Bittere Cola mit Milch und Zucker von halfJack ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Bittere Cola mit Milch und Zucker Zwei Monate vorher ist das Haus noch immer nicht fertig. Ich besuche die beiden in der halb renovierten Wohnung, in der sie übergangsweise unterkommen. Es wäre ihr dritter Umzug innerhalb weniger Monate, seit sie das alte Gebäude verkaufen mussten, das mittlerweile zu groß ist für sie allein. Es ist schwer zu begreifen, dass das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, nun einer anderen Familie gehört. Der Garten ist umgegraben, die Gabionen, die wir zuletzt in aller Eile mit Steinen befüllten, sind verschwunden und der Haselnussbaum ausgerissen. Nichts erinnert mehr an die Vergangenheit. Ein paar Möbel haben Christine und Josef mitgenommen, doch vieles mussten sie zurücklassen. Nur die alte Standuhr schlägt noch immer laut und dumpf, wie damals. In der fremden Umgebung wirft sie einen unförmigen Schatten in die Zimmerecke. Nicht zur Begrüßung, sondern um mir etwas deutlich zu machen, reicht Josef mir kurz nach meinem Eintreten die Hand, die kalt ist und ein wenig zittert. Sonst seien es immer meine Hände, scherze ich. Sonst habe er den wärmeren Griff. Doch eine seiner typischen Bemerkungen bleibt aus. Diese zynischen Bemerkungen, die einen Großteil meiner Kindheit prägten, wahrscheinlich sogar meine eigene tragische Komik. Jener Zynismus und Galgenhumor, den Josef bislang nie ablegte. Wir kennen die Antwort sicherlich beide, so beruhige ich mich, denn irgendwann ist es vielleicht nicht mehr nötig. Oder irgendwann geht es einfach nicht mehr. Die Luft steht förmlich im Raum. Seine Hände sind kalt, obwohl es im Zimmer so warm ist. So warm, wie es in solchen Räumen sein muss. Ich kenne dieses erstickende Gefühl, ich weiß von der drückenden Hitze, die mich bei jedem ersten Mal in Angst versetzt. Die Gewissheit schmerzt und wir halten die Türen geschlossen, weil es nicht kälter werden darf. Ich würde gern die Vorhänge aufreißen, die Fenster aufstoßen. Ich würde gern die trockenen Wände in Brand stecken. Meistens sind es Bagatellen. Josef wollte etwas essen, doch selbst den Joghurt kann er nicht behalten. Sogar vom Trinken wird ihm übel. „Wie wäre es dann mit Cola?“, fragt Christine. „Du hast doch früher so gern Cola getrunken, weißt du noch?“ Ich lächle, denn mir fällt unser Keller ein, die hohen Regale, die Josef unter lautem Fluchen alle selbst zusammengeschustert hat, gläserne Colaflaschen in vollen Kästen, die uns damals noch nicht zu viel waren, als das Haus oft laut und belebt und unsere Familie noch größer war. „Sollen wir welche kaufen?“, frage ich sogleich und klimpere mit dem Autoschlüssel. „Oh ja“, meint Josef umgänglich, „Cola wäre gut.“ Ich kann nicht beschreiben, wie er das sagte. Jedes Mal, wenn ich später an diese Situation denke, an seine Worte und die Art, wie er sie aussprach, dann habe ich einen Kloß im Hals. In den vergangenen Wochen, seit seinem letzten Zusammenbruch, ist Josef vergesslich, desorientiert, unwirsch und zwanglos, andererseits aber häufig viel einsichtiger als früher, zumindest zu den Menschen, die er kennt und die ihm nahe stehen. Er ist milde, fast wie ein Kind, ruhig und zurückhaltend. Es erinnert mich daran, dass menschliche Reaktionen manchmal schrecklich sind. Letztes Jahr, kurz nachdem unser altes Haus ausgeraubt wurde, hatte Christine in trotziger Bestimmtheit gesagt, das sei alles nur materiell, sie mache sich nichts mehr aus Schmuck und wisse schließlich selbst, dass es Wichtigeres gäbe. Obwohl ihr einige der Schmuckstücke als Erinnerungen viel bedeutet hatten, wolle sie nun gar nichts mehr haben. Dann könne man ihr das auch nicht wieder wegnehmen. Beim nächsten Weihnachtsfest jedoch schenkte ihr Josef eine Kette. Sie passte perfekt zu ihr, als hätte sie Christine schon lange gehört. Dazu wollte er ganz stolz verkünden, dass er ihr zwar zugestimmt hatte, denn die wichtigen Dinge könne man nicht mit Händen festhalten, dennoch sollte sie wenigstens eine Kleinigkeit besitzen. Während er das sagte, brach mitten im Satz seine Stimme. Das sind solche Bagatellen. Es sind die seltsamsten, eigentlich belanglosesten Momente, in denen es am meisten wehtut. Bei einem Einbruch sind es nicht die Wertsachen, die man hatte, sondern der Anblick der offenen Schränke. Die Tatsache, dass vorher etwas da war. Erinnerungen, die den Verlust bewusst machen. Die Gewissheit, etwas einmal Verlorenes nicht zurückholen zu können und dass für immer eine Lücke bleibt. Am schlimmsten sind die Leere und Stille, wenn man heimkehrt. Ich habe weggeschaut. Christine nahm Josef in den Arm und wiegte ihn sanft, während ich betreten zu Boden blickte. Selten habe ich seine Stimme so zittern gehört, selten gesehen, wie er weinte. Auch Christine schniefte leise und mittendrin fing plötzlich die Standuhr zur vollen Stunde an zu schlagen. Das Gongen kam mir in diesem Moment unnatürlich laut vor. Es überdeckte fast alle anderen Geräusche, das stockende Atmen und leise Schluchzen. Der Takt der Zeit übertönt uns immer irgendwann. „Nächstes Jahr“, sagte Josef dann endlich, mit dunkler, gefasster Stimme, nachdem die Uhr für eine kurze Frist verstummt war. „Nächstes Jahr würde ich gern Weihnachten mit euch zusammen im neuen Haus feiern.“ Er atmete noch einmal tief ein und fügte nach einer Pause hinzu: „Mehr nicht.“ Lieber Weihnachtsmann, auch ich wünsche mir nichts mehr als das, so dachte ich an jenem Abend. Doch das war damals, vor einer gefühlten Ewigkeit, die tatsächlich nur ein paar Monate dauerte. Das alte Jahr zog vorbei, das neue kam, der Schnee schmolz, es wurde Frühling und schließlich Sommer. Schnell wie ein Wimpernschlag flogen die Wochen dahin. Solange wir sie aufzogen, blieb die Uhr nicht stehen und schlug zu jeder Stunde. Auch jetzt begleitet mich ihr Klang, als ich die Wohnung verlasse, um Cola zu kaufen. Einen Monat vorher werfe ich all die Traumfänger über meinem Schreibtisch weg, weil es aussieht, als hätten Motten an den Federn ihre Nester gebaut. Als Kind waren mir diese Traumfänger ziemlich wichtig, darum nahm ich sie mit und hängte sie wieder auf. Über meinem Schreibtisch wurden sie zu Ideenfängern, zu Fangnetzen meiner Gedanken. Sie nun wegzuwerfen ist ganz leicht, es tut gar nicht weh. Nur eine Bagatelle. Danach fahre ich zum Grundstück für das neue Haus. Auch diesen Ort kenne ich gut, es war der Hof meiner Großeltern, wo mein Opa seine Bienen züchtete. Hier zeigte er mir, auf welche Weise Bienen durch einen komplizierten Tanz miteinander kommunizierten. Jedes Volk beherrschte dieselbe Sprache, über alle Grenzen von Feldern, Wäldern und Ozeanen hinweg. Sie konnten einander immer verstehen. Das beständige Summen hinter den Kästen hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Josef und mein Opa steckten häufig die Köpfe zusammen, sie alberten und machten eine Menge Blödsinn, wie die Kinder. Dabei bedachte meine Großmutter sie mit tadelndem, gutmütigem Blick. Christine schmiedete damals schon Pläne, wie sie hier ein Haus bauen würde, in welchem sie alle irgendwann zu viert lebten. Seitdem ist viel passiert. Jetzt frage ich mich und verdränge den Gedanken zugleich, ob sie wohl allein in diesen Wunschtraum einziehen wird. Wir feiern das Richtfest und ich stehe im fensterlosen Rohbau, als Christine zu mir sagt: „Das mit Weihnachten hat er schon aufgegeben.“ Mein starrer Blick sucht den Garten, die Umgrenzung aus neuen Gabionen, die bepflanzten Beete, den frisch gemähten Rasen. Das alles verströmt einen intensiven Duft. „Aber es wäre toll, meint er, wenigstens eine Nacht im neuen Haus zu verbringen. Mehr will er jetzt gar nicht mehr.“ Nicht mehr, nicht mehr, mehr nicht, hallt es in meinem Brustkorb nach wie das Echo in einem Resonanzkörper. Mehr will er nicht. Er will nicht mehr. War es denn damals schon zu viel verlangt? War es zu viel für ihn? „Wie lange wird das mit dem Haus noch dauern?“, frage ich. „Drei Monate vielleicht.“ Sie atmet tief ein und hebt das Weinglas an ihre Lippen. Man hört die Kinder der Nachbarschaft rufen und lachen. Insekten schwirren im Licht des anbrechenden Abends. Auf dem Land sind mir die leisen Geräusche und Stimmen der Menschen viel präsenter als in der Stadt. Anstelle von Straßenlärm vernehme ich das Zirpen eines Heimchens am Mauergrund. „Dein Opa hat uns sogar einen Gruß hinterlassen“, bricht Christine das Schweigen. „In dem Hügel da drüben haust ein wilder Bienenschwarm.“ „Echt?“, frage ich verblüfft. „Was machst du jetzt?“ „Ich zünde daneben Räucherwerk an, vielleicht siedeln sie von allein um.“ „Das tut ihnen aber nicht weh, oder?“ „Nein, das tut ihnen nicht weh.“ Jeden Tag nach der Arbeit fährt Christine zum Grundstück und ackert am Haus oder im Garten. Der Nachbar, der meinen Großvater noch von früher kannte, kommt ab und zu vorbei und spricht sie mit dessen Namen an. Der sei nämlich genauso ein Arbeitstier und sturer Bock gewesen, meint er zu mir. Ich muss schmunzeln und stimme ihm zu. Am Ende des Krieges war mein Großvater als Jugendlicher mit seiner kleinen Schwester nach Deutschland geflohen. Er hatte es hier nie leicht, genauso wie seine Kinder, die als Flüchtlinge gehänselt und ausgegrenzt wurden, obwohl sie in Deutschland geboren waren und die gleiche Sprache beherrschten. Heute ist davon nichts mehr zu spüren. Nach etlichen Jahren gehörten sie endlich dazu. Doch auch für so etwas braucht es Zeit. Ich habe zwei Ahornbäume gepflanzt, links und rechts im Garten, umschlossen von einem Rund aus Steinen. Sonst kann ich nichts tun, außer bei dem zu helfen, was meine Hände vermögen. In diesem Garten, auf dem Grundstück, das ich seit meiner Kindheit so gut kannte und jetzt nicht mehr wiedererkenne, in diesem Garten stehen nun zwei Ahornbäume und wenn es Herbst wird, ist einer von ihnen hoffentlich flammend rot. Vielleicht wird er mich an diese Zeit erinnern, wenn manches anders und vieles verloren ist. Zwei Wochen vorher steht der Uhrenkasten offen und das Pendel still. Christine wollte soeben die Gewichte hinaufziehen, als es an der Tür klopft. Der Nachbar tritt ein und begrüßt uns herzlich. Josef sitzt auf dem Sofa und telefoniert. „Ja... ja...“, sagt er leise und wirft dem Besuch nur einen kurzen, scheinbar entschuldigenden Blick zu. Die Übergangswohnung ist meistens belebt. Verwandte und Bekannte von früher kommen vorbei, manche verhalten sich natürlich, andere wirken, als würden sie bloß pflichtbewusst, verfrüht und ohne Worte ihre Kondolenz aussprechen. Diese letzte Sorte von Leuten, die man sonst fast nie sieht und die jede Gelegenheit beim Schopfe packen, um über die Welt oder ihr eigenes Unglück zu philosophieren, ist am unausstehlichsten, besonders für Josef. Allerdings sitzt der noch immer auf dem Sofa und telefoniert. „Ja... ja...“, sagt er monoton in den Hörer und ich vermute, dass er sich wieder einen dieser Anrufe antun muss. Indessen wendet sich der Nachbar munter an meine Schwester und mich und fragt uns, wie es in der Uni läuft. Er ist ein netter Kerl, erzählt gern Anekdoten von meinen Großeltern oder aus Christines Schulzeit. Viele aus der Nachbarschaft helfen beim Hausbau und packen mit an. Das war auch nötig, nachdem der ursprünglich Beauftrage einiges verpfuschte und die Kosten in die Höhe schossen. Eigentlich sollte alles längst fertig sein. Wir reden oft darüber, doch ändern können wir es nicht. Manchmal, nach langen Pausen im Gespräch, genau wie nun in diesem Moment, endet Christine lediglich: „Es gibt so viel Schlechtes in der Welt.“ „Ja...“, sagt Josef mit ausdrucksloser Miene in den Hörer. Keiner von uns weiß, wie Christine das meint, aber jeder kann es für sich selbst verstehen. Ich glaube fast, dass sie sagen will, es könnte schlimmer sein. „Telefonierst du noch immer mit deiner Tante?“, fragt sie nach einem Seufzen, mit leicht genervtem Unterton, da sich solche Gespräche meist unangenehm in die Länge ziehen. „Ja.“ „Sag ihr, dass sie endlich Schluss machen soll, wir haben Besuch.“ „Ja.“ „...Josef?“ Zuerst wollte Christine sich abwenden, aber nun hält sie inne. „Alles in Ordnung?“ „Ja?“, sagt Josef, schaut auf und sieht sie mit diesem überraschten Gesicht an. Mit diesem überraschten Gesicht. Sie nimmt ihm den Hörer aus der Hand, hält ihn sich ans Ohr, lauscht wenige Sekunden, dann blickt sie uns an und schüttelt den Kopf. Mir ist schlagartig kalt. Dieses überraschte Gesicht. „Josef, erkennst du mich?“ Eine sehr langsame, vorsichtige Stimme. Eine sanfte Hand. Leere und Unverständnis im Blick, als hätte jemand die Zeit angehalten. Wer ist das? „Weißt du, wer ich bin?“ „Christine?“, fragt er. „Und wer ist das?“ Sie zeigt auf mich und er sagt: „Christine?“ „Und das?“ Sie zeigt auf den Nachbarn und er sagt: „Ja?“ Es ist unangebracht, doch ich muss in diesem Moment schmunzeln, weil ich dachte, er würde ihren Namen noch einmal nennen, und gleichzeitig fühle ich mich elend. Meine Schwester verzieht das Gesicht, dreht sich um und geht ins Bad. Wie lange dauert es, bis er nicht mehr da ist? Und wird er schon nicht mehr da sein, lange bevor es vorbei ist? „Wir sollten den Arzt rufen, oder?“, höre ich mich sprechen. Die Wände sind gelb verfärbt vom Zigarettenrauch, doch der Boden ist sauber. Zwischen den Zapfen in der Standuhr bleibt das Pendel nach wie vor reglos. Unser Gang der Zeit wird gezogen von Ketten und nur eines der Gewichte hat einen eigenen Klang, den man zu jeder Stunde hört. Durch das Glas des geöffneten Uhrenkastens fällt ein spinnenartiger Schatten an die Wand. Er sieht aus wie das Bild, das uns der Arzt einige Stunden später im Krankenhaus hinhält, stark kontrastierte Umrisse eines Schädels und ein vielarmiges Netz, das sich festkrallt, wo das linke Auge mal war. Schatten lauern hier in jedem Türspalt. Eindrücke verschwimmen, vermischen sich. Es sind immer wieder andere Wände, andere Krankenhausflure, andere Menschen, deren Hand ich halte, und doch werden Jahre in solchen Momenten komprimiert, bis alles je Erlebte zu einer einzigen Wahrnehmung gerinnt, jedes Geräusch, jeder Geruch, jeder Blick, jede Berührung. Wie Christines Unsicherheit und Zurückhaltung, als ich mit ihr im Gang stehe und sie um Worte ringt. „Na ja, seine...“, setzt sie an, lächelt verzerrt, blinzelt rasch, schaut an die Decke des Krankenhausflurs und atmet, atmet einfach nur. Ich nehme sie in den Arm und fühle mich hilflos und stumpf dabei. Sie schluckt, bevor sie flüstert und selbst im Flüstern zittert ihre Stimme: „Seine Nieren versagen.“ Der Flurboden sieht aus wie Wasser, so glatt, dass er das graue Licht zwischen den wogenden Bäumen draußen spiegelt, aber gleichzeitig uneben wie ein leichter Wellengang. Schuhpaare gehen vorbei, manchmal begleitet von einem Infusionshalter. Wünschenswerte Privatsphäre oder die richtigen Worte, so etwas gibt es in der Realität nicht. „Wenn ich daran denke, wie ich mir das alles mit dem Haus mal vorgestellt habe“, spricht Christine weiter. „Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich verflucht.“ „Nein. Wir werden bloß alle älter. Da ist das irgendwann normal.“ Es ist noch nicht lange her, nur wenige Wochen, da nahm mich Josef bei einem Besuch zur Seite, drückte mich kurz an sich und legte mir etwas auf die Handfläche. Er umschloss meine Hand fest mit seiner eigenen und sagte: „Erinnerst du dich, als ich euch die Platte von den Dire Straits vorgespielt habe, Brothers in Arms? Starker Song, findest du nicht?“ Es war die allererste Platte, die er sich in seiner Jugend gekauft hat, und ich verstand, was er meinte. Wir werden älter und müssen zwangsläufig zusehen, wie Menschen kämpfen und leiden, und Abschied nehmen. Jedes Leben ist ein Kriegsfeld, jeder hat seine Schlachten zu schlagen und wir alle müssen irgendwann fallen. Es wird nicht leichter, man wird nur einsamer. Ich wollte diese Erinnerungen und Assoziationen nicht. Manchmal ist der Verstand voll davon, die Gedanken springen, Bilder tauchen unwillkürlich auf. Nutzloses Selbstmitleid, sicherlich, doch viel schlimmer ist es, jemanden zu vermissen, etwas nicht mehr sagen, nicht mehr nachholen zu können. Am Ende bereut man selten, was man getan, sondern nur, was man nicht getan hat. Wir sind nicht traurig, weil jemand fort ist. Wir sind traurig, weil er vorher da war. Nachdem Josef stumm seine Bitte vorgetragen hatte, ließ er mich los und sprach nie wieder davon. In der Hand hielt ich eine Packung Blumensamen für Vergissmeinnicht. Wahrscheinlich wird er sich daran jetzt nicht mehr erinnern. Wir haben ihn im Rollstuhl runter in die Cafeteria des Krankenhauses geschoben. Christine fragt ihn, was er trinken möchte, Kaffee oder Cola, und er entscheidet sich für Cola. Es ist eine merkwürdige Situation, wir sitzen an einem winzigen Tisch, reden über Belanglosigkeiten, ich staple Kondensmilch. Josef hat seinen Pappbecher noch nicht angerührt. Seine Hände gleiten fahrig über die Tischplatte, als würden sie etwas suchen. „In ein paar Tagen kommst du wieder nach Hause“, versichert ihm Christine. Er murmelt etwas, erhascht eine Kondensmilch und dreht sie zwischen den Fingern. Dann öffnet er sie, um den Inhalt in seinen Pappbecher zu kippen. Geistesgegenwärtig zieht Christine die Cola zur Seite, während ich simultan meinen Becher an die Stelle schiebe, sodass die Milch im schwarzen Kaffee landet. Halb verwirrt beobachte ich, wie Josef ein Plastikstäbchen nimmt und umrührt. Meine Schwester, die uns gegenüber sitzt, starrt uns entgeistert an. Im nächsten Moment prustet sie los. „Habt ihr das vorher geübt? Das sah jetzt so komisch aus, wie in einer Sitcom.“ Während meine Schwester lacht und Christine und ich zu perplex sind, nutzt Josef die Gelegenheit und greift nach dem letzten Päckchen Zucker. Bevor wir reagieren können, schüttet er es in die Cola. Ein bisschen mehr Zucker schadet nicht, denke ich. Nicht allein deshalb, weil das Getränk süß genug ist. Der Geschmack auf meiner Zunge ist trocken und bitter. Meine Schwester senkt den Kopf und wischt sich über das Gesicht. Ihre Schultern beben. Es klingt noch immer, als würde sie lachen. Eine Woche vorher stehen diese Leute vor der Tür. Distanzierte Höflichkeit in Jackett und Hemdkragen. Sie setzen sich auf ein Sofa, Christine und Josef auf das andere, ich stehe am Rand und schaue irgendwohin. Sie erzählen und stellen Fragen, wollen Josefs Zustand beurteilen, wollen eine Unterschrift auf irgendeinem Dokument. „Ich möchte ihn aber hier haben“, sagt Christine abwesend. Ich schüttle den Kopf und öffne den Mund, um zu atmen, zu sprechen. „Im Krankenhaus hat sich niemand um ihn gekümmert, keiner hat ihm beim Waschen oder Rasieren geholfen oder beim Umziehen. Die wissen doch, dass er das sonst vergisst. Die haben nicht mal seine Augenhöhle gereinigt, eine Woche lang, obwohl das jeden Tag gemacht werden muss. Die Pflegerin hat gestern gar nicht die Watte aus dem Auge bekommen, so sehr war das alles...“ und viel mehr würde ich gern sagen, doch es geht nicht. Es lässt sich nicht anders formulieren. Ich bringe kein Wort heraus. Zerstreut blinzle ich, denn aus dem Augenwinkel wälzt der Schatten seinen fett gewordenen Leib hervor. Seit Wochen lauert er da in der Zimmerecke, verborgen von der riesigen Standuhr, die bis unter die Decke gewachsen ist. Das Ungetüm schert sich nicht darum, wer du bist, wer du warst und wer du sein wolltest. Schieb es weg, doch es hascht mit feuchtem Maul nach deinen schwachen Händen, schlingt und schmatzt, bis nichts mehr von deiner Persönlichkeit übrig bleibt. „Wir verstehen, dass ihre Situation derzeit schwierig ist und dass sie angespannt sind. Sie müssen sich aber auch über die Lage bewusst sein. Das Personal muss entscheiden, welche Maßnahmen noch sinnvoll sind.“ „Soll das heißen...?!“, setze ich etwas ungehalten an, unterbreche mich aber sofort. Christine presst die Lippen zusammen, starrt stur geradeaus und schweigt. Josef zündet sich eine weitere Zigarette an, obwohl zwischen den Fingern, die das Feuerzeug halten, bereits eine halb verbrannte steckt. Eine der Zigaretten legt er dann auf dem Rand des Aschenbechers ab, nimmt die Flasche vom Tisch, gießt sich Cola ein und hält das Glas in der Hand. Sie tun, als ob er nicht da wäre, aber ich sehe, dass er genervt und nervös ist. Asche fällt auf den Boden. So etwas passiert immer wieder. Damit er nicht herumläuft, haben sie ihn die meiste Zeit ruhiggestellt, er war kaum bei Bewusstsein. Keine Ahnung, was sie ihm da für Medikamente gegeben haben. Natürlich wollen sie ihn zurückhaben. An einem Patienten, den sie nur sedieren müssen, verdienen sie mit jedem angebrochenen Tag. Sie finden es sinnlos, sich noch um ihn zu kümmern, legen uns aber Steine in den Weg, wenn wir das übernehmen wollen. Ich weiß nicht, ob meine Gedanken gerechtfertigt sind, doch im Augenblick spielt es keine Rolle. Ausgemergelte Gesichter, das Pumpen von Beatmungsgeräten, Monitore, die unverständliche Linien und Zahlen zeichnen. Rascheln von Papier, von Kitteln, Gummihandschuhen, Atem unterm Mundschutz. Keinerlei Stoff, nichts Weiches, keine Persönlichkeit. Nur Schlaf und Hast und Sauberkeit. Der Boden bedeckt mit Schläuchen und Kabeln, zwischen denen man kaum stehen kann. So viele Kabel. Ich hätte als Kind nie gedacht, dass auf manchen Intensivstationen so viele Kabel herumliegen. Nicht noch einmal. Nicht noch einmal soll jemand dort enden. Daheim sind die Decken bestickt mit Blumen. Ich kann es nicht aussprechen. Mir fällt keine Formulierung ein, die jetzt angebracht wäre, darum murmle ich stattdessen: „Das ist doch eine notwendige medizinische Maßnahme.“ „Darum möchten wir sie ja entlasten. Wenn sie ihn ins Hospiz bringen...“ „Oh, ich habe mich bekippt“, sagt Josef auf einmal. Wir schauen alle zu ihm, schauen auf das Glas Cola, das sich nach wie vor sicher in seiner Hand befindet, ohne dass ein Tropfen verschüttet wurde. In seinem Schoß breitet sich ein dunkler Fleck aus. Drei Tage vorher faltet meine Schwester Kraniche. Es sind winzige, bunte Kraniche, die sie in verschließbaren Gläsern sammelt. Tausend Kraniche sollen es werden. Während ich in ihrer Küche sitze und das vielfarbige Papier betrachte, eingelullt vom leisen Klirren des Geschirrs, sage ich: „Vielleicht sollte der Kleine nicht mitkommen.“ Erstaunt dreht sie sich am Spülbecken um. „Warum?“ Ich habe nicht erwartet, das erklären zu müssen, und weiß zuerst nicht, was ich sagen soll. Mir geht durch den Kopf, wie wir Josef mit Hilfe des Nachbarn von der Couch gehievt und zu dem Bett getragen haben, das am gestrigen Tag geliefert wurde. Er selbst hatte keine Kraft mehr. Es war, als schliefe er. Halb bewusstlos, wie er zwischen uns hing, brachte ich dabei eine Situation vor vielen Jahren zur Sprache, als wir ihn nach einer Feier betrunken ins Haus schleppen mussten. Die Erinnerung ließ uns alle lachen. Gegen Ende geht es meistens ganz schnell. Davon kann ich meiner Schwester nichts erzählen, darum frage ich lediglich: „Wann warst du denn das letzte Mal bei ihm?“ „Im Krankenhaus, bevor sie ihn entlassen haben. Meinst du etwa, dass...?“ „Ich weiß es nicht. Das weiß man ja vorher nie so genau. Aber er zeigt alle Symptome, die ich schon... ich glaube einfach, dass es nicht mehr lange dauert. Vielleicht noch ein paar Tage.“ Sie sagt nichts dazu, wäscht schweigend weiter ab und lässt einige Zeit verstreichen, bevor sie etwas lauter nach ihrem Sohn ruft. „Wenn wir nachher fahren“, erklärt sie ihm, „möchtest du dann hier bleiben und einen Freund einladen?“ „Wieso?“ Da sie nichts erwidert, antworte ich an ihrer statt: „Opa geht es nun wirklich nicht mehr gut.“ „Was ist passiert?“, will er wissen. Mit dieser Frage haben wir beide nicht gerechnet. Ich merke es, denn meine Schwester fängt hilfesuchend meinen Blick auf. „Nichts ist passiert“, meine ich. „Sein Zustand hat sich nur verschlechtert. Er schläft die meiste Zeit und wird dich vielleicht nicht erkennen. Darum wäre es wohl besser, wenn du hier bleibst. Aber es ist deine Entscheidung.“ Wieder nur Schweigen. Er bleibt reglos an der Tür stehen und blickt zu Boden. Allseits stummes Warten, das sich anfühlt, als würde es ewig dauern. Weil ich die Stille nicht ertrage, helfe ich ihm: „Du möchtest lieber hier bleiben, oder? Besser nicht mitkommen?“ Er druckst herum und bestätigt langsam: „Ja, da habe ich Angst.“ „Ist in Ordnung“, versichere ich ihm aufmunternd. Mehr kann ich dazu nicht sagen, mir fällt nichts ein, was die Lage entlasten oder ihn befreien könnte. Seine Arme und Hände hängen unbewegt herab und kommen mir gerade sehr klein und zerbrechlich vor. „Na ja“, meint er schließlich, „vielleicht wird Opa wieder gesund.“ „Nein“, widerspreche ich, „er wird nicht wieder gesund. Hör mal, ich möchte nicht, dass du dir da irgendwelche Hoffnungen machst. Es ist am besten, wenn du Opa so in Erinnerung behältst, wie du ihn das letzte Mal gesehen hast, verstehst du?“ Er nickt, starrt dabei weiter auf den Boden und tritt von einem Fuß auf den anderen, bevor er schnell sagt: „Ich geh wieder rüber.“ Während er sich umdreht, setzt erneut das Klirren des Geschirrs im Spülbecken ein. Meine Schwester hat mir den Rücken zugewandt und wischt mehrfach über einen sauberen Teller. Nach kurzem Zögern frage ich leise: „War ich jetzt zu hart?“ „Nein, alles gut.“ Über die Schulter schenkt sie mir ein flüchtiges Lächeln und reinigt noch eine Weile den Teller, bis sie ihn zurück ins Spülbecken sinken lässt, sich die Hände abtrocknet und wortlos die Küche verlässt. Gedankenverloren betrachte ich die Gläser voller Kraniche. Sie wird es nicht schaffen. Die Zeit reicht nicht, sie reicht niemals. Ich tippe mit dem Fingernagel gegen das Glas, als wäre es ein Aquarium, doch drinnen bewegt sich nichts. Ihr könnt leider nichts schaffen. Ihr könnt nicht mal davonfliegen. Mein Hals ist trocken, darum fülle ich eine Tasse mit Cola, doch es schmeckt nicht, ist irgendwie bitter. Unwillkürlich muss ich schmunzeln. Vielleicht sollte ich ein wenig Zucker hineinschütten. Am Tag vorher stehe ich im Rohbau des Hauses und stelle mir vor, wie ich dieses verflucht teure Bett, das Christine aus eigener Tasche vorstrecken musste, weil die Versicherung nicht glauben konnte, dass wir Josef nicht einfach ins Hospiz brachten, wie ich dieses verdammte Bett auf den praktischen Rollen mitsamt Josef herschiebe, genau in das Zimmer mit Blick auf den Garten, damit sein Wunsch sich erfüllt. Doch ich weiß, dass das nicht geht. Ich weiß, dass es in der Nacht wahrscheinlich zu kalt wird. Gerade fühle ich mich wie ein mit Steinen gefüllter Gabionenkorb oder als sei ich selbst ein Stein in einem Käfig aus Draht. Ein Stein unter vielen. Ein halber Kranich hinter Glas. Den Weihnachtsmann gibt es nicht. Es gibt auch keine Moral der Geschichte, nichts, das durch irgendwelche Hoffnungen oder die Erfüllung von Wünschen besser wird. Träume werden nicht wahr, nur weil man sich anstrengt. Man kann nicht alles schaffen, nur weil man es will. Zu verwirklichen, was jemand sich wünscht, würde nichts ändern. Nicht er, sondern wir hätten uns dann besser gefühlt. Am Ende gibt es nichts mehr zu sagen, kein Jammern, keinen Trost, keine sinnlosen schlauen Worte. Es ist, wie es ist, nicht mehr, mehr nicht. Ich bin bloß wütend und weiß nicht, wohin damit. Meine Ahornbäume kümmern vor sich hin. Wer weiß, wie lange die es noch machen, ob sie überhaupt bis zum Herbst überleben. Ich habe noch immer das Päckchen Vergissmeinnicht. Die Tage vergehen, die Bienen sind fort und auf dem Hügel wächst das Unkraut. Am Morgen kommt die Pflegerin und rasiert ihn vorsichtig. „Was haben die nur mit meinem Josef gemacht?“, so regte sie sich auf, kurz nachdem er das letzte Mal aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Sie ist eine gutherzige Frau, stets überrascht über die Sprüche, die Josef auf den Lippen hatte. Monatelang kümmerte sie sich um ihn, mit wachsenden Aufgaben. Gerade jetzt spüre ich tiefe Dankbarkeit. Sie hilft uns, damit er sich menschlich fühlen kann. Obwohl es ihm schwerfällt, möchte er etwas essen. Wir mischen die Schmerzmittel in den Joghurt. Das Aufrichten ist am schlimmsten, er keucht auf, verkrampft die Finger, den gesamten Körper und wimmert vor Schmerzen. Danach geht es besser. Bei der Katzenwäsche versucht die Pflegerin ihn auf die Seite zu drehen. Seine Beine sind knochig, seine Handgelenke sehen dünner aus als meine. Er kann sich kaum bewegen und bemüht sich dennoch, den Anweisungen Folge zu leisten. Eine seiner Hände sucht unbeholfen den Bund über seinen Beckenknochen. „Ja, das ist die Unterhose, die muss an bleiben“, erklärt die Pflegerin forsch. Wir nennen es immer Unterhose, wir sagen niemals Windeln dazu. Er ist noch so jung, aber es kommt mir vor, als wäre er in den vergangenen Wochen um Jahrzehnte gealtert. Seit wann sind seine Haare grau? Dann schauen wir zusammen Fußball, fast wie früher. Nur dass er nicht auf den Bildschirm blickt, sondern in wachen Momenten zu mir. Er richtet den Blick auf mich, spricht kein einziges Wort, schaut mir nur direkt ins Gesicht, ohne sich abzuwenden, die Mimik undeutbar. Ich versuche zu lächeln. Du hast nicht alles richtig gemacht, aber wer kann das schon von sich behaupten? Es gab Momente, in denen wir wütend waren, Momente des Lachens, der Gleichgültigkeit und des Glücks. Wir tragen all dies in uns. Manchmal verzeihen wir oder vergessen. Ich behalte dein Vergissmeinnicht bei mir. Bis zu meinem eigenen Verschwinden. Genau jetzt bin ich froh, dass wir hier sind. Neben dem Bett erhebt sich die Standuhr, jede halbe Stunde dröhnt laut in meinen Ohren, doch das ist in Ordnung. Christine möchte, dass Josef das Schlagen hört, damit er weiß, dass er zu Hause ist. Zuhause ist dort, wo dieser Klang ist. Irgendwann schaue ich in sein rechtes Auge, doch er sieht an mir vorbei, sieht hinauf, sieht zur Decke, sieht irgendetwas, das ich nicht sehen kann. Vielleicht den Schatten, der von der Uhr in den Erker gekrochen ist. Und wartet. Ein paar Stunden vorher halte ich seine Hand fest, als es mir auffällt. Ich fasse unter die Bettdecke nach der anderen Hand und merke es auch dort. Seine Hände sind ganz warm, aber die Fingerspitzen werden kalt. Ich kenne diese Hände. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)