All You Deliver von GOTTHEIT ================================================================================ Empty Inside ------------       Ein Blick.   Ein einzelner Blick   Beladen mit so viel Vergangenheit, die all die Jahre nicht gesehen werden wollte. Ein vertrauter und zugleich längst fremd gewordener Blick. Unverfänglich, rein, unbeschrieben und doch verdorben durch alles, was geschehen war. Bloß ein einzelner Blick.   Ein Blick, der das Kartenhaus aus Verdrängung und Gleichgültigkeit mit federleichter Eleganz zum Einsturz brachte.     Eigentlich wollte er bloß verfrüht ein Weihnachtsgeschenk für Satsuki auf diesem dämlichen Rummel holen, weil er wusste, dass sie auf so einen Kram stand. Aber von all den Menschen, die Aomine Daiki hätten an diesem Tag begegnen können, zwischen all den unnötig überladenen Ständen und begeisterten Teenagern, zwischen all den bodenlos verliebten Pärchen, zwischen all den Turbulenzen der anrückenden Menschenmassen musste es ausgerechnet Kise Ryōta sein.   In einem Meer aus fröhlichen Gesichtern jemand Unverwechselbares. Ein Lächeln von früher. Ein selbstbewusstes Strahlen. Der goldenen Schimmer des blonden Haares.   Von all den Leuten, die Aomine Daiki seit Ewigkeiten nicht gesehen hatte, musste es ausgerechnet  einer sein, den er am wenigsten treffen wollte. Einer, den er am wenigsten leiden konnte. Der nervigste, der dümmlichste, der fröhlichste.     Ein Blick.     Kise Ryōta nahm ihn nicht sofort wahr. – Eine Chance sich einfach auf dem Absatz umzudrehen, es gar nicht erst zu einem Treffen kommen zu lassen, nie da gewesen zu sein. Er zögerte nur einige Sekunden. Dann war es zu spät. Zu nah stand Daiki bereits dran. Selber Stand voller Edelsteine, die nach Sternzeichen sortiert waren. Knappe anderthalb Meter entfernt. Unübersehbar.   Kise Ryōta hob leicht verwirrt den Kopf, strich sich eine hartnäckige Strähne hinters Ohr, sah zu ihm. Und dann war es vorbei. Kein Rückzug mehr möglich. Als hätte irgendwo in Daikis Brust eine Falle zugeschnappt. Seine Lunge verweigerte ihm den Dienst. Seine Kehle – trocken und rau. Als wäre die Zeit stehengeblieben verschwamm die Umgebung in einem einzigen, bewegungslosen bunten Moment. Bilder, Stimmen, Gerüche – alles unwichtig.   Wenn ein Blick mehr als tausend Worte sagen konnte, dann wäre das wohl der richtige Moment dafür. Doch er war so nichtssagend, so frei von jeglicher Absicht und jeglichem Sinn, dass nur noch Worte diesen Moment füllen konnten.   „Aomine?“, fragte Kise. „Aomine Daiki? – Aominecchi?!“   Daiki öffnete den Mund, wollte irgendetwas sagen, aber jemand unterbrach ihn.   „Papa, wer ist das?“   Sein Blick riss sich von den hellbraunen Augen Kises los, glitt zur Quelle der zarten Stimme. Ein kleines Mädchen klammerte sich an Kises Hosenbein. Ein kleines Kind, dem Kise gerade noch die bunten Edelsteine gezeigt hatte. Es schaute mit denselben hellbraunen Augen zu Daiki empor. Dasselbe blonde Haar, das unter einer flauschigen, weißen Mütze in zwei geflochtenen Zöpfen hervorlugte. Dieselbe Schönheit der feinen Gesichtszüge.   „Wow, was für ein Zufall, Aominecchi!“ Erst nach der Äußerung seiner Überraschung richteten sich Kises Worte an das Mädchen. „Das ist ein alter Schulkamerad von mir, Natsu-chan, wir waren zusammen auf derselben Mittelschule und haben uns bestimmt schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen!“ Er sah wieder auf und penetrierte Daiki mit einem derart neugierigen und strahlenden Blick, dass es schwer werden würde, sich davon loszureißen. „Was machst du hier?“   Stille breitete sich aus, als hätte Kise Ryōta sein Gegenüber gar nicht angesprochen. Was sollte Daiki dazu auch sagen? Wohl kaum, dass er keine Zeit für einen Plausch hatte, weil er zu beschäftigt war. Das würde sich viel zu sehr nach einer gekünstelten Ausrede anhören. Und diese Blöße wollte sich Daiki definitiv nicht geben. Nicht bei Kise und seiner – er sah fast ungläubig wieder zu dem kleinen Mädchen runter – Tochter. „Ist es dein Ernst?“, fragte er stattdessen, unbewusst darüber wie dumm das klingen mochte. „Du hast ein Kind?“ „Was ist das denn für eine Frage, Aominecchi? Wir sind doch keine 16 mehr“, bekam er nur zur Antwort. Er konnte sich der unleugbaren Ähnlichkeit zum Trotz nicht vorstellen, dass Kise Ryōta eine Tochter hatte. Der quirlige, kindische Kise von damals, der nie wusste, wann man den Mund halten sollte. Wie konnte so einer ein Kind haben? Daiki sah weiterhin unbeirrt skeptisch hinunter zu dem Geschöpf. Das kleine Häufchen Mensch, das seinem Vater knapp bis zur Mitte des Oberschenkels reichte, schaute mit unverblümter Reinheit zu ihm zurück. Es war, als würden die hellbraunen Augen geradewegs Daikis Seele infiltrieren, ohne dass er dem entgegenwirken konnte. Ihm wurde ganz mulmig zumute und er hätte nie gedacht, dass Kises Stimme einmal irgendwie rettend sein würde. „Na los, lass uns doch ein Eis essen gehen“, schlug Kise vor, sodass seine Tochter ihren Blick von Daiki abwandte um plötzlich wie ein kleiner Stern ihren Vater anzustrahlen. „So zur Feier unseres Wiedersehens, meine ich. Na?“ Dieser beugte sich ein wenig runter, strich dem Mädchen liebevoll über den Kopf und nahm es anschließend bei der winzigen Hand.     Daiki wusste nicht, warum er überhaupt mit den beiden mitgegangen war und auch nicht, warum Kise Ryōta darauf bestanden hatte. Letzterer hatte zielstrebig ein offenes Eiscafé ausfindig gemacht und nun saßen sie um einen kleinen, runden Tisch, nur um sich in aller Seelenruhe anzuschweigen, während sie auf das Eis warteten. Zumindest wartete Kises Tochter auf ein Eis. Ihr Vater hatte sich einen Latte Macchiato bestellt und Daiki rührte in seinem Espresso mit dem Löffel herum, in der Hoffnung, dass das Treffen aufgrund des unangenehmen Schweigens bald vorbei ging. Allerdings schien es nur für Daiki unangenehm zu sein, denn die Kleine beschäftigte sich eifrig mit dem Bekritzeln eines Notizblocks, den Kise ihr für diesen Zweck gereicht hatte, während er selbst gelassen hin und wieder zu ihr rüber sah. Entgegen jeder Erwartung hatte er nicht die Absicht Daiki vollzuquasseln, wie er es früher immer getan hätte. Das Kind schien ebenfalls die Ruhe in Person zu sein, anstatt hibbelig auf dem Stuhl herumzurutschen und irgendeinen Bullshit zu erzählen, den Kinder so von sich gaben, wenn der Tag lang war. Es kam der Situation zugute, weil Daiki sich deswegen nicht bemühen musste, das Ganze zu ignorieren. Er mochte Kinder nicht sonderlich, wusste nicht, wie er mit ihnen umgehen sollte. Darüber hinaus wollte er es auch gar nicht wissen, genauso wie er diverse Sachen aus Kises Leben nicht wissen wollte. Es war also außerordentlich entspannend (wenn auch sehr überraschend), dass Kises Balg keine besondere Aufmerksamkeit verlangte. Trotzdem schwebte eine seltsame Anspannung in der Luft, als müsste etwas gesagt werden, und je länger Kise in der Ruhe der Dreisamkeit aufging, desto unruhiger rührte Daiki in seinem Getränk. In der Tat rührte er mehr, als dass er es trank. Eigentlich mochte er Kaffee nicht einmal. Er war niemals seine erste Wahl und auch weit davon entfernt, sein Lieblingsgetränk zu sein, aber er hatte ihn sich eher einfachheitshalber bestellt, um sich nicht rechtfertigen zu müssen, warum er sich stattdessen so ein Kindergesöff wie Kakao bestellte. So was konnte er sich auch zu Hause anrühren, wenn er überhaupt noch was da hatte. Es war vielleicht kindisch, aber aus unerfindlichen Gründen hatte Daiki das Bedürfnis, keine Grundlage für Fragen zu liefern. Und schon gar nicht bei Kise, welcher schließlich doch noch die Stille zwischen ihnen durchbrach. „Man hört nicht viel von dir“, sagte er feststellend und nippte am Schaum seines Getränks. Das Geräusch, das dabei entstand, störte Daiki in etwa so sehr, wie jemanden ein unsittliches Schmatzen beim Essen stören würde. Er verzog leicht das Gesicht und wandte den Blick zu seinem bitteren Gebräu abwärts. „Es gibt halt nicht viel zu hören“, erwiderte er knapp. Ein leises Lachen war die Antwort darauf. „Du klingst ein bisschen so, als wärst du tot, Aominecchi. Aber das bist du ja nicht, also gehe ich davon aus, dass irgendetwas in deinem Leben abgeht.“   Tot.   Ein Stichwort, das verstörenderweise durchaus zutraf.   „Was machst du momentan? Hast du eine Freundin? Wie geht es dir? Ist doch irgendwie klar, dass ich so was wissen will, wenn man sich jahrelang nicht gesehen hat.“ Daiki nahm augenblicklich zurück, was ihm einige Minuten vorher noch durch den Kopf gegangen war. Die Intention ihn zuzulabern hatte Kise einfach nur bis zu diesem Moment aufgeschoben. Bist DU vielleicht eine ekelhafte Nervensäge. Das war alles, was Daiki sich gerade dachte. „Du hast dich echt kein Stück verändert, Kise.“ Er seufzte mit genervtem Unterton, nahm einen Schluck von seinem Kaffee, um ein wenig Zeit zu schinden und räusperte sich leise, weil die Bitterkeit seinen Geschmacksnerven zusetzte. „Mir geht’s gut. Nein, ich habe keine Freundin. Und ich mache nichts, was für dich spannend zu erfahren wäre“, fuhr Daiki aufzählend fort. Er leierte die Antworten beinah runter, als hätte ihn ein Lehrer in der Schule aufgefordert, das Alphabet aufzusagen. Als Kises Tochter den Kopf hob und neugierig zu ihm sah, versuchte er krampfhaft nicht hinzusehen, als würde er sich schämen vor jemandem, der so rein und unschuldig war, genervt zu sein. Aber er war es nun mal. Allein schon weil Kise ihm nur zulächelte und keine Fragen mehr stellte. Diese Unverbindlichkeit übte noch viel mehr unangenehmen Druck auf ihn aus.   Daiki trank die letzten Schlucke seines Kaffees auf ex, zog den Reißverschluss seiner Jacke zu, die er nicht einmal ausgezogen hatte und nickte dann zum halbherzigen Abschied. „Okay, ich mach mich dann los. Muss Satsukis Geschenk kaufen und dann noch Zeug erledigen“, sagte er. Dass er in leichter Eile war, hier wegzukommen, war nicht zu überhören. „Danke für den Kaffe. Bis dann.“ „Auf Wiedersehen“, gab das Kind höflich von sich und winkte ihm zu. „Ja, wir sehen uns“, stimmte Kise mit ein. Auf seinem Gesicht tänzelte ein seltsam wissender Ausdruck, als stünde es nicht zur Debatte, dass sie sich bald wieder begegnen würden.   Sicher nicht, antwortete Daiki in Gedanken.     Tot.   Innerlich war er es wirklich schon lange.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)