Spiel mit mir, Sibyl von Reeney ================================================================================ Prolog: Das Wiedersehen ----------------------- Langsam sank das Transportflugzeug des Amts für Öffentliche Sicherheit dem Boden näher. Eine dicke, dunkle Rauchwolke zog es hinter sich her, während helle Flammen seinen Sturz all denjenigen unter sich ankündigte. Im aufgebrochenen Türrahmen stand Makishima Shougo, betrachtete die ihm näher kommenden Gebäude. Die Stadt war in Aufruhr, das Überwachungssystem sollten ein paar Tage lang einsatzunfähig sein. Das Ende Sibyls stand kurz bevor und nachdem, was er eben im Gespräch mit Sibyl oder eher mit seinem alten Freund Toma Kozaburo erfahren hatte, konnte er sich an diesem System auf eine Weise rächen, wie es nur in einem Spiel zwischen Menschen möglich war. Wäre das Sibyl-System das, was es seinen Bürgern versprach, eine künstliche Intelligenz, ein Programm, dann hätte man nur einen Schalter umlegen müssen und ganz Japan wäre im Dunkeln versunken, im Chaos keine Führung mehr zu haben. Sicherlich hätte Choe Gu-Sung, welcher sich mit Computern um einiges besser auskannte als Shougo, sich in das System einklinken und das Programm so umschreiben können, dass es selbst unbrauchbar wurde. Er hätte den gesamten Quellcode endgültig löschen können ohne dass von Sibyl auch nur ein Bit übrig bliebe. Jedoch war das Sibyl-System kein Computer, es war eine Gruppe von Menschen und damit brauchte Shougo nicht die Hilfe eines anderen. Er ganz alleine würde Sibyl vernichten und zuvor seine Mitglieder durch die Hölle schicken. Sie sollten dasselbe Leid erfahren, was sie ihm angetan hatten. "Das Spiel hat gerade erst begonnen", murmelte er mit einem voller Vorfreude strahlenden Lächeln vor sich hin, als das Flugzeug dicht über das Dach eines Gebäudes flog. Shougo löste sich von dem Türrahmen und sprang herab. Für ihn war es nicht viel anders als ein Sprung über die letzten paar Stufen einer Treppe zu Boden. Er drehte sich zu dem Transportflugzeug um, sah wie dieses am Schornstein des benachbarten Gebäudes hängen blieb, diesen mit umriss und so nun senkrecht auf den Platz vor dem Gebäude stürzte. Ein paar aufgeregte Schreie weniger Passanten drangen dabei bis zu ihm hoch. Dann wandte er sich ab, ging zu der Tür, die das Dach mit dem Treppenhaus verband. Sie war offen, so dass er ohne weiteres die Treppen hinab steigen und das Gebäude verlassen konnte. Vor den Trümmern des Flugzeuges hatte sich bereits eine Traube aus Schaulustigen gebildet. Sie waren wie Asseln, sammelten sich am neusten und größten Haufen Dreck und das obwohl es in den letzten Tagen bereits genügend davon zu sehen gegeben hatte. Etwas angewidert verzog er das Gesicht, wandte sich einmal mehr von dem Transportmittel ab, um die Straße entlang nach Hause zu gehen. Die Passanten auf dieser Straße beachteten ihn mit keinem Blick, ihre Aufmerksamkeit lag auf den Trümmern. Nichtsdestotrotz bemerkte er bald, dass es ein Paar weitere Füße gab, die im selben Tempo wie er einen Schritt nach dem anderen setzten und das in dieselbe Richtung. Er blieb stehen und sein Verfolger tat es ihm gleich. "Es ist lange her, dass wir das letzte Mal von einander gehört haben", erklang eine ruhige Stimme, noch ehe er sich umdrehen konnte. Er hatte den Klang dieser Stimme im Laufe der Jahre ganz vergessen, jedoch wusste er nun sofort wieder, zu wem sie gehörte. Shougo drehte sich um. Vor ihm stand eine Person, die einen Kopf kleiner als er selbst war, gekleidet in einem dunklen Mantel, so dass man nicht viel von ihr erkennen konnte. Die Person schlug die große Kapuze des Mantels zurück. Zuerst erkannte er so ihr Lächeln, dann auch den Rest des Gesichts und über diesen Anblick staunte er merklich. Nicht nur, dass er angenommen hatte, seinen Gegenüber nie wieder zu sehen oder zumindest nicht mehr mit ihm ins Gespräch zu kommen, er schien sich auch kein Stück verändert zu haben. "Wie lange ist es schon her? Drei Jahre? Oder vier?", redete sein Gegenüber weiter und trat nun etwas näher an ihn heran. "Viereinhalb in etwa", entgegnete Shougo, während ihm das weiße Smartphone in den Händen des anderen Menschen auffiel. Es war verschmutzt, das Glas des Displays zeigte deutliche Sprünge, jedoch wirkte es nicht viel stärker beschädigt als vorhin im Flugzeug, in welchem Shougo es in der Annahme, es würde wohl hinaus fallen und dadurch zerstört werden, liegen gelassen hatte. "Wow, viereinhalb Jahre schon. Die Zeit vergeht wirklich viel zu schnell", kommentierte sein Gegenüber, ehe diesem der Blick Shougos auf das Handy auffiel. "Ist das deines? So wie du aussiehst, vermute ich, du warst in dem Flugzeug." Bei den Worten wuchs das Grinsen auf den Lippen seiner alten Bekanntschaft. "Das war ein Transporter des Amts für Öffentliche Sicherheit. Also haben sie dich nun gefasst und du hast das Flugzeug zum Absturz gebracht, um fliehen zu können. Das war ziemlich riskant", fuhr die Person fort. Shougo ging darauf nicht weiter ein, nickte stattdessen dem Handy zu. "Es gehörte Gu-Sung. Du solltest seine Dateien durchsehen, falls das Gerät inzwischen nicht zu beschädigt ist. Der Inhalt wird dich interessieren." Musternd wanderte der Blick der Person auf das Handy, sie aktivierte es, während sie nun neben Shougo herlief, welcher sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, da er nicht in der Nähe der Absturzstelle sein wollte, wenn die Mitarbeiter des Amts für Öffentliche Sicherheit hier eintreffen würden. "Welche Dateien meinst du, Shou-chan?", fragte Shougos Gesprächspartner. Shougo selbst überlegte, ob er das überhaupt mit dem anderen besprechen sollte. So wie dieser wirkte, könne man fast meinen, der Kontakt zwischen ihnen wäre nie abgebrochen. "Was soll das?", wandte er nun eher etwas verärgert ein. Sein Gesprächspartner sah daraufhin mit einem etwas enttäuschenden Blick zu ihm auf und steckte das Smartphone erst einmal in eine Manteltasche. In dem Moment bedarf es keiner Worte, um zu sagen, worum es ging. Vor viereinhalb Jahren noch waren die beiden Freunde gewesen, bis an einem Tag der Kontakt plötzlich abgebrochen war. Es war von einem Tag auf den anderen, dass die Person, mit der Shougo nun sprach, nichts mehr von sich hat hören lassen. Ein ganzes Jahr über hatte er anfangs noch oft, dann immer seltener versucht, sie zu erreichen, jedoch war eine Antwort ausgeblieben. Schließlich hatte er einsehen müssen, dass diese Freundschaft ein Ende gefunden hatte. Übrig geblieben war nur die Erinnerung an eine Person, die so einzigartig gewirkt hatte und letztendlich doch wie jeder andere gewesen war. Die Erinnerung an eine vorübergehende Bekanntschaft, wie es bei ihm viele gab und von denen er keine Einzige hatte halten können, an einen wiederholten Fehler, aus welchen er gelernt hatte, dass er nicht nur in Sibyls Augen unscheinbar war, sondern auch in den Herzen der Menschen, die er versucht hatte, Freunde zu nennen. Für ihn schien es so etwas auf dieser Welt nicht zu geben, der Einzige, auf den er sich verlassen konnte, war er selbst. Nach einem Moment des Schweigens lächelte Shougos Gesprächspartner wieder und setzte auch die Kapuze wieder auf, seinen Blick nach vorn auf den Weg gerichtet, der ihn zu dem Anwesen Makishimas bringen würde, dessen Standort er nicht vergessen hatte. "Ich bereue es nicht, den Kontakt zu dir abgebrochen zu haben", erklärte die Person schließlich leise. "Du weißt, wie ich damals drauf war, ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich habe Abstand gebraucht, zu dir, zu meiner Familie, zu jedem aus meinem Bekanntenkreis. Ich musste erst einmal zu mir selbst finden." Die Person zuckte mit den Schultern als wolle sie nicht näher darauf eingehen. "Dafür hast du dich aber äußerlich kaum verändert. Cyborgisierung?", wandte Shougo in einem etwas versöhnlicheren Ton ein, womit er ein Lächeln auf die Lippen seines Gegenübers zu Tage förderte. "Nein. Ich halte davon immer noch nichts. Aber sobald der Geist einmal gesund ist, bleibt es auch der Körper. Du hast dich auch gehalten." Das Gespräch setzte sich auf dem restlichen Weg fort. Sie sprachen über all das, was in den letzten vier Jahren im Leben des jeweils anderen vorgefallen war und auch wenn sie sich in diesen Jahren nie gesehen hatten, wenn alles, was sie von dem anderen erfuhren, neu und unbekannt war, so kam es ihnen vor, als hätten sich ihre Wege nie getrennt. Sie sprachen von ihrer gemeinsamen Zeit, von schönen sowie unangenehmen Erinnerungen, wie sie manche Situationen damals empfunden hatten. Sie sprachen über Sibyl, ihre einheitliche Einstellung dem System gegenüber und den neusten Erkenntnissen über jenes, von dem Verlust Gu-Songs. Es war das Wiedersehen zweier Seelenverwandte, das dennoch viel mehr einem schönen Abschied als einer freudigen Reunion glich. Kapitel 1: Hanayori Heisuke --------------------------- Tokyo, 12.01.2117 - etwa vier Jahre später In den letzten beiden Jahren konnte das Sibyl-System den Verlust zahlreicher Mitglieder durch Kamui Kirito, der zu der Verlangsamung einiger Auswertungen sämtlicher Anfragen geführt hatte, wieder relativ ausgleichen. Insbesondere die Qualität der Ergebnisse hatte sich dank Kirito erhöht. Personen, die dazu neigten, ihre Mitmenschen negativ zu beeinflussen, konnten schneller heraus gefiltert und isoliert werden, wodurch einige Bürger gar nicht in die Versuchung geraten, Schaden anzurichten. Ganz verhindern ließen sich die Verbrechen nicht, die Kriminalabteilung des Amts für Öffentliche Sicherheit hatte immer noch genügend zu tun, jedoch meist mit kleinen Delikten oder unbeabsichtigten Taten, die im Affekt geschehen waren. Das organisierte Verbrechen dagegen schien keinen Fuß mehr fassen zu können. So war die Gesamtsituation nun eine Friedlichere und auch in der Hauptstadt Japans war die Zahl der Verbrechen deutlich zurück gegangen. Dieses Jahr hatte sehr ruhig begonnen. Das Amt für Öffentliche Sicherheit ebenso wie das Sibyl-System sahen dies als gutes Zeichen, als Zeugnis ihrer gestiegenen Leistung. Die Mitglieder von Einheit 1 befanden sich am frühen Nachmittag des Wintertages im Analyselabor von Karanomori Shion. Am Mittag wurde dem Amt ein Video per Mail geschickt, welches soeben auf dem Bildschirm vor den Augen der Inspektoren und Vollstrecker sowie der Analytikerin abgespielt wurde. Ein junger Mann mit glattem, schwarzem Haar im Bob-Schnitt, die Augen halb von dem Pony verdeckt erschien auf dem Bildschirm. Er schien noch ein paar Bildeinstellungen vorzunehmen - ganz offensichtlich hatte er dieses Video selbst aufgenommen -, ehe er sich zurück auf einen Stuhl hockte und der Kamera entgegen sah. "Mein Name ist Hanayori Heisuke, ich bin 25 Jahre alt und am 23. August 2091 im Bezirk Koto der Präfektur Tokyo geboren. Heute, am 12. Januar 2117 werde ich um 18:30 Uhr in meiner Wohnung in Koto einen Mord begehen." Erleichtert schien der Mann auf dem Video durchzuatmen, ehe seine Hand sich der Kamera näherte und kurz darauf das Bild verschwand. "Was soll das denn? Wenn er das wirklich vorhat, haben wir ihn festgenommen, bevor es überhaupt so spät ist. Das sollte ihm doch selbst klar sein", meldete sich die Inspektorin Shimotsuki Mika zu Wort. Für sie schien auch das ein ziemlich einfacher Fall zu werden. Sie brauchten nur diesen Heisuke aufzuspüren, den Dominator auf ihn zu richten und abzufeuern, dann würde dieser Mord niemals passieren können. "Stand noch irgendetwas zusätzlich in der Nachricht?", hakte Ginoza Nobuchika, einer der vier Vollstrecker der Einheit, nach, worauf Shion den Kopf schüttelte. "Nein, das ist alles, was ich bekommen habe. Ich habe die Mail bereits zurück verfolgt, sie stammt von dem PC in seiner Wohnung in Koto. Hier die Adresse", erklärte die Analytikerin und drückte ein paar der Tasten ihrer Tastatur, ehe bei den beiden Inspektorinnen eine Nachricht mit der Adresse Heisukes einging. "Spielen Sie das Video bitte noch einmal ab", wandte die zweite Inspektorin, Tsunemori Akane, ein. Bei dieser Wiederholung achtete sie insbesondere auf die Mimik und Gestik des zukünftigen Mörders. Sollte diese Ankündigung ein Scherz sein? War sie sein Ernst und wenn ja, war es sein eigener Wille, dies zu tun? "Das ist nur ein Irrer, der sich aufspielen will. Genauso wie Verbrecher wie dieser Kamui, nur dass dieser im Gegensatz zu Hanayori wirklich gefährlich und talentiert war. Wir sollten aus einer Mücke keinen Elefanten machen", appellierte Mika insbesondere an ihre Partnerin, die sich daraufhin der Jüngeren zuwandte. "Er könnte genauso gut ein Opfer sein, dass zu dieser Aufnahme gezwungen wurde. Siehst du seinen Gesichtsausdruck, kurz bevor er das Video beendet?" - Shion spulte noch einmal zu besagter Stelle - "So wie er ausatmet wirkt es als sei er darüber erleichtert, das hinter sich gebracht zu haben und nicht als würde er sich auf ein Spiel gegen uns freuen." "Dafür wirkt er am Anfang des Videos so als wüsste er genau, was er tut", konterte Mika, die nicht einsehen wollte, dass immer nur ihre Kollegin Recht hatte, dass diese keine Fehler begann, während Mika das Pech hatte, selbst für Erfolge eher bestraft zu werden. Sie verstand nicht, wieso Akane der Liebling von Sibyl war, wieso Akane so viele Freiheiten zu haben schien, obwohl sie sich weniger an die Regeln hielt. Noch viel mehr störte sie allerdings, dass Akane instinktiv wirklich zu wissen schien, was die beste Handlung war. "Ganz ruhig, Mika-chan. Es ist nicht verkehrt, vorsichtig zu sein", versuchte Shion auf die jüngste Anwesende einzureden, was dieser nur noch mehr das Gefühl gab, die Welt würde gegen sie stehen. "Gibt es denn Auffälligkeiten in seinem Hintergrund, bei seinem Psycho-Pass?", warf Kunizuka Yayoi, eine weitere Vollstreckerin, ein. "Ah, das hatte ich auch schon nachgeschaut. Es gibt nichts. Sein höchster Kriminalkoeffizient lag bei 92,4, als sein älterer Bruder vor drei Jahren gestorben ist, sein Farbton ist meist ein klares, helles Blau, er nimmt ein paar Pflegemittel für die Psyche, arbeitet als selbstständiger -", Shion brach in ihrer Erklärung kurz ab, lehnte sich zu einem Bildschirm weiter vor, von dem sie letztendlich nur das meiste ablas, wobei sich ihre Augen vor Erstaunen etwas weiteten - "als Hochzeitsplaner. Ziemlich ungewöhnlich für einen Mann, aber mit Sicherheit kein Beruf, bei dem man so viel Schlechtes sieht, dass man zu einem Mörder wird." "Wie ist sein Einkommen?", fragte Akane, worauf Shion ein paar Eingaben am Computer vornahm, ehe sie antwortete. "Normal für den Beruf. Es reicht für die Miete und einen sehr guten Lebensunterhalt für nur eine Person, aber da er sich noch keinen Namen gemacht hat, würde es sich nicht lohnen, ihn zu erpressen oder auszurauben." "Ist es denn sicher, dass er das wirklich auf dem Bild war? Vielleicht haben wir es wieder mit einem Spezialisten für Hologramme zu tun", wandte Mika ein, um nun doch etwas auf die Idee ihrer Kollegin, mehr in die Sache hinein zu interpretieren, einzugehen, allerdings schüttelte Hinakawa Sho, Vollstrecker und ehemaliger Holodesigner, daraufhin den Kopf. "Nein, das war kein Hologramm", fügte er hinzu, womit der Einwand der Inspektorin gleich vom Tisch war. Sho hatte sich schon in dem Fall von Kamui als Experte im Erkennen von Hologrammen gezeigt, so dass keiner der Anwesenden Zweifel an der Korrektheit seiner Aussage hatte. "Ich habe übrigens auch seine letzten sowie aktuellen Kunden, Verwandte und nähere Bekannte überprüft. Bis auf einer Ausnahme sind alle von ihnen unauffällig. Vor zwei Wochen kam der Bräutigam eines Paares, das Hanayori für die Hochzeitsplanung engagiert hatte, in eine Rehabilitationsanstalt, aber ich glaube nicht, dass es dazu eine Verbindung gibt. Feinde lassen sich soweit auch keine ausmachen. Da müsste man wohl die Familie fragen, auch wenn sein Psycho-Pass ja dagegen spricht, dass er jemandem schaden will." "Oder wir fragen gleich ihn selbst. Er hat sein Haus heute noch nicht verlassen, oder?", fragte nun Mika nach, worauf Shion nickte. "Kein Straßenscanner hat ihn heute außerhalb seiner Wohnung erfasst", fügte die Blondine hinzu, worauf Mika sich schon dem Ausgang des Labors zu drehte. "Na dann, gehen wir", ordnete sie an, wobei sie kurz darauf, als sie die Tür durchschritten hatte, überrascht darüber, dass Akane gar nichts einzuwenden hatte, über die Schulter zu dieser und den Vollstreckern sah. Das Team begab sich geschlossen durch das Gebäude zu der Parkgarage, um dort in Polizeiwagen sowie Gefangenentransporter zu steigen und dann zu der Wohnadresse Heisukes zu fahren. Das Gebäude, in dem Hanayori wohnte, befand sich mitten in einer Wohngegend bestehend aus einigen Hochhäusern, deren Fassaden lediglich durch Straßen voneinander getrennt waren. Hinter den Fahrzeugen des Amts für Öffentliche Sicherheit versperrten nun ein paar Drohnen die Ein- und Ausfahrt zur Parkgarage sowie sie sich ebenso vor dem Eingang zum Gebäude platzierten, damit der Verdächtige keine Chance zur Flucht haben würde und auch kein mögliches Ziel für den Mordanschlag das Gebäude betreten konnte. In zwei Gruppen geteilt begab sich die Einheit 1 der Kriminalabteilung, jeder mit einem Dominator bewaffnet, über Aufzug und Treppenhaus in das 24. Stockwerk, in welchem die Wohnung Heisukes lag. Beide Gruppen erreichten ohne Probleme das Stockwerk, die eine etwas früher als die andere. Geschlossen begab sich das Team durch den leeren Gang, bis zu der Wohnung des Verdächtigen, an deren Eingangstür Mika nun klopfte. "Amt für Öffentliche Sicherheit! Öffnen Sie uns sofort die Tür!", rief sie dabei, während Akane und Sugo Teppei, der vierte Vollstrecker der Einheit, ihre Dominater auf die Tür richteten in Vorbereitung auf denjenigen, der die Tür öffnen sollte. Eine Reaktion aus dem Inneren der Wohnung blieb allerdings aus. Auch als Mika noch ein weiteres Mal lauter und eindringlicher um Einlass verlangte. "Das habe ich mir gleich gedacht", seufzte Nobuchika. Mika versuchte, die Tür aufzudrücken, jedoch war diese verschlossen. Unterdessen wählte Akane Shion über ihre Smartwatch an. "Wie sieht es aus, Akane-chan?", meldete sich diese sogleich melodisch. "Wir werden nicht in die Wohnung gelassen. Gibt es Überwachungskameras, so dass Sie herausfinden können, ob er die Wohnung verlassen hat und sich noch im Gebäude aufhält?", wollte Akane wissen. Nach einer Pause antwortete Shion: "Nur in der Eingangshalle und in der Parkgarage. Wenn er nicht in seiner Wohnung ist, vielleicht bei einem Nachbar oder er versteckt sich im Gebäude, weil er weiß, dass ihr gekommen seid. Zumindest kann ich euch die Tür öffnen." Kurz darauf vernahmen die Inspektoren und Vollstrecker schon das Klicken der Wohnungstür, die soeben entriegelt wurde. Sofort riss Nobuchika die Tür ganz auf, stürmte mit Akane hinein. Durch den Gang, die vorderen Räume hin zu den Seiten glitt der Blick Sibyls. Der Rest der Mannschaft trat weiter in das Innere vor, um ebenso den baldigen Täter zu suchen. Es dauerte nur wenige Minuten, doch in diesen war fast jeder von ihnen so konzentriert, dass die eigentlich stille Wohnung durch die vielen, schnellen Schritte voller Lärm erfüllt zu sein schien. Die Türen und Schränke, die geöffnet und wieder geschlossen wurden, knarrten lauter in den Ohren der Polizisten als es eigentlich war. Jedoch ließ die Konzentration der meisten bald etwas nach, als ihnen klar wurde, dass Heisuke nicht an dem Ort war, an dem ein jeder Einzelne von ihnen suchte. "Im Wohnzimmer ist er nicht", verkündete Mika, die schon wieder auf den Gang treten wollte, als ihr von dort Akane mit gesenktem Dominator entgegen kam. "Im Bad ebenso wenig", erklärte diese. Die Vollstrecker folgten mit ihren Berichten, die sich nicht von den anderen unterschieden. "Also ist er wirklich nicht in der Wohnung", seufzte Mika, "dann können wir nun das ganze Haus durchsuchen." "Oder wir warten, bis er wiederkommt", widersprach Akane, nachdem sie einen Blick auf ihre Uhr geworfen hatte. Noch waren es gut zwei Stunden bis zum angekündigten Mordanschlag hin. Mika, die nun ebenso einen Blick auf ihre Uhr geworfen hatte, war von dem Einwand ihrer Kollegin nicht sehr erfreut. Sie hatte das Gefühl, hätte sie diesen Vorschlag gemacht, dann hätte Akane ihr auch widersprochen und darauf gesetzt, das Haus zu durchsuchen. Das Problem daran war nur, dass die junge Inspektorin genau wusste, dass die erfahrenere Polizistin sie nicht hasste und allein deswegen immer anderer Meinung war, sondern dass es an ihrer Intuition lag, mit der Akane leider viel zu oft richtig zu liegen schien. Und wenn Mika mal mit etwas richtig lag, dann endete das in einer Misere wie bei der Sache mit Togane Sakuya, dem Mann mit dem bisher am höchsten gemessenen Kriminalkoeffizient, einem Vollstrecker, der nur seiner Inspektorin schaden wollte und durch den Mika für einen viel zu hohen Preis, den sie eigentlich nicht zahlen wollte, es jedoch musste, die Wahrheit über Sibyl erfahren hatte. "Der Mord soll in dieser Wohnung stattfinden, wenn weder Täter, noch Opfer bis jetzt hier sind, muss einer von ihnen noch kommen", fuhr Akane fort, was ihre Kollegin gar nicht überzeugte. "Vielleicht sind wir ja auch die Opfer", entgegnete Mika. "Daran könnte etwas dran sein", wurde sie nun von Yayoi unterstützt. Akane überlegte daraufhin einen Moment. Sie sah ein, dass diese Möglichkeit bestand, jedoch glaubte sie nicht, dass Heisuke oder eine potentielle dritte Person, die den Hochzeitsplaner zu dem Video gezwungen hatte, es darauf abgesehen hatte, Mitarbeiter des Amts für Öffentliche Sicherheit niederzustrecken. "Na gut. Kunizuka-san schicke bitte ein paar Drohnen hinauf, die die Wohnung auf mögliche Mordwaffen und Verstecke, in denen sich vielleicht auch Hanayori oder ein Opfer befindet, absuchen. Hinakawa-kun, du überprüfst die Hologramme in der Wohnung und ob es dabei irgendwelche Hinweise für die Art des geplanten Mordanschlags gibt. Ginoza-san, Sugo-san, ihr helft Shimotsuki-san bei der Suche nach Hanayori im Haus", beschloss Akane, worauf all ihre Kollegen zustimmend nickten. Auch Mika hatte daran nun nichts einzuwenden, wandte sich stattdessen gleich den ihr zugeteilten Vollstreckern zu. "Wir werden zuerst die Wohnungen auf dieser Etage durchsuchen und ihre Besitzer nach Hanayori befragen. Wenn wir Glück haben, finden wir ihn bei einen von ihnen ", erklärte sie diesen, worauf das Dreierteam gefolgt von Yayoi aus der Wohnung verschwand. Akane trat weiter ins Wohnzimmer hinein. Sie ging auf ein Regal zu, in dem einige Ordner standen, deren Rücken allesamt beschriftet waren: Hochzeiten 2114, Hochzeiten 2115, Hochzeiten 2116, Aisawa Eisuke & Tomone Yukiko, Takagi Rintaro & Suzuki Ayase, sowie noch drei weitere Ordner mit den Namen je zweier Verlobter. Ein paar Ordner lagen ganz oben auf dem Regal, unbeschriftet. Akane nahm einen von diesen, er war komplett leer. Sie blätterte auch die beschrifteten Ordner durch, doch außer Abrechnungen oder eine Liste von Gästen, dem Kontakt von Blumenhändlern, Holodesignern, Schneidern, Bildern über mögliche Veranstaltungsorte, Fotos von Braut und Bräutigam, gab es nichts. Nichts, was für die Planung einer Hochzeit uninteressant war und dafür einen solchen Mann zu einem Mörder werden lassen sollte. Natürlich konnte unter all den vielen Namen einer sein, den Hanayori umbringen wollte, ebenso gab es vielleicht einen Weg, anhand dieser Ordner heraus zu finden, weswegen Hanayori das Amt für Öffentliche Sicherheit gewarnt hatte, jedoch fehlte dafür nun die Zeit. Akane wandte sich lieber dem Computer des Täters zu. Es war in der heutigen Zeit mehr als unüblich, dass eine Person all diese Unterlagen in Ordnern in einem Regal aufbewahrte, anstelle auf dem PC. Was also konnte man dann auf diesem finden? Mit Shions Hilfe erlangte die Inspektorin Zugriff auf den Computer und während Shion die Daten überprüfte, klickte sich auch Akane etwas durch die Ordner. Tatsächlich fand sie all die Ausdrücke und Bilder zu den Hochzeitsplanungen auch in diesen. Etwas Verdächtiges allerdings nicht. Hanayori Heisuke wirkte soweit wie ein ganz gewöhnlicher, junger Mann. "Der PC ist clean. Nichts zu finden, Akane-chan", bestätigte auch Shion eine Weile später. "Vielleicht war das auch nur ein Aussetzer und er ist inzwischen wieder zur Vernunft gekommen und plant niemanden umzubringen", überlegte Akane laut, ehe sie sich von dem Computer abwandte. Kleine Drohnen durchquerten derweil die Wohnung, scannten Boden und Raumecken. Eine ganze Stunde verging, dann war die Wohnung komplett durchsucht und jedes noch so kleine Eck von den Drohnen erfasst und ausgewertet worden. Die Drohnen hatten ebenso wenig Auffälligkeiten gefunden wie Akane oder einer der beiden Vollstrecker. "Habt ihr ihn gefunden?", wandte sich die Inspektorin über ihre Smartwatch an Mika. "Nein. Alle Nachbarn auf diesem Stockwerk wissen nichts Interessantes und in einer Wohnung ist er auch nicht. Wir überprüfen noch grob die anderen Stockwerke, laut Karanomori-san muss er immer noch im Gebäude sein", gab die junge Beamtin zur Antwort. Akane beauftragte Sho damit, den Eingang zur Wohnung sowie den Flur des Stockwerks im Auge zu behalten, während sie selbst auf das Fenster im Wohnzimmer zuschritt, welches ein aufwendiges Design besaß. Mehrere Metallstäbe fixierten matte wie klare Glasstücke zwischen dem Fensterrahmen und bildeten so zwei sich zum Teil überlappende Herzen. Durch einige Metallstäbe, die von den Herzen in alle Richtungen hin zum Rahmen verliefen, schienen die beiden Herzen wie eine gemalte Sonne zu strahlen. Ein passendes Fenster für einen Hochzeitsplaner. Einen Balkon besaß diese Wohnung nicht, die Fenster waren von Innen verschlossen und eine Flucht über diese schien auch nicht möglich zu sein. Es war unmöglich, an der glatten Fassade entlang zu klettern, die Abstände zwischen den einzelnen Fenstern waren für einen durchschnittlichen Menschen zu groß und sollte man stürzen oder springen, so fiel man etwa zehn Stockwerke tief auf eine Straße, welche selbst so breit war, dass man schon sehr geübt sein musste, um unbeschadet aus diesem Fenster in ein Zimmer des Hochhauses auf der anderen Straßenseite zu springen. Wahrscheinlich war dies auch eher eine Sache der Unmöglichkeit. "Karanomori-san", wandte sich Akane nun wieder an Shion, "Welche Stockwerke grenzen an die Straßen an? Gibt es auf diesen Fluchtmöglichkeiten ohne Scanner?" Die Analytikerin brauchte nicht lange für eine Antwort. "Erdgeschoss und 15. Stock. Es gibt in diesen Etagen extra Fluchtwege neben einer Feuerleiter, die über alle Stockwerke zugängig ist. Aber die Ausgänge sind wie die Tür zur Feuerleiter gesichert und würden einen Alarm auslösen, wenn sie benutzt werden. Der Alarm ist aktiv und wurde in den letzten 24 Stunden weder ausgelöst, noch abgeschaltet. Die einzige Flucht wäre also durch ein Fenster einer Wohnung auf die Straße, aber die Wahrscheinlichkeit dabei nicht von einem Straßenscanner erfasst zu werden, ist verschwindend gering." "Danke", gab die Inspektorin zurück, ehe sie seufzend in den Gang der Wohnung trat. Sie hatten keine Stunde mehr, dann sollte hier ein Mord geschehen. In der Wohnung selbst gab es keine großen Vorbereitungen für einen Mordanschlag, keine ferngesteuerten Geräte, die noch eine Gefahr darstellen konnten. Der Täter würde also direkt mit dem Opfer kommen oder einen der Beamten des Amts für Öffentliche Sicherheit angreifen, sobald die Zeit gekommen war. Der Täter befand sich irgendwo im Haus. Durch das verschlossene Fenster konnte er von außen nicht in die Wohnung, damit blieb die Eingangstür. Akane überlegte einen Moment, ob sie Mika mit deren Gruppe zurückrufen sollte, jedoch hatte diese ja schon vorhin nicht auf sie hören wollen, als Akane bereits klar gewesen war, dass es das Beste war, bei der Wohung des Täters auf diesen zu warten. So sah sie lieber davon ab, ihrer Kollegin eine Nachricht zu schicken, wandte sich dafür an Yayoi und Sho: "Wir warten draußen. Wenn Hanayori oder auch nur eine andere Person vorbei kommt, fangen wir sie ab, bevor ein Mord verübt werden kann." Die beiden Vollstrecker erwiderten die Anweisung mit einem Nicken, bevor sie Akane nach draußen folgten. Ein paar kleine Drohnen folgten ihnen, scannten noch den Bereich vor dem Eingang der Wohnung, aber wie auch in dieser so gab es auch außerhalb keine versteckten Sprengsätze oder ähnliches. Mit gezückten Dominatoren verteilten sich die Drei um die Wohnungstür herum. Die Zeit verging für sie sehr langsam, während sie darauf warteten, dass irgendjemand auftauchen würde. Fünf Minuten vor dem geplanten Mordanschlag meldete sich Mika wieder per Funk. "Und? Ist Hanayori bei euch schon aufgetaucht?" "Nein", entgegnete Akane, wobei ihre Augen immer noch wachsam auf ihrer Umgebung lagen. "Ich habe es ja gesagt, das war ein Scherz. Da wollte sich nur jemand wichtigmachen. Wahrscheinlich hockt er bei irgendwem in der Wohnung und trinkt einen Kaffee, während wir uns hier lächerlich machen. Wir sollten unsere Zeit nicht mit so etwas verschwenden, da draußen gibt es echte Mordfälle, bei denen wir gebraucht werden!" "Noch ist es nicht 18:30 Uhr." "Aber so gut wie!", murrte Mika, dann beendete sie das Gespräch. Im nächsten Moment öffnete sich die Fahrstuhltür auf der 24. Etage. Schnell hob Akane ihren Dominator etwas höher, richtete ihn ebenso wie Yayoi auf den Lift, jedoch erfasste der Dominator keinen Fremden, sondern nur Kollegen. Akane atmete auf, ließ die Waffe sinken, während Mika und ihre Gruppe auf die anderen drei zu kam. Ihre Uhren wechselten soeben von 18:29 Uhr auf 18:30 Uhr, aber außer ihnen war weiterhin niemand auf dem Gang zu sehen. "Shion meint, am Eingang würden einige Bewohner darauf warten, hineingelassen zu werden. Hanayori ist allerdings nicht unter ihnen", teilte Mika mit, sollte es dem Mordandroher widererwarten gelungen sein, das Gebäude zu verlassen. "Hm ... vielleicht war das Ganze hier auch nur ein Ablenkungsmanöver und ein Partner von ihm, plant wo anders einen größeren An-", äußerte Akane nachdenklich, als das laute Klirren von Glas sie unterbrach. Ohne Zweifel kamen diese Geräusche aus Heisukes Wohnung. Sofort hielten die Mitarbeiter der Kriminalabteilung ihre Waffen bereit und stürmten wieder in das Innere der Wohnung. Schon im Gang konnte man sehen, dass das Fenster im Wohnzimmer blutüberströmt war. Sie rannten in das entsprechende Zimmer, wo sie mit schockierten Gesichtern stehen blieben und bald wieder ihre Waffen sinken ließen. Die einzelnen Fensterstücke, die das Bild zweier Herzen gebildet hatten, lagen vor ihnen auf dem Boden, sie waren zum größten Teil unversehrt, als hätte man sie ohne große Mühen aus ihrer Verankerung heraus schlagen können. In dem metallenen Rahmen, der das strahlende Herz darstellte, hing statt dieser Scheiben dafür nun der Körper einer Frau. Die Fensterstäbe hatten sich so weit in den Körper geschnitten, dass man sie an diesen Stellen gar nicht mehr sehen konnte. Das Gesicht sowie ein Großteil des Körpers war ein gutes Stück weit gespalten und es schien als gäbe es an diesem Leichnam kein bisschen Haut, das nicht komplett von Blut überströmt war. Ebenso voller Blut waren die Wand unter dem Fenster sowie der Boden darunter. Mika schlug die Hände vor dem Mund, während Akane auf die Leiche zu ging und an ihr vorbei aus dem Fenster sah. Es wäre denkbar gewesen, dass der Täter ein Drahtseil zwischen diesem und dem gegenüberliegenden Gebäude gespannt hatte, um die Leiche in das Fenster zu befördern, jedoch konnte sie ein solches Seil jetzt wie auch schon vorhin nicht ausmachen. Damit fiel diese Möglichkeit weg und es gab nur noch eine, die in ihren Augen eingetroffen sein konnte. "Er muss in einer der Wohnungen sein, die direkt über dieser liegen", teilte sie so ihre Schlussfolgerung ihren Kollegen mit. Selbst wenn es besser wäre, erst die Drohnen die Leiche scannen zu lassen, so hatte Akane dafür nun keine Zeit. Sie öffnete das Fenster, von welchem noch reichlich Blut zu Boden tropfte und blickte hinaus. Ihr Blick wanderte mit gezieltem Dominator an den Fenstern über diesem nach oben, doch waren alle von ihnen bereits geschlossen, was auch für die Fensterreihen direkt neben dieser galt. "Nichts", teilte sie ihren Kollegen mit, worauf diese aus der Wohnung stürmten, um eben jede der anderen Wohnungen zu überprüfen. Vielleicht hätte es etwas gebracht, hätte auch Akane und die beiden Vollstrecker bei ihr, die letzte Stunde nicht mit Warten verbracht, sondern weitere Wohnungen im Gebäude überprüft. Akane bereute es ein bisschen, während ihre jüngere Kollegin Mika zu sehr damit beschäftigt war, eine Spur auf den Täter zu finden, als dass sie sich darüber freute, diesmal die Lage besser als Tsunemori eingeschätzt zu haben. Akane ließ ihren Blick wieder sinken, wobei ihr nun auf dem beigen Mantel des Opfers, welcher am Rücken zu einem gewissen Teil noch sauber war, die roten Zeichen des Namens Hanayori Heisuke auffielen sowie die in dergleichen Farbe geschriebene Notiz darunter: 'Für das Ende Sibyls.' Kapitel 2: Die zwei Psychologinnen ---------------------------------- Tokyo, 13.01.2117 "Es kann doch nicht sein, dass wir diesen Kerl gestern nicht gefunden haben!", murrte Mika am nächsten Morgen im Büro der Einheit 1, als Akane dieses betrat. "Wir hätten jede Wohnung einfach komplett durchsuchen sollen, so viele waren es ja gar nicht mehr." Elf Wohnungen lagen noch über der von Hanayori Heisuke. Sie hatten sich aufgeteilt und an jede dieser Wohnungen geklingelt. Wurde ihnen nicht geöffnet, so hatte Shion die Tür entriegelt und sie konnten die ganze Wohnung absuchen. In dem Fall, dass jemand an die Tür gegangen war, hatten sie nur alle Anwesenden in der Wohnung mit dem Dominator überprüft und gefragt, ob sie den Täter kannten, wie sie zu diesem standen und ob er eben in dieser Wohnung war oder sie ihm gar bei der Tat geholfen hatten. Wer ihn mit dem Opfer in die Wohnung gelassen hatte, würde sich mitschuldig machen und der Dominator hätte das anzeigen können. Allerdings hatte keiner dieser Personen einen Kriminalkoeffizient, der über 100 lag und auch die alarmgesicherte Tür, die auf das Dach des Gebäudes führte, soll nicht geöffnet geworden sein. Abgesehen davon hatten sie selbst das Dach inspiziert, ohne Erfolg. "Ich vermute eher, er hat sich Zugang zu einer der Wohnungen verschafft, deren Besitzer zu dem Zeitpunkt unterwegs waren und ist gleich nach der Tat aus dieser geflohen. Wir sollten jeden dieser Leute herbestellen und befragen", schlug Teppei vor. "Ich glaube nicht, dass es bereits vorbei ist. Er wird wieder einen Mordversuch starten, nur wissen wir diesmal schon Bescheid, sobald er das Gebäude verlässt oder auch nur zurück in seine Wohnung kommt. Nun, immerhin ist das Area-Stress-Level nicht kritisch angestiegen", wandte Akane ein, während sie auf ihren Schreibtisch zuging. "Konnte die Leiche inzwischen identifiziert werden? Sollte es wirklich zu weiteren Morden kommen, können wir vielleicht erahnen, wer die nächsten Opfer sein könnten, falls Hanayori es auf bestimmte Leute abgesehen hat", trug Teppei wieder zum Gespräch bei, worauf Mika den Kopf schüttelte. "Die Untersuchungen des Leichnams laufen zwar, aber Shion-san kann die Ergebnisse erst am Nachmittag auswerten. Sie sagte, sie habe jetzt am Vormittag ein Gespräch mit einer Psychologin", erklärte die junge Inspektorin. "Ach ja, in der Neujahresbesprechung hieß es, dass es für Mitarbeiter des Amts für Öffentliche Sicherheit nun verpflichtend sei, regelmäßig einen Psychologen aufzusuchen", erinnerte sich Akane. "Genau. Ich dachte, das würde nur für uns Inspektoren gelten, um zu verhindern dass wir genauso zu latenten Verbrechern werden wie Ginoza", kam es von Mika genau in dem Moment, als auch schon besagter Vollstrecker das Büro betrat. "So war es auch geplant, jedoch schien die Psychologin, die vom Sozialministerium dafür sogar zum Amt für Öffentliche Sicherheit gewechselt ist, der Meinung zu sein, dass es besser sei, auch uns Vollstrecker zu treffen, damit wir möglichst wenig den Psycho-Pass der Inspektoren beeinflussen." "Vollstrecker Ginoza, wieso kommst du erst so spät?!", fauchte Mika diesen gleich an, kaum dass dieser seinen Satz beendet hatte. "Ich hatte ein Gespräch mit Direktorin Kasei", rechtfertigte sich Nobuchika, dessen Blick kurz zu Akane glitt, ehe er an seinem eigenen Schreibtisch Platz nahm. "Wo sind denn eigentlich Kunizuka-san und Hinakawa-san?", fragte nun Akane mit dem Blick auf die beiden leeren Plätze dieser Kollegen. "Ich habe Yayoi-san gebeten, der Nachricht, die auf den Rücken des Opfers geschrieben wurde, nachzugehen. Sie ist dafür im Analyselabor", erklärte Mika, dann kam auch schon Sho hastig in den Raum gelaufen. "Entschuldigung, ich habe verschlafen." Mit den Worten setzte er sich, wobei Mika ihm einen strengen, unzufriedenen Blick zu warf, auf einen Kommentar allerdings verzichtete. Akane überlegte einen Moment, was sie nun ohne die Ergebnisse der Autopsie tun sollten, ehe sie sich mit ihrem Entschluss den Kollegen zuwandte: "Gut, Shimotsuki-san, ich bitte dich darum, den Bericht über unseren gestrigen Einsatz zu schreiben, ich werde derweil mit Ginoza-san, Sugo-san und Hinakawa-san zum Tatort fahren und dort noch einmal die Wohnungen überprüfen, aus denen der Täter das Opfer geworfen haben könnte. Irgendeinen Hinweis müssen wir finden." "Vollstrecker Ginoza bleibt hier. Einheit 3 hat mich darum gebeten, einen Vollstrecker von uns ihnen als Verstärkung zu schicken. Und da wir eh nicht viel zu tun haben, können wir sicher ohne ihn auskommen", wandte Mika ein. "Für was für einen Fall?", hakte Akane nach, worauf Mika mit den Schultern zuckte. "Es hat wohl nur damit zu tun, dass zwei ihrer Vollstrecker beim letzten Einsatz verletzt wurden und deswegen noch nicht wieder einsatzfähig sind", erklärte Mika, worauf Akane erst diese und dann noch Nobuchika musterte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass irgendetwas vorging, von dem sie wissen sollte. "In Ordnung", stimmte die Inspektorin letztendlich nur zu, ehe sie sich mit den beiden übrigen Vollstreckern daran machte, das Gebäude zu verlassen. Der Blick von Mika lag dabei noch eine ganze Weile auf Akane, bis diese nicht mehr zu sehen und damit sicher außer Hörweite war. "Die Direktorin hat dir also auch Bescheid gegeben?", mutmaßte Nobuchika mit einem schwachen Lächeln. "So ist es. Direktorin Kasei bat mich, unter allen Umständen zu verhindern, dass Tsunemori von der Sache Wind bekommt und so auch, dass du es ihr erzählen könntest. Bei einem latenten Verbrecher ist letztendlich nicht auszuschließen, dass er die Regeln bricht, gerade wenn er sich schon öfters nicht regelkonform verhalten hat." "In diesem Fall würde ich es sogar für mich behalten. Sie hat bereits genug gelitten, da möchte ich sie da nicht mit hinein ziehen." "Ach ja? Es fällt mir schwer zu glauben, dass du denkst, ihr Psycho-Pass könne sich hierbei trüben", wandte Mika zickig ein. "Tsunemori besitzt die Fähigkeit, während ihrem Leid ihre Pflichten oder eher das Wohl ihrer Mitmenschen nicht zu vergessen. Ich vermute, dass es das ist, was ihren Psycho-Pass so hell hält. Allerdings befürchte ich, dass dieser Fall sie ihre Ideale vergessen lassen und ihre Psyche stark beeinträchtigen könnte", erklärte Nobuchika nachdenklich sowie in Sorge um Akane. "Jedenfalls solltest du nun wirklich zu Einheit 3. Es ist immerhin ihr Fall. Ich werde dich hinbringen." "Das Büro der Einheit 3 liegt auf diesem Gang. Ich werde schon alleine hinfinden, aber du vertraust mir wohl eher immer noch nicht, dass ich Tsunemori nicht Bescheid gebe", seufzte Nobuchika, worauf die junge Inspektorin zustimmend nickte. Sie begleitete den Vollstrecker aus dem Büro hin zu dem ihrer Kollegen, die Nobuchika freundlich begrüßten. Anschließend begab sich Mika wieder in ihr Büro zurück, ließ sich seufzend an ihrem Schreibtisch nieder und sah auf den Bildschirm vor sich. "Während dem Leid Pflichten und das Wohl der Mitmenschen nicht vergessen, huh?", murmelte sie nachdenklich. Ob das wirklich ein Schlüssel dazu sein konnte, seinen Psycho-Pass hell zu halten? Ließ Sibyl Akane deswegen so viel durchgehen, weil sie im Sinne der Gesellschaft handelte? Aber allein, dass Sibyl sich von ihr korrigieren ließ, zeigte doch, dass das Sibyl-System nicht perfekt war. Mika wusste, dass dieses System einige Fehler hatte, dass es ein Trugbild war, dessen Wahrheit ihr Angst bereitete. Hatte ihre Kollegin denn keine Angst davor, Sibyl könne sie richten, weil sie die Regeln brach? Würde Sibyl mit Mika genauso verfahren, würde sie sich einmal gegen Sibyl stellen? Mika merkte deutlich, dass sie den Mut dazu nicht hatte. Sie schätzte die Sicherheit, die das Sibyl-System seinen Bürgern gab und sie liebte ihr Leben. So schwer es für sie auch geworden war und so wenig sie wusste, wie lange sie das Gewicht dieser ganzen Geheimnisse noch tragen könne, sie wollte nicht sterben, sie wollte glücklich sein. Unter dem Gedanken hielt sie es für sinnvoller, gar nicht weiter darüber nachzudenken. Es war besser, kein Risiko einzugehen, bei dem sich ihr Psycho-Pass trüben könnte, selbst wenn die Lösung, wie sie mit all dem umgehen konnte, so vermeintlich nahe lag. Letztendlich war Mika aber auch einfach nicht Akane. "Es würde mich nicht wundern, wenn Sibyl sie auch einfach nur sympathisch findet. Objektiv ... als ob", entkam es ihr flüsternd mit einem zynischen Schmunzeln, wobei sie selbst über ihre eigene Ansicht etwas entsetzt war. Sie schüttelte den Kopf, atmete einmal tief ein und aus, dann konzentrierte sie sich auf ihre Arbeit, auf den Bericht, bei dem nur die Fakten zählten. Gegen Mittag kehrte Akanes Gruppe wieder zurück in die Zentrale des Amts für Öffentliche Sicherheit. Trotz der leistungsstarken Drohnen hatten sie in den Wohnungen nichts gefunden. Überraschend war es nicht unbedingt. Der Täter oder ein möglicher Komplize hatten genügend Zeit gehabt, Spuren zu verwischen. Bei einem Komplizen lag die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich wenn um einen der Bewohner handelte, die gestern und heute nicht in ihren Wohnungen anzutreffen waren. Der Psycho-Pass hätte so jemanden eindeutig verraten müssen. So trug Akane, noch während sie mit den beiden Vollstreckern auf dem Weg zu dem Büro ihrer Einheit war, Teppei auf, die betroffenen Personen zu benachrichtigen und herzubestellen. Als die Gruppe das Büro betrat, saß Yayoi wieder an ihrem Schreibtisch, direkt daneben lehnte sich Shion gegen die Tischplatte, was nun doch ein eher ungewöhnlicher Anblick war, da die Analystin sonst nur im Labor anzutreffen war. Mit einem koketten Lächeln grüßte die Blonde die Dazugekommenen, während Yayois Begrüßung eher schlicht ausfiel. Mika, die bis eben selbst an ihrem Schreibtisch gesessen hatte, stand auf und trat Akane entgegen. "Wir haben den Namen des Opfers", verkündete sie, "Tenba Shiori." "In welcher Beziehung stand sie zu Hanayori?", fragte Akane sogleich nach, worauf sich nun Shion vom Schreibtisch abstieß und sich ihr zugewandt gerade hinstellte. "Es ist keine Verbindung bekannt. Tenba war weder eine seiner Kundinnen, noch zählt sie zu den Leuten, die als Gäste zu einer Hochzeit seiner Kunden angegeben wurden oder die mit seinen Kunden zusammengearbeitet hatten. Sie sind nicht mit einander verwandt, haben keine gemeinsame Schule besucht, Telefon- oder E-Mail-Verkehr gab es zwischen ihnen auch nicht und des Weiteren hat sie in den letzten drei Monaten kein Straßenscanner in Koto erfasst", erklärte die Blondine, was für das Team bedeutete, dass es länger dauern konnte, bis sie eine Verbindung und damit hoffentlich ein Motiv für die Tat gefunden hatten. "Wo wurde sie zuletzt gesehen?", stellte Akane ihre nächste Frage, die nun wieder von Mika beantwortet wurde. "An ihrem Arbeitsplatz, die Psycho-Pass-Pflegklinik in Adachi. Sie hat dort als Psychologin gearbeitet und einige latente Verbrecher betreut. Darunter Ginoza." Kurz konnte man sehen, wie Akanes Miene Überraschung ausstrahlte, ehe sie sich an Teppei wandte. "Dort waren Sie doch auch, Sugo-san. Kannten sie Tenba-sensei?" Der angesprochene Vollstrecker schüttelte den Kopf. "Nein, der Name sagt mir nichts." "Jedenfalls wurde sie gestern Vormittag noch dort gesehen. Das ganze Gelände ist videoüberwacht, deswegen konnten wir schnell herausfinden, dass sie gegen elf Uhr die Klinik über einen Seitenausgang verlassen und die angrenzende U-Bahn-Station betreten hat. Dort verliert sich ihre Spur. Aber auf keinen der Überwachungskameras war zu diesem Zeitpunkt Hanayori zu sehen", äußerte Shion, wobei das Lächeln auf ihren Lippen verriet, dass sie noch mehr heraus gefunden hatte, womit man wohl etwas anfangen konnte. Abwartend sah Akane ihr deswegen entgegen. "Ich habe dafür herausbekommen, dass unsere kleine Psychologin, die jetzt hier arbeitet, mit Tenba zusammen studiert hat. Nach dem Terminkalender, den unser Opfer dabei hatte, waren die beiden auch für gestern Mittag verabredet. Wo stand leider nicht mit dabei", fügte die Analytikerin hinzu. "Habt ihr sie gleich darauf angesprochen?", wandte sich nun Teppei ein. Mika schüttelte zur Antwort den Kopf. "Shion hat das Yayoi und mir auch erst mitgeteilt, kurz bevor ihr zurückgekommen seid. Habt ihr überhaupt noch was gefunden?" "Nein, nichts", entgegnete Akane, wobei sie gerade selbst ihren Terminkalender kurz überprüfte. "Dann werde ich mit den Vollstreckern die Wohnung des Opfers untersuchen und Inspektor Tsunemori, du kannst die Psychologin befragen", orderte Mika, worauf Akane nickte. "In Ordnung, allerdings möchte ich, dass Sugo-san hier bleibt und einige Bewohner von unserem Tatort herbestellt und befragt. Wir müssen immer noch herausfinden, wer mit Hanayori zusammen arbeitet und aus welchem Zimmer die Leiche geworfen wurde." "Von mir aus", quittierte Mika desinteressiert, bevor sie Yayoi zunickte und dann das Büro verlassen wollte. Auch Akane verließ nicht viel später wieder den Raum. Das Büro der neu angestellten Psychologin lag drei Stockwerke tiefer. Als Akane es erreicht hatte, ertönte von innen ein sanftes "Herein", worauf die Inspektorin die Tür öffnete und eintrat. Obwohl es der erste Arbeitstag der Psychologin war, hatte diese ein bereits voll eingerichtetes Zimmer. Durch die Holotechnik erschien es so, als würde man sich auf einer weiten Wiese befinden. Die rechte Wand zeigte zudem das Abbild eines Wasserfalls, der von einem Felsvorsprung in einem See endete. Passend dazu ertönten sanfte Klänge von Wasserrauschen und Vogelgezwitscher. Im Gegensatz zu dem Hologramm, das auf allen drei Wänden sowie auf dem mit einem Teppich belegtem Boden zum selben Thema passte, blickte man bei der vierten Wand, die gegenüber der Tür, durch eine Fensterfront auf die hohen Häuser der Hauptstadt. "Ach, Tsunemori-san. Schön Sie wieder zu sehen", kam es von der Psychologin, die an einem Schreibtisch mit dem Rücken zu den Fenstern saß und scheinbar bis eben den Stapel an Dokumenten vor sich bearbeitet hatte. Die Worte ließen Akanes Aufmerksamkeit wieder auf ihre neue Kollegin wandern, bei der sie im ersten Moment, in dem sie viel eher den ungewöhnlichen Eindruck des Raumes wahrgenommen hatte, gar nicht bemerkt hatte, dass sie ihr bereits begegnet war. "Sasayama-san, Sie haben gestern gar nicht erwähnt, dass Sie nun für das Amt für Öffentliche Sicherheit arbeiten", entgegnete Akane, während ihr Gegenüber nun aufstand und am Schreibtisch herum ging. Sasayama Mizue war eine der Personen, die die Ermittler am gestrigen Tatort in einer der Wohnungen oberhalb der von Heisuke Hanayori angetroffen hatten. "Das hätte den Spaß verdorben, zu sehen wie Sie und die betreffenden Kollegen reagieren, wenn man sich hier wiedersieht", kommentierte Mizue mit einem Lächeln. Sie war 28 Jahre alt, jedoch sah sie deutlich jünger aus. Hauptsächlich musste das an ihrer Frisur liegen, lockige rot-braune Haare, ähnlich der Haarfarbe von Sho, legten sich auf die Schultern der Frau, wobei ihr glatter, gerader Pony, der knapp über den Augen endete, ihr etwas kindliches, verspieltes gab. Dazu kam, dass sie ganze zehn Zentimeter kleiner war als Akane. Die Psychologin deutete auf eine cremefarbene, L-förmige Couch, die neben einem kleinen Glastisch in einem anderen Eck des Raumes stand. "Setzen Sie sich doch bitte." Akane kam den Worten nach und nahm Platz, während die andere sich auf die andere Seite des Ls hockte. "Ich bin wegen dem aktuellen Fall hier. Das Opfer, das wir gestern am Tatort gefunden haben, ist Tenba Shiori, eine ehemalige Kommilitonin von Ihnen", erklärte Akane, worauf sich ihre Gesprächspartnerin etwas aufsetzte und benommen zu Boden sah. Sie nickte, wobei man anhand der Bewegung ihres Kehlkopfes ein Schlucken erkennen konnte. Akane vermutete, dass diese Tatsache der Psychologin näher ging als es ihre sonst recht unberührte Miene andeutete. "Laut ihrem Kalender hat sie sich gestern Mittag mit Ihnen getroffen", fuhr Akane fort, worauf Mizue den Kopf schüttelte. "Ja, das war geplant, aber dazu ist es nicht gekommen. Sie hat mich von ihrem Arbeitsplatz aus angerufen und kurzfristig abgesagt." "Wann hat sie sich bei Ihnen gemeldet?" Die Psychologin neigte ihren Kopf nachdenklich zur Seite. "Gegen halb Elf muss das gewesen sein", antwortete sie schließlich. "Dann waren Sie um die Zeit doch sicher schon auf dem Weg zum Treffpunkt?", hakte Akane nach, was Mizue nickend bestätigte. "Ja. Um ehrlich zu sein, war ich richtig wütend auf sie. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen und wollten gestern endlich mal wieder zusammen in ein Café gehen und uns anschließend bei ihr daheim ein paar Filme ansehen. Wir haben das seit Wochen geplant und dann sagt sie einfach ab. Sie hat mir nicht mal einen Grund genannt, meinte nur, ihr sei etwas Dringendes dazwischen gekommen, das sie nicht aufschieben kann", erklärte die Psychologin, während Akane sie prüfend ansah. Es war seltsam, dass Shiori und Mizue sich treffen wollten, dieses Treffen abgesagt wurde, aber sie sich dennoch später im selben Gebäude befanden hatten und sie sogar im selben Zimmer gewesen sein konnten, aus dem Shiori in ihren Tod gefallen war. Akane hob ihre Smartwatch und aktivierte einen integrierten Scanner, um den Psycho-Pass ihres Gegenübers zu checken. Der Kriminalkoeffizient lag bei 34,7. Bei der gestrigen Begegnung war er kaum höher gewesen, Mizue konnte nicht mit Heisuke gemeinsame Sache gemacht haben, es sei denn sie war kriminell asymptomatisch wie es in der Vergangenheit der Fall bei Makishima Shougo und etlichen Mitgliedern des Sibyl-Systems zu deren Lebzeiten gewesen war. Das jedoch erschien Akane unwahrscheinlich und selbst wenn dem so sein sollte, sie fand nicht, dass die andere eine Gefahr oder nur Begeisterung für solch schreckliche Taten ausstrahlte. "Wieso sind Sie dann zu Ihrem Freund gefahren und nicht nach Hause?", fragte die Inspektorin weiter. Die Wohnung, in der sie auf Mizue getroffen waren, gehörte nicht dieser selbst. Der Mieter, Shirowa Renzo, war ein junger Mann, kaum 30, und der feste Freund der Psychologen. Das hatten die Ermittler bereits am gestrigen Tag erfahren. In der Annahme, dass der Bewohner nicht Zuhause war, hatte Shion ihren Kollegen bereits die Tür zur Wohnung geöffnet, als Mizue leicht bekleidet, verschwitzt und mit wirrem Haar aus dem Schlafzimmer getreten war. Da es für die Ermittler offensichtlich war, in was für einen Moment sie die beiden Verliebten gestört hatten, war dies für beide Parteien ein unangenehmer Augenblick gewesen, den keiner von ihnen in die Länge ziehen wollte. Akane hatte sich damit begnügt, nur den Kriminalkoeffizienten Mizues zu überprüfen, sie nach Heisuke zu fragen und einen kurzen Blick in das Wohnzimmer zu werfen. Laut der Psychologin kannte Renzo Heisuke flüchtig, sie wussten über die Berufe des jeweils anderen Bescheid, aber hatten privat nichts mit einander zu tun. Da auch am Fenster im Wohnzimmer keine Spuren zu sehen waren, hatte es Akane für nicht nötig erachtet, auch noch den Mann selbst aus dem Schlafzimmer zu bemühen. "Ich war aufgebracht. Ich bin manchmal ziemlich sensibel, gerade wenn man mich versetzt. Da wollte ich mich ablenken", antwortete Mizue. "Im Übrigen, er - also Renzo - meinte, dass er bereit wäre, für eine Befragung oder nur der Überprüfung seines Psycho-Passes vorbei zu kommen, falls das noch nötig ist. Gestern war das einfach ein sehr ungünstiger Zeitpunkt", fügte die Psychologin hinzu. "Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird. Hätte sich jemand anderes in der Wohnung versteckt, Sie hätten das sicherlich bemerkt, nehme ich an. Gerade wenn dieser Jemand eine Bekannte von Ihnen mit sich trägt und aus dem Fenster werfen will." Mizue bestätigte die Worte seufzend mit einem Nicken. "Allerdings. Aber wie ich Ihnen bereits gestern gesagt hatte, ich war - hoffentlich - mit Renzo alleine in der Wohnung und außer dem Klirren und dann Ihrem Klingeln und Rufen haben wir keine verdächtigen Geräusche gehört." Akane lächelte kurz, dann fuhr sie mit der nächsten Frage fort: "Hat Tenba-sensei denn mal etwas geäußert, dass sie sich unwohl oder beobachtet fühlt? Haben Sie von ihr etwas über einen Hanayori gehört?" "Nein, nicht wirklich. Sie hat in letzter Zeit öfters darüber geklagt, dass ihr Psycho-Pass sich verschlechtern würde, dass der Psycho-Pass latenter Verbrecher auf sie abfärben würde und Pflegemittel zu schlecht wirken. Aber wie sollte sie so dazu kommen, von jemanden ermordet zu werden?", ergänzte die Psychologin skeptisch, ehe sie sich daraufhin mit ihrem Oberkörper etwas zu der anderen vorbeugte. "Aber lassen Sie uns nun nicht weiter über den Fall sprechen. Erzählen Sie mir von sich, was Sie beschäftigt, Ihnen Kummer bereitet, was Sie erfreut und wie zufrieden Sie mit Ihrer Arbeit sind", wechselte die Psychologin das Thema, worauf Akane sich zögernd einließ. Eine Weile unterhielten sich die beiden noch über eher oberflächlichere Dinge, die Inspektorin konnte einer Fremden nicht gleich Privates anvertrauen, jedoch schienen die beiden jungen Frauen einige gemeinsame Ansichten zu haben was Moralvorstellungen und sonstige Interessen anging. Zwischen ihnen war eine gewisse Sympathie spürbar, welcher es Akane scheinbar zu verdanken hatte, dass Mizue noch einen Hinweis auf ihre verstorbene Freundin lieferte: "Ich habe das vorhin nicht gesagt, weil ich nicht schlecht über Shiori-chan reden möchte, aber sie war nicht unbedingt eine Freundin des Systems. Die Art, wie ihr Psycho-Pass von latenten Verbrechern beeinflusst wurde, war weniger die Nähe zu diesen und die Konfrontation mit Leuten, die zu grausamen Taten imstande sind, sondern viel mehr meinte sie, dass sie so nette Leute kennengelernt hatte, die vollkommen bei Verstand waren, Träume und Ziele hatten und voller Gutmütigkeit waren, die niemals einem anderen Menschen schaden könnten. Wegen solcher Leute, die zu Unrecht in der Klinik waren - unter anderem hat sie da auch den ehemaligen Inspektor Ginoza erwähnt - zweifelte sie immer mehr an dem Sibyl-System. Und einmal hat sie sogar gesagt, sie habe weitere Leute kennengelernt, die sich das Ende Sibyls herbeisehnen, dass sie nun Mitglied eines Klubs sei, der sich 'Für das Ende Sibyls' nennt. Sie hat zwar im Nachhinein gemeint, dass sei nur ein Scherz, aber ich vermute, das hat sie nur gesagt, weil ich sehr schockiert darüber gewesen bin." Akane horchte auf. Der Wortlaut des vermeintlichen Klubnamens stimmte exakt mit der Nachricht auf dem Mantel des Opfers überein. "Hat sie noch mehr über diesen Klub erzählt?", hakte Akane nach. Mizue quittierte dies mit einem schlichten Kopfschütteln. Letztendlich war Akane froh, dass sie so zumindest einen Anhaltspunkt hatten. Sie stand auf und wollte sich schon verabschieden, um dieser Spur nachzugehen, als die neue Kollegin noch einmal auf etwas zu sprechen kam, das mit der Sache nichts zu tun hatte. "Karanomori-san hat mich dazu inspiriert eine kleine Feier zu meinem neuen Job im Amt für Öffentliche Sicherheit auszurichten. Geplant war viel eher ein gemütlicher Abend unter den weiblichen Kollegen als eine richtige Feier. Morgen Abend um 20 Uhr hier im Büro, falls es zu dem Zeitpunkt keine Arbeit zu erledigen gibt. Es wäre schön, wenn Sie auch kommen, Tsunemori-san." Akane nickte flüchtig, aber lächelnd. "Eine Willkommensfeier? Das klingt eigentlich ganz schön. Wenn wir nicht wegen Hanayori um die Zeit etwas zu tun haben, komme ich gerne", antwortete die Inspektorin, dann verabschiedeten sich die beiden Frauen. Kurz nachdem Akane das Büro verlassen hatte, ging ein Anruf von Shion auf der Smartwatch der Ermittlerin ein, den sie gleich entgegen nahm. "Akane-chan, wir haben eine weitere Nachricht von Hanayori bekommen. Kannst du ins Labor kommen?", meldete sich Shion sofort. "Ich bin so gut wie da", entgegnete Akane, worauf sie mit schnellen Schritten durch das Gebäude hin zum Analyselabor eilte. Kapitel 3: Für das Ende Sibyls ------------------------------ "Mein Name ist Hanayori Heisuke, ich bin 25 Jahre alt und am 23. August 2091 im Bezirk Koto der Präfektur Tokyo geboren. Heute, am 13. Januar 2117 werde ich um 21:00 Uhr in der Diskothek Nightfire in Minato, in der Karaokebar Virgo in Nakano und in der Kotake-Mittelschule in Bunkyou einen Mord begehen", klang es von den Lautsprechern zu dem Video, auf dem wie bei der ersten Nachricht der junge Mann mit dem Bobhaarschnitt zu sehen war. Allgemein unterschied sich die Aufnahme kaum von der Ersten, der größte Unterschied war neben den verschiedenen Angaben zur Tat, dass der Hintergrund ein anderer war. Es schien als sei dieses Video draußen vor einem Wohnkomplex aufgenommen worden, aber vor welchem ließ sich nicht einwandfrei bestimmen. Es gab zu viele Wohnhochhäuser, die einander stark ähnelten. Letztendlich brachte den Ermittlern dieser Umstand allerdings eine Erkenntnis: Heisuke hatte es geschafft, sein Wohnhaus unbemerkt zu verlassen. "Es könnte auch ein Bild im Hintergrund sein, eine Leinwand, dann könnte er noch immer im Gebäude sein", mutmaßte Shion, worauf Akane skeptisch zu ihr sah. "Könnte, ja, aber ich bezweifle es. Würden wir seine Wohnung sehen, dann hieße das, dass wir versagt haben, ihn zu finden. Ist er außerhalb des Hauses, so sagt er uns quasi, die Augen Sibyls können ihn nicht verfolgen, aber sollte er diese Morde wirklich begehen, dann ist dies eh der Fall. In beiden Fällen aber haben wir versagt. Wieso also sollte er sich um einen falschen Hintergrund bemühen?", entgegnete die Inspektorin nachdenklich. "Nun, die drei Orte liegen nicht einmal in demselben Bezirk Tokyos. Wenn er zur selben Zeit drei Morde an unterschiedlichen Orten begehen will, braucht er einen Fernzünder. Damit ist es egal, wo er selbst ist. Oder er hat Komplizen", gab Shion bei, während diese sich nun eine Zigarette anzündete. "Karanomori-san, kannst du von hier aus auf die Daten der Einrichtungen zugreifen? Herausfinden, was Hanayori damit zu schaffen hat?" "Lass mich sehen, was ich herausfinde", entgegnete die Blondine und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Kurz darauf wandte sich Akane ab, rief ihre Kollegin Mika an, die sich nicht viel später meldete. "Inspektor Tsunemori, was gibt es?" "Hanayori plant drei weitere Anschläge. Um 21:00 Uhr im Nightfire, in der Karaokebar Virgo und in der Kotake-Mittelschule", schilderte Akane knapp, bevor sie sich nach dem Status der Wohnungsdurchsuchung erkundigte: "Habt ihr schon Hinweise gefunden?" "Ja, allerdings. Auf ihrem Schreibtisch lag eine Visitenkarte über den 'Klub falscher Propheten'. Auf die Rückseite hat Tenba 'Für das Ende Sibyls' geschrieben." Innerlich machte Akane einen Freudensprung. Sie hatten nun einen konkreteren Hinweis, wie sie diese Gruppierung finden konnten, die ziemlich sicher in Verbindung zu Hanayoris Motiv für den Mord stand. "Das ist gut. Nehm die Visitenkarte mit. Ich habe im Gespräch mit Sasayama-san herausgefunden, dass Tenba-san sehr wahrscheinlich Mitglied eines Klubs war, der das Ende des Sibyl-Systems anstrebt", erklärte Akane. "Das hatte ich vor. Wir durchsuchen die Wohnung weiter und ich schicke dir dann die Vollstrecker Sugo und Hinakawa zur Disco, Kunizuka und ich gehen in die Karaokebar. Wegen der Schule frage ich Einheit 2, ob sie uns unterstützen können." Ehe Akane Mikas Worten antworten konnte, beendete die jüngere Inspektorin den Anruf. Akane seufzte. Nach all den Jahren war es immer noch schwierig mit Mika zusammenzuarbeiten und Akane wusste nicht, woran das lag. Sicher, manchmal war Akane etwas streng zu ihr, aber letztendlich waren schon so oft Menschen in Gefahr geraten, weil sich die andere zu sehr an die Regeln hielt. Mika konnte einfach nicht einschätzen, wann sie die Regeln befolgen musste und wann man nur durch das Abweichen von diesen Leben retten konnte. In der Hinsicht erschien die Jüngere Akane auch zu stur als dass sie etwas lernen würde. Diese Gedanken erinnerten sie an ein paar Worte, die sie vor gut vier Jahren, am Anfang ihrer Karriere als Inspektorin, von Nobuchika zu hören bekommen hatte."Man sagt: 'Narren lernen aus Erfahrung, Weise lernen aus der Geschichte.' Dann will ich mal stark hoffen, dass du kein Narr bist."Diese Erinnerung ließ sie schmunzeln. Sie hatte sich für den Weg des Narren entschieden, während Mika, genauso wie einst Nobuchika, den Weg der Weisen beschritt. Letztendlich fuhr Akane mit ihrem Weg besser, zumindest in der Ausübung ihres Berufes. Auch Nobuchika hatte seine Ansicht geändert, wenngleich er dafür zum Vollstrecker degradiert worden war, aber Akane glaubte nicht, dass er das bereute. Wahrscheinlich war er im Nachhinein eher froh, dass sie seinen Rat nicht befolgt hatte. Akane konnte es Mika nicht übel nehmen, dass diese den Weg wählte, der als der Klügere erschien, jedoch stand dies einfach des Öfteren ihrer Vorgehensweise im Weg und ein Menschenleben wog zu schwer als dass Akane nachgeben konnte. Irgendwann, so hoffte die Inspektorin, würde ihre Kollegin zu derselben Erkenntnis kommen wie Nobuchika und sie selbst. Im Folgenden wandte sich die Inspektorin wieder Shion zu. "Kannst du etwas über diesen Klub falscher Propheten herausfinden?", fragte sie nach, wobei die Blondine mit einem breiten Grinsen über die Schulter zu Akane linste. "Das ist bereits erledigt", trällerte die andere stolz, dann sah sie wieder auf den Bildschirm vor sich, auf welchem die Website besagten Klubs prangerte. "Als Studentenklub wurde er vor sechs Jahren gegründet. Es war eine Mischung aus Literatur- und Philosophieklub. Das ist er offiziell immer noch. Man behandelt gemeinsam ältere literarische Werke, insbesondere mit dem Fokus auf die Themen Moral, Lebenssinn und Gerechtigkeit. Seit zweieinhalb Jahren ist dieser Klub ein von Sibyl genehmigter Verein. Aktuell hat der Verein 176 Mitglieder und teilt sich in fünf Gruppen, die sich an verschiedenen Orten in Tokyo treffen und verschiedene Themen behandeln. Keine Bestimmten, jedes halbe Jahr wird ein anderes Buch gelesen und jedes Mitglied darf selbst entscheiden, welche dieser fünf - sie nennen es - Seminare es besucht," erklärte Shion, während Akane ein paar dieser Daten selbst auf dem Bildschirm bemerkte. "Kannst du auf die Mitgliederliste zugreifen?" "Das kann eine Weile dauern, wird aber kein Problem sein. Willst du die komplette Liste, Akane-chan?" Die Angesprochene bejahte mit einem Nicken. "Und überprüfe am besten gleich, ob von diesen Mitgliedern jemand wegen einem hohen Psycho-Pass aufgefallen ist, ob sich jemand in einer Pflegeanstalt befindet und dann suche nach Hinweisen darauf, dass sich der Verein gegen Sibyl stellt." "Alles klar", entgegnete Shion, worauf ihre Finger gleich wieder über die Tastatur flogen. Akane, die inzwischen die Nummer eines als Gründer auf der Website angegebenen Mannes auf ihrer Smartwatch eingetippt hatte, verließ nun das Analyselabor. Auf dem Gang rief sie die Nummer an. Es dauerte einen Moment, bis der Anruf entgegengenommen wurde. "Itoe Hiroto hier. Hallo?", drang eine tiefe, männliche Stimme hervor. "Guten Tag, Itoe-san. Mein Name ist Tsunemori Akane, ich bin Inspektorin des Amts für Öffentliche Sicherheit", stellte sie sich vor, wobei von ihrem Gesprächspartner bereits ein Seufzen zu hören war. "Ich habe einige Fragen an Sie, können wir uns treffen?", fuhr Akane fort. Es dauerte einen Moment, bis Hiroto antwortete: "In Ordnung. Kennen Sie die Kneipe Mimiojou?" "Ja." "Ich habe dort ein Gruppentreffen. Es geht noch eine Stunde. Wenn Sie danach dort sind, können wir reden", äußerte Hiroto. Akane überlegte gar nicht lange und stimmte zu, dann beendete sie das Gespräch. Fast eine Stunde später betrat Akane die Kneipe Mimiojou im Zentrum der Stadt. Sie war nicht sonderlich groß, bot allerdings einige Sitznischen, in denen man relativ ungestört reden konnte. Allgemein versprühte das Lokal einen ruhigen Flair, es wirkte ein wenig altertümlich mit den Tischen aus massivem Holz und dem gedimmten Licht. Die Ermittlerin erblicke eine Gruppe Männer, die zusammen an Handheldkonsolen ein Spiel spielte und nebenher etwas trank. In einem anderen Eck saß ein Dutzend überwiegend junger Leute mit E-Books. Akane ging stark davon aus, dass diese Mitglieder des Klubs falscher Propheten waren. Sie setzte sich an die Bar, nahe der Nische der Klubmitglieder. Akane bestellte sich über ein Display auf der Theke lediglich ein Wasser, das ihr bald von einem robotischen Barkeeper gebracht wurde, während sie dem Gespräch der Gruppe lauschte. Relevante Informationen befanden sich nicht darunter, es ging nur um das Buch und auch dieses wirkte, soweit Akane etwas mitbekam, nicht Sibyl-kritisch. Nach ein paar Minuten löste sich die Gruppe auf. Die meisten verließen sogleich die Kneipe. Akane drehte sich um, musterte die Teilnehmer etwas genauer, bevor ihr Blick auf einem Mann Anfang 30 hängen blieb, den sie von einem Foto auf der Website wiedererkannte. "Itoe Hiroto?", rief sie durch den Raum, worauf der Angesprochene gleich zu ihr herüber kam. "Sie müssen Inspektorin Tsunemori sein. Freut mich, Sie kennen zu lernen", meinte er lächelnd und nahm neben ihr Platz. Hiroto bestellte sich nun selbst einen Saft, während Akane den Mann einen Augenblick lang musterte. Jetzt, wo sie ihm direkt gegenüber saß wirkte er etwas freundlicher als auf dem Foto. Im Gegensatz zu diesem hatte er in echt auch keine Glatze mehr, sondern einige dunkle Haarstoppeln und seine Schultern waren auch nicht so breit wie sie gewirkt hatten. Er war auch nicht so groß, wie Akane sich ihn vorgestellt hatte, sondern nur wenig größer als sie selbst. "Es geht um Tenba Shiori. Sie war ein Mitglied Ihres Vereins. Sie wurde gestern ermordet", erklärte Akane. Hiroto machte es sich bequem, während er eher betrübt zu ihr sah, allerdings nicht trauernd. "Wer hat sie ermordet? Und wissen Sie, wieso? Sie war eine nette Frau." "Hanayori Heisuke", gab Akane zu, worauf ihr Gegenüber seufzte. Hiroto wirkte nicht sonderlich überrascht. "Kennen Sie ihn?", hakte Akane nach. Zur Antwort bekam sie ein Nicken. "Er ist auch ein Mitglied, allerdings war er seit zwei Monaten auf keinem Treffen mehr." "Was können Sie mir über ihn sagen?" "Er ist seit zwei Jahren dabei und sieht in dem Verein eine Gruppe von Menschen, die unzufrieden mit dem Sibyl-System sind." "Für das Ende Sibyls", fiel Akane ihm ins Wort und erntete dafür einen erstaunten Blick, gefolgt von einem lächelnden Nicken. "Genau. Er hat immer wieder angesprochen, man solle doch eine Aktion gegen das System starten, allerdings ist daraus nie etwas geworden. Tenba-san und auch ein paar andere Psychologen meinten, er würde nie alleine etwas starten. Er und auch einige andere zählen zu den Menschen, die zwar planen und sich etwas vorstellen, aber letztendlich nicht den Mut haben, sich wirklich gegen den Staat aufzulehnen." "Dann geben Sie also zu, dass dieser Klub nichts vom Sibyl-System hält?" Hiroto schüttelte den Kopf. "Nein, ganz im Gegenteil. In erster Linie ist es ein Literaturklub. Wir besprechen zwar viele Bücher in Bezug auf unser Gesellschaftssystem und es stimmt auch, dass das Sibyl-System entscheidend für die Namensgebung war, allerdings haben wir eher die Absicht, das System zu unterstützen. Wenn man gesellschaftskritische Bücher liest, verleitet das einige, etwas Schlechtes in der eigenen Gesellschaft zu sehen und darüber zu reden. Manchen Leuten genügt es, nur darüber zu sprechen, um auf diese Weise ihren Psycho-Pass reinzuhalten, selbst wenn das paradox klingt. Andere, die wirklich etwas unternehmen wollen, suchen Unterstützung, so wie Hanayori, weil sie sich alleine zu schwach gegenüber dem Staat sehen. Uns war klar, wenn wir aus unserem Klub einen Verein machen, dann würde das solche Leute anlocken, die nach der Vernichtung des Sibyl-Systems streben ohne sich darüber Gedanken zu machen, welche Alternativen es für die Gesellschaft gibt. Die meisten von uns wissen, dass wir das am besten funktionierende System auf der ganzen Welt haben und schätzen das. Weil wir aber wissen, dass nicht alle so sind und diese zur Gefahr werden könnten, habe ich zusammen mit den anderen, die nun den Vorstand des Klubs bilden, eine Übereinkunft mit der Polizei getroffen. Wir versuchen gar nicht zu sehr zu verstecken, dass wir auch kritische Gespräche über Sibyl führen, wir locken diese Menschen an, versuchen ihnen klar zu machen, wie gut Sibyl ist und wie wenig bessere Systeme es gibt." "Ist das nicht im Normalfall gefährlich? Bei einigen wird sich dadurch ihr Psycho-Pass doch viel schneller trüben?", wandte Akane ein, worauf der andere einen Finger erhob und den Kopf schüttelte. "Es sind nur wenige Leute innerhalb des Vereins, die solche Gedanken wirklich äußern. Und dadurch, dass wir darüber diskutieren, sehen einige den Sinn des Sibyl-Systems ein und vertrauen diesem wieder mehr. Manchen, wie scheinbar Hanayori, hilft das nicht. Für diese haben wir auch eine kleine Gruppe von Extremisten. Ein Freund von mir tut so als würde er das so sehen, um ihr Vertrauen zu behalten, damit er schlimme Taten zur Not vereiteln oder früh genug der Polizei melden kann", fügte Hiroto hinzu. "Dort wird aber nicht darüber gesprochen, wie man am besten den Straßenscannern entgeht? Unter normalen Umständen wäre das Sibyl-System gar nicht auf Ihre Unterstützung angewiesen." Akanes Gegenüber lächelte noch etwas breiter. "Ich bin mir sicher, dass auch Sie wissen, Tsunemori-san, dass das Sibyl-System nicht perfekt ist. Wir sind eine kleine Gruppe, die sich dessen bewusst ist und auf ihre Weise das System unterstützen möchte, damit es etwas besser und effizienter werden kann. Eigentlich sollte die Überwachung ausreichen, aber es gibt immer noch etliche Schlupflöcher und diese wollen wir füllen. Vor allem kann auch Sibyl noch nicht in die Zukunft sehen. Hanayori ist das beste Beispiel. Sie konnten den Mord nicht verhindern. Eigentlich hatten wir gedacht, in so einem Fall würde einer von uns einem potentiellen Täter nahe genug stehen, um eine solche Tat rechtzeitig verhindern zu können, aber dahingehend haben wir uns offensichtlich getäuscht." Hiroto seufzte. Dass er und seine Freunde versagt hatten, schien ihn zu bekümmern. "Wie heißt ihr Freund, der sich als Extremist ausgibt? Kennt Hanayori ihn?", hakte die Inspektorin nach. "Yokohara Isamu. Ja, er kennt Hanayori. Sie haben wie die besten Freunde gewirkt, ich hoffe nur, dass Isamu inzwischen nicht die Seiten gewechselt hat." Auf dem kleinen Display, der ihr von ihrer Smartwatch angezeigt wurde, notierte Akane den Namen. Sie schickte diesen gleich an Shion weiter, damit diese über den Mann alles in Erfahrung bringen würde, was ihnen weiterhelfen konnte. "Und wie lange ist Tenba-sensei schon ein Klubmitglied?", lenkte die Inspektorin das Gespräch in eine etwas andere Richtung. "Das müssten nun etwa fünf Monate sein. Drei davon als Mitglied der Extremistengruppe. Wenn es Sie interessiert, kann ich die genauen Daten für Sie raussuchen und Ihnen schicken", bot Hiroto an, was Akane mit einem Kopfschütteln ablehnte. "Danke, mir reicht die grobe Angabe. Wie war das Verhältnis zwischen Hanayori und Tenba-sensei?" Hiroto überlegte einen Moment, in welchem er einen großen Schluck von seinem Saft nahm. "Bevor Hanayori nicht mehr zu den Treffen kam, hatten sie sich relativ gut verstanden. Ich glaube, er hatte etwas mehr für sie übrig, aber sie wollte nichts von ihm. Aber wie gut sich die beiden wirklich verstanden haben und ob sie sich außerhalb der Seminare getroffen haben, das weiß ich wirklich nicht, Inspektor." "Danke. Sagen Sie, Itoe-san, kennen Sie auch eine Sasayama Mizue?" Hiroto dachte kurz nach, ehe er den Kopf schüttelte. "Der Name sagt mir nichts, tut mir leid." Daraufhin stand Akane auf. Sie verabschiedete sich von ihrem Gesprächspartner und verließ die Kneipe. Dabei zog sie einen Dominator hervor, über welchen sie sich direkt an Sibyl wandte. "Ist das wahr, was er gesagt hat? Dieser Klub falscher Propheten arbeitet mit dem Amt für Öffentliche Sicherheit zusammen?" "Es ist besser Rebellen einen Platz zu geben, an dem sie sein können und wo man sie leicht überwachen kann, als wenn sie alle im Untergrund sitzen", entgegnete die Stimme des Systems nur für Akane durch den Kontakt zum Dominator hörbar. "Wieso habt ihr das nicht gleich gesagt? Wir hätten Hanayori vielleicht früher finden und den Mord an Tenba-san verhindern können!" "Dieser Verein ist ein weiteres Auge von uns. Wäre dort etwas geschehen, dass uns Hanayoris Aufenthaltsort verraten hätte, wir hätten es mitbekommen. Die Daten, die wir aus dem Verein erhalten haben, waren für dich nicht relevant, Tsunemori Akane." Die Inspektorin seufzte, dann steckte sie den Dominator wieder weg und machte sich auf den Weg zu der Diskothek Nightfire. Der Nachtklub grenzte an einen belebten Platz. Akane war hier selbst schon oft vorbei gekommen. Das Nightfire war meist gut besucht, auch jetzt vernahm man laute Musik aus dem Gebäude und eine Reihe von Feierlustigen sammelte sich davor. Es war kurz vor 20 Uhr, der Klub war dementsprechend noch nicht allzu voll, aber es würde dennoch dauern, das Gebäude zu evakuieren. Shion, die sich über den Nachmittag hinweg in die Kameras der drei vermeintlichen Tatorte eingeklinkt hatte, meldete sich nun bei Akane zu Wort, als diese etwas abseits des Klubs auf ihre Kollegen wartete. "Bis jetzt war Hanayori an keinem der drei Orte. Sollte es eine Vorrichtung geben, die den Mord ausführt, muss er diese bereits vorher installiert haben. Ich habe auch die benachbarten Gebäude gecheckt. Kein Anzeichen von ihm. Nirgends. Durch einen Straßenscanner ist er heute auch nicht aufgefallen. Es ist, als sei er wortwörtlich vom Erdboden verschluckt worden", teilte Shion der Inspektorin mit. Akane hatte damit schon gerechnet. Sie vermutete, dass Heisuke wirklich Komplizen hatte, wahrscheinlich Leute, die er durch den Verein kennengelernt hatte. Aus diesem Grund plante die Inspektorin all die Besucher der Diskothek, die Mitglieder im Klub falscher Propheten waren, festzunehmen, sowie Leute, deren Psycho-Pass über 100 lag. All die Leute, die den Klub betraten überpüfte Akane bereits möglichst unauffällig mit ihrem Dominator aus der Distanz. Bislang hatte keiner in das Muster gepasst. "Tsunemori-san", vernahm sie einige Minuten später die bekannte Stimme Shos neben sich, weswegen Akane für einen kurzen Moment ihren Blick von den Discobesuchern nahm. Der Rothaarige war zusammen mit Teppei bei ihr angekommen. Einige Meter weiter konnte Akane noch den Gefangenentransporter, in dem die beiden Vollstrecker hergebracht worden waren, sowie den Streifenwagen ausmachen, mit dem Mika und Yayoi zu ihrem Tatort weiterfuhren. Die Inspektorin grüßte ihre Kollegen freundlich und erklärte ihnen die Lage. Während Akane vor dem Gebäude bleiben würde, sollten die beiden anderen dieses betreten und durchsuchen. Zwar war das Meiste videoüberwacht, jedoch gab es tote Winkel der Kameras und es war nicht auszuschließen, dass eine Aufnahme manipuliert worden war. Je mehr Zeit verstrich, umso mulmiger wurde Akane. Wie auch am ersten Tatort fanden sie einfach nichts. Sie rief Lageberichte von den Inspektoren an den anderen beiden Tatorten ab, aber auch dort wurde nichts gefunden. Fünf Minuten vor der Anschlagszeit meldete sich schließlich Teppei bei Akane. "Wir haben die Opfer gefunden. Es sind zwei Männer mit gelben Mänteln. Sie saßen gefesselt in einer unbenutzten Abstellkammer im Keller des Gebäudes. Ihre Kriminalkoeffizienten sind in Ordnung. Wir bringen sie nach draußen." Die Inspektorin verständigte daraufhin gleich ihre Kollegen, damit an den anderen Orten solche Versteckmöglichkeiten überprüft werden konnten. Als sie fertig war, standen bereits die Vollstrecker mit den vermeintlichen Opfern vor ihr. Sie wirkten blass und die Arme zeigten noch deutliche Male der Fesseln. Die gelben Mäntel hatten die beiden bereits ausgezogen und an Teppei übergeben, der die Rückseiten der Kleidungsstücke der Inspektorin zeigte. Wie schon bei Shiori, stand auch auf diesen in roter Farbe der Name des Täters zusammen mit den Worten 'Für das Ende Sibyls'. "Ich bin Inspektorin Tsunemori Akane", stellte sich die Brünette nun den beiden noch irritiert wirkenden Männern vor, während Teppei die Mäntel in Plastiktüten packte, damit man diese möglichst ohne weitere Spuren auf ihnen zu hinterlassen später ins Labor geben konnte. "Euch wird kein Leid geschehen, ihr seid sicher. Dennoch bitte ich euch darum, mir gleich eure Namen zu nennen und wie ihr in Verbindung zu Hanayori steht." Die Männer tauschten Blicke aus, dann erhob der Größere und vermutlich Ältere der beiden das Wort. "Ich bin Yokohara Isamu und das ist Takagi Rintaro. Wir kennen Hanayori über den Klub falscher Propheten. Wir sind mit ihm in der Gruppe, die sich auch als 'Für das Ende Sibyls' bezeichnet, aber das heißt nicht, dass wir dem Sibyl-System schaden wollen, wirklich nicht!" Akane nickte verständnisvoll. "Ich wurde von Itoe-san sowie meiner Chefin bereits über die Hintergründe des Klubs aufgeklärt." Die Inspektorin wollte weiter nachhaken, als ein Anruf auf ihrer Smartwatch einging. Entschuldigend nickte sie den beiden zu, dann wandte sie sich ab, um dem Anruf entgegen zu nehmen. Er kam von Mika und ihre Stimme meldete sich sogleich triumphierend zu Wort: "Es ist bereits zwei Minuten nach der Anschlagszeit. Wir haben das Gebäude evakuiert und bislang ist niemand zu Schaden gekommen. Ich bin mir nicht sicher, ob Hanayori hier wirklich einen Mord begehen wollte, aber das Gelände ist sicher. Ich gebe Entwarnung. Wie sieht es bei dir aus, Inspektorin?" "Wir haben zwei Opfer früh genug retten können", erklärte Akane knapp, wobei ihr Blick zu dem Eingang des Klubs wanderte. Die Besucher standen in einem Gedränge an, aber niemand drängte darauf, das Gebäude zu verlassen. Es hatte kein ungewöhnliches Geräusch gegeben, die ganze Lage schien ruhig. Vielleicht hatte Heisuke die Beamten bemerkt und sein Vorhaben abgebrochen. Akane konnte das nicht sagen, jedoch vermutete auch sie, dass es heute hier keinen Mord geben würde. "Von Hanayori fehlt allerdings auch jede Spur. Ich frage bei Einheit 2 nach", fügte Akane hinzu und beendete damit das Gespräch. Gleich darauf rief sie bei Otoya Keigo an, einem sehr jungen Inspektor der Einheit 2. Akane kannte ihn kaum, genauso wie zwei weitere Inspektoren, war er im vorletzten Jahr dem Amt für Öffentliche Sicherheit beigetreten, nicht perfekt ausgebildet, aber ausreichend genug, um den Personalmangel zu beheben. Er war ehrgeizig und äußerst verantwortungsbewusst. Zwar mangelte es ihm daran, die richtigen Entscheidungen zu treffen, dafür erfüllte er alle Aufgaben, die man ihm genau vorgab, sehr rasch und präzise, sowie er auch ein Talent dafür hatte, die Sachlage gut zu überblicken und knapp, aber gleichzeitig detailliert das Wichtigste zu schildern. Soweit Akane es einschätzen konnte, übernahm Keigo insbesondere das Schreiben der Berichte und das Nachkommen von Anweisungen, die sein Kollege, der ebenso jung war, meist gab, um einen Einsatz der Einheit 2 zu koordinieren. Wie von dem jungen Inspektor zu erwarten, meldete sich auch dieser sogleich am anderen Ende der Leitung. "Guten Abend, Tsunemori-san, Sie wollen den Lagebericht?" "Ich bitte darum, Otoya-san", entgegnete Akane ruhig, wobei sie sich nun wieder umdrehte und die beiden Opfer musterte. Gerade der Jüngere, Rintaro, wirkte ziemlich durch den Wind. Sein zu einem Seitenzopf gebundenes, mittellanges, dunkles Haar war zerzaust und sein Blick wanderte hektisch umher. Vor drei Jahren noch hätte sein Kriminalkoeffizient mit Sicherheit über 100 gelegen, dank des kollektiven Psycho-Passes jedoch, war das Sibyl-System heute in der Lage, die traumatische Situation des Mannes, den Einfluss Hanayoris mit einzubeziehen, um so auch vorausschauend den Kriminalkoeffizient zu bestimmen, der abschätzte, ob er dennoch das Potenzial zum Verbrecher hatte sowie der Gesellschaft schaden könnte. Es war ein Fortschritt, um den Akane sehr froh war und um den es Rintaro sicherlich auch sein würde, wäre er sich dessen bewusst. Was Yokohara dagegen anging, so war dieser schwer einzuschätzen. Der Inspektorin war nicht entgangen, dass es sich dem Namen nach um einen der höheren Mitglieder des Klubs handeln musste, welcher solche Leute wie Hanayori direkt bewachen wollte. Es war denkbar, dass er ein Komplize Hanayoris war, der deswegen keine Angst in diesem Moment verspürte, andererseits hätte der Dominator dann auf ihn reagieren müssen. Akane hielt es deswegen für wahrscheinlicher, dass er einfach recht abgebrüht war und ihn solche Situationen wie auch der Umgang mit potenziell gefährlichen Leuten wenig anhaben konnte, solange noch kein endgültiges Unheil geschehen war. Während Akane noch versuchte, den Fremden etwas einzuschätzen, antwortete ihr nun die Stimme des jüngeren Kollegen. "Es ist nicht gut verlaufen", seufzte Keigo. "Wir haben die Schule durchkämmt und zwei Schüler in obszönen Posen sowie deren Eltern gefesselt vorgefunden. Bei einem Schüler, beiden Vätern und einer Mutter lag der Kriminalkoeffizient über 300, die Vollstrecker haben sie liquidiert. Die anderen beiden Opfer wurden mit dem Non-Lethal-Paralyzer ausgeknockt. Eine verdächtige Person hat sich in der Zeit nicht der Schule genähert und es gab keine Anzeichen für tödliche Vorrichtungen in der Nähe der Opfer. Das war alles." "Danke, die anderen beiden Tatorte sind ebenso sicher", entgegnete Akane zögernd, ehe sie sich verabschiedete und den Anruf beendete. Seufzend trat sie wieder näher an die beiden Vollstrecker und die Mitglieder des Klubs heran. Es bereitete ihr keine Freude zu hören, dass vier Menschen, darunter ein Kind, den Tod durch das Sibyl-System fanden, durch Inspektoren und Vollstrecker, die eigentlich die Aufgabe hatten, das Leben der Bürger Japans zu schützen. Ob das vielleicht die Art war, mit welcher Hanayori seinen zweiten Mordanschlag verüben wollte? Hatte er deswegen drei Schauplätze vorbereitet, weil er diesmal gar nicht den direkten Todesstoß ausüben wollte, sondern seine Opfer in eine Lage brachte, in welcher es das System war, das sie nicht weiter als Mitglieder der Gesellschaft anerkannte? War es Heisukes Absicht gewesen, die Ermittler wie Werkzeuge für einen Mord zu benutzen, während er seine Opfer nur dazu brachte, sich in Gefühlen von Hass und Rache zu verlieren, so dass es für sie unmöglich war, als Teil der Gesellschaft weiterzuleben? In dieser Hinsicht hätte der Hochzeitsplaner heute Abend zu einem Teil Erfolg gehabt. Dennoch läuteten noch immer die Alarmglocken in Akanes Kopf. Irgendwas passte nicht zusammen. Bedachte man, dass in der Schule sowie hier in der Diskothek bereits Opfer positioniert worden waren, so sollte Heisuke dabei gescheitert sein, auch Opfer in der Karaokebar zu positionieren. Das würde bedeuten, dass es eine geringe Chance gab, dass der Verdächtige noch immer in der Nähe der Karaokebar war. Wenn die Ermittler den Bereich durchsuchen würden, würden sie Heisuke vielleicht finden? Oder auch nur auf ein weiteres Mitglied dieses Klubs stoßen? Es war der einzige Anhaltspunkt, den Akane im Moment hatte. So trat sie wieder näher an die vier Männer heran und erhob ihr Wort. "Yokohara-san, wäre es möglich, dass Sie gleich noch die Namen der Mitglieder der Gruppe 'Für das Ende Sibyls' nennen?" Sie wollte sich noch erklären, vonwegen dass sie Verständnis dafür hatte, wenn der andere im Moment zu erschöpft war oder zu sehr unter Schock stand als dass er sich nun damit befassen wollte, doch der Angesprochene zögerte nicht. Er nickte und nannte Akane die Namen. Die Inspektorin notierte die insgesamt zwölf Namen in einer Mail, die sie sogleich an Shion schickte. "Vielen Dank. Takagi-san, Yokohara-san, gehen Sie nach Hause und ruhen sich gut aus. Melden Sie sich morgen telefonisch bei mir, damit wir uns für eine weitere Befragung verabreden können. Das wird leider nötig sein", fuhr Akane fort. Die beiden Männer nickten und Akane übertrug ihre Kontaktdaten von ihrer Smartwatch auf die Mobiltelefone der Opfer. Anschließend überließ sie die Männer sich selbst. Sie hätte gerne mehr für die beiden getan, jedoch hatte sie nicht die Zeit dafür. Nur knapp erklärte sie ihren Kollegen, wohin sie nun sollten, worauf sich diese in den gesonderten Transporter der Vollstrecker begaben, während Akane in den Streifenwagen stieg, um mit diesem zur Virgo zu fahren. Auf dem Weg zur Karaokebar informierte sie Mika, die schon einmal die Gegend inspizieren sollte. Kurz bevor Akane den zweiten Tatort erreichte, meldete sich Shion telefonisch bei ihr. "Was gibt es?", fragte die Brünette sogleich nach, worauf die Analytikerin stolz ihren Bericht vortrug. "Ich habe die Liste der Opfer mit der Liste der Klubmitglieder abgeglichen. Das ist wirklich interessant, Akane-chan. Es scheint, als habe Hanayori es nur auf die Mitglieder der Gruppe 'Für das Ende Sibyls' abgesehen und auf keinen der weiteren 164 Mitglieder des Klubs falscher Propheten. Alle heutigen Opfer und auch Tenba-san waren Mitglieder der Gruppe. Nun ja, die Schüler nicht, aber dafür ihre Eltern. Ich denke, dass sie deswegen mit zum Ziel für Hanayori wurden." "Das heißt also, wenn es weitere Anschläge gibt, werden diese sich auf die übrigen vier Opfer richtig. Gegebenfalls auch noch die Überlebenden des heutigen Abends", schlussfolgerte Akane. "Karanomori-san, schick mir bitte die Namen der Lebenden aus 'Für das Ende Sibyls', zusammen mit ihren Kontaktdaten." "Wird erledigt. Im Übrigen, ich habe herausgefunden, wieso Hanayori uns bei seinem Wohnhaus entwischt ist. Ich habe mir die Videoüberwachungsdatein des Hauses von gestern und heute angesehen. Das System hat ihn nie beim Verlassen des Gebäudes gemeldet, weil es ihn gar nicht erkennen konnte. Erinnerst du dich an die Helme, die Makishima vor vier Jahren in Umlauf gebracht hat? Durch die der Wert des Area-Stress-Levels oder gar einer nahen Person mit niedrigem Kriminalkoeffizient übernommen werden konnte?" "Ja, natürlich. Aber wir haben alle Helme vernichtet, erzähl mir nicht, ein Mann mit so einem Helm hat das Gebäude verlassen!" Shion seufzte. "Leider ist genau das der Fall. Natürlich könnte das jeder sein, aber bei Hanayori macht das am meisten Sinn. Damals müssen ein paar Helme oder wenigstens einer unserer Entsorgungsaktion entkommen sein. Ich habe noch keine Ahnung, wie Hanayori daran kommen konnte, aber das erschwert die Suche nach ihm ungemein und das Festnehmen genauso. Ich werde einen Algorithmus schreiben, damit das Überwachungssystem der Stadt einen solchen Helm erkennen kann, aber das dauert und wird nicht annähernd so genau sein wie die Überprüfung anhand biometrischer Daten." "Es ist besser als nichts. Ich zähle auf dich, Karanomori-san", äußerte Akane, als sie nun die Bar erreichte und aus dem Wagen stieg. "Und ich hoffe, ihr findet den Mistkerl mit etwas Glück heute noch, auch wenn es mich stören würde, wenn ich mir die ganze Arbeit umsonst mache." "Umsonst ist es bestimmt nicht. Sag, wann hat er eigentlich das Gebäude verlassen?", fragte die Inspektorin nach, während sie auf die beiden Vollstrecker wartete, die nun aus dem Transporter stiegen. Schweigend gab sie diesen Handzeichen, um zu verdeutlichen, in welcher Richtung sie suchen sollten und welche Mika übernommen hatte. Zusammen mit den beiden Kollegen setzte sich Akane in Bewegung. Ihre Augen waren aufmerksam auf die Umgebung gerichtet, während ihre Ohren halb auf die Geräusche in der Umgebung achteten und halb auf die Antwort Shions. "Gestern um 14 Uhr. Ich bin allerdings noch dabei, die späteren Stunden zu schauen. Wenn er den Mord verübt hat, muss er schließlich zurück ins Gebäude gekommen sein." "Spar dir das besser. Einen Großteil des Nachmittages haben wir das Wohnhaus bereits abgesperrt gehabt. Ich glaube vielmehr, dass er einen Komplizen hat, also wird es uns mehr bringen, wenn du daran arbeitest, dass wir über einen Standort eines solchen Helmes benachrichtigt werden. Ansonsten haben wir vielleicht Hanayori und die Morde nehmen dennoch kein Ende." Damit beendete Akane das Gespräch und konzentrierte sich nun ganz auf die Jagd nach dem Attentäter, die allerdings alles andere als erfolgversprechend war. Von Straßenscannern würde Hanayori demnächst nicht erfasst werden, sie wussten nicht, ob er zu Fuß oder mit dem Auto unterwegs war, ob er sich in Begleitung eines Partners befand oder es allgemein nur ein Komplize gewesen war, der die Opfer in die Karaokebar bringen sollte. Des Weiteren hatten sie keine Ahnung, wann Hanayori oder ein Komplize gemerkt hatte, dass das Amt für Öffentliche Sicherheit die Bar absperrte und er dort nicht hinein kam. Es konnte vor einer Dreiviertelstunde gewesen sein oder gar noch länger her, in jedem Fall war es jetzt bereits nach 21:30 Uhr, eine halbe Stunde Vorsprung war damit sicher und es war nicht leicht für gerade mal fünf Personen in jede Himmelsrichtung nach einer einzigen Person zu suchen. Das Ziel, Hanayori in der heutigen Nacht zu finden, schien nahezu unerreichbar. Akane und ihre Kollegen mussten sich eingestehen, auch die zweite Runde hatten sie verloren. Kapitel 4: Befreiungsaktion --------------------------- Fünf Fahrzeuge standen noch zu der späten Stunde auf dem Personalparkplatz der Psycho-Pass-Pflegeklinik in Adachi. In jedem der Fahrzeuge saß eine einzige Person, nur in einem der Wagen waren es zwei. Auf dem Beifahrersitz dieses Autos widmete sich ein breitschultriger Mann mit schwarzem, wirrem Haar einem kleinen Computer, über welchen er Zugriff auf das Überwachungssystem der Klinik erhielt. Er schickte eine Menge Daten aus der letzten Nacht an die Überwachungskameras sowie Psycho-Pass-Scanner im Gebäude, so dass für die nächste Stunde diese Bilder und Werte das wahre Geschehen verschleiern würden. Sorgen, dass diese Manipulation zu schnell entdeckt werden würde, machte er sich keine. Solange die Kameras liefen und nur autorisierte Personen Türen in der Anstalt öffneten, würde das Sicherheitssystem keinen Alarm schlagen. Und sollte der einzige menschliche Wachmann der Klinik, welcher ohnehin nur beauftragt war, die Überwachungsbilder im Blick zu haben, tatsächlich seiner Arbeit nachgehen, ihm sollte nichts Ungewöhnliches auffallen. Zudem sollte das Amt für Öffentliche Sicherheit im Moment alle Hände voll zu tun haben, so dass es unwahrscheinlich war, dass die Beamten bei der Meldung des Vorfalls schnell genug ausrücken konnten, um das Vorhaben zu verhindern. Die letzten Daten waren erfolgreich übermittelt. Der Beifahrer verstaute den Computer im Handschuhfach und wandte sich an den Fahrer des Wagens. "Es ist so weit, wir können loslegen." Der Fahrer des Wagens, der niemand geringeres als Hanayori Heisuke war, gab das Startsignal an seine Kollegen in den anderen Wägen weiter. Während Heisuke einen Helm über seinen Kopf zog, um sicherheitshalber seine Anwesenheit vor den Scannern zu verbergen, falls die Manipulation der Überwachungsdaten nicht vollständig geglückt sein sollte, setzte sein Partner die große Kapuze seines dunklen Mantels auf und zog diese tief ins Gesicht. Kurz darauf öffneten sich die Türen der versammelten Fahrzeuge und die sechs Verbündeten stiegen aus. In einer geschlossenen Gruppe überquerten sie den Parkplatz hin zum Personaleingang der Klinik. Der Kapuzenträger zog den Personalausweis Tenba Shioris aus der Manteltasche und hob diesen vor das elektronische Schloss. Auf einem Display daneben wurde eine PIN-Eingabe erwartet und der Vermummte gab die entsprechende Nummer mit durch einen Handschuh geschützten Fingern ein. Daraufhin schwang die schwere Tür auf und ließ die Gruppe in das Innere des Gebäudes. Die sechs Personen traten ein. Sie durchquerten die Anstalt zielstrebig bis zu den Zimmern der Patienten. "Das sind die reinsten Zellen. Man wird hier gehalten wie Gefangene ohne überhaupt eine Straftat begangen zu haben. Das ist menschenunwürdig!", äußerte einer der Männer. "Heutzutage ist es doch quasi eine Straftat, wenn der Kriminalkoeffizient zu hoch ist, aber sich ein Verbrechen vorzustellen und es tatsächlich auszuüben sind zwei ganz verschiedene Dinge", entgegnete Heisuke. "Und genau deswegen sind wir hier. Wir werden unseren unglücklichen Mitmenschen ihr würdevolles Leben zurückgeben und der Gesellschaft zeigen, dass das Sibyl-System nicht nur Verbrechern die Freiheit entzieht", kam es von dem Kapuzenträger, welcher nun seine Verbündeten eingehend musterte. "Ihr habt den Plan noch im Kopf? Wer welche Patienten anspricht?", fragte er daraufhin nach. Die anderen nickten bestätigend. "Gut", entgegnete er, worauf sich die Gruppe teilte. Der Kapuzenträger ging mit Heisuke, die Übrigen gingen jeder für sich zu verschiedenen Zellen. Das Duo erreichte schnell ihr erstes Ziel. Hinter einer gläsernen Tür lag ein älterer Mann, der fast 60 Jahre alt war, auf dem Bett und schlief. Mithilfe von Shioris Ausweis wurde die Tür entriegelt. Während Heisuke das kleine, unpersönlich wirkende Zimmer betrat, kümmerte sich sein Partner darum, zu einer anderen Zelle zu gehen, um den dortigen Insassen zu befreien. Heisuke trat an das Bett heran und rüttelte an den Schultern des Mannes. Es dauerte einen Augenblick, dann schreckte dieser aus dem Schlaf. "Ganz ruhig. Mein Name ist Hanayori Heisuke, ich bin hier, um Sie hier rauszuholen", erklärte der Hochzeitsplaner, worauf sein Gegenüber immer noch verwirrt schaute. "Ich weiß, dass Sie, Mido Jusaku, seit bereits 23 Jahren in dieser Anstalt sitzen und das nur, weil Sie den Ärzten die Schuld für den Tod Ihrer Frau gaben, die viel zu früh an Krebs gestorben ist. Wer von uns hätte denn sofort eingesehen, dass trotz dem hohen medizinischen Standard unserer Zeit, man Ihre Frau nicht mehr retten konnte, obwohl Sie sie früh genug ins Krankenhaus gebracht haben? Ihre Reaktion war menschlich, mehr nicht, und selbst wenn Sie den Ärzten gedroht haben, Sie hätten doch nicht gleich unbedacht gehandelt, sondern erst einmal getrauert und das Ganze verarbeitet. Sie wären nie wirklich zu einem Verbrecher geworden, richtig?", fuhr Heisuke langsam und ruhig vor. Der Mann, der langsam etwas wacher wurde, nickte zögernd. "Sie sind kein Pfleger der Anstalt, richtig, Hanayori-san?", fragte er mit noch müder Stimme nach. Heisuke antwortete mit einem Nicken. "Richtig, ich arbeite nicht hier. Deswegen trage ich den Helm, damit kein Alarm ausgelöst wird, wenn ich Sie befreie. Ich gehöre zu einer Gruppe, die nicht akzeptieren will, dass unschuldige Bürger wie Sie, die nur einen tragischen Schicksalsschlag erleben mussten, deswegen für den Rest ihres Lebens weggesperrt werden, ohne Aussichten auf ein richtiges Leben. Kommen Sie mit mir, dann werden Sie frei sein." Der Mann schien zu zögern, denn würde er Heisuke folgen, er würde sich dem Urteil des Systems entgegenstellen und damit wirklich zu einem Verbrecher werden. Würde man ihn fassen, wahrscheinlich würde er eine weitere Kriminalkoeffizient-Kontrolle nicht überleben. Andererseits konnte man es schwer als Leben bezeichnen, Tag für Tag in dieser Zelle dahin zu vegetieren. So nickte er schließlich und erhob sich vom Bett. Heisuke lächelte dem Mann entgegen und verließ mit ihm die Zelle. Unterdessen sprintete Inspektorin Tsunemori durch die Straßen des Bezirks Nakano. In sichtbarer Nähe durchkämmten Teppei und Sho weitere Straßen. Wie erwartet war Hanayori nicht zu finden. Als Akane einen eingehenden Anruf registrierte, hoffte sie inständig, ein Kollege würde den Kriminellen gefunden haben, denn noch war es nicht vollkommen aussichtslos. Es war immer noch kurz nach 20:30 Uhr. "Akane-chan, ich bin es schon wieder. Soeben ist eine Meldung eingegangen, dass vor 15 bis 20 Minuten Tenba-san ihren Arbeitsplatz betreten haben soll. Sie wurde auf keinen Scanner erfasst, aber ihr Personalausweis wurde zum Öffnen einer Tür zur Psycho-Pass-Pflegeklinik benutzt", schilderte Shion, worauf Akane stehen blieb. Wieso erfuhr sie das erst jetzt? Andererseits hatten sie damit auch nicht gerechnet, ihr Fokus war auf anderem gelegen und gerade Shion viel mehr Arbeit als eine einzige Person in kurzer Zeit effizient erledigen konnte. Es war einfach unmöglich, dass sie alle eingehenden Informationen schnell genug überprüfen konnte. Dennoch war diese Zeitverzögerung ein großer Nachteil für die Ermittlungen. "War das Hanayori?", fragte sie nach, doch fiel Shions Antwort nicht anders als erwartet aus. "Das kann ich nicht sagen. Ich habe den Wachmann der Klinik kontaktiert. Er meint, auf den Überwachungskameras sei alles so ruhig wie immer. Er kann nicht einmal eine Person ausmachen, geschweige denn einen Helmträger oder Hanayori an sich." "Das klingt danach, als hätte man sich in das Sicherheitssystem gehackt. Kannst du das überprüfen, Karanomori-san?", fragte Akane, ehe sie die beiden Vollstrecker zu sich rief. Kurz darauf antwortete ihr Shion: "Das wollte ich dich fragen. Soll ich mich um das Überwachungssystem kümmern oder an dem Algorithmus zur Findung eines Helmes arbeiten? Ich kann nicht beides gleichzeitig tun." Einen Augenblick lang überlegte Akane, bevor sie sich entschied und ihre Antwort der Analytikerin mitteilte: "Arbeite an dem Algorithmus, ich werde zu der Klinik fahren. Was auch immer die Einbrecher dort wollen, wir sollten sie noch erwischen. Teil bitte Shimotsuki-san mit, dass sie und Kunizuka-san ebenfalls dorthin fahren sollen und richte auch dem Wachmann aus, er soll das Gebäude abriegeln und Tenba-sans Ausweis sperren. Ach und kontaktiere doch Sasayama-san. Sie meinte ohnehin, sie wolle alles tun, um uns zu unterstützen, Hanayori zu schnappen. Wir können jede helfende Hand gebrauchen und sie kann dir sicher eine Hilfe sein." "Wird erledigt. Viel Erfolg." "Danke", quittierte Akane. Zusammen mit Teppei und Sho rannte sie zurück zu den beiden Wägen, um nun nach Adachi zu fahren. Der Bezirk lag ein gutes Stück von Nakano entfernt, was bedeutete, dass Heisuke zu der angekündigten Tatzeit wirklich an keinem der Tatorte gewesen sein konnte, falls dieser für den Einbruch in die Pflegeklink verantwortlich war. Es hieß ebenso, dass wenn dieser Einbruch von ihm geplant war, Heisuke gar nicht vorgehabt hatte, zu dieser Zeit direkt einen Mord zu verüben. Damit stand fest, dass er wirklich wie angenommen die Beamten als Vollstrecker seiner Tat eingeplant hatte und/oder die ganzen Inszenierungen nur der Ablenkung dienen sollten. Mit Blaulicht und Sirene rasten die beiden Polizeiwägen über die Schnellstraßen hin in den nordnordöstlichen Bezirk Tokyos. Wie die meisten Psycho-Pass-Pflegekliniken lag auch die von Adachi etwas abgelegen von den Wohngegenden am Stadtrand, da die meisten Bürger nicht direkt bei einer solchen Einrichtung wohnen wollten. Sie hatten das Gefühl, die Nähe zu latenten Verbrechern würde ihren Psycho-Pass trüben. Dieser Umstand erschwerte es leider auch, sehr schnell zu der Klinik zu kommen. Allein 20 Minuten waren die Beamten auf der Hauptstraße unterwegs, bevor sie auf die lange Seitenstraße abfuhren, an deren Ende die Einrichtung lag. Als Akane auf dieser einen Blick auf die Zeitanzeige warf, die auf die Frontscheibe des Wagens projiziert wurde, zeigte diese 22:03 Uhr an. Eine Dreiviertelstunde hatten die Einbrecher bereits im Gebäude verbracht. Sollte der Wachmann alle Ein- und Ausgänge problemlos abgesperrt haben, sollten die Eindringlinge dennoch im Gebäude festsitzen. Tatsächlich aber schien dies nicht der Fall zu sein, denn als das Zielgelände in Sicht kam, schoss ein Wagen aus der Ausfahrt des Parkplatzes auf die Straße und fuhr sogleich an der Inspektorin vorbei. Auf dem Fahrersitz des Wagens erkannte sie einen Helm, der dem kurzen Blick nach den Helmen von vor vier Jahren sehr zu ähneln schien. Das musste Heisuke sein. Akanes erste Reaktion darauf war, das Tempo zu drosseln, während sie nun eine Taste am Armaturenbrett drückte, um Mika anzufunken. "Wo bist du gerade?", rief Akane, unmittelbar nachdem ein leises Klacken verkündete, dass sie erfolgreich durchgestellt worden war, in das Mikrophon. "Ich bin gerade von der Hauptstraße herunter gefahren, auf dem Weg zur Klinik", antwortete Mika. "Gut. Errichte vor der Auffahrt auf die Hauptstraße eine Straßensperre. Hanayori hat die Anstalt bereits in einem dunkelblauen Wagen verlassen. Er sollte in wenigen Minuten vor Ort sein." Bevor Mika dem antworten konnte, beendete Akane bereits das Gespräch, sogar etwas eher, als diese es selbst vorgehabt hatte, da ein weiterer Wagen an ihr vorbei fuhr und so ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Auch dieser war vom Personalparkplatz der Psycho-Pass-Pflegeklinik gekommen, weswegen Akane einen Komplizen im Fahrzeug vermutete. Zu ihrem Erstaunen blieb es nicht bei einem weiteren Wagen, noch einer verließ den Parkplatz. Heisuke schien wirklich eine ganze Gruppe von Verbündeten zu haben. Akane versuchte, den Streifenwagen dem anderen in den Weg zu lenken, während sie auch an die Gruppe von Drohnen, die ihr folgte, über eine Taste im Wagen den Befehl gab, die Straße zu Seiten ihres Fahrzeuges zu sperren. Der Fahrer des anderen Wagens schaffte es dennoch, an ihr und den Drohnen vorbei zu kommen. Seufzend wollte Akane das Auto wenden, um nicht alles Mika überlassen zu müssen, als ein viertes Fahrzeug vom Parkplatz kam. Für dieses und auch das schon sichtbar Fünfte war eine Flucht unmöglich. Die Drohnen sperrten die Straße bereits komplett ab und einen anderen Weg gab es nicht, der vom Grundstück der Anstalt führte. "Hier spricht das Amt für Öffentliche Sicherheit. Halten Sie Ihre Fahrzeuge an und kommen Sie raus!", rief Akane den Verdächtigen über eine Lautsprecheranlage im Polizeiwagen zu. Das nähere Auto reagierte darauf nicht, im Gegenteil, es beschleunigte und rammte kurz darauf mit hoher Geschwindigkeit die Reihe von Drohnen. Ein paar von diesen kippten um, blieben allerdings weiter dem Einbrecher im Weg liegen und hatten seine Geschwindigkeit auf das Minimum abgebremst. Um über die nun liegenden Drohnen zu kommen, musste er erneut ein höheres Tempo aufbauen, wozu er erst einmal wieder ein Stück zurück fuhr. Diesen Umstand nutzten Akane und die Vollstrecker. Schnell stiegen sie mit ihren Dominatoren aus und brachten sich vor und hinter den Drohnen in Position. "Ich wiederhole: halten Sie Ihre Fahrzeuge an und kommen Sie raus!", rief Akane erneut. Ihr Blick musterte ernst den Fahrer des näheren Wagens, welcher inzwischen zum Stillstand gekommen war. Aufgrund der nächtlichen Stunde erkannte sie nur grobe Züge und auch ihr Dominator, den sie auf den Mann richtete, konnte ihn nicht anvisieren, jedoch war der Zorn in seiner Mimik nicht zu übersehen. Im Hintergrund hielt unterdessen das zweite Fahrzeug an, mit erhobenen Händen stieg ein Mann Anfang 50 aus dem Wagen. Sho lief diesem entgegen, bis er den Mann in der Schusslinie seines Dominators hatte. "Bitte, nicht schießen. Ich -", haspelte der Mann, ehe ihn der betäubende Schuss des Non-Lethal-Paralyzers zu Boden sinken ließ. Der Fahrer des vorderen Autos schien das nicht mitzubekommen. Er startete einen weiteren Fluchtversuch, gab Gas und beschleunigte frontal auf Akane und die Drohnen zu. Ihr Dominator wechselte automatisch in den Modus Destroy Decomposer, was der Inspektorin keine Freude bereitete. "Halten Sie an!", versuchte sie erneut, den Fahrer zur Besinnung zu bringen, welcher mit dem Auto nur noch wenige Meter von Akane entfernt war. Er reagierte nicht, doch selbst wenn er gebremst hätte, sollte sich Tsunemori nicht in Bewegung setzen, er würde sie auch dann erwischen. Deswegen wollte Akane zur Seite springen, zuvor jedoch traf ein Schuss den Wagen und riss ein großes Loch in dessen Inneres. Einzelteile des Autos flogen umher und landeten auf dem Boden. Zu Akanes Glück wurde sie von keinem der Teile getroffen, nur ein loser Reifen rollte knapp an ihr vorbei. Der Fahrer des Wagens hatte nicht im Ansatz ein vergleichbares Glück. Von diesem war nicht einmal ein Knochen oder eine Blutspur übrig geblieben. Mit einem Gefühl der Enttäuschung ließ die Inspektorin ihren Dominator sinken. Sie hatte gewusst, dass ein Mensch keine Überlebenschancen hatte, wenn seine nahe Umgebung von dem Destroy Decomposer getroffen wurde. Da war es egal, ob sein Kriminalkoeffizient bei über 300 oder sogar unter 100 lag, ob der Mensch in Sibyls Augen den Tod verdient hatte oder nicht. Genau aus diesem Grund hatte sie den Schuss nicht abgegeben. Mit einem wütenden Blick drehte sie sich zu dem Schützen hinter sich um, zu Sugo Teppei. "Was sollte das? Hast du nicht gemerkt, dass ich nicht wollte, dass auf ihn geschossen wird?!", fuhr sie ihn ihre Höflichkeit vergessend an. "Hätte ich nicht geschossen, der Wagen hätte Sie überfahren, Inspektorin", rechtfertigte sich Teppei ruhig. Der Vollstrecker senkte die Waffe und schritt nun näher auf sie zu. "Ich hätte mich schon rechtzeitig in Sicherheit bringen können", konterte sie. "Das bezweifle ich", seufzte Teppei, wobei auch Akane in ihrem Inneren wusste, dass er Recht hatte. Die Inspektorin registrierte einen Anruf, doch im Moment konnte sie diesen nicht weiter beachten. Stattdessen verkrampften sich ihre Finger um den Griff ihres Dominators, welcher zurück in den Non-Lethal-Paralyzer-Modus wechselte. Teppei hatte richtig gehandelt, sie konnte ihm keinen Vorwurf machen und dennoch wollte sie diese Situation nicht akzeptieren. Ein weiterer Mensch hatte an diesem Abend sein Leben unnötiger Weise gelassen. Für einen Moment schloss sie die Augen, atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Als sie die Augen wieder aufschlug, stand Sho vor ihr, den bewusstlosen Mann über einer Schulter stützend. "Inspektor Tsunemori?", sprach er sie unsicher an, ehe er nach dem Nicken Akanes fortfuhr. "Das ist der Wachmann der Klinik. Es scheint, er habe mit den Einbrechern zusammengearbeitet." Die Brünette musterte den Bewusstlosen kurz. Wenigstens dieser hatte überlebt. "Nimmt ihn mit in euren Transporter. Wir bringen ihn zur Zentrale und befragen ihn, sobald er aufwacht. Sonst war niemand bei ihm im Wagen?", hakte Akane nach. Sho bestätigte dies mit einem Nicken. "Gut. Also bring ihn in den Wagen, Sugo-san und ich werden den Parkplatz unter die Lupe nehmen sowie die Klinik an sich, falls dort noch jemand ist. Komm dann nach, Hinakawa-san", befehlte sie, worauf sie sich umdrehte und auf den Parkplatz schritt. Teppei folgte ihr schweigend, während Tsunemori das holographische Display über ihrer Smartwatch erscheinen ließ, um zu überprüfen, wer sie vorhin angerufen hatte. Es war Mika gewesen. Umgehend startete Akane einen Rückruf. "Na endlich", kam es vom anderen Ende der Leitung. "Wir hatten hier noch weitere Verdächtige festzunehmen", erklärte Tsunemori knapp, ehe sie darauf wartete, dass ihre Kollegin auf den Grund ihres vorigen Anrufes zu sprechen kommen würde. "Ach so. Wie viele Leute arbeiten denn mit Hanayori zusammen?", überlegte Mika laut, wobei sie, als ein Kommentar Akanes ausblieb, fortfuhr. "Also wir haben die Fahrer festnehmen können. Auch denjenigen mit dem Helm, aber das war nicht Hanayori. Es war ein Mädchen." "Das heißt, Hanayori war nicht unter ihnen?", fragte Akane überrascht nach. "Nein", bestätigte Mika. "Jedenfalls haben wir die drei Einbrecher mit dem Paralyzer außer Gefecht gesetzt. Ich würde mit ihnen gleich zurück fahren und den Einsatz beenden." "Ist in Ordnung. Hinakawa-san, Sugo-san und ich werden die Klinik noch untersuchen. Vielleicht finden wir Hanayori noch vor Ort", entgegnete Akane und beendete das Gespräch. Gleich darauf funkte sie Shion an. "Tsunemori-san, was kann ich für Sie tun?", meldete sich die Stimme Mizues, was Akane für einen kurzen Augenblick aus der Bahn warf. Das war einfach ungewohnt, selbst wenn sie Shion vorgeschlagen hatte, die Psychologin um Mithilfe zu bitten. "Sasayama-san, ich wollte Karanomori-san darum bitten, nun doch einmal auf die Überwachungsdaten der Klinik zuzugreifen, den Wachmann selbst haben wir paralysieren müssen. Ich bin mir sicher, dass Hanayori hier vor Ort ist", erklärte die Brünette. "Ah ... warten Sie bitte kurz." Kaum verständlich hörte Akane ein folgendes Gespräch zwischen Shion und Mizue mit an. Einzelne Wörter schnappte die Inspektorin auf, so dass sie erkennen konnte, dass die Psychologin erklärt bekam, wie sie überprüfen konnte, an welchen Orten Shioris Personalausweis eingesetzt wurde. Während es mit einer Antwort aus der Analyseabteilung noch etwas dauerte, betrat Akane mit Teppei das Gebäude über den noch offen stehenden Personaleingang. Die nahegelegenen Räume waren ausschließlich für das Personal und bis auf die Toilettenräume allesamt abgeschlossen. Die Ermittlerin überprüfte die Toiletten, während Teppei im Gang zurück blieb, damit ein aus dem Gebäude Flüchtender an ihnen nicht ungesehen vorbei kommen konnte. "Wenn wir wenigstens wüssten, was sie hier gesucht haben", wandte der Vollstrecker ein, als Akane zurück auf den Gang trat. Zustimmend nickte sie und setzte ihren Weg ins Innere der Klinik fort. Der Zugang zum Treppenhaus war abgeriegelt, über welches man ohnehin nur in den Keller, in welchem Medikamente gelagert wurden, sich Heizungen und sonstige Vorrichtungen zur Lebenserhaltung in der Anstalt befanden, und aufs Dach kam. "Tsunemori-san, Shiori-chans Personalausweis war zuletzt aktiv, als die Tür zum Personalausgang von innen geöffnet wurde. Zuvor wurden ein paar Durchgänge zu den Patientenzimmern geöffnet und dort die Türen von zehn Zimmern", meldete sich Mizue zurück. "Das heißt, falls sich Hanayori oder sonst noch jemand im Gebäude versteckt, dann nur in dem Bereich zwischen dem Eingang und den Patientenzimmern. Der Bereich der Zimmer selbst ist gut videoüberwacht. Mit Shion-sans Hilfe konnte ich darauf zugreifen und sicherstellen, dass die Videoaufzeichnungen aktuell und echt sind. Dort ist niemand und die zehn geöffneten Zellen sind leer. Auch von den entsprechenden Patienten fehlt jede Spur." "Danke, Sasayama-san", entgegnete Akane gefolgt von einem Seufzer. Da sie bereits den Bereich durchsucht hatten, in dem Hanayori sein konnte, war sicher, dass er nicht mehr im Gebäude war. Noch dazu waren ihn eingeschlossen mindestens sieben Personen auf der Flucht. Akane winkte Teppei und Sho, welcher inzwischen zu ihnen gestoßen war. "Im Gebäude ist er nicht mehr ", teilte Akane mit, worauf das Trio wieder aus der Klinik eilte. Weit konnten die Flüchtigen noch nicht sein. Im Vergleich zu der Umgebung der Karaokebar Virgo, konnten die Ermittler hier die Fluchtrouten einschränken. Die Hauptstraße und der Weg dorthin fielen weg, denn dann hätten die Beamten sie bemerkt. Hohe Gebäudemauern hinaufzuklettern schien auch auszuscheiden. Es blieben damit zwei mögliche Fluchtwege: einer zur angrenzenden U-Bahn-Station und der andere weiter nach Norden in die Präfektur Saitama. Akane vermutete, dass die Fluchtroute über Ersteres lief. Sie hatten schon gestern auf den Scannern und Überwachungsvideos die Spur von Shiori verloren, als diese die U-Bahn-Station betreten hatte. Bestimmt nutzte Heisuke denselben Weg, um seine neusten Anhänger in Sicherheit zu bringen, über welchen er gestern auch die Psychologin hatte verschwinden lassen. Dass diesmal der Weg zu der Wohnung Heisukes führen würde, bezweifelte die Inspektorin jedoch sehr stark. Der Verdächtige schien ihr nicht so dumm, als würde er nicht wissen, dass das Amt für Öffentliche Sicherheit sein Wohngebäude immer noch im Blick behielt. "Zur U-Bahn. Wir müssen dort alles absuchen und den Fluchtweg finden!", befahl die Inspektorin, kaum dass sie mit ihren Kollegen die Klinik verlassen hatte. Zu der Station waren es nur wenige große Schritte. Um die Uhrzeit war die U-Bahn-Station wie ausgestorben. Außer Besuchern und dem Klinikpersonal fuhr kaum jemand bis zu dieser Endstation und für heute waren die Besuchszeiten ebenso wie die meisten Arbeitsschichten bereits vorbei. Die Ermittler betraten die Station und während die beiden Vollstrecker gleich voran preschten, sah Akane sich etwas gründlicher im Eingangsbereich um. Ein Psycho-Pass-Scanner befand sich direkt beim Eingang. Eigentlich hätte dieser die Flüchtigen erkennen müssen, aber das galt ebenso für die Scanner in der Klinik. Allerdings wusste Akane nicht, ob ein Scanner auf dem Grundstück der Pflegeanstalt nur dem dortigen Wachmann Bescheid gab, welcher ein potentieller Mittäter war, oder auch direkt an das Amt für Öffentliche Sicherheit weitergeleitet wurde. Bei dem Scanner hier sollte eigentlich Letzteres der Fall sein. "Inspektorin Tsunemori, ich hab etwas gefunden", kam es von Sho. Akane ging daraufhin näher auf diesen zu und schob die Sache mit dem Scanner erst einmal in den Hintergrund ihrer Gedanken. "Hier", fuhr Sho fort, als die Inspektorin bei ihm war, "ist der Zugang zur Kanalisation offen." Tsunemori blickte auf die offene Tür vor dem Rothaarigen. Seufzend hob sie eine Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf. Das war viel zu einfach. Die Gänge der Kanalisation wurden nicht bewacht, da außer ein paar Arbeitern dort nie jemand runter kam und die Ausgänge eigentlich stets verschlossen sein sollten. Noch dazu verliefen die Abflussleitungen mit den kleinen Gängen, die es einem Menschen ermöglichten, sich unter der Erde fortzubewegen, in einer komplizierteren Struktur als das Straßensystem der Stadt. Darüber konnte man eigentlich überall hin gelangen. "Das sind noch alte Türen, die nur eine Codeeingabe verlangen und sich immer von Innen öffnen lassen, richtig?", mutmaßte Akane. Teppei, der inzwischen wieder zu ihnen getreten war, nickte bestätigend. "Jeder kann sie öffnen, der den Code dazu hat und der Code ist für jede Tür in der Stadt identisch." "Und sie sind nicht mit dem System verbunden, was bedeutet, dass Karanomori-san uns auch nicht sagen kann, wie lange die Tür schon offen steht oder wo die nächste offene Tür ist", ergänzte Akane. "Das heißt, wir können unsere Suche abbrechen. In diesem Labyrinth aus Gassen finden wir sie nicht." Unzufrieden über diese Erkenntnis wandte sich die Inspektorin ab. "Kannst du die Tür wieder abriegeln?", fragte sie dabei noch Sho, welcher nickend die Tür schloss und mit einer Eingabe, die sich auf das Drücken einer Taste mit der Aufschrift 'Lock' beschränkte, den Eingang zur Kanalisation abschloss. Akane rief derweil wieder im Analyselabor an. "Habt ihr die Verbrecher wieder eingefangen?", kam es gleich von Mizue. "Nicht alle. Sie konnten über die Kanalisation flüchten. Überprüfen Sie bitte einmal den Scanner beim Zugang zur U-Bahn-Station 'Adachi Pflegeklinik' und geben Sie an die zuständigen Behörden durch, dass der Sicherungscode für die Türen zur Kanalisation geändert werden muss", beauftragte Akane die Ältere. Kapitel 5: Spuren eines Namens ------------------------------ Tokyo, 14.01.2117 Es war spät in der Nacht, kurz nach drei Uhr, als die Wohnungstür eines kleinen Apartments im Minato-Bezirk laut in's Schloss fiel und das Licht anging. Müde Augen starrten mit einem Mal hellwach dem großen Fenster entgegen, das in der nächtlichen Stunde wie ein Spiegel fungierte. Über diesen hatte der Besitzer des Augenpaars den Eingangsbereich gut im Blick, während er sich selbst dicht an eine Wand, die den Hauptteil des Apartments vom Eingangsbereich trennte, gedrückt im Schatten hielt. Die soeben heimgekehrte Besitzerin der Wohnung, eine Frau von 27 Jahren, erwartete zu dieser Stunde keinen Gast und zu dessen Glück wanderte ihr Augenmerk nicht zu dem Fenster, das ihr eventuell seine Anwesenheit verraten konnte. Stattdessen löste sie in Gedanken versunken ihr hüftlanges, dunkelbraunes Haar aus einer frechen Hochsteckfrisur, bevor sie vor Erleichterung seufzend ihre hohen Schuhe auszog und achtlos in das nächste Eck schmiss. Sie kam aus dem Nachtklub Nightfire, der nur etwa einen Fußmarsch von fünf Minuten von dem Wohnkomplex entfernt lag. Der Kalender hatte dem Eindringling verraten, dass dort die Geburtstagsfeier einer ihrer Freundinnen stattgefunden hatte, ebenso wie dass die junge Frau plante, ihren eigenen Geburtstag in einer Woche dort zu feiern. Sie war ein beliebter Mensch sowie Partygänger. Zahlreiche digitale Bilderrahmen an den Wänden des Apartments zeigten sie umringt von verschiedensten Frauen und Männern, meist im bunten Licht eines Klubs oder sogar direkt auf der Tanzfläche, stets mit einem breiten, freudestrahlenden Lächeln im Gesicht. Doch das war nur eine ihrer Seiten. Die Einrichtung des Apartments hatte dem Einbrecher verraten, dass sie sich daheim einsam fühlte, dass sie diese vielen Bilder an den Wänden brauchte, um sich in den Stunden des Alleine-Seins nicht einsam zu fühlen, und dass sie sich eigentlich nach einem Mann sehnte, der diese Aufgabe übernahm, indem er ihre Wohnung und ihr Leben mit sich teilte. Die Brünette setzte sich gleich wieder in Bewegung. Leicht berauscht von dem wenigen Alkohol, den sie intus hatte, sowie dem Beat der bis vor Kurzem gehörten, lauten Musik schwankte sie direkt in den Kernbereich des Apartments. Nur wenige Meter trennten sie dabei von dem fremden Mann in ihrer Wohnung, aber sie hatte keinen Grund in seine Richtung zu sehen. Sie schritt direkt auf ihr Bett zu, griff den unteren Saum ihres Tops, um sich auszuziehen. Ihr Blick hob sich dabei, fiel eher zufällig auf das Fenster und in dessen spiegelnde Oberfläche bemerkte sie, wie sich etwas hinter ihr regte. Überrascht weiteten sich ihre Augen. Zu einer anderen Reaktion kam die Brünette nicht. Der Schatten hatte sich hinter ihr bereits zur Gänze aufgebaut und eine Hand schwang an ihrem Kopf vorbei, legte sich schnell auf ihren Mund, um den Schrei, den sie vor Schock reflexartig ausgestoßen hätte, zu verhindern. Zugleich schloss sich ein anderer, kräftiger Arm um ihren Oberkörper, nahm ihr die Möglichkeit, ihre Arme zu heben und sich mit diesen zur Wehr zu setzen. Der Eindringling spürte ihren rasenden Puls. Über die spiegelnde Fensteroberfläche hielten die beiden Blickkontakt. Angst und Ratlosigkeit erkannte er in ihren dunklen Seen, während sein eigener Blick so eindringlich und eisern wie die graue Farbe seiner Iriden war. "Shima Maki?", sprach er sie an. Er hatte keinen Zweifel daran, wer sie war, es ging ihm dabei lediglich darum, zu sehen, ob sie seine Worte wahrnahm und bereits fähig war, ruhig zu reagieren, oder ob der Schock sie noch zu sehr lähmte. Ein Zucken ging durch den Körper der Angesprochenen. Sie begann zu zittern. Nach einem zögernden Moment nickte sie schließlich. "Mein Name ist Kougami Shinya, ich bin nur hier, um mit Ihnen zu reden. Wenn ich Sie gleich loslasse, versprechen Sie mir, weder zu schreien, noch irgendwelche anderen Dummheiten zu begehen", fuhr er langsam und in einem beruhigenden Ton fort. Shinya wartete gar nicht ab, bis seine Gesprächspartnerin mit einem Nicken seiner Bedingung einwilligte, sondern nahm gleich die Hand von ihren Lippen. Jeder würde nicken, egal wie er sich in seinem Inneren entschied. Dass er ihre Antwort gar nicht abwartete, sollte deswegen ein weiteres Zeichen für Maki sein, dass er auf ihre Vernunft vertraute und in friedlicher Absicht hier war. Er hatte kein Interesse an ihr, weder an ihrem Körper, noch daran, der Mann zu sein, den sie sich erträumte. Er wollte sie auch nicht ausrauben, sondern nur Informationen von ihr erbitten. Er hätte sich gewünscht, ohne ein Gespräch mit ihr die Informationen aus den Inhalten ihrer Wohnung zu gewinnen, aber er war nicht fündig geworden. Die Brünette blieb ruhig, starrte weiterhin ängstlich sowie verzweifelt auf das Spiegelbild des Fremden. Er ließ sie nun ganz los, trat einen Schritt zurück und gab ihr erst einmal einen Moment, sich zu sammeln. Maki hob ihre zierlichen Hände, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie sich langsam zu ihm umdrehte. Wie wässrig ihre Augen waren, hatte Shinya im Spiegelbild gar nicht erkannt. Er musterte sie nun noch einmal genauer. Ihr Figur betonendes, aufreizendes Top mit dem weiten Ausschnitt, der Geruch von Alkohol, der noch an ihr hing und das sensible Gemüt hatten keine Ähnlichkeit mit dem Mann, wegen dem er hergekommen war. Noch immer, vier Jahre nachdem er Makishima Shougo seiner gerechten Strafe zugeführt hatte, konnte er diesen Mann nicht vergessen. Halluzinationen hielten ihn wach, verhinderten, dass er sich auf andere Dinge konzentrieren konnte. Zwar war Shinya niemand, der an Geister glaubte, doch manchmal kam es ihm so vor, als würde der Geist des Verstorbenen ihn wirklich auf Schritt und Tritt begleiten, als genieße Makishima es aus dem Jenseits heraus seine Spiele mit ihm zu treiben. Der Schwarzhaarige vermutete, dass das daran lag, dass es bei dem Fall um Makishima noch zu viele offene Fragen gab. Wo hatte der Weißhaarige während all der Zeit gelebt? Wieso war es niemanden aufgefallen, dass er sich als jemand anderes am Oso-Institut ausgegeben hatte? War 'Makishima Shougo' sein richtiger Name oder nur ein Pseudonym? Und wenn Letzteres der Fall war, wie hieß er wirklich? Wer war er in seiner Vergangenheit gewesen? Noch während Shinyas Zeit als Vollstrecker hatte sein Team erfahren, dass Makishima Kontakt zu einem Computerspezialisten hatte. Es war gut vorstellbar, dass dieser alle Daten über Shougo gelöscht hatte, denn sie hatten damals nicht eine in Tokyo lebende Person mit dem Nachnamen Makishima ausfindig machen können. Inzwischen hatte Shinya sogar herausgefunden, dass alle übrigen in Japan lebenden Makishimas über keinen Shougo in ihrer Verwandtschaft Bescheid wussten. Es gab auch niemanden, der in eine andere Präfektur gezogen war. Unter sämtlichen bereits verstorbenen Makishimas, die in der Datenbank des Sozialministeriums verzeichnet waren, gab es keinen mit dem Vornamen Shougo und es sollte sogar keine Person mit diesem Nachnamen in den letzten 40 Jahren auch nur für einen kurzfristigen Aufenthalt in der Präfektur Tokyo gewesen sein. Um der Spur eines Pseudonyms nachzugehen, wollte Shinya herausfinden, wie Shougo zu seinem Namen inspiriert worden war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Name einfach aus der Luft gegriffen war. Eindrucksvolle Schriftsteller mit diesem Namen hatte er zwar nicht gefunden, dafür gab es einige Personen, deren Name teilweise Ähnlichkeiten aufwies und die den Weißhaarigen womöglich gekannt hatten. Neben drei in Tokyo lebenden Shougos hatte Shinya noch eine weitere, lebendige Person ausmachen können, auf die das zutraf. Vor dieser stand er nun. Shima Maki, eine etwas verdrehte Version des Nachnamens, ihr Vorname 'Maki' wurde zudem mit anderen Kanji geschrieben als der in den Akten verzeichnete, ähnliche Teil des Familiennamens, dennoch war die Lesung der Namen gleich, wenn man den Vornamen der Frau vor ihren Familiennamen setze. Allerdings ließ das Auftreten der Brünetten Shinya an dieser Theorie zur Entstehung eines entsprechenden Pseudonyms zweifeln. Seinem Eindruck nach, hätte jemand wie Shougo keine hohe Meinung von so einer Frau gehabt, aber wenn man bedachte, dass Makishima diesen Namen mindestens seit sieben Jahren, seit den Ermittlungen zum Präparatefall trug, so war dies genug Zeit, in der sich eine Person erheblich verändern konnte. Inzwischen schien sich Maki weit genug beruhigt zu haben, um ein ruhiges Gespräch mit ihm führen zu können. Abwartend sah sie dem Größeren entgegen. "Haben Sie einmal einen Mann kennengelernt, der Ihren Namen besonders eindrucksvoll fand? In dem Zeitraum von ihrer Kindheit an bis zu vor sieben Jahren. Ich suche Leute, die Kontakt zu ihm hatten. Er nannte sich Makishima Shougo, war noch bis vor vier Jahren in Tokyo, so groß wie ich, wahrscheinlich auch so alt, also etwas älter als Sie, sehr schlank, weißes Haar, bernsteinfarbene Augen, belesen, erfahren in Pencak Silat - das ist eine Kampfkunst -, sehr charismatisch, zynisch und er besaß einen ausgesprochen niedrigen Kriminal-Koeffizienten, obwohl er sehr skrupellos war", versuchte er an neue Anhaltspunkte zu kommen, jedoch schien Maki von den vielen Worten überrumpelt zu sein. Ihre Kinnlade klappte nach unten sowie ihre Augen pure Fassungslosigkeit zum Ausdruck brachten. "Deswegen brechen Sie bei mir ein und überfallen mich? Weil Sie einen Mann suchen?", sprach sie langsam mit gehobener Braue, dann lachte sie, merklich weil sie diesen Grund absurd fand. Gleich darauf richtete sich ihr Blick ernst auf Shinya. "Da hätten Sie doch auch ganz normal wie es normale Menschen eben tun klingeln und mich einfach ansprechen können!" Ihrer Fassungslosigkeit mischte sich Zorn bei, doch die noch präsente Angst vor dem Fremden versetzte sie sogleich zurück in eine gekrümmte Körperhaltung und ließ sie unsicher den Kopf senken, eine Hand in den anderen Arm krallen, als bereue sie ihren jüngsten Gefühlsausbruch. Schließlich konnte der Unbekannte immer noch eine Gefahr für sie darstellen. Doch Shinya blieb trotz der provokanten Unterstellung ruhig. Er sah selbst ein, dass jeder Grund, den er für seine Vorgehensweise fand, nur eine Ausrede war. Eine Ausrede, um nicht einsehen zu müssen, wohin ihn sein Wahn trieb. "Es tut mir leid", sprach er schließlich. Maki reagierte nicht. Sie brauchte noch einen Augenblick zum Nachdenken, dann kam sie mit einem Kopfschütteln auf seine Frage zurück. "Ich glaube nicht." "Denken Sie bitte noch einmal nach. Haben Sie zu Ihren Schulzeiten einmal mit einem Mitschüler über klassische Literatur gesprochen, von der er begeistert war? Oder auch nur irgendjemanden mit dieser ungewöhnlichen Augenfarbe gesehen?" Wieder brauchte Maki einen Moment, dann schüttelte sie erneut den Kopf. "Nein. Ich halte nichts von Büchern, von Alten schon gleich gar nicht. Und die Augen ... daran würde ich mich wohl erinnern, aber nein, auch nichts, aber ..." Es schien, als ob ihr etwas eingefallen sei, doch war sie sich dabei ganz klar nicht sicher. "'Aber'?", hakte Shinya ungeduldig nach. "In der Mittelschule meinte jemand mal, ein Freund habe einen Namen, der meinem Namen ähnelt." Die Brünette setzte sich mit nachdenklichem Blick auf das Bett. Als helfe ihr das Sitzen, sich besser zu erinnern. Für einen Moment schloss sie die Augen. Nicht viel später nickte sie als Ausdruck, dass es nicht nur eine vage Vermutung, sondern eine wahrheitsgemäße Erinnerung war. Sie öffnete ihre Augen wieder und richtete ihren Blick hoch zu Shinya, dann fuhr sie fort: "Ja, genau. Das war so eine richtig seltsame Person aus meiner Klasse und an meinem ersten Schultag in der Mittelschule. Wir Schüler haben uns gegenseitig vorgestellt und als ich meinen Namen genannt habe, hat sie gelacht und meinte dann 'Wie witzig. Mein bester Freund heißt mit Nachnamen so wie du, wenn man zuerst deinen Vornamen und dann den Nachnamen sagt: Maki Shima.' Mich hat das ziemlich genervt. Ich mag so verworrenes Gerede nicht und ich wusste auch nicht, was daran witzig sein soll." Während Maki noch den Kopf schüttelte, da es ihr wohl immer noch nicht gefiel, damals Teil einer solchen Assoziation gewesen zu sein, erstrahlte in Shinya ein Licht des Triumphes. Das war der Anhaltspunkt, nach dem er so lange gesucht hatte. "Sie haben damals schon in Tokyo gelebt, richtig?", hakte er dennoch nach, um sich zu vergewissern, dass es nicht nur sein Instinkt war, der ihm sagte, dass es hierbei um den Makishima ging, der ihn heimsuchte. Schließlich war es für Kinder unüblich, beste Freunde in anderen Städten zu haben. "Ja. Nur eben bei meinen Eltern und nicht in einer eigenen Wohnung." Zwar implizierte diese Information, dass die Verbindung zu Shougo, die Shinya bei Maki suchen wollte, nicht direkt bestand, doch es schien, als war 'Makishima Shougo' kein Pseudonym, sondern ein richtiger Name, unter den der Weißhaarige einen Großteil seines Lebens geführt hatte. All die damit verbundenen Personen, besuchten Institutionen und bewohnten Häuser konnten sich nicht genauso in Luft auflösen wie die entsprechenden, digitalen Daten über diesen Mann. Dass diese wirklich gelöscht worden waren, schien naheliegend, selbst wenn er das noch nicht mit Sicherheit sagen konnte. So oder so würde er dank Maki bald einen alten Freund seines größten Feindes aufsuchen können. "Wie ist der Name Ihres Mitschülers? Haben Sie aktuelle Kontaktdaten von ihm?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)