Letzte Chance von KradNibeid (Gehen Sie direkt ins Gefängnis. Gehen Sie nicht über Los - das Spiel ist vorbei.) ================================================================================ Prolog: Letzte Chance --------------------- Als sie das Haus betrat, kam sie nicht umhin, den schäbigen Zustand der Unterkunft zu bemerken. Die Tapete war vergilbt und blätterte an vielen Stellen von den Wänden ab, einige Fensterscheiben waren gesprungen und mit Klebeband provisorisch zusammengeflickt, und mehrere der Zimmertüren hingen nur noch als zersplitterte, traurige Reste in ihren Angeln. Es war erbärmlich. Wir können ihnen nichts Besseres geben, hatte man ihr gesagt, das wäre nur vergeudetes Material. Nach ein paar Tagen sieht bei denen doch alles so aus. Doch dass es so schlimm werden würde… Das hatte sie nicht erwartet. Neben ihr trat Ian unruhig auf der Stelle, sagte jedoch nichts. Es war ihm sichtbar unangenehm, dass sie hier war, und sie konnte es ihm nicht verübeln – denn ihre Ankunft hier war der Anfang vom Ende für die ehemaligen Demolitionboys. Sie war ihre letzte Chance. „Geh doch in dein Zimmer und zieh dir frische Kleidung an, Ian“, meinte sie mit ruhiger, freundlicher Stimme, während sie sich bemühte, Augenkontakt zu ihm aufzubauen, „Immerhin sind diese Sachen seit drei Monaten nicht gewaschen worden. Und hol doch bitte deine Teamkameraden ins Wohnzimmer, wenn du fertig bist, ja? Ich möchte euch alle gerne kennen lernen und mit euch besprechen, wie wir von hier aus weiter machen wollen.“ Schweigend wich Ian ihren Blicken aus und starrte stur auf den Boden, während sie mit ihm sprach, nickte dann jedoch, nahm die Tasche mit seinen wenigen Habseligkeiten und verschwand in den Flur, an den die Schlafzimmer grenzten. Als er durch eine der zerstörten Türen verschwunden war, auf die jemand etwas in unleserlichen, kyrillischen Buchstaben geschmiert hatte, sackten ihre Schultern zusammen und sie seufzte schwer. „Judy Tate“, murmelte sie zu sich selbst, „wo bist du da nur hinein geraten?“ Kapitel 1: Ein gemeinsames Ziel ------------------------------- Etwas gezwungen lächelte Judy die vier jungen Männer an, die vor ihr in routinierter Hab-Acht-Stellung aufgereiht standen und den Blick an einen unbestimmten Punkt an der Wand hinter ihr geheftet hatten. Die Uniformen, die ihnen von der Biovolt gegeben worden waren, hatten sie inzwischen abgelegt; stattdessen trugen sie Jeans, T-Shirts und Hoodies. Sämtliche Stücke waren in gedeckten Tönen gehalten, und die Kleidung war ordentlich, aber abgetragen – an einigen Stellen waren die Teile schon geflickt worden, und Bryans Hose sah aus, als hätte sie jemand durch einen Reißwolf gedreht. Mehrmals. Sie würde es den Jungen nicht sagen – denn trotz allem konnte sie den Stolz spüren, den die vier besaßen –, doch sie boten ein bemitleidenswertes Bild; wie ein Haufen junger Hunde, den jemand am Straßenrand ausgesetzt hatte. Verlegen räusperte sie sich. Bereits die wenigen Minuten, die sie bisher in diesem Loch verbracht hatte sorgten dafür, dass sie sich unwohl und höchst fehl am Platz fühlte. Diese Jungen brauchten dringend Hilfe – doch sie war sich nicht mehr sicher, ob sie es wirklich leisten konnte, ihnen die Unterstützung zu geben, die sie benötigten. Nachdem eine Weile peinlichen Schweigens vergangen war beschloss sie endlich, das Gespräch zu eröffnen. „Nun, ihr vier, ich freue mich, euch endlich persönlich kennen zu lernen.“ Freundlich nickte sie den vieren zu, die sie jedoch weiterhin nicht direkt ansahen. „Mein Name ist Judy Tate, aber das wisst ihr ja bereits. Ich bin die Präsidentin der PPB, einer Unterabteilung der BBA in den USA, spezialisiert auf-“ „Die Entwicklung, Testung und Vermarktung kybernetischer Bitbeasts in Verbindung mit geeigneten Beybladetypen und die Optimierung geeigneter Trainingssubjekte“, führte Tala ungefragt und ungerührt ihren Satz fort. „Übrigens auch mit einigen sehr umstrittenen Methoden; die PPB hatte allein in den letzten zwei Jahren acht Verfahren wegen Klagen besorgter Eltern und Mitarbeiter zu bestreiten. Kernpunkt waren vor allem die nicht vorhandene Transparenz der Subjekt-Untersuchungen und die Verwendung eines umstrittenen Vitaminpräparates, das die Trainingssubjekte zu den Hauptmahlzeiten einnehmen.“ Mit kalter Miene und einem gefährlichen Schimmern in den Augen wandte sich Tala ihr zu. „Wir sind über Sie informiert und wissen, wer Sie sind und was Sie hier tun. Also verschwenden Sie nicht unsere Zeit.“ Für einen kurzen Moment war Judy sprachlos. Sie hatte nicht erwartet, dass überhaupt einer der vier auf sie reagieren würde, und Talas Worte kamen höchst unerwartet. Doch nicht nur das – er hatte ihr nicht einfach nur das Wort aus dem Mund genommen, um ihre Floskeln abzukürzen; das wurde ihr klar, als sie seinen Blick erwiderte und die Härte in seinen Augen sah. Pass auf, was du tust, denn ich weiß über dich Bescheid – das war es, was Tala ihr wirklich gesagt hatte. Seine Worte waren eine Drohung. Ihr Blick wurde ernst, und durchdringend musterte sie den Kapitän der ehemaligen Demolitionboys. Aus dem ausgesetzten Welpen war soeben ein lauernder Wolf geworden, und mit einem Mal verstand sie, warum es bisher kein Betreuer länger bei diesen vier Jugendlichen ausgehalten hatte. Diese vier waren nicht einfach nur verlorene Jungs – sie waren Piraten, mit allen Wassern gewaschen. Judy schluckte und straffte ihre Schultern. So schnell würde sie nicht klein bei geben. Stattdessen schenkte sie Tala ein adrettes Lächeln. „Es überrascht mich, dass ihr so gut über mich informiert seid“, begann sie in höflichem, aber kühlen Tonfall, „Doch es ehrt mich auch; es zeigt mir, dass auch ihr euch Gedanken darüber gemacht habt, was jetzt kommt. Wie ihr wisst, bin ich eure neue Betreuerin. Das heißt, von nun an werde ich hier mit euch wohnen und euch dabei unterstützen, ein möglichst normales Leben zu-“ „Was soll der Mist überhaupt?!“, fuhr sie da Bryan auf einmal an, was ihm einen scharfen Blick von Tala einhandelte, den er dezent ignorierte. „Dass Sie hier sind hat doch weder was mit uns oder unserem Leben zu tun; Sie wollen sich doch bloß Ihren Lebenslauf aufhübschen, als diejenige, die es endlich geschafft hat, die Demolitionboys zu zähmen“, er betrachtete sie verächtlich von oben bis unten. „Ich scheiß drauf, dass Sie hier sind.“ Mit diesen Worten spuckte er ihr direkt vor die Füße auf den ausgetretenen Boden aus grauen Dielenbrettern und wandte sich zum Gehen. Tala knurrte etwas auf Russisch, folgte Bryan dann aber; Ian und Spencer blieben, wo sie waren, hielten ihre Blicke jedoch weiterhin von ihr abgewandt. Eine tiefe Falte zog sich über Judys Stirn, und mit kalten Augen verfolgte sie den Weg der beiden durch den Aufenthaltsraum. Als sie die Tür erreicht hatten, begann sie, mit leisem aber scharfem Ton zu sprechen. „Wenn ihr beide jetzt diesen Raum verlasst, dann war’s das.“ Tala legte seine Hand auf die Türklinke, blieb jedoch stehen. „Und warum sollte uns das kümmern?“, fragte er, ohne sich umzudrehen. Er drückte die Klinke nach unten, und Judy verschränkte die Arme vor der Brust. „Weil ich die letzte Chance bin, die ihr habt. Wenn ihr jetzt durch diese Tür geht, dann werdet ihr eure Zukunft nicht gemeinsam und frei in einem Haus, sondern in einer Anstalt verbringen.“ Tala rührte sich nicht, und Bryan, der neben ihm stand, wurde merklich ungeduldig. Er versuchte, sich an die Tür zu drängen, doch Tala wehrte ihn gekonnt ab. Die beiden wechselten ein paar scharfe Worte auf Russisch, und schließlich schnaubte Bryan wütend und vergrub die Hände in den Hosentaschen; doch er blieb im Raum. Schweigen erfüllte den Raum, und einige schmerzhaft lange Minuten verstrichen; schließlich war Judys Geduld aufgebraucht. „Ihr beiden“, begann sie mit drohender Stimme, „kommt jetzt entweder wieder hierher, oder ihr verlasst den Raum und schmeißt eure Zukunft weg. Aber ich werde nicht mit euch durch den halben Raum diskutieren und mich für euch zum Affen machen.“ Für einige Momente kehrte die Stille zurück, doch Judy konnte spüren, wie es in Tala arbeitete. Schließlich ließ er die Klinke los, drehte sich auf der Stelle um und stapfte mit mürrischem Blick zurück zu Ian und Spencer. Bryan zog er am Arm mit sich, was dieser gezwungenermaßen über sich ergehen ließ. Als die vier wieder aufgereiht vor ihr standen bedachte sie jeden von ihnen mit einem kalten Blick. „Ich glaube, es wird Zeit, dass ich hier ein paar Dinge klar stelle.“ Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. „Denn für euch mag das hier bisher eine Art bizarres Spiel gewesen sein, aber damit ist jetzt Schluss. Ihr befindet euch nun schon seit einem halben Jahr hier, und in dieser Zeit waren neun Betreuerinnen hier, die ihr allesamt vertrieben habt – vier davon alleine in den letzten drei Monaten, und die letzte ist nicht einmal eine Woche geblieben! Und dass Ian in diesen drei Monaten in Jugendhaft saß, spricht nicht gerade für euch.“ Aufmerksam musterte sie die vier Jungen, doch ihre Mienen blieben verschlossen; unzufrieden fuhr sie fort. „Nur damit ihr das wisst: Die BBA, die so freundlich war, euch in ihre Obhut zu nehmen, hat euch eigentlich schon aufgegeben; es hat mich einige Zeit und Mühe gekostet, die entsprechenden Stellen davon zu überzeugen, euch noch eine letzte Chance zu geben – aber das bedeutet nicht, dass ich mich von euch an der Nase herumführen lasse. Wenn ihr eure Zukunft einfach so wegwerft, dann ist das nicht meine Schuld; dafür seid ihr selbst verantwortlich.“ „Als ob wir sowas überhaupt noch hätten“, konterte Bryan mit einem bitteren Lachen. „Sehen Sie uns doch an, und die Bruchbude, in die sie uns gesteckt haben: Wir sind ein elender Haufen Verlierer, abgefuckt und weggeworfen. Was für eine Zukunft sollen wir denn bitte noch haben?!“ „Wenn ihr so weitermacht wie bisher, dann gar keine“, entgegnete Judy kühl, und in Bryans Augen blitzte es, doch sie ließ sich davon nicht verunsichern. „Aber wenn ihr aufhört, euch wie ein Haufen Asozialer zu benehmen, dann sehe ich sogar so etwas wie Hoffnung für euch.“ „Da sind Sie aber auch die einzige“, kommentierte Bryan, hielt sich sonst aber zurück. So schnell sein Zorn kam, so schnell ging er auch wieder – das musste Judy im Auge behalten und im Zweifelsfalle für sich nutzen. Schließlich meldete sich Tala wieder zu Wort. „Wenn Sie nun also hier sind, um uns zu retten“, meinte er verächtlich, „was schlagen Sie dann vor?“ Ihre Blickte trafen sich, und Judy spürte die Wut, die in Tala kochte, nur zu gut; sie wusste, dass sich das Verhalten der vier nicht von einem Tag auf den anderen ändern ließ, genauso wie sie wusste, dass sie sich nicht einfach aus freien Stücken so benahmen, wie sie es eben taten. Diese vier Jungen hatten Dinge erlebt, die erwachsene Menschen in den Wahnsinn treiben konnten, und sie hatten sie überlebt – doch die Wunden, die die Biovolt in ihre Seelen und Körper geschlagen hatte, waren noch bedrückend frisch und tief; es würde noch lange dauern, bis Narben diese Verletzungen wieder schließen würden, und noch länger, bis diese Narben verblassten – wenn das überhaupt jemals geschehen konnte. Ihnen genau dieses Verhalten zum Vorwurf zu machen war daher nicht unbedingt fair gewesen – doch Judy musste ihnen bewusst machen, dass sie die einzigen waren, die es jetzt noch in der Hand hatten, etwas zu ändern. Alles, was sie tun konnte, war, ihnen eine Hand zu reichen; wenn diese Hand nicht angenommen wurde, dann konnte sie sich bemühen so viel sie wollte und würde nichts erreichen. „Nun, Tala“, setzte sie an, und ihr Ton blieb streng, verlor jedoch an Schärfe, „ich schlage vor, dass wir jetzt erst einmal dafür sorgen, dass unser Zusammenleben hier funktionieren wird. Und dafür brauchen wir klare Regeln, die von allen – auch von mir – eingehalten werden müssen. Denkst du, damit kommt ihr klar?“ „Das kommt auf die Regeln an“, murmelte da Ian, und überrascht wandte sich Judy ihm zu, während Tala ihn rüde anstieß und ihm etwas auf Russisch zuraunte. Ian zischte etwas zurück und starrte dann verärgert auf den Boden; Judy beließ es dabei. Die vier hatten eine ganz eigene, innere Dynamik, die sie noch nicht gut genug kannte, um einzugreifen. „Was für Regeln sollen das denn sein?“, fragte da Bryan, dem die Ungeduld wieder ins Gesicht geschrieben stand, und Judy schenkte ihm ein ruhiges Lächeln. „Das werden wir uns jetzt überlegen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)