Kleine Augenblicke von Goetterspeise (Eine Geschichte über Aufzüge) ================================================================================ Kapitel 8: Eine Geschichte über Hinata -------------------------------------- 24. September Den ganzen Tag über hänge ich in den Seilen, weil ich die Nacht über kaum ein Auge zu getan habe. Diese Situation letzte Nacht war so grotesk, dass sie mir immer und immer wieder durch den Kopf schoss, jedes Wort und jede Bewegung spielte sich in meinen Gedanken ein ums andere Mal ab und so ging die Sonne bereits auf, als mich die Müdigkeit doch endlich übermannen konnte. Da mir aber natürlich die nötige Freizeit fehlt, um einfach einmal einen Tag faul im Bett zu liegen, klingelte passenderweise kaum zwei Stunden später schon mein Handywecker, den ich mir vorsorglich gestellt hatte. Ursprünglich, weil ich nicht genau wusste, wie Inos Party ablaufen und wann ich endlich heim kommen würde. Den Tag verbringe ich verbissen damit, zu versuchen nicht an Sasuke und diesen wirklich sehr unfreundlichen Nachbarn zu denken, was aber vorne und hinten nicht funktioniert. Ich kann nicht anders als immer wieder in Gedanken dorthin abzudriften – dabei müsste ich meine Präsentation über die verschiedenen Bereiche des Gehirns und deren Funktionen endlich beenden. Aber ich komme absolut nicht darauf klar, dass Sasuke mir geholfen hat und was mich am meisten daran irritiert, ist, dass ich einfach nicht verstehe, woher er die ganzen Informationen hatte. Gut, Naruto wird ihm wohl von der Abmahnung erzählt haben, jedoch wirkt Sasuke jetzt nicht wie ein Mensch auf mich, der sich einfach in die Angelegenheit seiner Nachbarn einmischt. Ein Seufzen entweicht mir, während ich in der Küche stehe und mir ein Bento mache. Mittlerweile ist es fast zwanzig Uhr und ich hab Nachtschicht im Rettungsdienst, den ich sicher nur mit einer ganzen Menge Kaffee überstehen werde. Die einzige Erkenntnis, die das stundenlange Grübeln zu Tage geführt hat, ist, dass ich jetzt zumindest weiß, wer mich hier im Haus nicht leiden kann – und ich nicht das Gefühl habe, dass er mich einfach so in Ruhe lassen wird. Aber das nächste Mal werde ich nicht so bedröppelt daneben stehen und mich von einem Mann in glänzender Rüstung (gut, es war ein schwarzes Shirt und eine Jogginghose) retten lassen. Nachdem das Bento fertig ist und natürlich nicht halb so hübsch aussieht, wie bei Ino immer – der Reis liegt irgendwie überall, die Karotten habe ich einfach irgendwie hinein geschmissen, genau wie den ganzen anderen Rest und an das hochheilige Prinzip des Washoku habe ich mich natürlich auch nicht gehalten – packe ich es schnell in meine Tasche. Danach laufe ich wie wild in der Wohnung herum, weil mir ständig etwas neues einfällt, das ich vergessen habe und nachdem ich zum fünften Mal kontrolliert habe, ob ich das Ladekabel meines Laptops auch wirklich eingepackt habe, kann ich endlich beruhigt meine Schuhe im Gang anziehen. »... und bis dann.« Mein Kopf geht automatisch mit einem Ruck nach oben, als ich von der anderen Seite der Wohnungstür Narutos Stimme vernehme. Das war es dann wohl mit einem ruhigen Aufbrechen. Ich seufze, schultere meine Tasche und verlasse anschließend die Wohnung. Naruto steht bereits vor dem Aufzug und wartet auf dessen Ankommen. Sein Kopf ist leicht nach unten gerichtet und so wie die Haltung seiner Arme von hinten aussieht, scheint er auf seinem Handy herumzutippen. Wahrscheinlich ist er vollkommen in Gedanken versunken und dennoch komme ich nicht auf die Idee, dass mein Auftauchen ihn vielleicht erschrecken könnte. Also lege ich enthusiastisch meine Hand auf seine Schulter und spüre sofort wie sich seine Muskeln zusammenziehen. Sein Körper dreht sich ruckartig in meine Richtung und sein Brustkorb hebt und senkt sich ungewöhnlich schnell. Narutos tiefblaue Augen starren mich einige Sekunden lang erschrocken an, bevor er sich mit einem theatralischen Seufzer an die Brust fasst und tief einatmet. »Gott, hast du mich erschreckt, echt jetzt. Ich glaube, ich hab gerade einen Herzinfarkt erlitten.« »Das ist aus medizinischer Sicht wohl doch recht unwahrscheinlich.« Vollständig auszuschließen natürlich nicht (ist es nie), aber dass muss ich ihm jetzt nicht unbedingt auf die Nase binden. »Auch wieder wahr«, erwidert er und steckt sein Handy weg. Naruto beginnt mich angestrengt zu mustern und seine Augenbrauen ziehen sich nachdenklich zusammen. Ich beginne nach kurzer Zeit mich schrecklich unwohl zu fühlen (dieser blöde Aufzug soll endlich kommen!) und frage mich, ob Sasuke ihm etwas von dem Zwischenfall letzte Nacht erzählt hat. Vielleicht denkt er ja jetzt über … was auch immer nach. Mir fällt kein Gedanke ein, der ihm nach einer solchen Geschichte kommen könnte. »Naruto, lässt du das bitte«, fauche ich ungehalten, als ich es nicht länger aushalte. »Äh … sorry, ich wollte dich nicht anstarren. Es ist nur ...« Ich hebe abwartend eine Augenbraue. »Sakura, ich ... du ... also ... ich brauche deine Hilfe!« Das letzte Wort schreit er regelrecht und ich zucke heftig zusammen. »Nur, wenn du mir nicht wieder ins Ohr brüllst«, erwidere ich und halte meine Hand vor dieses. »Entschuldige. Das wollte ich nicht, echt jetzt.« Er kratzt sich verlegen am Hinterkopf und grinst mich unsicher an. »Es ist nur so, dass ich mir dachte ... na ja du studierst ja Medizin und so ... und ...« »Gott, Naruto, hör auf herumdrucksen und sprich es einfach aus«, fordere ich ihn auf, weil mir langsam der Geduldsfaden reißt. Ich bin übermüdet, genervt und ein wenig in Eile. »Ja, da hast du recht.« er atmet noch einmal tief durch und schaut mir dann direkt in die Augen. Mir ist vorher noch nie aufgefallen wie blau sie sind. Heftig. »Ich würde Hinata gerne bei ihrer Panik vor Aufzügen helfen.« Ich blinzle irritiert. »Und darum hast du jetzt selbst so eine Panik geschoben?« »Na ja … ja. Sasuke meinte, dass ich es lassen solle, weil ich Dinge meistens schlimmer mache als dass ich wirklich hilfreich bin«, erklärt er niedergeschlagen. Innerlich muss ich Sasuke natürlich Recht geben. So wie ich Naruto einschätze, passt diese Aussage leider viel zu gut. Allerdings tut er mir in diesem Moment schrecklich leid, wie er so niedergeschlagen vor mir steht, fast wie ein kleines Kind, dem gerade sein Eis auf den Boden gefallen ist. Das und dieser innere Drang genau das Gegenteil von dem zu tun, was Sasuke tun würde (wieso auch immer), lassen mich resignieren. »Mhhh … hast du denn schon einen Plan?« Die Aufzugtüren öffnen sich und während wir einsteigen und Naruto den Knopf für das Erdgeschoss drückt, antwortet er: »Nein, nicht wirklich.« Was seine Stimmung nur noch weiter in den Keller befördert. Okay, eine Sache, die ich in meinem Leben niemals mehr erleben will, ist Naruto traurig zu sehen. Das ist nicht nur extrem gruslig, weil er sonst immer ein Lachen auf den Lippen hat und er so sehr verstörend aussieht, sondern einen selbst auch komplett runter zieht. Ich muss tatsächlich dem Drang widerstehen, ihn in den Arm zu nehmen. »Also, ich hab zwar keine Ahnung von Psychologie und habe auch nicht vor Psychiater zu werden, aber vielleicht fällt mir ja doch etwas nützliches ein«, antworte ich schließlich, als wir auf dem Weg nach unten sind. »Wirklich?« Sein Kopf schießt nach oben und er schaut mich mit glitzernden Augen an. Sicher, dass er schon über zwanzig ist? So sieht er aus wie sieben. »... Ja. Aber vielleicht … es wäre sicher nicht schlecht etwas mehr darüber zu wissen, wieso Hinata so Panik vor Aufzügen hat.« Wie gesagt, ich habe genauso wenig Ahnung wie Naruto was eine mögliche Therapie (oder wie auch immer ich diese nett gemeinte, aber wahrscheinlich total schwachsinnige Idee benennen soll) anbelangt. Aber das Erste was man im Rettungsdienst lernt, ist immer die ganze Krankengeschichte des Patienten zu erfahren, bevor man reagiert. »Ah … ähm ...«, erwidert er und sein Gesicht wird erneut nachdenklich. Er verschränkt die Arme vor seiner Brust und scheint einige Augenblicke genauer darüber nachzudenken. Ich möchte ihm gerade sagen, dass es doch nicht sein muss, weil er sich ganz offensichtlich in einem schweren Gewissenskonflikt befindet, als sich seine Mimik verändert und er mich mit einem ernsten Blick fixiert. »Du musst mir nur versprechen, dass niemals jemandem zu erzählen. Und vor allem nicht Hinata. Wenn sie je mitbekommt, dass du weißt, was damals passiert ist, wird sie mich wohl umbringen.« Kann ich mir nicht vorstellen, aber ich legte meine rechte Hand über mein Herz und die Linke halte ich ein Stück nach oben und sage: »Ich schwöre.« Naruto nickt zufrieden. Der Aufzug hält in diesem Augenblick in der Lobby und wir steigen aus. Naruto zieht mich sofort zu den Briefkästen, während er sich nach möglichen Mithörern umsieht, aber wir sind vollkommen alleine hier. »Ich verlass mich auf dein Wort.« Am Liebsten würde ich aufgrund dieses theatralischen Verhaltens die Augen verdrehen und ihm eine sarkastische Antwort geben, aber ich nehme mich zurück und nickte ihm zu. Es scheint ihm unglaublich wichtig zu sein und ich möchte mich nicht darüber lustig machen. Außerdem weiß ich ja noch gar nicht, was Hinata damals zugestoßen ist und wenn es etwas wirklich, wirklich schreckliches war, werde ich mich im Nachhinein wahrscheinlich sehr schlecht fühlen, wenn ich diesem Impuls nun nachgebe. »Hinata war damals zehn oder elf. Also ich war krank und sie war so nett, um mir meine Hausaufgaben zu bringen. Wir haben damals in einem ähnlich hohen Wohnhaus gewohnt wie dieses hier. Allerdings im neunten Stock und der Aufzug war recht alt und spinnte manchmal rum. Jedenfalls blieb sie genau zwischen dem achten und neunten Stock stecken. Ich mein, dass ist sowieso schon bitter genug, aber vor allem erschreckend für ein junges Mädchen«, er stoppte einen Augenblick und ich beeilte mich ihm zuzustimmen. »Jedenfalls drückte sie vergebens auf den Notfallknopf, der nicht ging oder was auch immer. Jedenfalls, ich weiß nicht genau wie lange sie es versuchte, nur, dass sie irgendwann begann panisch gegen die Metalltüren zu schlagen.« »Aber wenn das Haus so viele Stockwerke hatte, gab es doch sicher mehr Leute, die ihn nutzen wollten«, funke ich ihm ohne nachzudenken dazwischen und beiße mir sofort auf die Zunge. Das ist sicher ein Punkt, auf den er gleich zu sprechen kommt. »Ja klar. Aber sie haben eben das gemacht, was die Meisten machen würden. Sie haben die Treppe genommen und sich über den Unbekannten beschwert, der die Türen des Aufzugs offen hält oder aus Spaß alle Knöpfe gedrückt hatte. Vielleicht auch über die Hausverwaltung oder was weiß ich. Na ja, das Klopfen war nicht sonderlich laut, aber irgendwann wollte eine Nachbarin von uns einkaufen gehen und hörte sie schließlich doch. Sie beruhigte Hinata, was einige Zeit dauerte und ließ sich von ihr anschließend die Notrufnummer, die glücklicherweise auf einem Schild im Aufzug stand, geben. Es dauerte dann noch einmal eine gute Stunde, bis sie die Türen öffnen konnten und die Feuerwehr Hinata in den neunten Stock ziehen konnten.« Naruto schweigt einen Moment und ich lasse seine Worte noch einmal Revue passieren. Also ein schreckliches Erlebnis, aber immerhin musste sie nicht mitansehen, wie jemand in einem Aufzug erschossen wurde. Dass sie deshalb aber nicht mehr sonderlich viel Bock auf Aufzüge hat, ist nachvollziehbar. »Also das ist natürlich ein sehr einschneidendes Erlebnis für sie gewesen. Kein Wunder, dass sie lieber die Treppe nimmt«, antworte ich schließlich, weil ich nicht weiß, was ich sonst dazu sagen soll. »Das ist noch nicht alles«, erwidert er langsam und scheint sich unsicher darüber zu sein, ob er weiter sprechen soll. Noch nicht alles? Also vielleicht doch ein Toter? »Es erregte natürlich Aufsehen, dass die Feuerwehr kam und so. Sogar ich quälte mich aus dem Bett, um zu sehen, was los war, wie Jungs halt so sind. Und na ja … Hinata saß locker drei Stunden da drinnen fest … und hatte Angst und … Kinder haben ja nicht so große Blasen … ich meine ...« »Stopp!«, unterbreche ich ihn entschieden, als ich weiß worauf er hinaus will. Mein erster Gedanke: Gott sei Dank hab ich die Klappe gehalten! Mein Zweiter: dieses arme, unschuldige Mädchen. (Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich zuerst an mich und dann an sie gedacht habe?) »Du musst das wirklich nicht aussprechen. Wirklich. Ich meine, kein Wunder, dass sie nicht will, dass jemand davon erfährt. Obwohl es eine ganz normale Funktion des Körpers ist und … also egal. Das ist auf jeden Fall ein gewaltiges Trauma für ein junges Mädchen.« Vor allem, da es nicht nur irgendwelche fremden Menschen in einem x-beliebigen Hochhaus gesehen haben, sondern auch Naruto. Und ihm danach fast jeden Tag über den Weg laufen zu müssen, mit dem Wissen, dass er das Einnässen mitbekommen hat, hinterlässt auf jeden Fall seine Spuren. Wir schweigen einige Zeit und dass ich eigentlich zu meiner Schicht muss, habe ich für den Moment auch komplett vergessen. »Also ich will ehrlich sein«, beginne ich schließlich doch, »ich weiß nicht, ob wir zwei da wirklich was machen können.« Naruto nickt geknickt. Und jetzt seien wir auch mal ehrlich: natürlich erachte ich Aufzüge als außerordentlich wichtig und ohne sie hätte ich dieses Gespräch mit Naruto hier jetzt auch sicher nie geführt und es wären auch so einige andere Dinge nie geschehen. Ich empfinde Treppen auch als Ausgeburt der Hölle. Aber wenn man das alles mal aus einem anderen Blickwinkel betrachtet – also Hinatas zum Beispiel – sie sind ja eigentlich nicht zwingend notwendig. Sie erleichtern uns viel, klar, aber erstens ist Treppen laufen gesünder und soll pro Stufe das Leben um fünf Sekunden verlängern und zweitens gerät man so nicht in die Gefahr, stecken zu bleiben. Was aber nicht bedeutet, dass ich jetzt auf das Treppenhaus umsteige, zumal ich nicht einmal weiß, ob das mit dem länger leben überhaupt stimmt und außerdem bin ich risikofreudig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)