Prelude of Shadows von yazumi-chan (Die Team Shadow Chroniken) ================================================================================ Ryan – Akt 2, Szene 3 --------------------- 9 Jahre vor Team Shadows Gründung Weißt du ganz sicher, was du tust?“, fragte Corinna schweren Atems, während sie sich durchs Dickicht schlugen. Sie hatte Mühe, mit Ryan Schritt zu halten, der selbstbewusst voranstapfte und dem hellen Schein von Shuppets Irrlicht folgte. Der Pokéball in seiner Hosentasche fühlte sich schwer an, obwohl sein Pokémon—sein Pokémon—nicht darin war. „Ich erwarte sehnsüchtig den Tag“, sagte er, „da ich einmal nicht alles wiederholen muss, bevor auch der letzte Idiot mich verstanden hat. Wir gehen zum Pyroberg, ich trainiere dort und du fängst ein Pokémon. War das zu anspruchsvoll?“ „Aber warum so spät abends“, stöhnte Corinna und holte endlich zu ihm auf. Sie hielt sich die Seiten. „Wir hätten doch auch—au!“ Sie zupfte eine Dornenranke aus ihrer Haut. „Wir hätten doch auch frühmorgens losgehen können, dann würden wir wenigstens etwas sehen.“ „Und alle Trainer auf der Route sähen uns.“ „Stinkstiefel“, murrte sie. „Nur wegen der Plakate.“ Die verdammten Plakate! Ryan wünschte, sie hätte ihn nicht an dieses Fiasko erinnert. Als sie am Nachmittag losgegangen waren, um Shuppet noch einmal ins Einkaufszentrum zu schicken, hingen die Steckbriefe an jedem Laternenmast und jeder freien Hausmauer. Ryans Phantombild wies glücklicherweise kaum Ähnlichkeit mit seinem Gesicht auf, was auch daran liegen mochte, dass er keine sonderlich einprägsamen Züge hatte, aber Corinna war auf ihrem Bild gut zu erkennen. Nicht umsonst trug sie trotz der Uhrzeit Sonnenbrille und eine tiefgezogene Cappie, die sie in einem von Jos Gästezimmern gefunden hatte. Vielleicht war sie deshalb so missgelaunt. Ryan hätte auch keine große Lust, halbblind durch den Wald zu kraxeln, aber so hatte eben jeder sein Päckchen zu tragen. „Ich möchte mir eigentlich kein neues Pokémon fangen“, sagte Corinna nach einer Weile. „Maggy ist meine beste Freundin. Es fühlt sich an, als würde ich sie ersetzen.“ „Andere Trainer besitzen sechs Pokémon und scheinen kein Problem damit zu haben“, erwiderte Ryan. „Andere Trainer fangen ihre Pokémon auch wahllos“, sagte Corinna. Ryan schielte zu Shuppet hinüber, das frohen Mutes einige Meter voranschwebte. „Na ja, die meisten“, lenkte sie ein, „aber Maggy ist bei mir, seit ich denken kann.“ „Also noch nicht sehr lange“, murmelte Ryan halblaut. Corinna warf ihm einen bösen Blick zu.   Gegen zwei Uhr morgens erreichten sie den Pyrosee, dessen Oberfläche nur leicht vom Wind gekräuselt wurde und sonst ein blanker schwarzer Spiegel war. Dünne Nebelschwaden hingen tief über dem Wasser und verliehen dem Pyroberg dahinter ein gebührend schauriges Aussehen. Der Steinkolloss war Hoenns größter Pokémonfriedhof. Dass er laut Jo auch ein beliebter Trainingsort war, fand Ryan reichlich makaber, aber die dort heimischen Geistpokémon waren die perfekten Gegner für Shuppet, zumindest laut dem fünfhundertseitigen Trainerratgeber, den der Geist aus dem Einkaufszentrum hatte mitgehen lassen und dessen Inhalt Ryan im Laufe des Tages widerwillig verschlungen hatte. Konzepte wie genetische Veranlagung, erlernte Fähigkeiten und Attackeneffektivität waren ihm intuitiv verständlich gewesen, auch wenn er wenig Interesse an der Materie hatte. Trotzdem waren die besten Trainingsstrategien nun sicher schon synaptisch mit seinem Wissen aus den Biologielehrbüchern quervernetzt. Am Ende des Stegs angekommen ließ Ryan sich an der Kante nieder, seine Füße über dem Wasser baumelnd, und starrte auf den See. Laut dem Ratgeber legten die Fischer hier am frühen Morgen ab und nahmen Trainer gegen ein kleines Entgelt mit zum Berg, wenn sie nett fragten. Ob das nett obligatorisch war, würde sich noch herausstellen. Neben ihm ließ sich Corinna im Schneidersitz auf das algengrüne Holz sinken und spielte mit ihren Schnürsenkeln. Ryan schielte zu ihr. Als hätte sein Blick ihr eine Entscheidung abgenommen, wippte Corinna ein letztes Mal heftig vor, ließ sich nach hinten fallen und schaute mit unter dem Kopf verschränkten Armen in den Himmel. „Sie ist tot“, sagte sie, Stimme kontrolliert und emotionslos. Ryan hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. „Meine Mutter“, fügte sie hinzu, als er nicht reagierte. „Sie ist … ich— ich habe sie umgebracht.“ Ryan spuckte das Wasser aus, das er gerade aus seiner Flasche getrunken hatte, hustete und schlug sich mit der Faust auf die Brust, bis er wieder atmen konnte. „Was?“, keuchte er und sah zu Corinna hinüber, die eine Hand in die Höhe gestreckt hielt und nachdenklich ihre Finger gegen den schwarzen Nachthimmel begutachtete. „Sie hat mir damals Maggy geschenkt, weil sie arbeiten musste und mich nicht alleine zu Hause lassen wollte. Sie war ein kleines Fiffyen, ein richtiger Winzling.“ Sie musste lächeln, aber es wirkte fern. „Nachts hat sie getrunken. Am Anfang war es nur ein Glas Wein zum Abschalten, aber mit der Zeit ist es schlimmer geworden. Ich glaube, sie war überfordert und hat meinen Vater vermisst. Manchmal war sie so betrunken, dass sie uns geschlagen hat. Morgens tat es ihr immer leid und sie hat geweint und sich entschuldigt. Dann war sie ein paar Tage nett und hat versucht, nüchtern zu bleiben, bis sie wieder abgerutscht ist. Das ging immer so weiter. Als ich zwölf war, ist sie einfach durchgedreht. Sie hat Maggy halb totgeprügelt, weil sie die letzte Weinflasche umgestoßen hat. Ich habe sie angeschrien und an ihr gezogen, aber sie hat nicht aufgehört.“ Corinnas Stimme brach und sie ballte die Hand über sich zur Faust, bevor sie sie kraftlos auf ihren Bauch sinken ließ. „Ich habe nur daran gedacht, Maggy zu beschützen, also habe ich den nächstbesten Gegenstand gepackt und damit auf sie eingeschlagen. Ich weiß nicht mehr, wo oder wie oft, aber sie hat aufgehört, Maggy zu schlagen. Erst als ich das Blut gesehen habe, ist mir klar geworden, was ich getan hatte. Ich dachte —“ Sie holte tief Luft und sah ihn an. „Ich dachte, man würde mich ins Gefängnis stecken. Ich war zu jung, das weiß ich jetzt, aber ich bin abgehauen. Habe mir Maggy geschnappt und bin verschwunden. Wir haben uns vierzehn Monate auf der Straße durchgeschlagen, bevor Freya mich gefunden und mitgenommen hat.“ Ryan hielt sich ganz still. Er war nicht sicher, warum sie ihm das erzählt hatte. Erwartete sie Mitleid? Nein, sie sah ihn nicht mal an. „Das ist alles sehr dramatisch und ich bin tief berührt“, sagte Ryan, bemüht um seine typische unbeeindruckte Art, „aber du brauchst trotzdem ein neues Pokémon.“ Corinna seufzte. „Ich weiß. Alles, was ich damit sagen will ist, dass ich Maggy wiederbekommen werde, egal was es kostet, verstanden?“ „Solange du meine Pläne nicht mit spontanen Einfällen ruinierst.“ Sie stöhnte und rollte sich auf den Bauch. „Warum habe ich dir das überhaupt erzählt? Was habe ich erwartet?“ „Das würde mich auch interessieren“, gestand Ryan mit einem schiefen Grinsen. Sie schielte zu ihm und streckte ihm die Zunge heraus. Dann hob sie abrupt den Kopf und deutete auf den See. Ryan drehte den Kopf und folgte ihrem Blick. Aus der Dunkelheit näherte sich ein gelbes Licht, das sich bald als Laterne auf einem Boot herausstellte. Erleichtert erhob Ryan sich und klopfte den Staub von seiner Hose. Die Fischer waren da.   Nettigkeit war obligatorisch, wie Ryan bald feststellte. Es war nur Corinna und ihrem, wie sie es nannte, unwiderstehlichem Charme zu verdanken, dass der Fischer sie nicht sofort wieder aus seinem Boot warf. Der Mann hatte mehr Bart als Gesicht und da, wo seine Haut unter dem weißen Bewuchs hervorschaute, war sie so dick wie Leder. Sie erreichten den Pyroberg kurz nach Sonnenaufgang. Während Corinna sich von dem Fischer verabschiedete, ging Ryan vor. Der Eingang in die Höhle schien ihm ein schwarzer Schlund, eigens erschaffen, um ihn zu bestrafen. Der wievielte Tag ohne Computer war es jetzt? Ryan hatte aufgehört zu zählen. Über eine Woche. Ob seine Eltern sich Sorgen machten? Dank seiner Obsession hatte er nie viel das Haus verlassen und seine Mutter es dementsprechend nie für nötig befunden, ihm ein Handy zu kaufen. Würde sie versuchen, ihn zu kontaktieren, oder vertraute sie darauf, dass ihr einziger Sohn alleine in der Welt klarkam? Mit dem Berg vor sich und Shuppet als kalter Präsenz an seiner Seite, fühlte Ryan sich ganz und gar nicht bereit, alleine klarzukommen, aber er würde sich im See ertränken, bevor Corinna etwas davon erfuhr. Er war Ryan Bittner und auch wenn das Schicksal und das Universum sich gegen ihn verschworen hatten, in die Knie zwingen würden sie ihn nicht. „Auf ins Pokémonabenteuer“, murmelte er sarkastisch, holte unauffällig Luft und trat in die Dunkelheit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)