Alice im Wunderland - Die bescheuertste Interpretation ever von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 8: Kapitel 8 - Auf der Kehrseite ---------------------------------------- Mit dem Gefühl, entweder einen echt abgefahrenen Traum oder einen merkwürdigen Trip hinter sich zu haben, wachte Alice im Licht des frühen Morgens unter freiem Himmel auf. Fantastisch. Er hatte tatsächlich die komplette Nacht im Garten verbracht. Ein flüchtiger Blick über die Schulter verriet ihm, dass seine Erinnerung an bunte Farben über einem endlosen Abgrund weder ein Trip noch ein Traum gewesen waren sondern unglaubliche Realität. Die Klippe war noch immer dort. Die Sonne hing mittlerweile irgendwo zwischen den Wolken und erhellte die Umgebung, so wie sie es auch am vorherigen Tag getan hatte. Langsam fiel es ihm wieder ein. Nachdem Marilyn gegangen war hatte er sich die sonderbare Morgendämmerung bis zum Schluss angesehen. Er hatte an der Grenze gesessen, bis er müde geworden war, zu müde, um auch nur irgendetwas anderes zu tun als zu schlafen. Das einzige, was er unmittelbar zuvor noch fertiggebacht hatte, war, sich drei Meter weiterzuschleppen – direkt vor der Klippe zu nächtigen erschien ihm dann doch ein wenig riskant –, und dann war er wenige Sekungen später weg gewesen. Alice setzte sich aufrecht, streckte sich und stand schließlich auf, um sich allmählich wieder ins Schloss zu begeben. Anhand des quirligen Vogelgezwitschers nahm er an, nicht allzu lange geschlafen zu haben. Vielleicht würde er in der Empfangshalle daran denken, einmal auf die Uhr zu schauen, die dort unübersehbar vor der Wand stand. Auf dem Weg entdeckte er Black Beauty und neben ihr General Floyd, der ihn allerdings nicht zu bemerken schien, als er an ihm vorbeiging – offenbar war er zu sehr auf die Sau fixiert und darauf, sie zum Fliegen zu ermutigen. Vor dem Schlosstor wurde er ungewohnt freundlich von Wache Nummer Eins begrüßt, die ihre Schicht nun anscheinend wieder mit Wache Nummer Zwei getauscht hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Rüstung des Wächters im Sonnenlicht einen matt-violetten Schimmer aufwies. Auf Farben wurde hier sehr viel Wert gelegt, wie es aussah. Erstaunlicherweise war der Kerl sogar so nett, das inzwischen durch und durch schwarze Tor für ihn zu öffnen. Alice fragte sich, was Marilyn seinen Leuten nach der vergangenen Nacht wohl erzählt hatte, war sich jedoch bei genauerem Überlegen nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte. „... Majestät?“, sagte er leise, nachdem er den Saal betreten hatte, und blickte sich suchend um. Es schien niemand da zu sein. Was, wenn man darüber nachdachte, auch nicht abwegig war, schließlich waren der General und eine der Wachen draußen. Die zweite Wache war vermutlich in irgendeinem anderen Raum mit diversen Hausarbeiten beschäftigt. Und Fish war nicht mehr hier. Irgendwie war es schade um ihn. Verglichen mit den meisten anderen Bewohnern dieses Landes war er ihm wirklich sympathisch gewesen. „Hm“, machte er, lief auf die große Treppe zu und ging nach oben. „Wahrscheinlich ist er in seinem Zimmer. Oder sie... wie man's nimmt.“ Kurz musste er überlegen, welche der Türen diejenige war, die in Marilyns Gemach führte, glaubte dann aber, die richtige erkannt zu haben, als er näher herangegangen war. Sie war nur angelehnt und ein schwaches Licht drang heraus, als er sie ein Stück aufschob. Zögerlich trat er in das halbdunkle Zimmer und ließ seinen Blick hindurchschweifen. Er kam sich komisch dabei vor, wie selbstverständlich durch das königliche Anwesen zu spazieren. Noch komischer kam er sich allerdings vor, als er die Königin selbst sichtete, die gerade, wie es schien, ganz alleine voller Leidenschaft in einen... Tanz vertieft war. Ein Walzer oder etwas in der Art – er hatte nicht viel Ahnung von Paartänzen. Trotzdem hatte er genug Ahnung, um zu wissen, dass man dafür für gewöhnlich einen Partner brauchte. „Ähem... Eure Hoheit?“ „Alice...!“, rief Marilyn scheinbar gut gelaunt, ohne sein Tun zu unterbrechen. „Guten Morgen! Hattest du eine erholsame Nacht?“ Ein wenig irritiert starrte Alice die Königin an, als sie mit rhythmischen Bewegungen nahezu in seine Richtung geschwebt kam. „Nun ja... Das solltet Ihr wissen, Ihr wart fast die ganze Nacht über bei mir“, entgegnete er, vorsichtshalber einen Schritt zurückweichend – nicht dass sie noch auf die Idee kam, ihn als potentiellen Tanzpartner in Erwägung zu ziehen. Mal ganz davon abgesehen, dass sie das möglicherweise auf noch viel beängstigendere Einfälle bringen würde, hatte er auch nicht wirklich Lust darauf, sich zu blamieren. „Oh ja, du hast absolut Recht“, flötete Marilyn und machte eine Geste, als würde er seinen imaginären Partner eine Drehung vollführen lassen. „Wie könnte ich unsere gemeinsame Nacht vergessen...“ „Ihr verdreht mir die Worte im Mund.“ Alice wagte sich etwas weiter in den Raum, als die Dancing Queen sich wieder ein wenig von ihm entfernt hatte. „Zu welchem Lied tanzt Ihr eigentlich? Ich höre gar keine Musik.“ „Du kannst die Musik ja auch nicht hören. Du musst sie fühlen...!“ Marilyn schloss verträumt die Augen. „Verstehe“, sagte Alice und stellte sich vor, wie von irgendwoher 'The beautiful people' ertönte und das Gemach erfüllte, während Queen Manson in seiner Rolle als sterbender Schwan aufging. Er kam nicht umhin zu denken, dass diese überaus groteske Kombination durchaus etwas hatte. Er wusste nur nicht, was. Interessiert betrachtete er die Klamotten, die ordentlich nebeneinander auf dem Bett lagen und, sobald er sie erblickt hatte, seine Aufmerksamkeit auf sich zogen – ein recht schlichtes dunkelrotes Top, dazu eine schwarze Samtjacke und dunkle geringelte Overknee-Strümpfe, die ihn irgendwie an ein ausgeflipptes Schulmädchen denken ließen. Am faszinierendsten fand er allerdings den Schottenrock, der groß und breit und sehr präsent am Rand lag. „Soso... Das wollt Ihr also heute anziehen, was?“, grinste er, während er sich die Sachen von Nahem besah. Marilyn grinste zurück wie ein geschminkter Fuchs. „Ich? Unsinn. Ich habe mich bereits umgezogen“, sagte er und deutete auf sein Kleid, welches genauso aussah wie das vom Vortag. „Nein, die Sachen sind selbstverständlich für dich! Wir wollen doch schließlich nicht, dass du die ganze Zeit den schmutzigen Fummel von gestern tragen musst, mit dem du im Gras rumgelegen hast, stimmt's?“ Nur mäßig überrascht blickte Alice die Königin an, die ihren schizophrenen Tanz der Liebe offenbar inzwischen beendet hatte. „Wie... entgegenkommend von Euch“, erwiderte er spitz und nahm den schwarz-rot-karierten Rock leicht misstrauisch in die Hand. Hoffentlich erwartete Marilyn nicht von ihm, dass er ihn trug wie ein echter Schotte. „Ja, nicht wahr?“, gab sein Gegenüber scheinbar erfreut zurück. „Soll ich dich kurz allein lassen, bis du dich fertig umgezogen hast? Ich könnte solange rausgehen.“ „Was, jetzt gleich...?“ „Na, wie lange willst du denn damit warten? In meinem Schloss gehört es sich nun mal, sich anständig zu kleiden, weißt du?“ Alice lachte ironisch. „Ach so. 'Anständig' nennt man das jetzt also.“ Von den unanständigen Hintergedanken, die Marilyn bei einem solchen Outfit sicherlich in den Sinn kamen, einmal ganz zu schweigen. „Ja... von mir aus. Ich habe ja wohl keine Wahl.“ „Sehr einsichtig von dir. ... Oh, weißt du was? Du kannst dir ruhig ein klein wenig Zeit lassen. Ich warte unten im Speisesaal auf dich. Von der Treppe in der Empfangshalle aus ganz links, da ist ein Durchgang. Ich bin sicher, du wirst es schnell finden!“, erklärte die Königin mit beinahe kindlicher Euphorie, bevor sie schneller als er hätte antworten können aus ihrem Zimmer verschwunden war und leise die Tür hinter sich geschlossen hatte, sodass er nun tatsächlich als Einziger dort zurückblieb. Nur er und niemand sonst im Gemach ihrer Majestät. „Aha“, murmelte er, blieb einen Augenblick an Ort und Stelle stehen und blickte sich dann gründlich um – nur um sicherzugehen, dass er auch definitiv von nichts und niemandem beobachtet wurde. Man konnte ja nie wissen. „Dass die große Herzkönigin mich wirklich völlig unbeaufsichtigt in ihren königlichen vier Wänden herumlaufen lässt... Welch Ehre.“ Er wandte sich wieder dem Bett mit den für ihn vorgesehen Kleidern zu, jedes Teil einzeln prüfend begutachtend, ehe er sich aus dem unzumutbaren Gewand schälte, das er momentan trug und das seiner Meinung nach danach aussah, als würde es aus irgendeinem längst vergangenen Jahrhundert stammen, es über dem Stuhl in der hinteren Ecke des Zimmers ablegte und sich schließlich der Reihe nach die herausragenden neuen Klamotten überstreifte, die höchstwahrscheinlich wenigstens ein akzeptableres Outfit ergaben als das Vorherige. In unbeschreiblicher Erwartung trat er auf Marilyns großen Spiegel zu und betrachtete sich darin eingehend. „Hm. Gar nicht schlecht“, sagte er feststellend und beschloss, seine Meinung über Königin Mansons Modegeschmack zu revidieren. Offenbar hatte ihre Hoheit doch ein Händchen für so etwas, wenn sie denn wollte. „Kein Wunder, dass du in kürzester Zeit das Vertrauen der Königin gewonnen hast... Du hast es einfach drauf!“, säuselte er seinem Spiegelbild zu, spielte außerordentlich reizvoll mit seinen Haaren und beugte sich noch ein Stückchen nach vorn, als aus heiterem Himmel eine verärgerte Stimme hinter ihm erklang, die ihn aufschrecken und geradewegs in seine Spiegelung stolpern ließ. „Was zum... Was ist denn jetzt los?!“ Von der Stimme, die wie die der Königin geklungen hatte, war nichts mehr zu hören – vielleicht hatte er halluziniert? – und auch ansonsten war es still. Was ihn jedoch in höchstem Maße verwirrte war das Bild, das er nun vor sich hatte, während er in noch immer leicht nach vorn gebeugter Haltung mitten im Nirvana hängengeblieben zu sein schien: Ein Raum. Nicht irgendein Raum sondern einer, der eigentlich genau wie eine spiegelverkehrte Version des Gemachs aussah, in dem er sich bis eben noch befunden hatte – bis auf die Tatsache, dass er vollkommen leer war. Leer und farblos. Verstört wandte er seinen Blick nach hinten und machte einen Schritt rückwärts. Jetzt war er wieder in dem schwarz-rot-gestrichenen Zimmer, in dem er zuvor bereits gewesen war. Erstaunt musterte er den Spiegel von oben bis unten, streckte versuchsweise eine Hand nach ihm aus und fasste, wie er es vermutet hatte, einfach hindurch, als wäre es kein Glas, das er berühte, sondern bloß eine dünne Schicht Wasser, die keinerlei Widerstand bot. Dann zog er seine Hand heraus und es wirkte wieder wie eine gewöhnliche Glasscheibe, an der es nichts Außergewöhnliches zu finden gab. „... Sehr interessant. Hmm.“ Alice sah zu der Tür herüber, stellte sich vor sie und lauschte einen Moment lang. Mehrere Stimmen waren zu hören, gedämpft, aber doch recht deutlich. Vermutlich war es das, was er eben so plötzlich vernommen hatte. Marilyn hatte sich im Speisesaal über eine seiner, wie er sie so gern nannte, unfähigen Wachen aufgeregt, und da die Wände wohl nicht sonderlich dick waren hatte er es bis hierher mitbekommen können. Gut. Wenn da unten alle beschäftigt sind..., dachte er, mit einer gewissen Faszination dorthin zurückkehrend, wo er zuvor gestanden hatte, ... dann hat auch sicher niemand was dagegen, wenn ich mir diesen Spiegel etwas genauer ansehe. Zögerlich näherte er sich dem Glas, das sich scheinbar vorübergehend verflüssigte, sobald er mit ihm in Berührung kam, und schloss die Augen, während er hindurchtrat, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Als er sie wieder öffnete war die Kulisse um ihn herum grau. Grau und seltsam beklemmend. Alice ging einige Schritte geradeaus, bevor er sich noch einmal umdrehte. Der Spiegel war noch immer dort, einladend wie ein Fenster, durch das man beliebig ein - und ausgehen konnte. Er war tatsächlich auf der anderen Seite gelandet. Gemächlich schlenderte er durch den Raum, Ausschau haltend nach irgendeinem Anhaltspunkt, zu welchem Zweck eine solche Kopie des königlichen Gemaches möglicherweise existieren könnte. Wenn es überhaupt so etwas wie einen Zweck gab. Der Raum weckte den Anschein eines heruntergekommenen Gebäudes, von seinen ehemaligen Besitzern verlassen und nun, als besäße es ein Eigenleben, darauf wartend, dass irgendeine ahnungslose Seele sich hineinwagte, nur um darin verlorenzugehen, auf ewig verschlungen von der kahlen Finsternis. „Alice... Du schaust zu viele Horrorfilme“, sagte er zu sich selbst, leise lachend über die absurden Gedanken, die ihm anhand eines leeren Raumes gleich in den Sinn kamen. In der Tat war die Atmosphäre, die seine derzeitige Umgebung mit sich brachte, auf eine Art ziemlich unheimlich. Kalt. Nicht auf die Art, auf die es der Kerker gewesen war. Aber dass es hier weit und breit nicht ein einziges Möbelstück gab hinterließ durchaus einen sehr zweifelhaften Eindruck. Die Frage, ob wohl jemand hier wohnte, ging ihm kurzzeitig durch den Kopf, jedoch kam er relativ schnell zu dem Schluss, dass niemand – und sei er noch so verrückt – freiwillig in einem eintönigen Bereich wie diesem würde leben wollen. Interessiert, ob das, was hinter der Zimmertüre lag, sich als ebenso düster und nichtssagend erweisen würde, öffnete er diese und betrat, seine Erwartung voll und ganz bestätigend, den Flur des Schlosses – bloß, dass auch hier alles entgegengesetzt des Originales gebaut war. Und, wenig überraschenderweise, entpuppte der Raum sich als ebenfalls völlig leer und farblos. Als wäre sämtliches Leben irgendwann einmal von diesem Ort genommen worden. Wenn man es so betrachtete wirkte die Kulisse sogar noch um einiges beklemmender. Die Empfangshalle, dachte Alice, als er einen Blick über das Geländer warf, der ihm, wie gewohnt, eine freie Sicht auf die untere Etage ermöglichte. Die Stufen knarzten mit jedem Schritt, den er machte, während er die irgendwie sehr alt und instabil wirkende Treppe hinunterging. Nichts in diesem Anwesen wirkte auch nur entfernt majestätisch. Im Gegenteil – je länger er sich in den verlassenen Räumlichkeiten umsah, desto gruseliger erschienen sie ihm. Wie etwas, das er vor gar nicht allzu langer Zeit in ähnlicher Weise in einem Albtraum gesehen hatte. An der Stelle, an der für gewöhnlich die große Uhr hätte stehen sollen, war ein länglicher Fleck an der Wand zu sehen, so als wäre ebendiese Uhr vor Langem tatsächlich einmal da gewesen und hätte ihren schattenhaften Abdruck dort hinterlassen, damit man sich an sie erinnerte. Den Durchgang, von dem Marilyn zuletzt gesprochen hatte, konnte er nicht weit von dort neben einer verschlossenen Tür ausmachen. Es war ein breiter Torbogen, der offenbar auch hier, auf der anderen Seite, in den Speisesaal führte. Zumindest sah es ganz danach aus, denn inmitten der grauen Leere stand ein trotz der tristen Farblosigkeit nicht unbeeindruckender Tisch, umringt von mehreren dazu passenden Stühlen. Was allerdings am meisten ins Auge stach war das helle Leuchten am hinteren Ende des Tisches, das von einer weißen Kerze rührte und zumindest einen Teil der stetigen Dunkelheit auffällig durchbrach. Er bemerkte, wie unnatürlich und falsch das brennende Licht innerhalb der restlichen Umgebung wirkte, als er näher heranging und ihm beinahe die Luft wegblieb, weil die Kerze nicht das Einzige war, das dort fehl am Platze zu sein schien. „Oh nein. Das kann nicht sein...“ „Schön, dich zu sehen, Alice!“ In einer abwartenden Haltung über den Tisch gelehnt saß er auf dem letzten Stuhl, im Schein der Kerze noch gespenstischer erscheinend als üblich, die Hände ineinander verschränkt und mit einem obskuren Lächeln zu ihm aufschauend. Alice hätte schwören können, dass er, als er den Saal betreten hatte, noch nicht da gewesen war. „Wie sind Sie hierhergekommen? Was tun Sie hier?“ „Aber Alice... Hast du etwa schon vergessen, was ich dir bei unserer letzten Begegnung erklärt habe, mein Junge? Es gibt keinen Ort, den ich nicht erreichen könnte“, sagte das phantomartige Wesen mit viel zu freundlicher Stimme. „Der Showmaster kennt keine Grenzen. Und du hättest die gleichen grenzenlosen Möglichkeiten haben können, hättest du dich mir nur angeschlossen. Noch kannst du dich umentscheiden. Wie sieht es aus?“ „Ich... Nein, danke. Ich glaube nicht, dass ich das möchte“, lehnte er das Angebot ab, deutlich unentschlossener als er es vorgehabt hatte. Er wusste nicht, was es war, aber irgendetwas in der Ausstrahlung des Anderen ließ ihn jedes Mal verunsichern, wenn er ihm gegenüberstand. Dabei hätte er nicht einmal sagen können, wie oft sie sich mittlerweile überhaupt begegnet waren. Jetzt, wo er mit ihm sprach, kam es ihm so vor, als wäre er die ganze Zeit über in seiner Nähe gewesen, ohne dass es ihm bewusst gewesen war. „... Sie haben meine Frage übrigens nicht direkt beantwortet. Warum sind Sie hier? Haben Sie mir aufgelauert?“ „'Aufgelauert'...“, wiederholte das Phantom, scheinbar beleidigt das Gesicht verziehend. „So ein böses Wort. Nein, Alice, so würde ich das nicht sehen. Ich habe nicht vor, dich zu fressen, falls es das ist, was du denkst.“ Ohne dabei den geringsten Laut zu verursachen erhob es sich von seinem Stuhl und breitete in einer ausschweifenden Geste die Arme aus. „Warum ich hier bin, das ist leicht zu beantworten: Ich wohne hier. Dass du in mich hineingelaufen bist ist vielleicht kein Zufall, aber ganz sicher nicht mein Verschulden. Viel eher würde ich mich an deiner Stelle fragen, ob es nicht irgendwo in deinem Unterbewusstsein dein eigener Wille war, zu mir zu kommen.“ Kurz sah die Erscheinung ihm in die Augen. Es fühlte sich an, als würde sie in seine Seele blicken und mühelos all seine Gedanken lesen. „Wie... Wie meinen Sie das, es war mein eigener Wille? Was soll das heißen?“, brachte er zögerlich hervor, bemüht, sein Gegenüber nicht anzuschauen. Es war nicht angenehm, das Gefühl zu haben, ein offenes Buch zu sein. Der Showmaster jedoch ließ sich offenbar nicht aus dem Konzept bringen. „Es bedeutet, dass du selbst es bist, der immer wieder meinen Weg kreuzt. Ob beabsichtigt oder nicht, du suchst nach mir, nicht wahr? Ja, das tust du. Und hier hast du mich gefunden“, entgegnete er seltsam ruhig, während er einen Schritt auf ihn zumachte und ihn fixierte, als würde er ihn ganz genau analysieren. „Du glaubst also nicht, dass du dich mir anschließen möchtest, hm? Weißt du... Was wir glauben und was wir wirklich wollen... das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Menschen reden sich ein, etwas nicht zu wollen, weil es ihnen nicht richtig erscheint und sie Angst haben, sich ihr wahres Begehren einzugestehen. Aber meinst du nicht auch, dass... der Wunsch nach Macht etwas ganz Natürliches ist? Dass es nichts Verwerfliches ist, alles besitzen, beherrschen zu wollen? Das ist nur menschlich.“ Er wandte sich ihm so zu, dass er dazu gezwungen war, ihn anzusehen, und lächelte offenherzig. „Ich bin auf deiner Seite, Alice. Ich bin dein Freund. Glaube mir. Dein einziger Freund, denn nur ich kann dir das geben, was du wirklich verdienst. Noch mehr als das.“ „Sie... Sie lügen. Niemand kann das“, erwiderte Alice starr zu Boden schauend, noch immer in dem Versuch, dem intensiven Blick des Anderen auszuweichen, und angestrengt darauf konzentriert, sich nicht von dessen fabelhaften Versprechungen beeindrucken zu lassen. „Ich weiß nicht, wie Sie das machen, aber Sie hätten es tatsächlich schon wieder fast geschafft, mich von Ihren unmöglichen Ansichten zu überzeugen. Keine Ahnung, wer Sie in Wahrheit sind oder was Sie bezwecken wollen... Aber eines ist mir jetzt klar: Sie wollen mich in die Irre führen. Und dazu ist Ihnen jedes Mittel recht. Wissen Sie was? Mir ist das egal! Sie können mir erzählen, was Sie wollen – Sie werden mich niemals auf Ihre Seite ziehen. Wo das enden würde will ich mir lieber gar nicht erst vorstellen...“ Einen Augenblick lang war es still; eine bedrohliche Stille wie die Ruhe vor dem Sturm, dachte Alice, bevor sich der Showmaster mit einer ruckartigen Bewegung von ihm abwandte und zur Seite trat. Er schien ihn verärgert zu haben. Zum ersten Mal schien er ihn wirklich verärgert zu haben. Keiner von ihnen sagte etwas. Es verging eine Weile, bis sein Gegenüber wieder das Wort ergriff, trotz allem noch immer mit diesem undurchschaubaren Lächeln im Gesicht. „Gut. Ich sehe, du meinst es ernst.“ Er machte eine kleine Pause und seufzte mitleidig, ehe er fortfuhr. „Eine törichte Entscheidung, Junge, eine wirklich... törichte Entscheidung. Jetzt ist es leider zu spät.“ „Zu spät für was?“, gab Alice schnippisch zurück und beschloss kurzerhand, kehrtzumachen, als er auch nach einer halben Minute keine Antwort mehr bekam. Hier zu verweilen würde ohnehin zu keinem Ergebnis führen, erst recht nicht, wenn sein Gesprächspartner unentwegt in Rätseln sprach. Ein letztes Mal drehte er sich vor dem Torbogen zu der geisterhaften Erscheinung um, deren durchdringender Blick an ihm haftete wie eine besonders schwer loszuwerdende Klette, und sagte „Ich werde es mir nicht anders überlegen, darauf können Sie Gift nehmen“, dann verließ er den Speisesaal schneller als die Person, die unbeweglich darin herumstand, ihn hätte aufhalten können. „... Verrückt“, murmelte er leise lachend. „Das ist echt total verrückt.“ Die Dunkelheit um ihn herum begann Stück für Stück Formen anzunehmen; es war, als würde sie lebendig werden und ihn langsam erdrücken. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass es hier noch etwas gab, irgendwo in den Tiefen dieser Gemäuer, das auf ihn wartete. Das sich hier versteckte, hier, an diesem einsamen Ort, an den sich vermutlich nicht viele Besucher heranwagten, und nur darauf wartete, von ihm gefunden zu werden. Einem merkwürdigen Impuls folgend lief er durch die Gänge des Schlosses, kein bestimmtes Ziel vor Augen und doch aus einem ihm unbekannten Grund wissend, wohin er ging. Er konnte hören, wie es nach ihm rief, das namenlose Etwas, das ihn instinktiv anzulocken schien. Und dann blieb er, von einer schockierenden Erkenntnis gepackt, stehen, als er realisierte, dass es kein bloßer Impuls oder gar Einbildung war, von der er sich in diesem Moment leiten ließ. Stimmen. Da waren tatsächlich Stimmen. Alice versuchte zu erkennen, was sie sagten, musste jedoch feststellen, dass es ihm nicht möglich war, auch nur ein einziges Wort aus dem wilden Durcheinander herauskristallisieren zu können. Die Richtung, aus der es kam, war eindeutig, doch dem Stimmengewirr an sich hätte er beim besten Willen keine Quelle zuordnen können. Mal war es ein undeutliches Flüstern, mal klang es beinahe wie ein Fauchen, und als er sich schleichend und mit Bedacht der betreffenden Richtung näherte und ein fragendes „Hallo...?“ in den Raum warf, hallte die Antwort unverzüglich in Form eines Schreies von den Wänden, markerschütternd schrill und auf eine Art animalisch, fast einer Löwin gleich, die ihr Junges verteidigte. Es war schlicht und ergreifend beängstigend. Alice wollte umdrehen, zurücklaufen und den düsteren Wahnsinn, der es offensichtlich auf ihn abgesehen hatte, hinter sich lassen. Doch bedauerlicherweise schien der Wahnsinn ihn nicht so einfach entkommen lassen zu wollen. „Wohin des Weges?“, fragte ihn jemand, der dicht hinter ihm stand, obwohl es keinerlei Anzeichen dafür gegeben hatte, dass er ihm bis hierher gefolgt war. Für einige Sekunden wie erstarrt stand er abermals dem Phantom gegenüber, das ihn aus grauenvoll unmenschlichen Augen musterte, als wäre er irgendeine Art Beutetier. „Du willst uns doch nicht schon verlassen? Jetzt wo du gerade dabei bist, dich hier einzuleben?“ „Man sollte... immer gehen, wenn es am schönsten ist“, erwiderte Alice mit dem unguten Gefühl, auf verflucht dünnem Eis zu wandeln. Irgendetwas an dem Anderen hatte sich verändert seit er vor Kurzem im Speisesaal mit ihm gesprochen hatte. Seine Präsenz war surrealer geworden und der Ausdruck in seinem Gesicht hatte etwas unsäglich Furchteinflößendes an sich, als er plötzlich anfing, wahnsinnig düster zu lachen. „So ein Unsinn...! Haha, nein. Nein, Alice, das ist nicht das Problem. Dir ist es... hier zu verrückt, nicht wahr? Es ist echt total verrückt, habe ich Recht?“, sagte er mit einer Stimme, die mit rapider Geschwindigkeit verstörender zu werden schien. „Aber eines solltest du wissen, Alice: Alles und jeder hier ist verrückt. Auch du bist es. Ja, ganz besonders du!“ Alice startete einen Versuch, an dem irren Schlossphantom vorbeizugelangen, wurde jedoch sofort von diesem zurückgehalten und sah in dessen schrecklich grelle Augen, die nun definitiv rein gar nichts Humanes mehr ausstrahlten. „Du solltest gut auf dich aufpassen, Junge“, zischte es ihn an, genauso leise wie drohend. „Denn wenn du nicht auf dich aufpasst, dann wirst du so enden wie sie...!“ Alarmiert und gleichermaßen entsetzt starrte er den Showmaster an, befreite sich schleunigst aus dessen festem Griff und rannte die Strecke, die er bis zu diesem eigenartigen Ort hinter sich gebracht hatte, in einem Bruchteil der Zeit, die er für den Hinweg gebraucht hatte, zurück. Zurück nach oben, eine knarzende Treppe gefolgt von einer weiteren hinauf – er hatte nicht einmal gemerkt, wie weit er sich nach unten begeben hatte –, die Tür des königlichen Gemaches aufstoßend und sie übereilt hinter sich zunknallend, nachdem er den Raum betreten hatte, in dem er sich schwachsinnigerweise glaubte, ein wenig sicherer zu fühlen. Einen Moment lang hatte er tatsächlich überlegt, die Tür abzuschließen – nur was würde das letztendlich bringen? Wenn er wirklich ein Geist war, stellte eine verriegelte Tür für ihn nicht das geringste Hindernis dar. „Gütiger abgefahrener Bockmist“, seufzte er und blieb einen Augenblick dort stehen, um sich auszuruhen. „Womit habe ich das verdient? Ich bin in der Hölle gelandet...!“ Wenigstens der Spiegel schien unverändert; er prangte glänzend an der Wand, genauso wie er es zuvor getan hatte, ihn stumm dazu auffordernd, schnellstmöglich die andere Seite aufzusuchen. Natürlich ließ Alice sich das nicht zwei Mal sagen und fand sich auf wundersame Weise in Marilyns Gemach wieder, das ihm mit seiner schwarz-roten Farbe heimischer denn je vorkam, bevor er noch anfangen konnte, ernsthaft an sich zu zweifeln. 'Sie', dachte er, die Worte des Showmasters noch immer wie ein Echo in seinem Gedächtnis wahrnehmend. Ich werde enden wie sie... Die gleiche 'sie', von der Marilyn gestern Nacht gesprochen hat...? Was auch immer hier vor sich ging – langsam aber sicher war Vorsicht scheinbar mehr als angebracht. Bemüht, vorerst auf andere Gedanken zu kommen, öffnete er die Tür und verließ das Zimmer, um, wie vereinbart, die Königin zu treffen. „Alice! Da bist du ja endlich!“, rief Marilyn, wie es aussah, hoch erfreut von seinem Platz am hintersten Ende des riesigen Tisches aus, als er ihn durch den breiten Torbogen hereinkommen sah. „Dank meiner unfähigen Wachen, die mit dem Arbeitstempo einer gehbehinderten Schnecke gesegnet sind, ist sogar das Rührei noch warm!“ „Das... Rührei?“ Skeptischen Blickes ging er langsam auf seinen Gastgeber zu, der gut gelaunt auf den freien Stuhl zu seiner Linken klopfte. Alice nahm sogleich darauf Platz, froh, sich wieder in seiner gewohnten Umgebung aufzuhalten – was gewissermaßen etwas Ironisches hatte, wenn man bedachte, dass er sich hier trotz allem noch im Wunderland befand –, kam aber nicht umhin, den gesamten Raum, den er ja nun schon ohne das Wissen der Anderen in veränderter Art gesehen hatte, genau zu begutachten, bevor er seine Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Köstlichkeiten richtete, die sich kunstvoll vor ihm auf dem gedeckten Tisch erstreckten. „Ihr habt Frühstück gemacht?“ „Aber natürlich habe ich das!“, antwortete Marilyn grinsend. „Nun... eigentlich waren es meine Diener, die aber ohne meine Anweisungen vor einer unlösbaren Aufgabe gestanden hätten. Oh, du siehst übrigens... wirklich reizend aus! Ganz wie ich es erwartet hatte.“ „Vielen Dank. Das sehe ich auch so“, sagte Alice, während er sich nicht entscheiden konnte, ob das festliche Essen oder die Sorgfalt, mit der es hergerichtet war, mehr Faszination auf ihn ausübte. „Greif zu! Es ist genug da!“, versicherte ihm Marilyn, wobei er auf all die unterschiedlichen Delikatessen deutete, die ausgebreitet dort lagen. Alice sah ihn fragend an. „Was ist mit Euren Wachen? Nehmen sie nicht am Frühstück teil?“ „Wache Nummer Zwei und General Floyd haben es zubereitet, aber sie sind, kurz bevor du erschienen bist, in den Kerker gegangen, um nach unseren beiden ritterlichen Nervensägen zu sehen. Ich nehme an, sie werden sich später etwas von dem nehmen, was übrig geblieben ist. Dass Wache Nummer Eins draußen das Tor bewacht hast du bereits selbst bemerkt, schätze ich?“ Marilyn lud sich ein wenig von dem noch warmen Rührei auf seinen Teller, nachdem er ihm und sich selbst etwas Kaffee eingeschüttet hatte. Offenbar hatte er großen Wert darauf gelegt, bloß nicht ohne ihn anzufangen. Alice war sich nicht sicher, ob er sich deswegen geschmeichelt oder eher geehrt fühlen sollte – schließlich war es noch immer eine echte Königin, mit der er in einem echten Speisesaal frühstückte. Wenngleich es auch eine Königin mit der ein oder anderen speziellen Eigenart und dem Aussehen eines außerirdischen Schockrockers war. „Das habe ich bemerkt, ja“, entgegnete er, während er Marilyns Beispiel folgte und sich ebenfalls endlich dazu entschloss, von dem royalen Schmaus zu probieren. „Ich hoffe, ich habe Euch nicht allzu lange warten lassen...?“ „Ach nein. Das ist schon in Ordnung“, winkte die Königin ab, nippte hoheitsvoll an ihrem Kaffee und sah ihn dann neugierig an. „Obwohl... ich mich schon frage, wofür du so lange gebraucht hast? Soweit ich weiß braucht kein Mensch so viel Zeit, um sich umzuziehen...?“ „Ich... ääh...“ Was jetzt? Er konnte ihm doch nicht erzählen, dass er sich seinen seltsamen Spiegel von innen angeschaut und darin eine noch seltsamere Horrorwelt gefunden hatte, in der er vor ein paar Stimmen und einem wahnsinnigen Vincent Price weggelaufen war, die scheinbar aus unerfindlichen Gründen hinter ihm her waren. Nicht nur dass diese Erklärung sich danach anhörte als müsste er dringend mal wieder in eine Zwangsjacke gesteckt werden, er hatte auch keine Lust darauf, ihre Majestät am Ende noch gegen sich aufzubringen, weil er in ihren Privatsachen geschnüffelt hatte. „Alice? Was ist nun?“, unterbrach Marilyn seine Überlegungen und sah ihn kurz darauf so an, als wäre ihm die Lösung in dieser Sekunde bereits selbst eingefallen. „Ach sooo. Ich verstehe.“ „Was versteht Ihr...?“ „Du weißt schon, was ich meine“, grinste ihre Hoheit mit einem verdächtigen Zwinkern. „Das muss dir doch nicht peinlich sein.“ „... Verzeihung?“ Wollte sie ihn auf den Arm nehmen? „Ich bin dir nicht böse deswegen. Auch wenn ich das ganz schön schamlos von dir finde... Kaum lasse ich dich in meinen Räumlichkeiten alleine, kannst du dich nicht beherrschen, was?“ Sichtlich amüsiert genehmigte sie sich eine Gabel voll Ei und sprach, ganz wie es sich für eine Dame gehörte, erst weiter, nachdem sie es heruntergeschluckt hatte. „Beim nächsten Mal, wenn sich eine Gelegenheit bietet, würde ich gerne mit dir kommen... falls du verstehst, was ich-“ „Majestät! Wir haben ein Problem!“ Eine aufgebrachte Stimme, gefolgt von eiligen Schritten, brachten die Königin dazu, genervt die Augen zu verdrehen, und im nächsten Moment standen Wache Nummer Zwei und General Floyd mit ratlosen Mienen im Torbogen. Wobei die ratlose Miene sich auf Wache Nummer Zwei beschränkte. General Floyd hatte denselben strengen Gesichtsausdruck, den er auch sonst immer hatte. „Was ist es diesmal?“, seufzte Marilyn. „Eine Spinne im Kerker? Oder ein Fussel?“ „Wesentlich dringender, Majestät“, erwiderte der General ernst, während er kerzengerade dastand wie ein Soldat im Dienst. „Genau genommen ist es kein richtiges 'Problem'“, fügte Wache Nummer Zwei hinzu, die mit ihrer rosafarbenen Schürze, auf der in großen Buchstaben der Schriftzug 'Cooking Queen' zu lesen war, nicht im Entferntesten wie eine Wache aussah. „Es ist eher... ein rätselhaftes Mysterium, das zu einem Problem werden könnte, wenn wir nichts dagegen tun.“ „Ihr solltet Euch das selbst ansehen, Majestät“, ergänzte der General monoton, bevor Marilyn sich schließlich widerwillig von seinem Platz erhob, ihm einen entschuldigenden Blick zuwarf und mit den Worten „Ich bin gleich wieder bei dir“ den Saal verließ, vermutlich um gemeinsam mit seinen beiden Bediensteten im Kerker nach dem Rechten zu sehen. Der Kerker, kam es Alice schlagartig in den Sinn. Es war ihm, als er in der düsteren Welt hinter dem Spiegel gewesen war, nicht direkt aufgefallen, weil er viel mehr seiner Intuition gefolgt war als seinem Orientierungssinn – aber der Ort, an dem er diesen Schrei gehört hatte... „Du siehst nachdenklich aus, verehrter Auserwählter“, schnurrte eine ihm wohlbekannte Stimme, bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, und wenig später sah er, wie die schwarzweiße Gestalt, der sie angehörte, sich vor seinen Augen aus ihren Molekülen zusammensetzte, bis sie ihm in voller Pracht und mit dem üblichen verschlagenen Grinsen gegenüberstand. „The Catman...! Dich gibt es also auch noch!“ Kitty ließ kichernd seinen Schweif auf den Tisch peitschen. „Was hast du denn gedacht? Katzen haben neun Leben. So schnell wird man mich nicht los!“ „Ich hätte schwören können, es wären nur sieben.“ „Was ist es, das Euch beschäftigt, großer Auserwählter?“, fragte Kitty, ohne auf seine Aussage einzugehen. Dieser ständige Wechsel zwischen demütig und latent höhnisch wurde auf Dauer ein wenig anstrengend, dachte Alice am Rande und stellte zufrieden fest, dass das Rührei wirklich ausgezeichnet schmeckte. „Ich wüsste nicht, was mich beschäftigen sollte“, log er, während er sich einen weiteren Bissen zu Gemüte führte. „Es ist alles bestens hier. Sieht man doch.“ „Ihr wart auf der Kehrseite, nicht wahr?“, sagte Kitty mit einem Unterton, als benötigte er eigentlich keine Antwort darauf. Alice schaute misstrauisch zu ihm auf. „Ich will überhaupt nicht wissen, woher du das schon wieder weißt, aber... ja. Da war ich. Auf der Kehrseite, oder wie diese verlassene Spukbude sich auch nennt. Und jetzt?“ Die Grinsekatze starrte ihn einen Moment lang eindringlich an, was dank ihres immer gleich bleibenden Grinsens ziemlich geisteskrank aussah, ehe sie ihm antwortete. „Nun... Ich hatte den Eindruck, Ihr wäret ein wenig traumatisiert, seit Ihr Euch in den dunkelsten und verborgensten Winkeln unseres Königreiches umgesehen habt“, trällerte sie, als wäre diese Erkenntnis irgendwie erfreulich. „Zudem halte ich es ohnehin nicht für ratsam, sich ganz alleine dorthin zu begeben. Es kann sehr... gefährlich sein.“ „Dann muss ich mir ja keine Sorgen mehr machen. Ihre Majestät hat gerade eben erst irgendwas in der Richtung angedeutet, dass sie mich beim nächsten Mal begleiten will, falls ich vorhaben sollte, nochmal da reinzugehen.“ „Das glaube ich nicht“, entgegnete Kitty seltsam überzeugt. „Niemals... würde Ihre unglückliche Majestät sich noch unglücklicher machen und bei vollem Bewusstsein dort hingehen.“ „Wie meinst du das...?“ „Wie meine ich was?“ „Na... Das, was du gerade gesagt hast! Dass sie niemals... bei vollem Bewusstsein...“ „Von wem redest du?“ „Du... Du hast doch selbst- Ich fasse es nicht!“, stieß Alice gereizt aus, gab sich jedoch die größte Mühe, sich rasch wieder zu beruhigen – sich aufzuregen half ihm höchstwahrscheinlich nicht sonderlich weiter –, trank einen Schluck Kaffee und nahm ein herrlich duftendes Croissant aus dem Korb, der zwischen seinem und Marilyns Teller stand. „... Entweder du versuchst mit voller Absicht, mich auf die Palme zu bringen, was ich dir definitiv nicht empfehlen würde, oder du solltest dringend einen... Tierarzt aufsuchen und dich auf Alzheimer untersuchen lassen. Mit einem geschädigten Kurzzeitgedächtnis ist nicht zu spaßen.“ „Die Königin... Du warst in ihrem Gemach“, sagte Kitty plötzlich mit geheimnisvoller Stimme. „Du solltest dich nicht über das Gedächtnis Anderer lustig machen, Auserwählter. Schließlich hast du selbst etwas sehr Wichtiges vergessen.“ „Ach ja? Und was habe ich vergessen?“, gab er vielleicht ein klein wenig zu überheblich zurück, als er die zunehmend lauter werdenden Schritte von mehr als drei Personen vernahm, die, wie es sich anhörte, kurz davor waren, in diesen Raum zurückzukehren. Marilyn war wieder da. „Das Foto, Alice. Das Foto...!“, wisperte Kitty, ohne seinen Blick von ihm abzuwenden, ehe er mit einer gehörigen Portion Dramatik mitten im Nichts verschwand, so als wäre er nie hier gewesen. Alice hatte es nicht anders erwartet. „Das Foto“, murmelte er kaum hörbar. Das Foto...? Gedämpft konnte er ein paar Wortfetzen eines Gespräches verstehen. „... schwöre Euch... waren es nicht! ... wissen auch nicht... passieren konnte... nicht wahr?“ „So ist es... haben nur... und als wir... plötzlich frei!“ Das Geräusch einer Tür. „Das Gleiche haben sie uns auch erzählt, Majestät. Aber das ist unmöglich!“ General Floyd. „Trotzdem können sie sich auf keinen Fall selbst befreit haben, Herr General...!“ Wache Nummer Zwei. „Wie sollen sie das denn gemacht haben? Mit gefesselten Händen und ohne Schlüssel?“ Der Kerkerschlüssel, fiel es Alice sofort ein. War er nicht zuletzt im Besitz des Hofnarren gewesen? „Also, nochmal fürs Protokoll...“, hörte er Marilyn erstaunlich gefasst sagen, als er sah, wie die Königin begleitet von ihren beiden Wachmännern und dem Schwarzen und Weißen Ritter nicht weit vom Speisesaal in die Empfangshalle trat und ihre ritterlichen Gefolgsleute ungläubigen Blickes musterte. „Ihr wollt mir erzählen, dass ihr eure Strafe in der Zelle ganz brav abgesessen habt, dann irgendwann beide zur selben Zeit eingeschlafen seid... Und als ihr wach wurdet waren die Fesseln auf einmal nicht mehr an euren Armen? Einfach so?“ „Ganz genau so war es, Hoheit!“, brachte Ozzy voller übertriebener Überschwänglichkeit hervor. „Wir können uns das auch nicht erklären! Nicht wahr, Weißer Ritter?!“ „... Ja, verdammt. Immer noch...!“, brummte Bon Jovi zustimmend. Besonders überzeugend klang er allerdings nicht. Was möglicherweise auch daran liegen konnte, dass sein redseliger Rivale wahrscheinlich die ganze Nacht über nichts besseres zu tun gehabt hatte als ihn von seiner Lieblingskönigin und seiner liebreizenden Kriegs-Sau vollzuschwärmen und er deshalb nun keine Nerven mehr dazu hatte, sich um einen glaubhaften Tonfall zu bemühen. „Das ist... wirklich merkwürdig“, sagte Marilyn mehr zu sich selbst als alles andere, ging offenbar gedankenversunken in den Speisesaal, in den die anderen vier ihm bis zur Hälfte folgten, und bewegte sich, anmutig wie immer, auf seinen Platz zu. „Steht da nicht so rum. Ihr könnt ruhig ganz reinkommen. Hi, Alice...!“ Kurz sah er zu ihm, wie um zu signalisieren, dass er ihn nicht vergessen hatte, und widmete sich dann wieder seinen Bediensteten, die sich ihren Plätzen auf seine Aufforderung hin zögerlich näherten. „Setzt euch“, sagte er schließlich ruhig, während er selbst sich wieder am Tisch niederließ. Der Rest tat wie geheißen, und auf einen Schlag hatte sich der riesige Tisch, an dem er bis eben noch alleine gesessen hatte, in eine zumindest augenscheinlich festliche Runde verwandelt. „Hey! Croissants!“, rief Ozzy mit einem breiten Grinsen, als er den Korb entdeckt hatte. „Na na na!“, machte Marilyn und hielt ihn mahnend zurück, bevor er es wagen konnte, sich eines herauszunehmen. „Nur weil ich es dir erlaube, hier zu sitzen, heißt das nicht, dass du auch zugreifen darfst. Diese Croissants sind nicht für irgendeine Art von Ritter bestimmt, egal, ob schwarz oder weiß. Erst recht nicht nach dem, was ihr euch gestern Nacht geleistet habt. Oh, aber... deines schmeckt hoffentlich, Alice?“ „Vorzüglich“, entgegnete er knapp. Ozzy wirkte nicht amüsiert. „Majestääät...! Das ist nicht fair!“, schmollte er mitleiderregend. Wieder dieses 'Ich-bin-ein-ausgesetztes-Kätzchen'-Gesicht. „Ich musste die ganze Nacht lang hungern und habe kaum geschlafen...! Und, als wäre das nicht schon schlimm genug, hat der da...“, er zeigte auf Bon Jovi, „...sich auch noch verhalten wie ein arroganter Eisklotz! Ich wollte mich nur mit ihm unterhalten – da unten hat man ja nichts anderes zu tun –, und der hat mich einfach pausenlos ignoriert! Anstatt mit mir zu reden führt der feine Ritter Weiß nämlich lieber Selbstgespräche!“ „Tja, mein lieber Ritter Schwarz, das liegt ganz einfach daran, dass ich mich für einen wesentlich interessanteren Gesprächspartner halte als Euch!“, gab der Eisklotz patzig zurück. „Vielleicht solltet Ihr mal darüber nachdenken, Euren Wortschatz ein wenig zu erweitern. Momentan besteht der ja offenbar nur aus 'Schwein', 'Hunger' und 'Pferdebraten'...!“ „Das stimmt überhaupt nicht!“ „Tut es wohl.“ „Seht Ihr, Majestät? Mit dem Kerl kann man nicht vernünftig reden!“, kommentierte Ritterchen Schwarz ärgerlich. „Wisst Ihr, was das Erste war, das ihm eingefallen ist, als er die Arme wieder frei hatte? Seine blöde Rüstung zu polieren!“ „Erstens seid Ihr ja nur neidisch, weil Eure Rüstung nicht im Sonnenlicht glänzt“, konstatierte Ritterchen Weiß selbstsicher, „... und zweitens – was habt Ihr denn von mir erwartet? Eine Thai-Massage?!“ „Das wäre doch mal eine gute Idee! Ich wette, zu so etwas taugt Ihr ganz hervorragend!“ „Wenn ich euer spannendes Wortgefecht unterbrechen und einmal kurz zusammenfassen dürfte“, sagte Marilyn dazwischen, ehe Ritter Perlweiß eine mit Schlagfertigkeit gespickte Antwort an Ritter Pferdebraten zurückschleudern konnte. „Ihr beide wart damit beschäftigt, mit euch selbst zu sprechen, wobei keiner dem jeweils anderen wirklich zugehört hat, und jetzt streitet ihr euch, weil ihr es trotzdem hinbekommen habt, aneinander vorbeizureden... Klingt nach einer klassischen Ehe. Ich bleibe bei meinem Vorschlag mit der Paar-Therapie.“ Ritter Weiß schaute angewidert über den leeren Stuhl neben sich, den er extra freigelassen hatte, hinweg zu seinem Erzfeind. „Entschuldigt, Majestät, aber ich hege starke Zweifel, dass das etwas bringt. Da ist Hopfen und Malz verloren.“ „Immer müsst Ihr Euch querstellen!“, warf Ozzy beleidigt ein. Alice hielt sich ausnahmsweise einmal mit seiner Meinung im Hintergrund und zog es vor, das Ganze wie ein Unterhaltungsprogramm zu genießen, während er einen herzhaften Bissen von seinem Croissant nahm, welchen er anschließend mit etwas Kaffee herunterspülte. So war es also, mit dem Adel zu speisen. „Ja, nun... Es war ja nur ein Vorschlag“, versetzte Marilyn trocken. „Aber das löst auch nicht unser Problem mit den Fesseln. Irgendwer... muss euch, als ihr geschlafen habt, befreit und sich dann aus dem Staub gemacht haben... Vorausgesetzt natürlich, ihr sagt die Wahrheit!“ Ozzy sah so aus, als wolle er etwas dazu sagen, doch Bon Jovi kam ihm bereits mit einem vollstens seriösen „Selbstverständlich tun wir das“ zuvor. Marilyn nickte abwesend. Alice spürte einen bösen Blick auf sich, der von einem der anderen Plätze, auf denen die schweigsameren Herrschaften saßen, ausging. General Floyd. „Eure Hoheit... Was ist mit ihm hier?“, sprach er genau das aus, was Alice schon befürchtet hatte. „Er ist so seltsam still... Gibt es vielleicht etwas, das du vor uns verheimlichst, hochverehrter Gast?“ „Ich bin still, weil ich esse“, erwiderte er mit vollem Mund. „Jetzt werde ich schon verdächtigt, in den Kerker eingebrochen zu sein... Sind wir hier bei Cluedo?“ „Vielleicht war es ja Frau Weiß“, äußerte der Schwarze Ritter und schielte kichernd zu seinem weißen Gegenstück herüber, das ihn jedoch keines Blickes würdigte. „Alice kann es jedenfalls nicht gewesen sein“, stellte Marilyn entschieden fest. „Während ihr beiden damit beschäftigt wart, das Frühstück vorzubereiten, und unsere beiden Ritter da unten wahrscheinlich die Kellerwände zum Verzweifeln gebracht haben, hat er sich nämlich in meinem Gemach vergnügt.“ „'Vergnügt' würde ich das vielleicht nicht unbedingt ne- Himmel, was denkt Ihr denn bloß schon wieder, was ich da oben getan habe...?!“ „Er streitet es jetzt ab, General, weil er es nicht zugeben will. Aber sei versichert, er hat ein Alibi!“ Mit einem Ausdruck der maßlosen Enttäuschung, weil ihm nun niemand mehr blieb, den er beschuldigen konnte, wandte der General sich wieder ab. Wachmann Nummer Zwei hingegen sah so aus, als wäre er gedanklich bei einem Szenario, das ganz und gar nichts zur Aufklärung des mysteriösen Falls beitrug. Alice hielt es für besser, sich dieses Szenario nicht allzu detailliert vorzustellen. Was ihn allerdings ein wenig irritierte war, dass niemand Fish als möglichen Verdächtigen in Erwägung zog – schließlich hatte er auch ihn selbst, entgegen der königlichen Regeln, befreit, als er eingesperrt gewesen war. Andererseits hatten sie alle mit eigenen Augen gesehen, wie er das Grundstück der Königin verlassen hatte. Und zumindest eine der Wachen hätte es bemerken müssen, wäre er zurückgekommen, oder nicht? Ein lautes Knarzen gefolgt von einem abgehetzten Rumpeln verhinderte, dass er seine Überlegungen fortführen konnte – wie jedes Mal, wenn er glaubte, der Antwort auf all die wunderländischen Rätsel entfernt auf der Spur zu sein. Irgendwie war es beinahe zur Routine geworden, dass irgendetwas Absurdes dazwischenkam und jegliche Aufmerksamkeit für sich beanspruchte. So auch dieses Mal. Noch bevor jeder der hier Anwesenden die Gelegenheit dazu hatte, den eigenartigen Geräuschen eine Richtung zuzuordnen, kam die Ursache des Lärms bereits auf allen Vieren und mit leicht tollwütigem Blick in den Saal gestürmt. Piepwuff. Genauso wie er ihn von ihrer letzten Begegnung in Erinnerung behalten hatte – nur vielleicht etwas irrer. „Katze...!! Wo?!“, war alles, was er mit weit aufgerissenen Augen hervorbrachte. Jetzt geht's los, dachte Alice, während er nach einer Scheibe Brot griff, die er mit etwas Butter und einer Scheibe Kochschinken versah. Der Tag hatte gerade erst angefangen und schon jetzt ein beachtliches Maß an Verrücktheit erreicht. Wenn jeder Morgen hier so ablief wollte er gar nicht erst wissen, wie es beim Mittagessen aussah. „Das kann ja wohl nicht wahr sein...!“, fluchte Marilyn, stand von seinem Platz auf und starrte seinen 'Besucher' mit vor der Brust verschränkten Armen an. „Was ist eigentlich mit Wache Nummer Eins los? Ist der Kerl zu weich in der Birne, um einen einfachen Job als Türsteher auszuführen?!“ „KATZE!! Ich rieche eine KATZE!!“, brüllte Piepwuff, seine Augen noch ein Stück weiter aufreißend. „Wache Nummer Eins hat Angst vor Hunden, Majestät“, meldete sich Wache Nummer Zwei erklärend zu Wort. General Floyd blickte verständnislos zwischen ihm und Piepwuff hin und her. „Bei allem Respekt, werter Kollege, aber das da ist kein Hund. Das ist wohl offensichtlich eine Maus.“ „Aaaha! Ich wusste es! Katzenhaare...!“, knurrte besagte Maus, als sie wie besessen den Rand des Tisches beschnüffelte, auf den sie im Anschluss mit vollem Körpereinsatz hinaufstieg und ungeachtet all der Dinge, die darauf standen, unkontrolliert fiepend umherkrabbelte. Gewissermaßen hatte es etwas Komisches, wie Marilyn und Bon Jovi zeitgleich einen entnervten Seufzer ausstießen, während Ozzy versuchte, den wild gewordenen Freak mit diversen Pfeiflauten zu sich zu locken. Weniger komisch fand er es widerum, als der Wilde geradewegs über das Geschirr hinweg auf ihn zutapste und ihm das Brot aus der Hand schnappte. „Hey...! Aus! Gib das zurück!“, versuchte Alice, ihn dazu zu bewegen, ein braver Hund zu sein, aber es nützte nichts – nicht einmal, als er sich vorlehnte, um ihm sein Diebesgut wieder abzunehmen. Der Freak beschützte es wie einen verdammten Schatz. „Böser Junge! Komm sofort da runter!“, dröhnte aus heiterem Himmel eine weitere bekannte Stimme durch die Gänge des Schlosses, die sich kurz darauf als die Stimme des Hutmachers herausstellte, welcher sich mit einer Leine bewaffnet mitten in den Raum stellte und strengen Blickes seinen Mitbewohner begutachtete. Erst jetzt bemerkte Alice, dass dieser tatsächlich ein blaues Halsband trug, auf dem einige dunkle Knochen abgebildet waren. „Würde mir mal jemand erklären, wie zum Teufel es sein kann, dass jeder idiotische Scherzkeks neuerdings ohne Weiteres in mein Schloss spaziert kommt? Hängt da draußen vielleicht ein Schild mit der Aufschrift 'Tag der offenen Tür', von dem ich nichts weiß?“, beschwerte sich Marilyn mehr oder weniger an den Hutmacher gerichtet, der bloß unbedarft die Schultern zuckte. „Das Tor stand offen, Eure Hoheit, und Eure Wache kauerte einen Meter weiter wie erstarrt im Gras. Da dachte ich, es ist schon in Ordnung, wenn ich reinkomme“, erklärte er lächelnd und sah dann wieder in Richtung seines tierischen Genossen. „Ich muss mich für meinen Mitbewohner entschuldigen, Hoheit. Er hat manchmal so seine... Anfälle. Da habe ich eine Sekunde nicht aufgepasst, weil ich eine neue Backkreation getestet habe – Tee-Plätzchen, solltet Ihr auch mal probieren! –, und schon ist er abgehauen und irgendeiner Katze hinterhergejagt, die er anscheinend hier im Schloss vermutet hat. Natürlich bin ich ihm sofort nachgelaufen, sobald meine Plätzchen fertig waren!“ „Wenn Ihr mich fragt, Majestät...“, bekundete General Floyd ein wenig verhalten, „... Ich wäre stark dafür, eine Mauer um das Schloss errichten zu lassen.“ „Willkommen in Deutschland“, sagte Alice, ohne dass es jemand mitbekam. Zu schade. „Nun, Hutmacher“, begann Marilyn, scheinbar bemüht, so gelassen wie möglich zu bleiben. „Ich glaube, ich wüsste es, wenn einer meiner Untergebenen hier im Schloss eine Katze beherbergen würde. Da mir aber nichts dergleichen bekannt ist, muss dein schnuckeliges Pseudo-Hündchen sich wohl geirrt haben. Verstanden?“ „Verstanden, Eure Hoheit. Haselmaus! Hierher, aber sofort!“, befahl der Meister der Backkunst scharf. Piepwuff blieb unbeeindruckt. „Und wenn ich nicht will?“, brummte er, noch immer mit seinem geklauten Brot beschäftigt, auf dem er inbrünstig kaute, als hinge sein Leben davon ab. Der Hutmacher zog ein Stück Käse hervor und grinste siegessicher. „Schau mal, was ich hier habe!“, flötete er, während er mit seiner Geheimwaffe in der Luft herumwedelte. „Wenn du fein zu mir kommst, gehört dieses famose Stück Käse dir!“ „... Käse?“ Der erwartungsvolle Blick des Mäusehündchens war unbezahlbar. „Ja... na gut.“ Triumphierend beobachtete der Hutmacher, wie sein hauseigenes Maskottchen unverzüglich von dem Tisch heruntersprang – das Brot blieb selbstverständlich angebissen mitten auf der Tischdecke zurück –, unwahrscheinlich langsam um diesen herumschlich und sich seinem Mitbewohner stumm vor die Füße setzte, ganz auf das Stück Käse fixiert, sodass dieser ihn nun problemlos anleinen konnte. „So ist's gut“, lobte er Piepwuff in einem Tonfall, der Alice ein wenig unheimlich war. „Du bekommst es zu Hause, wenn du dich ein bisschen beruhigt hast.“ „Aber... aber die Katze!“, gab die Haselmaus unruhig fiepend zurück, den Blick paranoid durch den gesamten Raum schweifen lassend. „Hunde...“, murmelte General Floyd kaum merklich. „Du hast doch gehört, was die große Lady gesagt hat. Hier gibt es keine Katze. Und jetzt gehen wir schön zurück und sehen mal nach, was der Märzhase so macht“, sagte der Hutmacher, als würde er mit einem schwer erziehbaren Kind reden, und war gerade im Begriff, mit Bello den Saal zu verlassen, als Marilyn ihn unerwarteterweise zurückhielt. „Warte! Mein lieber Hutmacher...“, sagte er mit engelsgleicher Stimme. „Wärest du wohl so nett, den lieben Märzhasen bei mir vorbeizuschicken, wenn du ihn siehst?“ „Oh...! Wenn das Euer Wunsch ist“, antwortete der Tyler-Verschnitt lächelnd. „Auf Eure eigene Verantwortung, Majestät...!“ Ein letztes Mal winkte er ihnen zu, bevor der Hutmacher gemeinsam mit der Haselmaus, die plötzlich ohne ein einziges Widerwort neben ihm herlief, erst aus dem Speisesaal und dann aus dem Schloss verschwand und das Tor mit einem abermals lauten Knarzen hinter ihnen zufiel. Ein skurriles Schweigen hatte sich in der Runde ausgebreitet. „Tja... also gut... Das Frühstück ist beendet“, verkündete Marilyn nach einer Weile, scheinbar ein wenig bedauernd den Tisch betrachtend. „Ich werde hier wohl vorerst etwas aufräumen müssen. Wobei... Warum eigentlich ich? Wache Nummer Zwei und General Floyd! Sorgt ein bisschen für Ordnung! Ritter Schwarz und Ritter Weiß! Macht euch vom Acker und bemüht euch endlich, euren Rosenkrieg zu klären! Und Alice... Tut mir wirklich leid, dass unser romantisches Frühstück so überhaupt nicht nach Plan verlaufen ist!“ „Macht nichts, ist schon in Or- Moment, was...?“ „Wir werden das irgendwann nachholen, versprochen!“, redete Marilyn unbeirrt weiter. „Hm... Wenn du willst, kannst du mein königliches Badezimmer benutzen, um dich ein wenig frisch zu machen. Falls du mich suchst, ich bin im Schlossgarten und würde es sehr begrüßen, wenn du nachher auch dort hinkommen würdest. Es wird sicher... amüsant werden.“ „Vielen Dank, Majestät, aber was habt Ihr überhaupt vor, wenn ich fragen darf? Eine Garten-Party?“ „Nun ja... Nicht ganz“, grinste Marilyn vorfreudig. „Ich brauche einen neuen Hofnarren.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)