Neun von zehn von Idris ([Wataru x Ryousuke]) ================================================================================ Kapitel 3: Neun von Zehn ------------------------ ‚Ich muss nochmal nach Hause‘, murmelt Ryousuke nach der Schule und verschwindet bevor Wataru ihn aufhalten kann. Ein Teil von Wataru hat berechtigte Bedenken, dass das ein Versuch ist sich vor diesem Gespräch zu drücken. Aber um Punkt acht steht Ryousuke tatsächlich auf der Matte. Er hat unbehaglich die Schultern hochgezogen und trägt das schwarze T-Shirt mit silbernem Aufdruck, dass Wataru ohne Mühe als sein Date-Shirt identifizieren kann. Seine Haare sind noch feucht im Nacken. „Hast du extra frisch geduscht?“ rutscht es Wataru heraus. „Nicht wegen dir“, erwidert Ryousuke sofort. Wataru macht den Mund auf und gleich wieder zu. Er sollte sich da ganz bedeckt halten, immerhin ist er derjenige, der sich grade eine dreiviertel Stunde lang die Zähne geputzt hat. Zur Sicherheit. Außerdem hat er zwischendurch angefangen einen schwulen Porno zu gucken, was sich als großer Fehler herausgestellt hat. Nach zwei Minuten hat er ihn völlig traumatisiert wieder ausgemacht, weil da ganz furchtbare Dinge mit einem Schaf, einem Kürbis und einem Bügeleisen angestellt worden sind. Danach hat er zehn schreckliche Minuten lang daran gezweifelt ob er überhaupt eine Sexualität hat und in seinem Leben jemals wieder eine Erektion bekommen wird. Weil Au. Au. Au. Nicht doch. In seinem Zimmer angekommen stehen sie fünf endlos lange Minuten schweigend in der Gegend herum und gucken sich nicht an. „Bist du... bist du wirklich nur hier um zu reden?“ fragt Wataru schließlich. „Weil dann können wir auch runtergehen und uns von meiner Mutter Omurice machen lassen.“ Ryousuke hört auf Interesse an Watarus DVD-Sammlung vorzuheucheln, die er eh in und auswendig kennt und hebt die Augenbrauen. „Hast du sie noch alle? Sollte ich jemals vor deiner Mutter übers Knutschen reden, dann nur, weil ich ihr unzüchtige Angebote unterbreite, sonst garantiert nicht.“ „Oi! Ryousuke!“ Ryousuke wirft ein Kissen in seine Richtung ohne hinzusehen. Dann seufzt er und schneidet ein paar komplizierte Grimassen. „Ne“, murmelt er schließlich. „Oh gut“, sagt Wataru erleichtert. Nichts gegen Reden. Er redet viel und gerne und über jeden Scheiß. Aber irgendwie wäre das jetzt irgendwie doch ziemlich antiklimatisch gewesen. Außerdem hat er jetzt schon mal stundenlang Zähne geputzt. Ryousuke macht eine auffordernde Handbewegung. „Bringen wir es hinter uns. Ich hab heute auch noch was anderes vor.“ „Klar. Okay.“ Wataru nickt. Mit einem Mal schlägt ihm das Herz bis zum Hals. Wie? Jetzt gleich? Hier und jetzt? Jetzt sofort? Auf der Stelle? „Wo ähm...?“ Ryousuke räuspert sich und hebt betont gleichgültig mit den Schultern. „Wo willst du mich haben?“ Irgendetwas an diesem Satz sorgt dafür, dass Watarus Sexualität, von der er eben noch dachte, dass sie für immer verloren ist, mit einem Schlag wiederhergestellt ist. „B-Bett?“ krächzt er mit weit aufgerissenen Augen. Es zuckt um Ryousukes Mundwinkel. „Jetzt mal langsam mit den jungen Gäulen.“ „Nein, ich meinte...“ Wataru spürt wie er rot wird. „Das meinte ich nicht. Ich meinte nur... willstdudichhinsetzen?“ Er kann das nicht im Stehen. Es besteht eine mindestens 85% Wahrscheinlichkeit, dass er dabei ohnmächtig wird, genauso wie in der siebten Klasse, und deswegen ist es besser, wenn er sich eh schon auf dem Boden befindet. Ryousuke wirft einen Blick auf Watarus ausgerollten Futon, kaut auf der Unterlippe, blickt an die Decke und wieder zurück auf den Boden und murmelt: „Klar. Wieso nicht“, als ob ihn das alles überhaupt nichts angeht. Sie sitzen sich gegenüber, zwischen ihnen ist immer noch ein halber Meter Platz, und Watarus Hände sind jetzt schon komplett nassgeschwitzt. Vielleicht hätte sie doch erst noch Omurice essen sollen, denkt er panisch. Oder noch eine Nacht drüber schlafen. Oder das College abwarten. Eigentlich kann man sich doch auch als Rentner noch gut küssen… Abwartend sieht er Ryousuke an, aber der ist vollkommen beschäftigt damit intensiv die Tatamimatte anzustarren, an der er grade herum zupft. „Müssen... müssen wir uns jetzt irgendwie absprechen?“ fragt Wataru schließlich. „Alter, das ist keine Prügelei. Du kannst einfach anfangen.“ „Ich? Wieso ich?“ „Weil du derjenige bist, der wissen wollte wie sich das anfühlt. ‚Mit einem Jungen und so‘.“ Ryousuke macht Gänsefüßchen mit den Fingern. Immer noch ohne aufzusehen. „Aber du bist derjenige, der überhaupt schon Leute geküsst hat“, gibt Wataru zurück. „Ich hab doch keine Ahnung.“ „So viel kann man da nicht falsch machen“, murmelt Ryousuke und klingt so als ob man dabei eine ganze Menge falsch machen kann. „Ist ja nicht das Kama Sutra. Ich sag dir nachher wie du warst.“ Er reibt sich mit einer Hand in den Nacken und hat den Blick wieder überall nur nicht auf Watarus Gesicht. Wataru setzt an zu protestieren, denn seine Erfahrung beschränkt sich wirklich auf Minako, 7. Klasse, verlorene Wette und so, und Ryousuke ist doch derjenige mit den acht Freundinnen, aber dann hält er inne. ‚Weil du überhaupt der einzige Mensch bist, dem ich vertraue‘, hallt in seinem Kopf wieder wie ein schlecht eingestelltes Radio. Es geht nicht ums Küssen, wird ihm mit einem Mal klar, wie ein Schlag in die Magengrube, es geht nicht einmal darum einen Jungen zu küssen oder eine uralte Schwärmerei zu bewältigen. Es geht ums Vertrauen. Bei Ryousuke geht es immer ums Vertrauen. Und Ryousuke hat ihm gestern eine riesige Vertrauensbombe vor die Füße geworfen mit all den halben Sätzen und Andeutungen, die er geliefert hat. Vielleicht ist Mizusawa nicht der einzige, der darüber nachdenkt. Vielleicht warst du mal meine Kiyama. Vielleicht… Vielleicht. Er sieht Ryousuke an, der extra frisch geduscht hat, auch wenn er es nicht zugeben will, und der sein Date-Shirt angezogen hat, weil das hier wichtig und besonders ist. Ryousuke, der verlegen auf den Boden und die Wände starrt und nicht weiß was er mit seinen Händen tun soll, und versucht seine Nervosität mit coolen Sprüchen zu überspielen. Und dann schämt Wataru sich ein bisschen, weil seine ursprüngliche Intention war es einfach nur hinter sich bringen. ‚Einfach hinter sich bringen‘ ist keine Option mehr, spätestens seit Ryousuke in seinem Date-Shirt hier aufgetaucht ist. „Augenblick“, sagt er aus einer spontanen Eingebung heraus und springt auf. Er knipst die viel zu helle Deckenlampe aus und wühlt in seiner Schublade nach Streichhölzern. Seine Mutter stellt sowieso ständig Kerzen auf, dann kann er sie auch benutzen. „Besser?“ fragt er, als das Zimmer zwei Minuten später in warmes gedämpftes Licht von einem halben Dutzend flackernder Kerzen getaucht ist. Ryousuke schnaubt. „Du musst mich nicht erst verführen, ich bin leicht zu haben. Ich sitze ja schon hier.“ Aber er sieht dankbar aus, soweit Wataru das in dem flackernden Licht erkennen kann, und er hat aufgehört nervös an der Matte herum zu zupfen. „Bereit?“ fragt Wataru mit klopfendem Herzen. „Bereit wenn sie es sind, Sergeant Pembry.“ „Echt jetzt? Musst du grade jetzt die Szene zitieren wo Hannibal Lecter dem Polizisten das halbe Gesicht auffrisst?“ „Sorry, sorry.“ „Okay.“ Wataru atmet langsam aus und fährt sich mit den feuchten Handflächen über seine Jeans. „Aber... lach mich nicht aus, okay?“ „Mach ich nicht.“ Beim ersten Mal geht alles schief. Da ist viel zu viel Abstand zwischen ihnen, Wataru weiß nicht wohin mit seinen Händen und sie drehen zur gleichen Zeit den Kopf zur Seite und stoßen mit der Stirn aneinander, bevor ihre Lippen sich überhaupt berühren. Ryousuke fängt prustend an zu lachen. „Ich hasse dich“, stellt Wataru fest, während er sich den Kopf reibt. „Ich lache nicht über dich, ich lache mit dir“, beteuert Ryousuke. „Ich lache aber gar nicht, du Pfosten.“ Danach fühlt sich wenigstens die Atmosphäre etwas besser an, entspannter und vertrauter, und nicht mehr wie in einem schlechten Film. Und auch nicht mehr wie in ‚Schweigen der Lämmer‘. Im Endeffekt KANN das gar nicht peinlicher werden als mit Minako in der siebten Klasse, vermutet Wataru. Das sollte ihn wahrscheinlich beruhigen. „Das wird so nichts. Los, komm her“, befiehlt er und er weiß nicht, was es an diesem Satz ist, aber Ryousuke atmet heftig aus, und rutscht gehorsam ein Stück näher zu ihm. Diesmal legt Wataru die Arme um ihn. Vielleicht ist das kitschig und vielleicht macht man das nur mit Mädchen, Wataru weiß es nicht, aber es ist das Einzige, was sich richtig anfühlt. Und wenn Ryousuke ihn deswegen auslachen will, soll er das tun. Aber Ryousuke lacht nicht. Ryousuke wendet ihm den Kopf zu, vertrauensvoll und mit geschlossenen Augen, und diesmal treffen sich ihre Lippen auf halbem Weg. Und dann küsst Wataru ihn richtig. Feine, helle Haarsträhnen kitzeln seine Wange. Ryousukes Lippen sind weich und nachgiebig, und er riecht gut, das ist das erste was Wataru auffällt. Er riecht gut, nach Shampoo und Minze, nach sauberer Wäsche und ein bisschen aufgeregt, warm und verschwitzt. „Oh...“, haucht Wataru, sprachlos, atemlos. Angenehm überrascht. Er weiß nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund hat er angenommen, dass Küssen bei zwei Jungen hart und finster und herausfordernd sein müsste. Wie ein Duell. „Das zählt nicht ...“, flüstert Ryousuke gegen seine Lippen. „Mach nochmal.“ Wataru gehorcht. Er hatte irgendeinen Plan. Möglicherweise. Er hat da mal was gelesen, wie man den Kopf drehen soll oder sowas, aber das alles verschwimmt in einem Nebel aus 'Oh!' und 'oh ja', als Ryousuke folgsam unter ihm die Lippen öffnet. Alles an Ryousuke, der sonst nur aus Ecken und Kanten und abweisenden Sprüchen besteht, ist plötzlich weich und willig und ungewohnt verletzlich, und seltsamerweise gibt das Wataru mehr als sämtliche Pornos zusammen. Er fühlt sich erhitzt und atemlos und ein bisschen benebelt, als er irgendwann langsam den Kopf zurücknimmt. „War...war das okay?“ flüstert er heiser. Ryousuke hat ein verträumtes, kleines Lächeln auf den Lippen und schmiegt sich in Watarus Armen wie eine dahin geschmolzene Filmschönheit. Seine langen dunklen Wimpern werfen malerische Schatten auf seine Wangenknochen, als er blinzelt. „Hmm“, murmelt er. „Neun von zehn, würde ich nochmal tun.“ „Neun? Wieso nur neun?“ „Wenn ich zehn sage, bildest du dir noch was drauf ein. Und ein bisschen mehr Zunge beim nächsten Mal. Außer du küsst eine Nonne. Mönch. Wie auch immer.“ Wataru lacht atemlos. „Ich… okay, ich merk‘s mir.“ Er versucht sich aufzurichten, aber das stellt sich als schwieriger heraus als geplant, weil Ryousuke absolut keine Anstalten macht sich zu bewegen und immer noch völlig knochenlos in seinen Armen liegt. „Könntest du...? Wenn ich dich jetzt loslasse, fällst du auf den Boden“, bemerkt er. „Dann lass halt nicht los“, erwidert Ryousuke pragmatisch und legt den Kopf auf Watarus Schulter. Okay, das ist natürlich auch eine Möglichkeit. - „Ich... ich bin möglicherweise ein bisschen weniger heterosexuell als ich dachte“, gesteht Wataru irgendwann später an diesem Abend. Viel später. Eine kalte Dusche, eine Sinnkrise und ein Videospiel später, genauer gesagt. Ryousukes Antwort besteht darin, dass er lacht und lacht und lacht, bis er beinah erstickt. Sobald er wieder Luft bekommt, tätschelt er mitfühlend Watarus Kopf. „Willkommen im Club.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)