Changing the Game von Morwen ================================================================================ Part 1 ------ Davenport, Winter 1755   „Liam, was tust du hier?“ Der andere hielt kurz inne und warf Shay einen flüchtigen Blick über die Schulter hinweg zu, bevor er damit fortfuhr, den Schreibtisch von Achilles zu durchsuchen. Shay hatte an diesem Abend mit ihrem Mentor über Liam sprechen wollen, um den er sich schon seit Wochen große Sorgen machte. Doch stattdessen war es sein bester Freund selbst, den er im Arbeitszimmer von Achilles antraf. Dass dieser sich dabei nicht zu ihm herumdrehte, wie er es sonst immer tat, wenn er mit ihm sprach, konnte nur einen Grund haben – Liam erwartete einen Angriff, und er wusste ganz genau, dass der andere ihm niemals in den Rücken schießen würde. Wie konnte es nur so weit kommen?, fragte sich Shay, während er die Hand sinken ließ, die sich instinktiv auf den Griff seiner Pistole gelegt hatte. Wie war es nur dazu gekommen, dass er jemals in einer Situation sein würde, in der er sich gezwungen sah, seinen Freund aufzuhalten, wenn nötig sogar mit Gewalt? Denn Liam war nicht mehr derselbe, seitdem er aus Lissabon zurückgekehrt war. Er war immer ein ruhiger, zurückhaltender Mann gewesen, der erst nachdachte, bevor er sprach, doch in den letzten Wochen war er noch in sich gekehrter gewesen, als je zuvor, und schien sich innerlich nicht nur von Shay, sondern auch von den Assassinen und Achilles abgewandt zu haben – dem Mann, dem er sein Leben verdankte. „Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe, dann würdest du das Gleiche tun“, sagte Liam leise, während er eine Schublade aufzog und die Pergamente darin durchsuchte. „Und was genau ist es, was du tust?“, fragte Shay. Er kannte die Antwort bereits, aber er wollte, dass Liam sie aussprach, wollte die verräterischen Worte mit eigenen Ohren hören. Der andere hatte endlich gefunden, wonach er gesucht hatte, und zog das Voynich-Manuskript unter einem Stapel alter Briefe hervor. Behutsam strich er über die uralten Seiten und das Lächeln, das sich auf seine Lippen legte, war seltsam traurig. „Das Richtige, hoffe ich“, entgegnete er. Dann hielt er das Manuskript über den Kerzenständer, der auf dem Schreibtisch stand. Innerhalb weniger Sekunden brannte das trockene Pergament lichterloh. „Nein!“ Shay streckte verzweifelt die Hand aus, doch sein Freund machte schnell ein paar Schritte zurück. Er wartete, bis das Buch in Flammen stand, dann warf er es durch das Fenster auf den schneebedeckten Balkon hinaus, damit die Funken nicht die restlichen Schriftstücke auf dem Schreibtisch in Brand setzen konnten. Doch selbst wenn die Feuchtigkeit das Feuer erstickte und einzelne Seiten überleben sollten, wusste Shay in diesem Moment mit absoluter Sicherheit, dass das Manuskript verloren war. „Liam, was hast du getan...?“, fragte er mit fassungslosem Blick. Der andere griff nach der Schatulle, die auf dem Schreibtisch stand. „Ich erwarte keine Vergebung“, sagte Liam und sah seinen Freund ruhig an. „Ich hoffe nur, dass du eines Tages verstehen wirst, weshalb ich es getan habe.“ Er wandte sich ab. „Leb wohl, Shay.“ Und mit diesen Worten trat er auf den Balkon hinaus und schwang sich über das Geländer, und war nur wenige Augenblicke später in der Dunkelheit verschwunden. Shay hatte sich noch nicht von seinem Schock erholt, als sich auch schon die Tür des Arbeitszimmers hinter ihm öffnete und Achilles das Zimmer betrat. Mit nur einem Blick schien sein Mentor die Situation zu erfassen. „Wo ist er?“, fragte er mit gefährlich leiser Stimme. „Ich...“ Shay suchte verzweifelt nach Worten, während seine Gedanken noch immer um die Dinge kreisten, die sich soeben ereignet hatten. „Er hat das Manuskript verbrannt, Herr“, sagte er schließlich. „Ich weiß nicht, was er mit der Schatulle vorhat.“ „Ich hatte befürchtet, dass es dazu kommen würde...“, murmelte Achilles und tiefes Bedauern schwang in seine Stimme mit. Doch dann verhärtete sich der Ausdruck in seinen Augen. „Alarmier die anderen. Liam darf nicht entkommen.“ „... ja, Herr“, erwiderte Shay und setzte sich in Bewegung. Sie jagten ihn durch die Nacht, als wäre er ein wildes Tier, und nicht der Freund, der all die Jahre lang an ihrer Seite gekämpft hatte. Shay war der erste, der ihn schließlich stellte. Wieder stand Liam mit dem Rücken zu ihm, dieses Mal am Rande einer Klippe, an deren Fuße sich die Wellen des endlosen Meeres brachen. „Gib auf!“, rief Shay, die Pistole auf seinen Freund gerichtet. „Bitte, Liam! Ich will dich nicht verletzen müssen!“ Der andere lachte verbittert auf und drehte sich zu ihm herum. „Vielleicht habe ich es verdient, nach dem, was ich getan habe!“ „Lissabon war nicht deine Schuld, Liam!“, erwiderte Shay. „Du konntest nicht wissen, was passiert!“ „Konnte ich nicht?“ Liam schüttelte den Kopf. „Das Erdbeben in Haiti hätte uns eine Lehre sein sollen, doch ich war blind.“ Er hob den Blick und sah seinem Freund offen ins Gesicht. „So wie du es jetzt bist, Shay. Auch du verschließt die Augen vor der Wahrheit.“ „Liam...“ Shay konnte hören, wie sich nach und nach die restlichen Assassinen um sie herum versammelten und das Geschehen aufmerksam beobachteten. Er spürte Achilles‘ bohrenden Blick – und die Erwartungen seines Mentors, die in diesem Moment auf ihm lagen. Seine Gedanken rasten, und schließlich traf er eine Entscheidung. So leise, dass nur Liam seine Worte hören konnte, sprach er: „Dies wird nicht dein Ende sein. Vertrau mir.“ Liam sah ihn für einen Moment verständnislos an, doch dann schien er zu begreifen und ein Ausdruck von Hoffnung trat in seine Augen. Beinahe unmerklich nickte er Shay zu. Dieser atmete ein letztes Mal tief durch. Dann schoss er. Die Kugel raste haarscharf über Liams Schulter hinweg, doch sein Freund taumelte zurück, als wäre er getroffen worden. Er drehte sich einmal um seine eigene Achse und stolperte ein paar Schritte zurück, bevor er schließlich nach hinten kippte... ... und fiel. Shay machte sich keine Illusion. Die Wahrscheinlichkeit, dass Liam den Sturz überlebte, war sehr gering. Doch lieber hatte er sein Blut an den Händen kleben, als dass er ihn Achilles und den Assassinen überließ. Zitternd ließ er die Pistole wieder sinken. Er fühlte sich grauenhaft und hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. „Was hast du getan, Shay...“ Während die restlichen Assassinen besorgte Blicke tauschten und sich mit raunenden Stimmen zu unterhalten begannen, trat Achilles auf ihn zu. Shay sah ihn nicht an, sondern hielt den Blick starr zu Boden gerichtet. „Er hätte niemals aufgegeben, das wisst Ihr ebenso gut, wie ich, Herr.“ Im Gegensatz zu seinen Händen, die noch immer zitterten, war seine Stimme fest. „Doch wir hätten wenigstens die Schatulle zurückerlangen können!“, entgegnete Achilles. „Nun ist sie verloren oder gar vernichtet, und mit ihr all ihre Geheimnisse.“ Vielleicht ist das auch das Beste, dachte Shay, doch er unterdrückte den Impuls, die Worte auszusprechen, und schwieg stattdessen. Sein Mentor sah ihn für eine Weile wortlos an, doch schließlich seufzte er auf und schüttelte den Kopf. „Verzeih mir, Shay. Du hast gerade eine schwere Entscheidung getroffen. Liam war nicht nur dein Freund, er war fast so etwas wie dein Bruder. Ich weiß, wie schwer es für dich gewesen sein muss, den Abzug zu drücken...“ „Nein, Herr“, erwiderte Shay mit rauer Stimme und hob endlich den Blick. Achilles hielt ihm für einen Moment stand, doch schließlich musste er die Augen abwenden, zu sehr schien ihn der Ausdruck zu schmerzen, den er auf Shays Gesicht sah. „Bei allem Respekt: das wisst Ihr nicht.“ Dann wandte Shay sich ab und kehrte zum Anwesen zurück. Sie fanden eine von Liams Pistolen wenige Tage später auf einem schmalen Streifen Sand am Fuße der Klippe. Von Liam sowie von der Schatulle fehlte jedoch jede Spur, und so lange Shay auch nach ihm suchte, sein Freund blieb verschollen. „Du hast das Richtige getan“, sagte Hope, als sie ihn am Abend aufsuchte. Die letzten Sonnenstrahlen brachten das Eis in der Bucht unter ihnen zum Leuchten. Shay, der mit baumelnden Beinen am Rand der Klippe saß, warf ihr einen flüchtigen Blick zu, als sie sich zu ihm setzte. „Das Gleiche dachte Liam auch“, entgegnete er leise. „Liam hatte die Arroganz zu glauben, er könnte Entscheidungen für die ganze Menschheit treffen“, meinte Hope. „Er wollte sie nur beschützen.“ Shay starrte auf seine Hände hinab. Sie waren rau und schwielig vom Schwertkampf und dem Umgang mit der Pistole. „Und hat sie durch seine Taten vielleicht für immer verdammt“, erwiderte Hope. „Wer weiß, was uns das Manuskript noch alles hätte lehren können? Doch jetzt ist es zerstört und sein Wissen für immer verloren. Vom Verlust der Schatulle einmal ganz abgesehen...“ „Was auch immer wir verloren haben, es war es nicht wert, dass Liam dafür sterben musste.“ Hope wandte bei diesen Worten den Kopf und sah ihn an. „Shay...“ In ihrer Stimme war nichts als Mitgefühl. Und Shay liebte sie, doch in diesem Moment empfand er nichts als Verachtung für sie. Liam mochte ihr Freund gewesen sein, doch sie hatte keine Ahnung, was Shay verloren hatte. Keiner von ihnen begriff die Schwere seines Verlustes, verstand, wie sehr er darunter litt. Denn Liam war nicht nur sein Freund gewesen – er war Shays letzte Verbindung zu seiner Vergangenheit gewesen und alles, was von seiner Familie übriggeblieben war. In dieser Nacht fasste Shay einen Entschluss. Er würde Rache üben. Und zwar an jenen, die ihn gezwungen hatten, die Waffe gegen seinen besten Freund zu richten – jene, die die Bruderschaft zu dem hatten verkommen lassen, was sie jetzt war: eine Vereinigung von Mördern, die den ursprünglichen Gedanken von Freiheit und Frieden ebenso wenig achtete, wie das Leben ihrer Mitglieder. Nein, dies waren nicht länger die Assassinen, denen Shay einst beigetreten war und für die er sich eingesetzt hatte. Machtgier und Leichtsinn hatten sie verdorben und Tausende Unschuldige das Leben gekostet, und es gab keinen anderen Weg, sie zu heilen, als die bisherigen Machtstrukturen einzureißen und die Bruderschaft von Grund auf neu aufzubauen. Shay wusste noch nicht, wie er es anstellen wollte, doch er würde alles daran setzen, seinen Plan in die Tat umzusetzen, und wenn es ihn das Leben kostete. Und vielleicht würde er Liam eines Tages rächen können.   ~*~ New York, August 1757   „... und du bist dir absolut sicher, dass er es war?“ Kesegowaase verzog für einen kurzen Moment vor Wut das Gesicht – und stöhnte dabei vor Schmerzen auf. Die Verbrennungen auf seinem Gesicht waren noch nicht verheilt und seine rechte Gesichtshälfte war kaum mehr als eine fleischige, nässende Masse. „Wenn ich es dir doch sage!“, keuchte er und presste erneut das Leinentuch auf seine Wunde. „Es war Liam, der uns attackiert hat. Als könnte ich das Gesicht des Verräters, der mir diese Verletzung zugefügt hat, je vergessen!“ Obwohl die Neuigkeiten Shay mit Freude und Erleichterung erfüllten, zwang er sich, stattdessen eine besorgte Miene zu machen, und tauschte mit Hope, die auf der andere Seite des Bettes saßen, einen schnellen Blick. „Wenn es stimmt und Liam tatsächlich noch am Leben ist“, sagte Hope schließlich, „dann ist er gefährlicher, als je zuvor. Nicht nur, weil er nun mit den Templern zusammenarbeitet, sondern weil er möglicherweise auch noch immer im Besitz der Schatulle ist.“ „Und wenn es den Templern gelingt, die darin beschriebenen Artefakte ausfindig zu machen...“, begann Shay. „... dann ist die Welt, wie wir sie kennen, in Gefahr“, beendete Hope den Satz. „Sie werden sie zweifellos dafür nutzen, um ihre Ziele durchzusetzen, was bei der momentanen politischen Lage fatal wäre.“ Shay nickte. „Wie sollen wir weiter verfahren?“, fragte er. Hope stand auf. „Ich werde nach Davenport zurückkehren und Achilles über die Neuigkeiten in Kenntnis setzen. Er wird wissen, was zu tun ist.“ Sie sah Kesegowaase an. „Du wirst dich erst mal für ein paar Wochen erholen und dabei weiterhin den Kontakt zu den Stämmen und ihren französischen Verbündeten aufrechterhalten und alle Neuigkeiten an uns weiterleiten. Shay...“ Sie wandte sich ihm zu, doch Shay wusste schon, was sie sagen würde. „Ich werde ihn dabei unterstützen und alle Botengänge erledigen, die er in seinem Zustand nicht selbst machen kann“, sagte er. „Verlass dich auf mich.“ Hope schenkte ihm ein Lächeln und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Bring dich nicht Schwierigkeiten“, meinte sie, dann nickte sie Kesegowaase ein letztes Mal zu und verließ das Zimmer. Der andere Assassine sank kurze Zeit später in einen unruhigen Schlaf. Shay, der trotz der späten Stunde noch immer munter war, verließ nach einer Weile das Zimmer, und trat auf die spätsommerlichen Straßen New Yorks hinaus. Erst als er mehrere Straßen vom Gasthaus entfernt war, wagte er es, die Kontrolle über seine Gesichtszüge aufzugeben, und begann wie ein Narr von einem Ohr zum anderen zu grinsen. Liam war am Leben. Wie auch immer er es geschafft hatte, seinen Fall zu überleben, selbst die Tatsache, dass er sich den ärgsten Feinden der Assassinen angeschlossen hatte – was mit der Zeit eine ganze Reihe anderer Probleme mit sich bringen würde – konnte nichts an Shays Freude über diese Neuigkeiten ändern. Für einen Moment war er zu glücklich, um sich um die Zukunft Sorgen zu machen. Für einen kurzen Augenblick hatte er wieder Hoffnung.   ~*~ Albany, November 1757   Albany war gefallen. Die britischen Soldaten hatten verzweifelten Widerstand geleistet, doch am Ende gelang es ihnen nicht, gegen die Übermacht der Franzosen und der vereinigten Stämme unter Kesegowaases Führung anzukommen. Nachdem die Assassinen auch das Fort im Sturm erobert hatten, verfolgte Shay den Anführer der Templer durch die brennenden Straßen der Stadt. Achilles‘ Anweisungen waren klar gewesen: Shay sollte Monro töten und die Schatulle, die sich in seinem Besitz befand, zu den Assassinen zurückbringen. Womit er nicht gerechnet hatte, war das Lächeln, das der Templer ihm schenkte, als Shay ihn schließlich in einer Gasse in der Nähe des Hafens stellte. „Ihr müsst Master Cormac sein“, sagte Monro. Er hatte eine angenehme, kultivierte Stimme. „Liam hat mir schon viel von Euch erzählt.“ Shay richtete die Spitze seines Schwertes auf die Brust des Templers. „Wenn Ihr meinen Namen kennt, solltet Ihr auch mit meinen Allianzen vertraut sein“, erwiderte er harsch. Es würde kein fairer Kampf sein, das erkannte er sofort. Monro war Diplomat, kein Kämpfer. Selbst wenn er versteckte Klingen am Körper trug, würde er nicht lange mit Shays jugendlicher Kraft und Geschwindigkeit mithalten können. Monro nickte nur verständnisvoll, als wäre die Tatsache, dass man ihn gerade mit einem Schwert bedrohte, das geringste seiner Probleme. „Ihr seid wegen der Schatulle hier“, sagte er. „Die Ihr bei Euch tragt“, entgegnete Shay und trat einen Schritt näher, bis die Klinge den Stoff von Monros Uniform berührte. „Gebt sie mir.“ Der andere Mann gab ein bedauerndes Seufzen von sich. „Ich gehe davon aus, dass Ihr mich auch dann töten werdet, wenn ich sie Euch gebe?“ „Es ist nichts Persönliches“, sagte Shay, doch er fühlte einen Stich bei diesen Worten. Monro machte einen sympathischen Eindruck. Dieser Mann hatte ihm nichts getan; sein einziges „Verbrechen“ bestand darin, ein Mitglied der Templer zu sein. Shay biss die Zähne zusammen. Ihn zu töten würde ihm keine Freude machen. Plötzlich hoben sich Monros Augenbrauen überrascht, und er sah an Shay vorbei. Doch bevor dieser sich herumdrehen konnte, spürte er den kalten Stahl einer Dolchklinge an seinem Hals. „Eine falsche Bewegung, und du wirst an deinem eigenen Blut ersticken“, hörte er eine wohlbekannte Stimme an seinem Ohr. Shays Augen weiteten sich und sein Schwert fiel mit einem Klappern auf den steinigen Boden. „Liam!“ „Ganz recht“, erwiderte der andere und stieß ihn dann von sich, wobei er mit der freien Hand die Pistole aus seinem Gürtel zog und sie auf Shay richtete. „Seid Ihr verletzt?“, fragte er und warf Monro einen besorgten Blick zu. Doch der Templer schüttelte den Kopf. „Wir haben uns nur unterhalten“, sagte er. Shay starrte seinen besten Freund an. Liam hatte sich stark verändert, seitdem er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Mehrere lange Narben zogen sich über sein Gesicht, und auch den harten Ausdruck in seinen Augen hatte Shay noch nie zuvor gesehen. Ihm schien, als wäre sein Freund in den letzten Monaten nicht nur um Jahre gealtert, sondern als würde die Person, die er hatte fallen sehen, nicht länger existieren, und stattdessen ein völlig anderer Mann vor ihm stehen. Er wollte ihm so viele Fragen stellen – wie er überlebt hatte, was er in den letzten Monaten getan hatte, ob er Shay verziehen hatte. Doch dafür war in diesem Moment keine Zeit, und so fragte Shay stattdessen: „Ich nehme an, du hast Kesegowaase getroffen?“ „Kurz“, entgegnete Liam mit ausdrucksloser Miene. „Er ist tot.“ Shay senkte den Blick. „Ah“, machte er. Er konnte nicht behaupten, dass ihn die Nachricht überraschte. Auf gewisse Art hatte er sogar geahnt, dass es so kommen würde, auch wenn es bitter war, dass Liam nun denjenigen auf dem Gewissen hatte, den er einst für Bruderschaft rekrutiert hatte. „Verschwinde, Shay“, riss Liams Stimme ihn schließlich aus seinen Gedanken. „Bevor die Assassinen merken, dass du mit uns Kontakt aufgenommen hast.“ Doch Shay schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht.“ Liam runzelte die Stirn. „Was soll das heißen?“ „Es heißt, dass ich nicht einfach so zurückkehren kann.“ Shay hob den Kopf und sah seinem Freund fest in die Augen. „Achilles gab mir den Auftrag, Monro zu töten und ihm die Schatulle abzunehmen. – Nichts für ungut“, fügte er an den Templer gewandt hinzu, doch der winkte nur ab. „Wenn ich nicht mindestens eine dieser Aufgaben erfülle“, fuhr Shay fort, „dann wird Achilles Verdacht schöpfen.“ Liam fluchte leise. „Ich nehme an, die Bruderschaft zu verlassen ist keine Option?“, fragte Monro. „Nein.“ Shay sah den Templer dabei nicht an, sondern hatte den Blick auf Liam gerichtet. „Sei kein Narr, Shay!“, sagte dieser verärgert. „Die Assassinen werden dir niemals vollkommen vertrauen, und das weißt du genau! Achilles kennt deine Zweifel an den Methoden und Zielen der Bruderschaft schon lange. Was auch immer du vorhast, er wird dich früher oder später durchschauen!“ „Nicht, wenn Master Cormac ihm das hier gibt“, meinte Monro und trat auf Shay zu, wobei er ihm die Schatulle entgegenhielt. Shay starrte den anderen Mann an, und auch Liam fehlten für einen Moment die Worte. „Das kann nicht Euer Ernst sein, Sir!“, stieß er schließlich hervor. „Ihr macht Euch keine Vorstellung davon, was der Inhalt dieser Schatulle in den falschen Händen anstellen kann...!“ „Er hat Recht“, sagte Shay. „Glaubt mir, es ist das Beste für uns alle, wenn Achilles nie wieder in den Besitz dieser Schatulle kommt...“ Doch Monro ließ sich nicht von seinem Entschluss abbringen. „So wie ich das sehe, gibt es nur zwei Möglichkeiten“, erklärte er ruhig. „Entweder kehrt Master Cormac mit leeren Händen zu den Assassinen zurück und gerät dabei selbst unter Verdacht, oder er erfüllt zumindest eine seiner beiden Aufgaben, womit er dem Misstrauen seines Mentors entgegenwirken würde. Und da ich nicht vorhabe, zu sterben, verbleibt als einzige Option, ihm die Schatulle zu überlassen.“ „Ich...“ Wie er es auch drehte und wendete, die Logik von Monros Worten ließ sich nicht leugnen. Shay schluckte schwer, als er vortrat und die Schatulle vorsichtig an sich nahm. „Ich danke Euch, Sir.“ „Nichts zu danken“, entgegnete der Templer und lächelte. Liam sah ihn jedoch noch immer zweifelnd an. „Wir verlieren damit jeden Vorteil, Sir, das muss Euch doch klar sein? Und wie sollen wir den Verlust der Schatulle erst Master Kenway erklären–“ „Lass Master Kenway meine Sorge sein“, unterbrach Monro ihn jedoch nur gelassen. Dann wandte er sich an Shay. „Trefft mich in drei Monaten in dem Gasthaus am nördlichsten Ende des New Yorker Hafens, Master Cormac. Ihr scheint Eure eigene Agenda zu haben, die nicht nur den Assassinen, sondern auch den Templern zugutekommen könnte. Vielleicht sollten wir uns noch einmal in Ruhe unterhalten.“ Er sah zu Liam hinüber und tauschte einen langen Blick mit ihm, dann wandte er sich ab und ging. Auch Shay setzte sich wieder in Bewegung. „Ich sollte besser zur Morrigan zurückkehren, bevor uns noch jemand zusammen sieht.“ Doch Liam stellte sich ihm in den Weg, als er vorbeigehen wollte. „So einfach kann ich es dir leider nicht machen“, sagte er. Shay sah ihn verständnislos an. „Was soll das, Liam, was hast du–“ „Wenn Achilles erfährt, dass Monro unverletzt geblieben ist, als du ihm die Schatulle abgenommen hast,  wird er sich fragen, unter welchen Umständen du sie erlangt hast“, erklärte Liam. „Wenn du jedoch nur knapp mit deinem Leben entkommen konntest, sieht die Sache schon anders aus...“ Und Shay begriff. Wollte er die Assassinen überzeugen, musste er mitspielen. Was bedeutete, dass Liam nur eines vorhaben konnte... Shay biss die Zähne zusammen. Es gefiel ihm nicht, aber er hatte keine Wahl. Er schloss die Augen und wappnete sich innerlich gegen den Schmerz. „Bitte nicht im Gesicht“, sagte er. „Es wird wehtun, Shay“, warnte Liam und zog sein Schwert. „Ich weiß.“ Shay lächelte grimmig. „Halt dich nicht zurück.“ „... und er attackierte mich von hinten, als ich Monro gerade gestellt hatte“, berichtete Shay und keuchte auf, als eine neue Welle von Schmerz seinen Körper erfasste und ihn die Zähne zusammenbeißen ließ. Liam hatte ihn nicht geschont. Ein Dolchstoß in seine rechte Schulter und ein langer Schnitt quer über seine Brust hatten ihn nicht nur viel Blut gekostet, sondern seine Rückkehr nach Davenport zu einer Herausforderung gemacht. Ohne die Geistesgegenwart seines ersten Maates, der ihn schließlich gefunden und an Bord gebracht hatte, und der die Morrigan durch das eisige Wetter sicher zurück nach Davenport gesegelt hatte, während Shay in seiner Kajüte zwischen Wachsein und Bewusstlosigkeit gedriftet war, hätte er es vielleicht nie geschafft. Nachdem Shay seine Erzählung schließlich beendet hatte, stieß Achilles ein tiefes Seufzen aus. „Was für ein Desaster“, sagte Hope leise, die neben Shays Bett saß und in den letzten Stunden nicht von seiner Seite gewichen war, als hätte sie Angst, er würde sterben, wenn sie für einen Moment nicht aufpasste. „Kesegowaase tot, Shay schwer verletzt...“ „Niemals, in all den Jahren nicht, hätte ich gedacht, dass Liam uns so hintergehen könnte“, sagte Achilles schließlich. Er sah müde aus und älter, als Shay ihn je gesehen hatte. „Wenigstens haben wir...“ Shay unterbrach sich, um zu husten, und Hope strich beruhigend über seinen Oberarm. „Wenigstens haben wir die Schatulle zurückerlangt.“ „Ja“, meinte Achilles. „Wenigstens das ist uns gelungen.“ Er erhob sich und sah mit einer Mischung aus Stolz und väterlicher Zuneigung auf Shay hinab, die den anderen mit Wärme erfüllte. „Du hast gute Arbeit geleistet, Shay“, sagte er leise. „Monro mag entkommen sein, doch er wird sich uns nicht ewig entziehen können. Ruh dich jetzt aus. Wenn du dich erholt hast, habe ich eine neue Aufgabe für dich.“ „Ja, Herr“, flüsterte Shay und schloss die Augen. Nachdem Achilles das Zimmer verlassen hatte, spürte Shay, wie Hope vorsichtig die Füße auf sein Bett legte und hörte das leise Rascheln von Papier, als sie die Berichte durchging, die ihre Spione verfasst hatte. Keiner von ihnen sprach ein Wort, doch es war eine entspannte Stille, und wenig später war Shay auch schon eingeschlafen.   ~*~ New York, Februar 1758   M o n r o   e r m o r d e t .   T r e f f e n   w i e   g e p l a n t . Shay hatte die Nachricht in der Tasche seines Mantels entdeckt, nachdem er von einer Mission in New York zurückgekehrt war. Wer auch immer ihm den schmalen Papierstreifen zugesteckt hatte, war außerordentlich geschickt vorgegangen. Es kam selten vor, dass jemand so nah an Shay herankam, ohne dass er es merkte. Die Nachricht von Monros Tod hatte ihn schwerer getroffen, als er gedacht hätte. Es war Hope gewesen, die den Templer schließlich ermordet hatte, und während er ihr mit einem Lächeln zu ihrem Erfolg gratuliert hatte, hatte Shay innerlich um den Mann mit dem sanften Wesen getrauert. Der sinnlose Tod von Monro war nur ein weiterer von unzähligen Gründen, weshalb die Bruderschaft einen tiefgreifenden Wandel benötigte, und er bestärkte Shay mehr denn je in der Überzeugung, dass er diesen Wandel herbeiführen musste. Doch vielleicht würde er dabei nicht allein sein. Vielleicht würde Liam ihm helfen können. Es war schon spät am Nachmittag, als Shay das Wirtshaus betrat. Trotz der Uhrzeit war es fast leer, und als er eintrat, warf ihm der Wirt einen desinteressierten Blick zu. „Ihr werdet schon erwartet“, sagte er und nickte in Richtung der Treppe, die ins Obergeschoss führte. Shay hatte keine Ahnung, was auf ihn zukam, doch während er die Stufen hinaufstieg, wurde ihm bewusst, dass die Templer sich mit Sicherheit nicht all die Mühe gemacht hätten, um ihn jetzt in einen Hinterhalt zu locken. Wenn sie seinen Tod gewollt hätten, dann wäre er zweifellos schon längst nicht mehr am Leben. Als Shay das abgedunkelte und nur von vereinzelten Kerzen erleuchtete Zimmer betrat, war er überrascht, nicht nur Liam, sondern ein gutes halbes Dutzend weiterer Männer anzutreffen. „Du hast es geschafft.“ Liam trat mit erleichterter Miene auf ihn zu. „Ich wusste, du würdest kommen.“ Die beiden Männer begrüßten sich per Handschlag. „Wie geht es dir?“, fragte sein Freund mit einem Blick auf Shays Schulter. „Ich kann meinen Arm schon fast wieder schmerzfrei bewegen, wenn es das ist, was du meinst“, entgegnete Shay und lächelte schief. Liam senkte den Blick. „Es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe, Shay.“ „Das braucht es nicht“, winkte der andere ab. „Es war nötig, das weißt du ebenso gut, wie ich.“ Liam nickte nur. Dann machte er eine Geste, die die restlichen Anwesenden mit einschloss. „Unsere Runde ist etwas größer geworden, als ursprünglich geplant war“, sagte er. „Es gibt einiges zu besprechen.“ „Gewiss.“ Shay nickte. Sein Herz klopfte ihm vor Nervosität bis zum Halse, aber er versuchte, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen, sondern bewahrte eine neutrale Miene. „Sind wir sicher, dass wir ihm trauen können?“, fragte ein Mann mit dunklem Schnurrbart und hellen, blauen Augen. „Vielleicht wurde er auf dem Weg hierher verfolgt.“ Shay widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. „Ich bin kein Amateur, Sir“, erwiderte er. „Wenn ich nicht gesehen werden möchte, dann werde ich nicht gesehen.“ Der Mann, der gesprochen hatte, verzog nur das Gesicht, doch er äußerte keine weiteren Bedenken. „An Selbstbewusstsein mangelt es ihm jedenfalls nicht“, warf ein anderer Mann ein, der einen breitkrempigen Hut trug, und sah Liam grinsend an. „Kein Wunder, dass ihr Freunde seid.“ Die Art, wie über ihn gesprochen wurde, verärgerte Shay, und selbst die Tatsache, dass er von mehreren hochrangigen Mitgliedern des Templerordens umgeben war, konnte ihn nicht daran hindern, seinen Unmut zu zeigen. „Ihr wolltet mit mir sprechen? Dann sagt, was Ihr zu sagen habt.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ den Blick über die versammelten Männer schweifen. „Ansonsten werde ich durch diese Tür dort gehen, und Ihr werdet mich nie wieder sehen.“ Liam warf ihm einen entsetzten Blick zu und Shay machte sich innerlich schon auf einen Angriff gefasst, als er ein leises Lachen hörte und ein Mann vortrat, der bislang schweigend der Unterhaltung gelauscht hatte. Er war groß und strahlte Autorität aus, und seine grauen Augen hielten Shays Blick gefangen. „Dann sollten wir vielleicht ein paar Grundregeln besprechen, bevor wir diese Unterhaltung fortführen“, sagte der Templer. Seine Stimme war ruhig und es schwang der leichte Akzent der Londoner Oberschicht darin mit. Die Art und Weise, wie sofort alle Blicke auf ihm ruhten, machten Shay zwei Dinge klar: dieser Mann war nicht nur mächtig, sondern auch sehr, sehr gefährlich. Und plötzlich wusste er mit absoluter Sicherheit, dass er den Großmeister der Templer vor sich hatte. „Erstens: was auch immer heute beschlossen wird, verlässt nicht diesen Raum“, fuhr der andere fort und sah dabei in die Runde. „Das gilt sowohl für unseren Gast, wie auch für alle anwesenden Mitglieder des Ordens. Zweitens: nach dieser Besprechung wird Master Cormac ungestört zur Bruderschaft zurückkehren. Wer meint, Rache an ihm üben zu müssen für das, was Monro zugestoßen ist, den werde ich persönlich zur Rechenschaft ziehen. Und drittens...“ An dieser Stelle wandte er sich wieder Shay zu. „Wer seine Arroganz nicht unter Kontrolle hat und seine Gesprächspartner nicht mit Respekt behandelt, muss mit Konsequenzen rechnen. Habt Ihr mich verstanden, Master Cormac?“ Shay erwiderte seinen Blick für einen Moment herausfordernd, doch dann wurde ihm klar, dass sie so nicht weiterkommen würden, und so nickte er nur wortlos. „Gut“, sagte der andere und bedeutete den Männern mit einer Geste, sich an den Tisch zu setzen. „Dann lasst uns beginnen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)