenswille tief im Wald verwurzelt. Diese Umgebung war wirklich perfekt für Tala geschaffen – das musste sich Kai bitter eingestehen. Nach etwa zwei Stunden Fußweg erreichten sie schließlich über einen kleinen Pfad (wann waren sie auf den Weg gestoßen? Kai konnte sich nicht daran erinnern) ein Plateau am Waldrand, das, geschützt von einigen Birken und Krummhölzern, einen guten Blick über das umliegende Gelände gab. Es war ein beeindruckender Anblick. Das Plateau maß etwa acht Meter von einer Seite zur anderen, und mehrere schmale Pfade führten hinunter in den Wald. Der Boden war behauen und zeigte ein monumentales Relief von einem Wolf, der ein paar gewaltiger Schwingen aus Eiskristallen ausgebreitet hatte und inmitten eines Sturmes zu schweben schien. Um das Relief herum war ein Spruchband in den Stein gemeißelt, auf dem etwas in einer Sprache geschrieben stand, die Kai nicht beherrschte; doch es mussten mächtige Worte sein – für einen mächtigen Geist. Verschiedene geschnitzte Stämme standen außerdem auf der Fläche verteilt, jeder von ihnen zeigte ein anderes mythisches Wesen: Kai konnte einen Drachen erkennen, eine Seeschlange, einen Phönix (ihm wurde warm in der Brust, als er die Skulptur sah) und einige andere Kreaturen, die er nicht zuordnen konnte. Wo der Vorsprung an die Felswand stieß lag ein unauffälliger Höhleneingang, der von einer Tür aus gewebten Birkenzweigen verschlossen wurde, die mit Lehm abgedichtet worden war. Ein Rohr führte durch das Gewebe ins Freie, aus dem verlockend duftender Rauch aufstieg. „Ich glaube, wir werden erwartet“, kommentierte Ian die Szenerie mit einem schiefen Grinsen und ging zur Tür, während er mit leuchtenden Augen die Gestaltung des Plateaus betrachtete, und Kai folgte ihm. Sie mussten nicht klopfen, als sie den Durchgang erreicht hatten, denn kaum standen sie vor dem Höhleneingang wurde die Birkentür beiseitegeschoben, und vor ihnen stand Tala. Über eine schlichte Hose aus einem dichten, erdfarbenen Wollstoff und einem Pullover aus demselben Material trug er eine grob geschneiderte Fellweste. An seinem Gürtel hingen verschiedene Messer, eine kurze Axt und eine Tasche, aus der Kai das Ende einer Reißleine herausragen sah. Talas Haut war dunkler als früher, und trotzdem noch viel zu blass, um gesund zu wirken; seine Augen schienen so klar und blau wie das Polareis, seine Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, so rot wie Feuer – und er trug einen beeindruckenden Bart zur Schau. Kai bemühte sich, seine neutrale Miene beizubehalten, doch Ian neben ihm brach sofort in schallendes Gelächter aus. „Oh Gott, Tala – du siehst aus wie ein Neandertaler!“, brachte er japsend hervor, während er sich die Seiten hielt. Tala bedachte ihn mit einem strengen Blick, während er sich stolz über den Bart strich. Dann wandte er sich Kai zu, und mit einem Mal wurde sein Blick kühler; Kai spürte einen eiskalten Stich in der Brust. „Kai. Ich hatte nicht damit gerechnet, dich einmal hier auftauchen zu sehen“, sprach er mit ausdrucksloser Stimme und warf einen scharfen Blick zu Ian, der gerade dabei war, wieder zu Atem zu kommen, „doch nun, da du hier bist, kann ich dich wohl nicht mehr wegschicken. Kommt herein.“ Mit diesen Worten trat Tala zur Seite und führte die beiden in die Höhle hinein, die er offensichtlich bewohnte. Der Ort war gemütlicher und schöner, als Kai es einer Höhle jemals zugetraut hätte. Hinter dem Eingang führte ein schmaler Gang mit reich verzierten Wänden etwa vier Meter in den Berg, bis er sich in einen größeren Hohlraum öffnete, mit einer Höhe von etwa drei Metern und einem Durchmesser von vielleicht fünf, sechs Metern; in einer Nische führte ein weiterer Gang aus dem Raum noch tiefer in den Berg, doch das Licht des Feuers, das in einem rudimentären Kamin brannte, reichte nicht bis dorthin. Über dem Kamin war das Abzugsrohr angebracht, das durch den Gang bis hinaus vor die Höhle verlief. Im Licht der Flammen betrachtete sich Kai das Innere des Raumes: Ein grob gearbeitetes Bett aus Balken und Wolltuch stand an der Wand neben dem Kamin, und daneben stand eine geschnitzte Truhe, aus der einige Kleidungsstücke aus Fell und Loden herausragten. Der Boden war mit Fellen verschiedener Tiere ausgelegt, und auf einem Gestell an einer Wand hingen weitere Tierhäute, die auf ihre Verarbeitung warteten. Ein grober Tisch stand in der Mitte der Höhle, um ihn herum Stühle, die aus Birkenstämmen gefertigt waren. Auf dem Tisch bereit lagen zwei schlichte Essgeschirre aus Holz und ein Laib dampfendes Brot. Daneben standen ein gewaltiger Tonkrug mit Wasser und ein Regal, auf dem verschiedene Werkzeuge, Geschirr und ein Bogen mit Pfeilköcher gelagert waren. Insgesamt haftete dem Ganzen eine heimelige Aura an. Als Kais blick jedoch an die Wände und Decke fiel stockte ihm der Atem: Jeder Zentimeter der Felswände war mit reichen Reliefs verziert, die allerlei verschiedene Motive zeigten: Mächtige Fabelwesen, prächtig geschmückte Krieger, ruhige Szenen mit Tieren und Menschen, beeindruckende Landschaften. Manche der Arbeiten waren bemalt, andere naturbelassen, und Kai musste sich eingestehen, dass er noch nie etwas so schönes gesehen hatte. „Du hast ganz schön was geschafft, seit ich das letzte Mal hier war, mit deiner Kunst durch Angriff“, bemerkte Ian anerkennend und betrachtete sich eines der Wandreliefs. „Die Höhle war definitiv weniger Bunt. Und der Wolf vor der Tür ist auch neu.“ Mit einem verschmitzten Grinsen blickte er zu Tala, der das Lob mit einem Nicken annahm und ein weiteres Essgeschirr für Kai vom Regal holte und auf den Tisch stellte. Dann ging er zum Kamin, nahm einen Kessel mit duftendem Eintopf von der Feuerstelle und stellte ihn auf den Tisch. „Es heißt Kunst der Attacke, Ian, und ich freue mich zwar über die Rückmeldung, aber ich bezweifle, dass ihr den Weg gekommen seid, nur um meine Innenausstattung zu bewundern. Kommt her und esst etwas mit mir, und dabei könnt ihr mir erzählen, was los ist.“ - 04. Mai, Moskau – Nachdenklich blickte Tala auf das Foto in seiner Hand und strich über sein Kinn; nun, da er wieder in der Zivilisation angekommen war, hatte er seine schlichte Kleidung gegen eine vernünftige Hose und einen Pullover eingetauscht, und auch den Bart hatte er sich abrasiert – in seinem Zuhause hatte ihn das flammendrote Haar vor der Kälte geschützt und noch mehr Distanz zwischen dem Jetzt und seiner Vergangenheit geschaffen; doch nun hatte er keine Verwendung mehr für ihn. Kai und Ian hatten ihm von den Gerüchten über die Biovolt erzählt, und davon, dass immer mehr Blader und ihre Bitbeasts verschwanden. Von den neuen Cyber-Bitbeasts und den neuen Cyber-Mind-Signalen. Und von ihm. Grimm runzelte er die Stirn, während er das Foto vor sich auf den Tisch legte und sich auf dem Sofa zurücklehnte. Unruhig huschte sein Blick an der reich geschmückten Zimmerdecke entlang und blieb an einem zierlichen Kristalllüster hängen. Es war Jahre her, seit er ein richtiges Haus betreten hatte, geschweige denn eine Villa wie das Anwesen der Hiwatari-Familie, und er hatte sich gut gefühlt. Frei. Losgelöst von der Welt, nur noch sich selbst verpflichtet, unabhängig von den Erwartungen anderer. Er war glücklich gewesen. Und nun saß er doch wieder hier, gefangen in einem goldenen Käfig, und war im Begriff, alles aufzugeben, was er sich in den letzten Jahren erarbeitet hatte. Nur wegen ihm. „Er ist also wirklich zurück“, murmelte er halblaut, und neben ihm brummte Kai zustimmend. „Es besteht kein Zweifel“, bestätigte er und nahm dann selbst das Foto in die Hand und betrachtete es mit eindringlichem Blick. Darauf zu sehen war ein Mann mit leuchtend roten Augen, die hinter einer schwarzen Maske versteckt waren. Sein violettes Haar war zurückgekämmt, und ein langer, schwarzer Mantel verhüllte seinen Körper, während er mit einem anderen Mann sprach, den sie beide nicht kannten. Ein Schauer lief über Kais Rücken, dann legte er das Bild wieder auf den Tisch, während Tala schwer seufzte. „Boris lebt also noch“, meinte er mit tonloser Stimme, und Schweigen hüllte die beiden ein. Nachdem Ian sie in der Sikorsky X2 sicher zurück geflogen hatte war er sofort in das Gästezimmer zurückgekehrt, in dem Kai ihn einquartiert hatte, um zu schlafen; und Kai war dankbar dafür. Es gab einiges, was er mit Tala zu klären hatte. „Warum er?“ „Huh?“ Verwirrt wandte sich Tala zu Kai, der ihn mit dunklen Augen ansah. „Ich habe Geld, ich habe Beziehungen. Ich hätte dir eine neue Identität verschaffen können, ein sicheres Versteck an jedem Ort der Welt. Ich hätte alles für dich tun können“, Kai konnte den vorwurfsvollen Ton seiner Stimme nicht verhindern, „doch das alles war wohl nicht gut genug für dich.“ Lange blickten sich die beiden schweigend an, und Kai erwartete schon fast keine Antwort mehr, als Tala endlich einen langen Atem ausstieß. „Ich wollte verschwinden, Kai, nicht untertauchen. Ich habe keine Beziehungen oder Geld gebraucht – ich habe einfach jemanden gebraucht, der mich weg bringt. Dem ich vertrauen kann. Der weiß wo ich bin – und meinen Wunsch respektiert, dort alleine zu bleiben.“ „Und mir kannst du offensichtlich nicht vertrauen“, stellte Kai verärgert fest, „aber Papov ist natürlich perfekt dafür geeignet. Papov, das Team-Baby, der uns bei jeder erstbesten Gelegenheit gemeldet hat, der uns immer nur Ärger eingehandelt hat-“ „Kai!“, unterbrach Tala seinen Ausbruch unwirsch, und Kai schnaubte verächtlich. Ungläubig schüttelte Tala den Kopf. „Wenn du ihn so hasst, warum hast du ihn dann überhaupt um Hilfe gebeten?“ Nun war es an Kai, zu schweigen, und schließlich senkte er den Kopf. „Papov hat schon immer Dinge einfach gewusst. Und ich hatte gehofft, dass es diesmal auch so sein würde, auch wenn das vollkommen lächerlich schien.“ „Aber es hat funktioniert“, stellte Tala fest und zog seine Beine an. Dann seufzte er. „Weißt du, Kai, es hat einen Grund, warum Ian schon immer Dinge wusste. Weil wir sie ihm erzählt haben.“ Nachdenklich legte er das Kinn auf seine Knie, während Kai überrascht eine Augenbraue hob. „Ian hat ein gutes Gespür dafür, wann er ein Geheimnis bewahren muss, und wann es an der Zeit ist, andere einzuweihen, um alles zu einem guten Ende zu bringen. Das habe ich schon immer sehr an ihm geschätzt.“ „Also traust du mir nicht zu, ein Geheimnis zu bewahren?“, fragte Kai vorwurfsvoll, und Tala blickte ihn kühl von der Seite an. „Ich vertraue dir, Kai, aber ich kenne dich auch. Du hättest wahrscheinlich meinen Aufenthaltsort geheim gehalten – aber hättest du mich wirklich acht Jahre lang in Ruhe gelassen, nur weil ich dich darum gebeten hätte?“ Trotzig zog Kai die Augenbrauen zusammen, antwortete jedoch nicht; ihm war klar, dass Tala Recht hatte mit dem, was er zwischen den Zeilen sagte: Hätte Kai all die Jahre gewusst, wo sich Tala befand, hätte er ihn schon längst zurückgeholt. „Ich mache dir das nicht zum Vorwurf“, meinte Tala neutral, „denn wir alle sind, wie wir sind, und wir tragen nur für einen Teil davon die Verantwortung. Aber ich konnte und wollte nicht riskieren, dass du mir die Freiheit nimmst, die ich mir erarbeitet habe.“ Stille legte sich zwischen sie, und widerwillig musste Kai zugeben, dass er Tala verstehen konnte; dennoch fühlte er sich von ihm verraten – und das hinterließ einen bitteren Geschmack. „Warum bist du trotzdem mitgekommen?“, brach Kai schließlich das Schweigen, und Tala zuckte mit den Schultern. „Es gibt Dinge, die sind größer als mein Egoismus und mein Seelenheil.“ „Wie etwa ein lebendiger Boris in den Gassen Moskaus, obwohl er schon vor Jahren erschossen wurde?“ „Du sagst es.“ Ernst blickte Tala Kai an. Wieder legte sich Stille zwischen die beiden, bis Kai sich schließlich auf dem Sofa zurücklehnte und die Arme verschränkte. „Hast du Papov deshalb in deinen Fluchtplan eingeweiht? Damit ich dich finden kann, wenn es wirklich darauf ankommt?“ „Das war einer der Gründe, aber nicht der Hauptgrund“, entgegnete Tala, und ein keckes Grinsen umspielte seine Lippen. Misstrauisch runzelte Kai die Stirn. „Was für Gründe gab es denn sonst?“ „Nun, meine Ausrüstung und ich, wir mussten ja irgendwie zum Tulýmski Kámen kommen.“ „Und?“ „Ian weiß, wie man einen Helikopter fliegt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)