Where the arrow hits von Flordelis ================================================================================ Starting the Quest: The Archer and the Beast -------------------------------------------- Der Regen hatte eingesetzt, kurz nachdem er St. Maria's verlassen hatte und inzwischen war er vollkommen duchnässt. Für kurze Zeit hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich unter einer Brücke auf der Rice Street unterzustellen. Aber als er sich dieser genähert hatte, war ihm ein sich bewegender Schatten aufgefallen, ein Weeping Bat, wie er jene Wesen nannte, die er zuerst in der Mine getroffen hatte. Auch wenn es ihm, rein logisch gesehen, durchaus möglich wäre, dagegen zu kämpfen, wollte er das in seinem derzeitigen Zustand lieber vermeiden. Die Axt in seinen Händen wurde bereits immer schwerer und seine Schritte stetig langsamer, während er die Rice Street hinunterlief. Von seinen Kämpfen in St. Maria's hatte er eine Wunde auf seiner rechten Wange zurückbehalten, die zwar nicht mehr blutete, aber immer noch einen pochenden Schmerz aussandte. Außerdem schien ihm ein Sturm aufzukommen, in der Ferne hörte er bereits das Donnergrollen. Während eines Gewitters wirkten die auf den Straßen umherstreifenden Gestalten wesentlich aggressiver, wie ihm bereits aufgefallen war. Deswegen, so schloss er, wäre es wohl schlauer, sich erst einmal in einem Haus in Sicherheit zu bringen, einen Erste-Hilfe-Kasten zu suchen und sich auszuruhen. Er war zwar nicht mehr weit von den Piers entfernt, wo Ricks' Boot liegen sollte – sofern er der Karte trauen durfte – aber eine kurze Pause, die dann garantierte, dass er es auch wirklich dorthin schaffte, würde er sich durchaus erlauben können. Dabei fragte er sich, warum er immer noch von dieser Stadt festgehalten wurde, was diese Wesen noch von ihm wollten. Er hatte eingesehen, falsch gehandelt zu haben, was Napier anging und dass er Charlie auf diese Weise nie zurückbekommen würde. Er war mit sich selbst im Reinen, er war der Bogeyman gewesen – aber das war nun vorbei. Was wollte diese Stadt noch von ihm? In der Ferne hörte er bereits das Schreien eines Screamers, als er sich entschied, das Haus am Ende der Straße aufzusuchen. Dabei folgte er lediglich einem Gefühl, statt einer ausführlichen Inspektion von außen. Wie erwartet war der, aus dunklem Holz gefertigte, Eingangsflur leer, abgesehen von einigen losen Blättern, die auf dem Boden verteilt lagen. Die Blumen in der Vase, direkt neben der Eingangstür, waren verwelkt, wie auch alle andere, die er bislang in den verschiedenen Häusern gesehen hatte. Eine Treppe führte nach oben, recht gab es einen Raum und geradeaus, den Flur hinab, existierte auch noch eine Tür. Den Gang in die Küche könnte er sich sparen. Alle Lebensmittel, die er bislang in dieser Stadt gesehen hatte, waren verdorben, nicht mehr zu genießen und auf eine Lebensmittelvergiftung konnte er gut verzichten. Im Wohnzimmer – er schätzte, dass die rechte Tür dorthin führte – wollte er sich auch nicht ausruhen. Im Erdgeschoss könnten die Wesen auf den Straßen ihn durch das Fenster sehen und versuchen, das Haus zu stürmen, solange es noch gewitterte. Der Regen prasselte gut hörbar gegen das Fenster, es würde also noch eine ganze Weile so weitergehen. Er ging die Treppe hinauf, hörte das Knarren der Stufen unter seinen Schritten, dachte sich aber nichts dabei. Bislang war er in jedem Wohnhaus allein gewesen und er sah keinen Grund zur Annahme, dass sich das jemals ändern sollte. Im ersten Stock fand er ein Badezimmer, in dem sich auch ein Erste-Hilfe-Kasten befand. Diesen nutzte er sofort, um die Wunde in seinem Gesicht zu reinigen und zu desinfizieren. Auf einen Verband verzichtete er vorerst. Stattdessen betrachtete er sie im fleckigen Spiegel des kleinen Bads. „Tss, schmerzt weniger als ein Schnitt mit einem Rasierer“, brummte er. Er nahm die Axt, die er zwischendurch gegen die Badewanne gelehnt hatte, und trat wieder auf den Flur hinaus. Der obere war enger als der im Erdgeschoss, zwei weitere Türen waren noch zu sehen. Hinter einer von ihnen musste das Schlafzimmer sein und darin gab es sicher ein Bett, auf dem er sich für kurze Zeit ausruhen könnte. Obwohl ihm auch ein Sofa genügen würde, die Hauptsache war lediglich, dass er für eine Weile liegen könnte. Jedenfalls bis das Gewitter aufhörte. Im selben Moment, als wolle jemand ihn daran erinnern, dass draußen immer noch ein Unwetter tobte, erleuchtete ein heller Blitz durch die Fenster das Innere des Hauses. Nur wenige Sekunden danach grollte ein aggressiver Donner, der schon viel mehr an einen Erdrutsch erinnerte. „Das wird wohl noch eine Weile anhalten“, murmelte er. In der Einsamkeit, in der er unterwegs war, nur unterbrochen von kurzen, oft zufälligen Begegnungen mit anderen Menschen, war es tröstlich, hin und wieder zumindest seine eigene Stimme zu hören. Da er sich vollkommen allein wähnte, öffnete er arglos die nächste Tür, die ihn allerdings, zu seiner Enttäuschung, nicht in ein Schlafzimmer führte, nicht einmal in einen Raum mit einem Sofa. Gleichzeitig verspürte er eine gewisse Ernüchterung, als er wieder einmal feststellte, dass die Bewohner dieser Stadt allesamt ein wenig seltsam sein mussten. Dies war nicht das erste Haus, in dem er etwas vorfand, das darauf hinwies, dass der Besitzer auf der fanatischen Suche nach irgendetwas gewesen war. Hier war eine Karte der Stadt mehrfach vergrößert und an die Wand gepinnt worden. An einem Steg, in der Nähe des Hauses, war ein Pfeil aus Papier befestigt, der irgendetwas ausdrücken sollte. Aber allein vom Anstarren konnte er es nicht sagen. Als er sich weiter umsah, entdeckte er ein aufgeschlagenes Buch auf dem Tisch. Es musste sich um ein Kinderbuch handeln, wie er feststellte, als er es genauer betrachtete. Auf der einen Seite befand sich die Schwarz-Weiß-Zeichnung eines Bogenschützen, der mit angelegtem Pfeil einer echsenartigen Bestie gegenüberstand. Auf der anderen Seite war der Text dazu vorhanden. Seiner Erfahrung nach hatte es immer etwas zu bedeuten, wenn er so etwas in der Stadt fand. Er hatte schon einige Umwege für derartige Sachen in Kauf genommen und es nie bereut, deswegen vertiefte er sich rasch in den Text, um mehr darüber herauszufinden. Als er das hörte, sagte der mit Pfeil und Bogen bewaffnete Jäger: "Ich werde die Eidechse töten." Aber als er mit seinem Gegner zusammentraf, schrak er zurück und sagte spöttisch: "Wer fürchtet ein Reptil?" Daraufhin zischte die wütende Eidechse: "Ich werde dich mit einem einzigen Bissen verschlingen!" Dann griff die riesige Kreatur mit aufgerissenem Maul an. Genau das wollte der Mann. Ruhig seinen Bogen spannend, schoß er in das weit aufklaffende Maul der Eidechse. Mühelos flog der Pfeil, den schutzlosen Rachen durchbohrend, und die Eidechse fiel tot zu Boden. Das brachte ihn nicht wirklich weiter. Fast war er davon überzeugt, dass die Existenz dieses Buches eigentlich keine weitere Bedeutung in sich trug. Auch wenn das sämtliche Regeln der Stadt brach. Aber vielleicht irrte er sich auch und es gab keine Regeln. „Hmpf“, sagte er leise, um sich selbst davon zu überzeugen, dass alles nur Schwachsinn war. „Als ob eine Stadt Regeln hätte. Ich drehe wahrscheinlich nur durch.“ Als hinter ihm ein Knarren erklang, fuhr er herum, die Axt bereits im Anschlag – doch er sah sich keinem Monster gegenüber, sondern einem normalen Menschen, der in der Tür stand. Das schmutzig-blonde Haar des fremden Mannes, das bis zu seinem Nacken reichte, war sorgsam gekämmt worden, die grauen Augen glitzerten hinter einer Brille, die aus einem dünnen, silbernen Rahmen bestand. Seine Kleidung bestand aus einer schwarzen Stoffhose und einem einfachen weißen Hemd. Er sah weder so aus, als sei er im immer noch anhaltenden Regen gewesen, noch als wäre er in einen Kampf verstrickt gewesen, also musste er sich irgendwo im Haus befunden haben. „Sorry, ich wusste nicht, dass hier noch jemand ist. Ist das Ihr Haus?“ Der Fremde nickte bedächtig, den Blick auf die Axt gerichtet, die er rasch sinken ließ. Dann erst kam der andere näher und reichte ihm sogar die Hand. „Fletcher, Art Fletcher.“ „Murphy Pendleton“, erwiderte er knapp, ohne ihm ebenfalls die Hand zu reichen. Schließlich ließ Fletcher seine wieder sinken. Er ging um Murphy herum. „Ich habe Sie noch nie in der Stadt gesehen, Mr Pendleton.“ „Mir scheint, die Stadt ist groß genug, dass man sich hier nicht über den Weg laufen muss.“ „Das ist allerdings wahr.“ Mit gemächlichen Schritten kam Fletcher schließlich bei der Karte an. Er warf einen kurzen Blick darauf, dann fuhr er zu Murphy herum. „In letzter Zeit ist es aber ein wenig einsam, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben. Was führt Sie in unsere schöne Stadt?“ Murphy runzelte die Stirn, beobachtete jede Bewegung von Fletcher genau, ehe er die Frage beantwortete. Er hätte erwartet, dass der andere ihn eher fragen würde, wie er ins Haus gekommen war und was er hier wollte. Da das noch nicht geschehen war und er sich ihm gegenüber sogar derart freundlich verhielt, empfand er als ungutes Zeichen. Außerdem waren alle Menschen, die er bislang in dieser Stadt getroffen hatte, eigentlich eher … gestört. Oder zumindest irgendwie seltsam und geheimnisvoll, wenn er an Howard zurückdachte. Wo der Postbote wohl gerade war? Sollte er Fletcher nach ihm fragen? Nein, besser nicht, er konnte diesen Mann vor sich immerhin nicht einschätzen. Schließlich antwortete er aber noch auf Fletchers Frage: „Eigentlich bin ich nur durch Zufall hier gelandet und suche grad den Weg nach draußen. Ich wollte mich nur kurz ausruhen.“ Immerhin war er durch die ganze verdammte Stadt gelaufen, mit kaum einer Pause dazwischen. War es da so verwunderlich, dass er sich erschöpft fühlte? Fletcher lächelte daraufhin, jedenfalls verzog er seine Lippen zu etwas, das wohl ein Lächeln darstellen sollte, ihm aber mehr wie eine Grimasse anmutete. „Mi casa es su casa, Mr Pendleton.“ Murphy zog die Brauen zusammen, nickte aber nur, statt etwas darauf zu sagen. Lieber deutete er auf die Karte. „Haben Sie vor, da ein Haus zu bauen?“ Fletcher lachte amüsiert, ein Laut, der klang, als würde jemand Nägel über eine Tafel ziehen. „Nein, ich suche nach etwas, genau wie Sie. Nur suche ich nicht den Weg nach draußen, sondern einen Weg tiefer hinein.“ Er breitete die Arme aus. „Diese Stadt ist ein ganz außergewöhnlicher Ort.“ „Das habe ich auch schon bemerkt“, kommentierte Murphy abfällig. Fletcher beachtete ihn gar nicht erst und fuhr einfach fort: „Aber im Kern dieser Stadt gibt es wundervolle Dinge zu entdecken.“ Murphy bereute bereits, sich ausgerechnet dieses Haus ausgesucht zu haben. Ein anderes wäre vermutlich sicherer gewesen. Er wollte sich gerade umdrehen, als Fletcher ihn direkt ansprach: „Mr Pendleton! Wäre Ihnen nicht auch daran gelegen, einen Schatz zu finden?“ Abwehrend hob Murphy die Hände. „Hören Sie, Mann, das einzige, was ich finden will, ist der Weg aus dieser Stadt hinaus. Ich verstehe ja, dass es ein Fehler war, hierher zu kommen, aber-“ „Ihnen wurde etwas Kostbares gestohlen, nicht wahr?“ „Was?“ Fletcher verschränkte die Arme vor der Brust und hob dann eine seiner Hände an sein Kinn. In dieser Haltung musterte er Murphy, der inzwischen die Hände sinken gelassen hatte, interessiert. „Also stimmt es. Oh, grämen Sie sich nicht, Mr Pendleton, man sagte mir schon oft eine gute Menschenkenntnis nach. Ein Blick – und ich weiß sofort, was es mit Menschen auf sich hat.“ Verrückt. Das war alles komplett verrückt. Aber dennoch konnte Murphy nicht den Blick abwenden und sah Fletcher immer noch an. Dabei sagte seine Vernunft, dass er ohne jedes weitere Wort dieses Haus verlassen und sich direkt zu den Piers begeben sollte, um das Boot zu besteigen. Aber Fletchers entschlossener Blick hielt ihn geradewegs gefangen. Das bemerkte der Mann offenbar, denn seine Mimik wurde wegen der Zufriedenheit ein wenig weicher. „Wenn Sie das, was Sie verloren haben, zurückhaben wollen, müssen Sie nur das Innerste dieses Ortes finden und die Prüfung bestehen.“ Murphy erschauerte bis ins Innerste. Der Gedanke, er könnte Charlie zurückbekommen, wenn er nur noch einmal einen Umweg machte, verhinderte, dass er an den Schlüssel in seiner Tasche und das Boot an den Piers dachte, das gerade nur auf ihn wartete. Eigentlich glaubte er nicht daran, dass irgendwer oder irgendwas Tote zurückholen könnte – aber wenn es möglich war, befand es sich eindeutig in dieser Stadt. „Ich sehe, Mr Pendleton, wir verstehen uns“, sagte Fletcher zufrieden lächelnd. „Sie gehen dort hinunter, bestehen die Prüfung und bringen mir den Schatz, der jeden Wunsch erfüllen kann. Dann bekommen Sie zurück, was Ihnen gestohlen wurde und ich auch.“ Aber sein Misstrauen war noch nicht gänzlich aus der Welt geschafft. „Warum gehen Sie nicht selbst?“ Fletcher ließ die Arme sinken und deutete an sich herab. „Sehe ich so aus, als könnte ich ein Ungetüm töten? Daraus besteht die Prüfung immerhin vermutlich.“ Tatsächlich wirkte er nicht im Mindesten wie ein Kämpfer gleich welcher Art. Nicht einmal wie jemand, der im Notfall einen Angreifer außer Gefecht setzen könnte, weil er gar nicht wusste, wie so etwas überhaupt funktionierte. Aber außer dieser Tatsache lockte Murphy die Aussicht, Charlie wiederzubekommen. Alles würde wieder gut werden, seine Welt würde sich weiterdrehen, wenn er erst einmal seinen Sohn wieder in den Armen halten könnte. Und dann würde er nie wieder zulassen, dass so etwas noch einmal geschah. Er fokussierte Fletcher. „Was muss ich tun?“ Als er wenig später am Steg hinter dem Haus stand, war das Gewitter vorbei. Wasser tropfte noch immer von den verdorrten Bäumen, das Holz des Stegs war nass und glitschig, weswegen er nur vorsichtig auftreten konnte. Der Wind fuhr ihm durch das Haar, während er auf den See hinausstarrte, der von Nebel umhüllt war. Das Wasser wirkte grau, trüb, alles andere als einladend und eigentlich gar nicht so, wie man sich das kühle Nass vorstellte. Auf Bildern wurde es immer blau oder grünlich dargestellt, niemals grau. Aber was jedes Gewässer gemeinsam hatte, war die Tatsache, dass, je tiefer man hinabstieg, es umso schwärzer wurde. Auch dieses hier. Aber laut der Markierung und laut Fletchers Aussage war er hier genau richtig. Auf dem Steg selbst wurde ihm das auch noch einmal bestätigt: Ein Pfeil war mit Kreide aufgemalt worden und er deutete direkt ins Wasser hinein. Nicht einmal der heftige Regen hatte ihn wegwaschen können und als Murphy versuchte, die Markierung zu verwischen, gelang ihm das nicht. Es war möglich, dass sie von Fletcher selbst erstellt worden war, wobei das nicht erklärte, wie er es schaffte, dass die Kreide sich nicht wegwischen ließ. Außerdem gab es für ihn keinen Grund, Murphy umbringen zu wollen – und dieser konnte noch dazu schwimmen. Selbst wenn er also umsonst ins Wasser springen würde, war er nicht automatisch verloren. Außerdem hatte er in dieser Stadt schon wesentlich schlimmere Dinge durchgestanden, als eine gemütliche Schwimmpartie. Noch einmal ließ er den Blick schweifen, direkt über den See und erinnerte sich dabei an den Tag, an dem Charlie starb, an dem er alles verloren hatte, was ihm in dieser Welt etwas bedeutete. Doch wenn er das hier tat, würde er Charlie wiedersehen, so oder so. Also atmete er noch einmal tief ein, dann machte er einen großen Schritt vorwärts und verließ den Steg. Im nächsten Augenblick schloss sich der Wasserspiegel bereits über ihm und die Schwerkraft zog ihn in die Tiefe, hinein in die Schwärze. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)