Kein Zurück von Kunoichi (Wichtelgeschichte für Coronet) ================================================================================ Kapitel 1: Kein Zurück ---------------------- Im Aufklärungstrupp heißt es: „Du bist erst dann ein vollwertiges Mitglied, wenn du einmal lebend zurückgekehrt bist.“ Es ist die 52. Expedition außerhalb der Mauern. Es ist der Tag, an dem ich lernte, zu überleben. Angst. Alles, was ich noch empfinden kann, ist Angst. Sie kontrolliert mich, mit jedem Gedanken, mit jedem Atemzug, vom Haaransatz bis in die Zehenspitzen. Eine übermächtige Kraft, wie ich ihr noch nie in meinem Leben begegnet bin. Ich weiß, dass das nicht gut ist. Im psychologischen Training haben wir diverse Techniken geübt, wie man seine Furcht am besten in den Griff bekommen kann, von Meditation bis Motivation – und ich habe sie alle vergessen. Meine Zähne klappern, mein Puls rast, meine Hände schwitzen und es gibt absolut gar nichts, was mir dagegen hilft. Die Anspannung scheint allmählich auf die Stute unter mir überzugehen, denn sie beginnt, unruhig auf der Stelle zu tänzeln. Ich beuge mich vor und streichle ihr fahrig über den langen Hals. „Schon gut, alles gut, ich bin bei dir“, flüstere ich, doch die Wahrheit ist, dass ich sie sehr viel dringender brauche, als sie mich. „Noch eine Minute bis zum Öffnen des Tors!“ Hilflos wandert mein Blick durch die tosende Menschenmenge um uns herum, die uns anfeuert, uns als Helden verehrt und dessen ganze Hoffnung auf Erfolg jetzt auf unseren Schultern ruht. Die Last wiegt so schwer, dass sie mich regelrecht zu erdrücken scheint. Schnell wende ich mich wieder ab und weil ich nicht weiß, wo ich hinsehen soll, beobachte ich stattdessen die Gesichter meiner Kameraden. Manche wirken so verängstigt wie ich, andere entschlossen und siegessicher, der Rest unergründlich und ausdruckslos. Sie sind alle jung, kaum einer hat seine dreißig Jahre bisher erreicht, und ich verdränge den Grund dafür aus meinen Gedanken. Ich bin nicht abgebrüht, aber wenn ich mir bewusst mache, dass wir kein einziges großes Organ sind, sondern jeder ein Individuum mit eigener Geschichte, eigener Familie und eigenem Leben, dann reite ich gleich bestimmt nicht los. „Noch dreißig Sekunden bis zum Öffnen des Tors!“ Vor mir, weit vor mir, sehe ich die Rücken der obersten Befehlshaber: Kommandant Erwin Smith und neben ihm der Hauptgefreite Levi. Sie kennen mich genauso wenig, wie wahrscheinlich die meisten der Soldaten ihrer Einheit. Keine Namen, bloß Nummern und Zahlen in einer Statistik über die Rate der Überlebenden, von der die finanziellen Mittel des Aufklärungstrupps abhängig sind. Ich kann ihnen nicht einmal einen Vorwurf machen, denn auch ich bin vielen meiner Mitstreiter noch nie zuvor begegnet. Es ist gefährlich, zu jemandem eine enge Bindung herzustellen, weil man sich damit emotional angreifbar macht, falls einen dort draußen der Tod erwartet. Auch das haben wir im Unterricht gelernt, doch ich weiß nicht recht, was ich von diesem Rat halten soll. Er verstärkt nur das Gefühl, in diesem Kampf ganz allein zu sein und niemandem etwas zu bedeuten. „Noch zehn Sekunden bis zum Öffnen des Tors!“ Die Spannung in der Luft ist beinahe greifbar. Vor uns zeichnet die Mauer Rose sich dunkel gegen das Licht der strahlenden Mittagssonne ab und stellt uns alle in ihren Schatten. Ich sehe hinauf in einen marineblauen Himmel, an dem nicht eine einzige Wolke zieht, und komme nicht umhin zu denken, dass dies der erste schöne Tag des Sommers ist. Wie würde ich ihn wohl verbringen, wäre ich vor drei Jahren nicht dem Militär beigetreten? Vielleicht hätte ich ja eine Lehrstelle gefunden, würde jetzt in einer Backstube oder einer Schneiderei stehen und mich auf den Abend freuen, um die letzten warmen Stunden nach Dienstschluss zu genießen. Oder ich hätte die Aufnahme an eine höhere Schule geschafft und säße im Gras vor unserem Haus, über dicke Wälzer gebeugt, während ich auf die Heimkehr meines Vaters warte. Mein Vater – ich glaube ihn in der Menge zu erkennen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, bevor der Pulk ihn wieder verschluckt. Er sieht besorgt aus und seine Lippen formen meinen Namen, wieder und immer wieder: Petra. Am liebsten würde ich sofort abspringen, mir einen Weg durch das Gedränge bahnen und in seine Arme fallen. Ich möchte mich von ihm beschützen lassen, so wie früher, als ich noch ein kleines Kind war und er der Inbegriff von Sicherheit. Ich möchte ihm sagen, dass ich nicht fortgehen und ihn niemals verlassen werde, so wie Mutter es getan hat. Und ich möchte mich dafür entschuldigen, ihm in den letzten drei Jahren nicht öfter geschrieben zu haben. Eine lange Zeit, in der ich ihn kaum habe sehen können und doch nie so sehr vermisst habe, wie in diesem Moment. Ein Gong ertönt und ich weiß, dass es nun kein Zurück mehr gibt. Das Tor, das in Mauer Rose eingelassen ist, hebt sich und ich bin gezwungen, mich in einem Meer aus Reitern treiben zu lassen. Das Donnern meines Herzschlags dröhnt mir lauter in den Ohren als die unzähligen Hufe der Pferde. An meinen Schenkeln spüre ich ganz deutlich das Gewicht meiner Ausrüstung und die kräftigen Muskeln meiner Stute. Es scheint, als seien alle Sinne eine Stufe schärfer gestellt, als sei in mir ein Instinkt erwacht, der sich aufs nackte Überleben programmiert. Ich reite hinterher, hinter grünen Umhängen mit den aufgestickten Flügeln, die im Wind flattern, fast wie echte Schwingen, und als ich den Durchgang passiere und gegen die Sonne blinzle, erfasst mich plötzlich ein ganz neues Gefühl: Freiheit, Glückseligkeit. Ich bin mir nicht sicher, was es wirklich ist, aber es sperrt meine Angst hinter jenen Mauern ein, die mich ein Leben lang gefangen hielten. Zur Armee zu gehen, sich dem Aufklärungstrupp anzuschließen – endlich fällt mir wieder der Sinn hinter diesen Entscheidungen ein. Trotzdem ist der Anblick, den mir meine Umgebung bietet, ernüchternd, geradezu erschreckend. Die ehemalige Stadt innerhalb der Mauer Maria ist vollständig zerstört. Es fehlen Fensterscheiben, Dachziegel, manchmal ganze Hauswände. Dafür hat die Natur ihren Weg durch die Ruinen gefunden und Straßen und Gebäude mit Moos und Efeu überwuchert. Von links und rechts kann ich aus der Ferne schwere Schritte vernehmen und die lauten Rufe der Männer, die uns den Rücken freihalten sollen, bis wir offenes Gelände erreicht haben. Ich versuche, sie zu ignorieren und mich auf die Formation zu konzentrieren, denn noch sind wir nicht in unmittelbarer Gefahr. Das überrascht mich, denn ich habe mir meine erste Expedition ins Titanenreich ein wenig anders vorgestellt. Mit so wenigen Angriffen hatte ich nicht gerechnet, doch wir haben wahrscheinlich nur pures Glück, dass es gerade so ruhig ist. Als die Besiedlung spärlicher wird und nur noch vereinzelte Bauernhäuser unseren Pfad kreuzen, beginne ich mich allmählich zu entspannen. Die Ebene ist ungünstig, um die 3D-Manöver-Ausrüstung einzusetzen, aber sie beruhigt mich, weil ich nun viel weitere Sicht habe und mich länger auf ein kommendes Ereignis vorbereiten kann. Außerdem ist die Landschaft hier bezaubernd schön, mit einer Gebirgskette im Osten und einem Wäldchen im Westen. Ich entdecke sogar einen kleinen See, auf dem sich ein Schwarm Wildgänse tummelt und in der Nähe ein Mohnblumenfeld. Die Sonne hat ihren höchsten Stand jetzt erreicht, doch dank der Brise, die mir beim Reiten um die Nase weht, merke ich kaum etwas von der sengenden Hitze. Es fällt schwer zu glauben, dass eine so wundervolle, friedliche Welt derart grausige Monster hervorbringen konnte. Von vorne wird der Befehl zur Aufklärungsformation weitergegeben und wie zuvor besprochen, drifte ich in einem Team aus vier Personen nach rechts ab, um dort auf dem Posten der Feinderkennung zu fungieren, während sich das restliche Heer ebenfalls in alle Richtungen verstreut. Mit einem Mal ist es ungewöhnlich still um mich herum, denn neben den vielen anderen Soldaten, fehlt hinter mir auch das Rattern der Pferdewagen mit den Versorgungsgütern. Die Ruhe wirkt bedrohlich und macht mich wieder eine Spur nervöser. Zu gerne würde ich mit meinen drei Begleitern ins Gespräch kommen, aber sie sind alle älter als ich und scheinbar schon viel erfahrener. Ich traue mich nicht recht, den Mund aufzumachen, also lasse ich es bleiben und schließe mich weiter ihrem grimmigen Schweigen an. Es dauert nicht lange, bis in etlicher Entfernung die Silhouette eines Titans erscheint, wir ein rotes Rauchsignal in den Himmel schicken und ein grünes zur Antwort zurückerhalten, das uns den neuen Verlauf unserer Route mitteilt. So weit, so gut. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Technik so reibungslos funktioniert, aber als der Titan uns bemerkt, sind wir schon längst außer Reichweite. Mittlerweile glaube ich sogar, ungeschoren davonzukommen, da taucht plötzlich – wie ein Baum, der im Zeitraffer in die Höhe schießt – eine weitere gigantische Gestalt hinter ein paar Hügeln auf. Wir bemerken sie zu spät. Viel zu spät. Gerade noch rechtzeitig bringen wir unsere Pferde zum Stillstand, da ist sie auch schon ganz nah. Ich kann direkt in ihr hässliches Gesicht sehen, mit dem weit aufgerissenem Maul und den gebleckten Zähnen, kann ihr undefinierbares Stöhnen hören, kann ihren ekelerregenden Geruch wahrnehmen und kann mich keinen Millimeter mehr bewegen. Da ist sie wieder, meine größte Feindin, die unbändige Angst, der ich nicht Herr werden kann. Undeutlich spüre ich die Körper meiner Gefährten an mir vorbeirauschen. Sie ziehen ihre Schwerter, schlagen ihre Haken in das Fleisch des Titanen und ziehen sich zu seinem Nacken hinauf. „Rot! Rot!“, ruft einer von ihnen mir eindringlich zu und ich verstehe kein Wort. Mein Kopf ist leer, alle Gedanken verstummt. Die Hand des Ungetüms holt aus und das hohe Gras wird in Blut getränkt, als der Soldat mit einem dumpfen Aufprall zu Boden geht. Ich glaube, dass er noch am Leben ist, denn er scheint einen Arm zu bewegen, doch da macht der Titan einen unabsichtlichen Schritt nach vorn und begräbt ihn unter seinen massigen Füßen. Wie versteinert sitze ich im Sattel und habe unwillkürlich das Bild vor Augen, wie ich mir als Kind einen Spaß daraus machte, Ameisen zu zerquetschen. Irgendwann nahm mein Vater mich daraufhin zur Seite und erklärte mir, dass es sehr grausam sei, was ich da täte. Heute kann ich verstehen, was er mir damals versuchte beizubringen. Aber heute bin ja auch ich die Ameise. Das Scheuen meines Pferdes holt mich wieder zurück in die Gegenwart. Der Titan hat seine Faust um einen der Männer geschlossen und führt ihn sich nun ganz langsam zum Mund. Ich höre seinen markerschütternden Aufschrei, der mir alle Haare zu Berge stehen lässt und mir ist klar, dass ich genau jetzt handeln müsste. Doch das Wissen, das mir drei Jahre lang in faden Theoriestunden eingehämmert wurde, und die tausend Attrappen, die in der Praxis meinem Schwert zum Opfer gefallen sind, erscheinen wie Spott und Hohn, im Angesicht mit einem echten Titanen. Meine Hand zuckt, als erwarte sie von meinem Hirn einen Befehl, der einfach nicht kommen mag und dann habe ich meine Chance auch schon verpasst. Ein widerliches Knacken verkündet das Brechen der Wirbelsäule, bevor der Soldat im Schlund des Unwesens verschwindet, und ich muss gegen meinen Würgereiz kämpfen. Entsetzt betrachte ich die verstreuten Gliedmaßen meines einstigen Teams, bis mir schlagartig bewusst wird, dass ich die letzte Überlebende bin. Wie in Trance greife ich zur Pistole, um ein Rauchsignal abzufeuern, das der Formation unsere – nein, meine – missliche Lage signalisieren soll, da wendet der Titan seine Aufmerksamkeit mir zu. Panik erfasst mich und die Pistole gleitet mir aus den Fingern. Ich packe die Zügel, wende mein Pferd und reite einfach wild drauflos. Schneller, noch ein bisschen schneller, und ich bekomme das Gefühl, gleich von der Erde abzuheben. Die Richtung ist mir egal, ein Ziel habe ich nicht. Hinter mir wirft der Titan seinen riesenhaften Schatten über mich, stampft neben mir mit dem Fuß auf und die Erschütterung schleudert mich durch die Luft. Ich komme mit der Schulter zuerst auf und spüre einen reißenden Schmerz, der mich beinahe das Bewusstsein verlieren lässt. Benommen sehe ich, wie der Titan sich nach mir bückt und drehe mich mit letzter Kraft auf den Bauch, um wegzukrabbeln. Dann falle ich. Ich stürze bestimmt drei oder vier Meter in die Tiefe und schlage auf dreckigem, lehmigen Boden wieder auf. Über mir klafft ein Loch, so klein, dass ich kaum glauben kann, hindurch gepasst zu haben. Zitternd liege ich in völliger Finsternis und wage es nicht, mich zu bewegen. Jeder einzelne Knochen meines Körpers tut weh, die Schulter scheint kein Teil mehr von mir zu sein und heißes Blut rinnt mir übers Gesicht. Mein Brustkorb hebt und senkt sich in rascher Folge, doch die Lungen füllen sich nicht mit Sauerstoff und ich meine, gleich zu ersticken. Sofort presse ich mir den Saum meines Umhangs auf Mund und Nase, um das Hyperventilieren zu beenden und eine Ohnmacht zu verhindern. Danach laufen mir die Tränen nur so in Strömen über die Wangen. Ich weine mir die Seele aus dem Leib, wie ich es nicht mehr getan habe, seit meine Mutter mich und meinen Vater vor sieben Jahren im Stich gelassen hat. Und dann liege ich einfach wieder ganz ruhig da, für Stunden, Tage, vielleicht auch Jahrzehnte – keine Ahnung. Ab und zu bewegt sich etwas an dem Loch über mir, aber der Titan kann mich in der Grube nicht mehr erreichen oder er ist womöglich nicht schlau genug, um zu verstehen, wo ich geblieben bin. Ich fühle mich wie eine Maus, die sich in ihrem Bau vor der Katze versteckt. Ein Glück, dass sich meine Augen mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt haben und so lasse ich den Blick prüfend durch die Höhle schweifen. Es ist nicht festzustellen, ob sie von der Natur oder durch Menschenhand erschaffen wurde, aber sie hat einen Durchmesser von etwa zwei Metern und keinen weiteren Ausgang. Mir wird nichts anderes übrig bleiben, als den Weg zu wählen, den ich bereits gekommen bin. Vorsichtig teste ich aus, inwieweit mein Körper noch intakt ist, doch schon die kleinsten Bewegungen lösen unvorstellbare Schmerzen aus. Besonders der rechte Arm, der an der kaputten Schulter hängt, ist beinahe gar nicht mehr zu gebrauchen. Dafür scheint der linke kaum in Mitleidenschaft gezogen zu sein und auch der Rest ist zumindest funktionstüchtig. Selbst die Platzwunde am Kopf habe ich mir schlimmer ausgemalt, obwohl mir ganz schön der Schädel brummt. Mir nur einer Hand kontrolliere ich den Sitz und die Vollständigkeit meiner Ausrüstung und stelle erleichtert fest, dass bis auf ein paar Schrammen und Beulen noch alles dran und heile zu sein scheint. Ich wage es nicht, den Gürtel zu öffnen und sie abzulegen, denn ich befürchte, sie in meinem Zustand nicht wieder alleine anlegen zu können und noch mehr zusätzliche Probleme muss ich mir nun wirklich nicht machen. Es wird schon schwer genug werden, die Ausrüstung überhaupt zu bedienen. Umständlich krame ich meinen Wasserschlauch, eine Verbandsbinde und die Notfallmedikamente aus einer Seitentasche hervor. Sie werden mir wenigstens für ein paar Stunden die Schmerzen erträglich machen. Von oben wird der Lichteinfall immer geringer und ich gehe davon aus, dass die Dämmerung bereits eingesetzt hat. Da mein Körper förmlich nach Erholung lechzt, hat es keinen Zweck, noch vor dem Morgengrauen zu versuchen, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Es sieht also ganz danach aus, als stünde mir hier unten eine lange Nacht bevor. Ich ziehe mir meinen Umhang zurecht, rolle mich darin zusammen und versuche, es mir auf dem harten Boden so bequem wie irgend möglich zu machen. Um mich herum wimmelt es von Insekten und ich schnippe eine Spinne von meiner Hose, die genauso panisch vor mir flüchtet, wie ich zuvor vor dem Titanen. Es ist vielleicht nicht der beste Ort für eine Übernachtung im Freien, aber es ist in jedem Fall der sicherste. Mein Verstand weiß das. Doch als ich nach einer halben Stunde die Hand vor Augen nicht mehr erkennen kann, fühle ich mich überhaupt nicht mehr sicher. Die blassen Sterne am Firmament leuchten nicht bis zu mir hinunter und es ist stockduster in der Grube. Jedes leiseste Knacken, Rascheln und Knarzen klingt in der Stille unfassbar laut und lässt mich alarmiert auffahren. Ich sehe Schatten und Lichtpunkte über die Wände huschen, bilde mir Gestalten am Loch über mir ein und habe ein permanentes Krabbelgefühl auf der Haut. Hinzu kommt, dass ich schrecklich friere, obwohl es eine sehr laue Nacht ist, und mein Magen beginnt, sich vor Hunger selbst zu verdauen. An Schlaf ist überhaupt nicht zu denken. Der langersehnte Traum von Freiheit, spätestens ab jetzt ist er zum Albtraum geworden. Wenn ich es morgen nicht aus diesem Verlies hinausschaffe, halte ich keine drei Tage mehr durch. Andererseits überlebe ich wahrscheinlich auch oben keine drei Tage ohne vorher gefressen zu werden und bin so oder so dem Tode geweiht. Es schockiert mich, wie nüchtern ich dieser Tatsache entgegentrete, wo ich vor ein paar Jahren noch so viele Pläne für mein Leben gehabt habe. Alles Schall und Rauch. Erst, als mir plötzlich mein Vater in den Sinn kommt, siegen Tränen über Selbstbeherrschung. Wann haben wir das letzte Mal miteinander gesprochen? Was hat er zu mir gesagt und was habe ich ihm geantwortet? Ich kann mich nicht mehr erinnern, so lange ist es her. Und nun werde ich auch noch meinen höchsten Schwur brechen und ihn alleine zurücklassen müssen. Ich vergrabe das Gesicht in meinem Umhang und schluchze verzweifelt in mich hinein. War ich dem Militär nicht vor allem beigetreten, um meinem Vater, der selbst immer in zu schwacher gesundheitlicher Kondition dafür gewesen war, alle Ehre zu machen? Wollte ich nicht stellvertretend für ihn die Welt außerhalb unserer Mauern sehen und den Titanen ihr Territorium streitig machen? Jetzt wird er nicht mal mehr einen Grund haben, stolz auf seine Tochter zu sein. Denn ich habe meine Kameraden ihrem eigenen Schicksal überlassen. Ich habe ihnen weder geholfen, noch Rache geübt, sondern bin wie ein feiges Huhn einfach davongelaufen. Diese Schuld kann ich niemals sühnen. Höre ich sie da nicht sogar nach mir rufen? Oder ist das nur der Wind, der über die Wiesen heult? Ist die Hölle hier unten oder ist sie dort oben? Träume ich schon? Bin ich noch wach? Oder bereits tot? Ich schrecke aus einem unruhigen Schlaf, gleite wieder hinein und verlerne zu unterscheiden, was Illusion und was Realität ist. Zwei Stunden, wenn überhaupt. Mehr habe ich nicht geschlafen. Die ersten Lichtstrahlen sind noch taufrisch, da hieve ich mich bereits auf die Beine. Mit den Schmerzen ist es über Nacht kaum besser geworden und ich muss mich zunächst einige Minuten gegen die Wand lehnen, damit ich nicht direkt wieder umkippe. Aber ich habe noch Medikamente übrig und auch noch ein paar Schlucke im Wasserschlauch und vor allem habe ich mich noch nicht aufgegeben. Nein, solange auch nur die geringste Chance aufs Überleben besteht, will ich es versuchen. Woher auf einmal diese Entschlossenheit kommt, kann ich nicht sagen, doch die negativen Gedanken vom Vorabend sind ebenso zu Staub zerfallen wie die Geister in meinem Kopf. Ich probiere, mich mit der 3D-Manöver-Ausrüstung am oberen Rand der Grube festzuhaken und dann hinaufziehen zu lassen. Es gelingt nicht, weil die Erde zu weich ist und sofort herausbricht. Wenn ich nicht aufpasse, bringe ich mit dieser Technik die ganze Höhle zum Einsturz. Also untersuche ich die dicken Baumwurzeln, die überall aus den Wänden herausragen und an denen ich vielleicht hochklettern kann. Aber ich kann es nicht. Nicht mit dieser Schulter, nicht mit diesem Arm. Schweiß bricht mir aus, als sich ein Misserfolg an den nächsten reiht. Nicht mal ein Rauchsignal kann ich absetzen, in der Hoffnung, dass noch jemand in der Nähe ist und mich findet, denn meine Pistole habe ich gestern irgendwo in der Wildnis verloren. Meine allerletzte Möglichkeit besteht darin, mich mit der Ausrüstung in die Wurzeln einzuhaken und zu beten, dass sie der Belastung des Gasauftriebs standhalten, damit ich hoch genug geschleudert werde, um meinem Gefängnis zu entkommen. Ich habe nur einen Versuch. Wenn ich die falsche Stelle auswähle, kracht über mir womöglich alles zusammen. Mit klopfendem Herzen visiere ich eine besonders große Wurzel an, die mir dafür stabil genug erscheint, atme tief ein und aus und aktiviere dann meine Ausrüstung. Ein Knall, ein Ruck und ich muss mir auf die Zunge beißen, um vor Schmerz nicht laut aufzuschreien. Aber am Ende funktioniert es tatsächlich. Die Wurzel zersplittert erst, als ich mit der linken Hand schon das Schwert in den Boden gerammt habe und ich komme verschwitzt und erschöpft an der Oberfläche zum Vorschein. Dreimal drehe ich mich um die eigene Achse, doch weit und breit bin ich ganz allein. Kein Titan ist mehr zu sehen und bedauerlicherweise fehlt auch von den Pferden jede Spur. Die Sonne ist bereits hoch über den Horizont gestiegen und zeigt mir, dass ich viel zu viel Zeit gebraucht habe. Ohne mich für eine konkrete Richtung zu entscheiden, renne ich los und mache mich auf die Suche nach einem Wald, wo ich mich verstecken und die nächsten Schritte planen kann. Es ist gnadenlos heiß und ich bin gezwungen, häufig anzuhalten und im hohen Gras eine Pause einzulegen, weil mir zu schwindelig ist. Manchmal finde ich auch einen Strauch oder einen Busch, der mir kurzzeitigen Sichtschutz gibt, aber das ändert nichts daran, dass ich das offene Gelände dringend verlassen muss. Ich habe weder Kraft noch Ausdauer, dafür aber eine Menge Hunger, Durst und unermessliche Schmerzen. Ich bin leichte Beute. Dass ich hier noch einen anderen lebenden Menschen treffe, erwarte ich wirklich nicht mehr. Füchse, Hirsche und Haselmäuse sind meine einzigen Weggefährten, während ich verloren und orientierungslos durch die unberührte Natur irre. Bestimmt ist der Aufklärungstrupp längst wieder hinter die sichere Mauer zurückgekehrt, von der ich keinerlei Anhaltspunkt habe, wo sie sich befindet. Trotzdem darf ich nicht nachlassen – nicht jetzt, nicht hier, sonst habe ich es ganz umsonst so weit geschafft. Als plötzlich – keine fünfzig Meter von mir entfernt – rote Rauchsignale hinter einer Baumgruppe in den Himmel steigen, falle ich fast vom Glauben ab. Ich sammle meine letzten Energiereserven, lasse alle Vorsicht fahren und setze zum Sprint an. In einer Geschwindigkeit, die ich selbst in guter Verfassung niemals von mir erwartet hätte, bringe ich die Distanz in weniger als einer Minute hinter mich. Für den Moment vergesse ich sogar, dass meine Schulter schmerzt, mein Kopf dröhnt und ich eigentlich kaum aufrecht stehen kann, so überwältigt bin ich von dem Gedanken an meine bevorstehende Rettung. Den Titanen realisiere ich erst, als ich schon beinahe ins Geschehen hineinstolpere und werde augenblicklich in die gestrige Situation zurückkatapultiert. Nur ist eine Sache diesmal anders: Ich bin zwar verletzt, aber ich bin nicht gelähmt. Die beiden Männer, die ich vor mir auf der Lichtung beobachte, versuchen einen acht Meter großen Giganten vom Boden aus zu Fall zu bringen, indem sie immer und immer wieder seine Beine angreifen. Vermutlich haben sie kein Gas mehr, um ihre Ausrüstung zu benutzen und seinen Schwachpunkt zu erreichen, weshalb ihnen nur bleibt, zu improvisieren. Doch das ständige Ausweichen hat sie ausgezerrt und ein baldiges Ende dieses Kampfes ist absehbar. Ich ziehe mein Schwert und trete mutig vor. Es mag mir einmal passiert sein, dass ich meine Kameraden verloren habe, aber es wird mir kein zweites Mal passieren. Gerade, als der Titan mir den Rücken zuwendet und nach einem der Soldaten greift, presche ich ihm entgegen, versenke die Haken meiner Ausrüstung in seinen Schulterblättern und schlitze ihm den Nacken auf. So schnell, so einfach. Ich spüre, wie er taumelt und fällt, bereite mich auf den Absprung vor und merke gleich, dass ich zu schwach dafür bin. Die Erde erzittert bei unserem gemeinsamen Aufschlag und ich rolle mich von ihm hinunter und bleibe fürs Erste still liegen. Über mir rascheln die Blätter der Bäume vor einem wunderschönen, wolkenlosen Himmel. Ein Eichhörnchen klettert flink den Stamm hinauf. Ein Rotkehlchen fliegt von Ast zu Ast, als könne es sich nicht entscheiden, wo es sich niederlassen möchte. Die Küken einer Amselfamilie verlassen zum ersten Mal in ihrem Leben ihr behütetes Nest. Ich genieße den Anblick, könnte auf ewig so zusehen und werde mir nur ganz am Rande der vielen Reiter bewusst, die sich um unseren Schauplatz versammelt haben – die kläglichen Überreste einer gescheiterten Formation. Es ist Hauptgefreiter Levi, der mich als erster entdeckt und sich neben mir hinkniet. Ich habe sein Gesicht noch nie von so nahem gesehen. Er ist wirklich ein hübscher Mann. Dass er mich in diesem Zustand sehen muss, macht mich irgendwie verlegen. „Wie ist dein Name, Soldatin?“, fragt er. „Petra Ral“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Ich heiße Petra Ral.“ „Kannst du aufstehen, Petra?“ „Nein, ich glaube nicht.“ „Wo bist du verletzt?“ „An der Schulter und… überall.“ „Was ist mit deiner Einheit passiert?“ „Sie wurde vernichtet.“ „Und die Nacht hast du alleine dort draußen verbracht?“ „Ja, das habe ich.“ Er winkt ein paar seiner Leute herbei und befielt ihnen, mich auf einen Karren zu verfrachten. Sie heben mich behutsam auf, legen mir neue Verbände an und flößen mir ein wenig Wasser ein. Ich bin furchtbar müde und möchte eigentlich nur meine Ruhe, lasse die Prozedur aber anstandslos über mich ergehen, weil ich noch gar nicht richtig glauben kann, was hier gerade passiert. Es erscheint mir wie ein Wunder, dass ich gleich die Heimkehr antreten und meinen Vater doch noch einmal in die Arme schließen darf. Kurz bevor wir abreisebereit sind, erscheint dann Levi wieder neben meinem Wagen, so als wolle er prüfen, ob auch alles zu seiner Zufriedenheit erledigt wurde. Er schaut mich an und ich kann nicht genau definieren, was ich in seinem Blick zu erkennen glaube. Ist er beeindruckt? „Wenn wir wieder innerhalb der Mauern sind“, sagt er, „und du wieder völlig gesund bist, müssen wir uns mal unterhalten. Eine Kämpferin wie dich kann ich in meinem Team nämlich wirklich gut gebrauchen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)