Zwischen Fieber und Stolz von Shizana (ZdW-Jubiläumsspecial) ================================================================================ Kapitel 1: Fieber vs. Hitze --------------------------- Mir ist kalt, ich schwitze. Mein Schädel dröhnt. Gott, ich hasse es, krank zu sein. Blinzelnd öffne ich die Augen. Das Gewicht der Decken, in die ich zweilagig gewickelt liege, scheinen mich zu erdrücken. Ich will sie am liebsten von mir stoßen, stattdessen ziehe ich sie enger um mich und verkrieche tiefer in sie hinein. Ich verfluche es stumm. Mir ist so verdammt kalt, trotz dicker Wintersocken und der Wärmflasche an meinem Bauch. Wann geht das endlich vorbei? „Bist du wach?“ Ich schlage alarmiert die Augen auf, die ich gerade wieder geschlossen hatte. Selbst durch mein gedämpftes Hörvermögen erkenne ich diese Stimme. Ihr weicher Klang, die Sänfte darin … Ich würde sie immer erkennen. Aber Gott, wieso jetzt? Mühsam winde ich mich unter den Deckenlagen, um einen Blick über meine Schulter erhaschen zu können. Instant fühlen sich meine Wangen heiß an und mein Herz springt im Galopp. Mit meinem Fieber hat das beileibe wenig zu tun. „Ikki?“, kommt es krächzend aus meiner Kehle. Ich erschrecke selbst bei dem ungewohnten Klang. Ist das wirklich meine Stimme? Peinlich berührt schlucke ich. Versuche, Gaumen und Kehle zu befeuchten. In meinem Mund herrscht Trockenwüste, es ist eklig. Boah, wieso jetzt? „Was machst du hier?“, versuche ich es leiser. Gott, was macht er hier? „Du klingst nicht gut“, stellt er fest und besieht mich mitfühlend. Ich will ihm diesen leidigen Ausdruck am liebsten aus dem Gesicht wischen, hätte ich die Kraft dazu. Aber vermutlich, selbst wenn ich sie hätte, täte ich es nicht. „Das erübrigt meine Frage nach deinem Befinden. Dich hat es ja richtig erwischt.“ „Das beantwortet meine Frage nicht“, protestiere ich und kämpfe mich in eine aufrecht sitzende Haltung. Ich schaffe es lediglich bis in die Beuge, bevor ich merke, wie sehr mich allein diese Bewegung anstrengt. Schwindelig wird mir obendrein. „Überanstreng dich nicht“, höre ich ihn sagen. Zeitgleich spüre ich, wie er eine Hand an meine Schulter legt. Die Berührung ist kühl, was wohl seinem glatten Handschuh zu verdanken ist, und doch  brennt sie auf meiner erhitzten Haut. Ich weiß nicht, ob ich es als angenehm empfinden soll oder nicht. „Magst du etwas trinken?“ „Nein“, sage ich und schüttle den Kopf. Der Gedanke an Flüssigkeit feiert meine Mundsahara, macht sie mir umso bewusster. Blöd, wenn man erst spricht und dann denkt. „Du solltest aber etwas trinken“, argumentiert er, zu meiner Entlastung. „Du hast Fieber, da braucht dein Körper umso mehr Flüssigkeit.“ Dieses Mal nicke ich und lasse mir anstandslos das Wasser reichen. Das Glas leere ich in wenigen Zügen, akzeptiere Nachschub, schaffe aber nur die Hälfte davon. „Was machst du hier?“, wiederhole ich meine Frage, nachdem ich das Glas zurückgegeben habe. Ich gebe mich stark, während der Kreisel in meinem Kopf zunimmt. Was auch immer da oben gerade abgeht, ein Tassenkarussell ist ein Witz dagegen. Vielmehr liegt mein Hirn in einer Wäschetrommel und wird dort fröhlich rundherum geschleudert. Was für ein Scheißgefühl. Am liebsten will ich mich zurück unter die Decken mummeln, wäre da nicht das leise Stimmchen, dass mir droht: ‚Wehe dir, Mädel! Keine Schwäche vor Ikki, auf gar keinen Fall!‘ „Ich wollte nach dir sehen“, spricht er sanft. Sein Lächeln, wie von Engeln gemeißelt, macht es gewiss: Ich bin im Himmel. Jetzt ganz bestimmt. „Du warst nicht im Meido und ich habe mir Sorgen gemacht. Waka-san meinte, dass du dich krank gemeldet hast.“ „Mhm.“ Ich weiche ihm zur Seite aus. Mein Gesicht glüht unangenehm. Ob es vom Fieber oder durch ihn kommt, keine Ahnung. „Es hat mich plötzlich erwischt. Es war nicht ge… –“ Ein Hustenanfall lässt mich meinen Satz nicht beenden. Ikki streichelt mir besänftigend über den Rücken, was einerseits schön ist. Andererseits fühlt es sich falsch an und erregt die Wut in mir. Ich will diese mitleidigen Gesten nicht. Wenn es anders wäre, wenn es andere Gründe hätte … Aber das hier ist einfach nur …! „Schon gut. Kurier dich erst einmal aus. Jeder kann sehen, dass es dir nicht gut geht.“ Ja, genau. Als ob ich will, dass man das auch noch sieht! „Du hättest nicht kommen sollen …“ „Wieso? Stört es dich? Ich dachte, es würde dich ein wenig aufmuntern.“ „Nein“, krächze ich heiser. Missmutig verstimmt wickle ich die Decken enger um meine Schultern und versenke das Kinn darin. „Es stört mich nicht. Ich freue mich, ganz ehrlich. Aber ich will nicht, dass du mich so siehst. Ich sehe bestimmt schrecklich aus, und meine Stimme ist auch im Eimer. Du kannst mich in diesem Zustand echt in die Tonne treten.“ Ikki neben mir lacht ausgelassen. Ich spüre, wie die Matratze unter seinem Ausbruch ruckelt. Vielleicht hätte er sich besser auf einen Stuhl gesetzt, aber nein, es musste ja das Bett sein. Wieso nur, gottverdammt? „Sag das nicht. Glaub mir, du bist selbst jetzt noch hinreißend“, sagt er, was mein Herz verräterisch hüpfen lässt. „Die Wangen gerötet, die Haare zerzaust, dazu diese heisere Stimme und ein fiebriger Blick … Ich gebe zu, das hat durchaus seinen Reiz. Es regt alle möglichen Fantasien in mir an. Du solltest in diesem Zustand besser keinen Mann in deine Nähe lassen.“ „Und wieso bist du dann hier?“, brumme ich. Wieder lacht er. „Eine gute Frage. Bist du beunruhigt?“ „Sagen wir, ich werde gerade ein wenig nervös …“ „Hmm, wirklich? Wenn es weiter nichts ist“, grinst er verschmitzt. „Dann darf ich gewiss noch eine Weile bleiben. Oder ist dir meine Anwesenheit unangenehm?“ „Nicht wirklich“, murmle ich hilflos und ziehe die Decke ein Stück höher. Gott, ich werde sterben, wenn das so weitergeht. Das kann ich unmöglich zugeben! „Aber du wirst dich anstecken.“ „Hm, das stört mich nicht.“ Wa…? Im nächsten Moment spüre ich, wie die Decke nach unten gedrückt wird. Fragend drehe ich den Kopf und glaube, mir springt das Herz aus der Brust, als ich Ikkis Gesicht genau vor mir sehe. Unwillkürlich halte ich die Luft an, während ich in seinen blauen Augen versinke. Zu spät kommt mir die Frage, wieso der Kerl seine verflixte Sonnenbrille nicht trägt. Ausgerechnet wenn er so nah ist! Will er es darauf anlegen? Ein sanfter Halt legt sich auf beide meiner Schulter. Ich spüre, wie ich ein Stück nach hinten gedrückt werde. Keine Ahnung, was hier passiert. Ich komme nicht mehr mit. Mein Verstand hat sich stillschweigend verabschiedet. Ich erahne ein Lächeln auf Ikkis weichen Gesichtszügen, als es sich mir langsam nähert. Er ist so schön mit den silbernen Strähnen, die ihm lose in die Stirn fallen. Ich will ihn berühren, diesen Mann als leibhaftig identifizieren. Will meine Hand auf seine Wange legen, seine Wärme spüren. Ich will … Ich hisse die Flagge und schließe die Augen. Die Gedanken verstummen in meinem Kopf. Unter all der Hitze und dem Schwindel singt mein Herz euphorisch, dass dieser peinigende Moment nie vergehen möge. Kapitel 2: Pflege vs. Scham --------------------------- Ich zucke heftig zusammen und schlage die Augen auf. Das Erste, was ich vernehme, ist das unbändige Herzklopfen in meiner Brust. Dann, dass mir die Hitze im Gesicht steht. Was war das gerade? Ein Traum? „Hast du mich erschreckt!“, höre ich jemanden bei mir sagen. Ich erschrecke ein zweites Mal und drehe verwirrt den Kopf. Ein Blinzeln später hat die Realität mich abgeholt. „Ukyo?“ „Habe ich dich geweckt? Tut mir leid, das wollte ich nicht.“ Stöhnend hieve ich mich hoch und setze mich zurück. Eine Hand an meine Stirn macht mir bewusst, dass ich schwitze. Meine Wangen glühen. Zum Glück bleibt der Schwindel aus, ein gutes Zeichen. „Wie spät ist es?“ „Kurz vor acht“, antwortet mir Ukyo. Ich bemerke, wie er meinen Stuhl vom Schreibtisch ans Bett zieht und sich darauf setzt. „Ich wollte nur kurz nach dir sehen, bevor ich uns Frühstück mache. Wie fühlst du dich? Du hast wohl immer noch Fieber. Du bist ganz rot im Gesicht.“ „Wo ist das Thermometer?“, lenke ich um, ohne auf die Besorgnis einzugehen. Seine Bemerkung jagt mir schon wieder jegliches Blut in die Wangen. Wenn das nicht aufhört, kippe ich noch um. Verdammter Traum! „Gibst du es mir bitte? Ich glaube eigentlich, dass es mir schon besser geht.“ Ukyo bestätigt dies und erhebt sich. Kurz darauf ist er wieder bei mir und hält mir das kleine weiße Messgerät vor die Hände. Ich nehme es ihm dankend ab und lasse es unter meiner Achselhöhle verschwinden. „Wo ist Orion?“ „Er schläft nebenan in meinem Zimmer“, erklärt er und lässt sich zurück auf den Stuhl sinken. Sein Lächeln ist gütig, als sich unsere Blicke begegnen. „Ich schlage vor, wir lassen ihn noch ein wenig schlafen. Er hat gestern sehr erschöpft ausgesehen.“ „Mh“, bestätige ich. Meine Gedanken sind kurz bei dem Kleinen, dann driften sie zurück zu meinem Traum. Ich erwische mich bei der Frage, was wohl passiert wäre, wenn ich nicht aufgewacht wäre. Woran ich mich zuletzt erinnere … und was noch möglich gewesen wäre … Das folgende Kopfkino lässt es in meiner Brust schwer poltern. In meinem Bauch schlagen dutzende Schmetterlinge mit ihren Flügeln. Oh Gott, ich darf nicht daran denken! Nein, Gott, nein! „Du, Ukyo?“ „Hm?“ „War … jemand hier?“ „Jemand? Was meinst du?“ „Na, ich meine … Hatten wir Besuch? Während ich geschlafen habe?“ „Besuch? Nein. Nur Orion und ich waren hier. Wieso?“ „Nur so“, murmle ich und spiele an meinen Haaren. Das bestätigt es: nur ein Traum. „Aber dein Handy hat heute Morgen geklingelt, wenn ich mich nicht verhört habe.“ „Echt?“ Suchend sehe ich mich nach meinem Mobiltelefon um und entdecke es, wie gewohnt, auf meiner Schrankablage neben dem Bett. „Nur einmal“, ergänzt Ukyo ruhig. „Es war bestimmt nicht so wichtig. Was macht das Thermometer?“ In dem Moment piept es zweimal unter meinem Schlafshirt. Ich angle das kleine Messgerät hervor und prüfe flüchtig das Display. „37,2“, verkünde ich und lächle stolz. Demonstrierend halte ich ihm das Gerät entgegen. „Siehst du? Schon besser. Ich hab’s doch gesagt.“ Er kontrolliert kurz die Anzeige, ehe er sich erhebt und zu mir nach vorn beugt. Seine Hand ist warm, als sie sich sanft unter mein Pony auf meine Stirn legt. Mit der anderen kontrolliert er seine eigene Stirntemperatur. Nach einem kurzen Moment seufzt er erleichtert. „Ein Glück“, flüstert er und lässt beide Hände sinken. Sein helles Lächeln erwärmt mir das Herz. „Dir geht es wirklich besser. Wie schön. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“ „Das brauchst du nicht“, beschwichtige ich und lächle ebenfalls. „Einmal ordentlich schlafen reicht in der Regel. Mein Körper macht die Dinge gern dramatischer, als sie sind.“ „Aber du hast wirklich schlecht ausgesehen“, beteuert er. Sein Gesicht wird ernst, als die Sorge darauf zurückkehrt. „Du bist auf Arbeit einfach zusammengebrochen. Du hast immer gesagt, dass dir kalt ist, obwohl du vierzig Grad Fieber hattest. Und dann wolltest du nicht einschlafen und hast dich immerzu hin und her gewälzt … Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“ „Aber du hast doch alles richtig gemacht“, will ich ihn besänftigen. „Du hast Medizin besorgt und dich um mich gekümmert. Ohne dich wäre ich nicht wieder so schnell auf dem Damm.“ „Du solltest es aber nicht übertreiben“, betont er streng, bevor er zaghaft lächelt. „Lassen wir es langsam angehen, okay? Ich mache dir einen Tee und du musst bitte deine Medizin nehmen. Magst du etwas frühstücken? Ich mache uns etwas.“ „In Ordnung“, nicke ich und schlage die Decken zurück. Ich revidiere dies, als ich bemerke, dass ich untenherum lediglich in Unterwäsche bin. Oh Gott, hoffentlich hat er das nicht bemerkt! „Gehst du schon einmal vor? Ich komme gleich nach. Ich ziehe mir nur eben etwas Vernünftiges an“, lächle ich beklommen. Er nickt und erhebt sich. Seinem gewohnten Verhalten entnehme ich, dass er nichts mitbekommen hat. Anderenfalls wäre er sofort verlegen geworden und hätte zu stammeln begonnen. Puh, noch einmal Glück gehabt. Das wäre peinlich geworden. Ich wechsle schnell meine Kleidung und stelle das Fenster auf Kipp. Das Bett schüttle ich auf, bevor ich mich meiner Schrankablage zuwende. Mein Handy zeigt eine neue Nachricht, die ich sogleich öffne. Sie ist von Toma: »Hey Kleines. Du hast ja echt nicht gut ausgesehen. Wie geht es dir? Bist du gut nach Hause gekommen? Lass von dir hören.« Die Worte lassen mich lächeln. Toma sorgt sich immer um jeden, sei es Hanna oder sonst irgendjemand. Er macht dabei keine Unterschiede. Ein wenig tut es mir leid, dass er das Dilemma mitbekommen hat. Es muss ein Schock für ihn gewesen sein. Ich beschließe, ihn später anzurufen. Ich will mich persönlich bei ihm bedanken, dass er so schnell und bedacht reagiert hat. Ohne ihn wäre Ukyo nicht so bald dagewesen, um mich abzuholen. Und ins Krankenhaus, wie Sawa es erst vorgeschlagen hatte, wollte ich erst recht nicht. Ich bin ihm wirklich zu Dank verpflichtet. Für jetzt verlasse ich mein Zimmer und husche hinüber ins Bad. Ich will mich frisch machen, bevor ich mich mit Ukyo an den Tisch setze. Danach freue ich mich auf etwas Warmes im Magen und die gemeinsame Zeit, an die ich mich so sehr gewöhnt habe. Kapitel 3: Sorge vs. Stolz -------------------------- Nach dem gemeinsamen Frühstück mit Ukyo kehre ich auf mein Zimmer zurück. Toma hatte mir eine Nachricht geschrieben, erinnere ich mich, und ich will ihn anrufen. Inzwischen ist es nach neun, er dürfte also hoffentlich wach sein. Kurzerhand angle ich mein Handy von der hölzernen Schrankablage und lasse mich sitzend auf dem Bett nieder. Der richtige Eintrag in meinen gespeicherten Kontakten ist schnell gefunden. Es tutet ein paarmal, bis auf der anderen Seite angenommen wird: „Ja, hallo? Toma am Apparat.“ „Guten Morgen, Toma. Hier ist Shizana“, grüße ich fröhlich. „Ah, guten Morgen. Mit dir habe ich nicht gerechnet.“ „Störe ich?“, frage ich vorsichtig. Er klingt gehetzt, habe ich das Gefühl. Vielleicht ist es gerade ungünstig. „Nein, schon gut. Ich mache mich nur gerade für die Uni fertig“, beschwichtigt er. „Ach so. Na dann will ich dich gar nicht lange aufhalten.“ Ich sammle meine Gedanken und was ich ihm sagen will. Rastlos erhebe ich mich von der Matratze und spaziere in meinem Zimmer auf und ab. „Ich habe deine Nachricht gelesen. Sorry, dass ich erst jetzt antworte. Ich hatte geschlafen.“ „Das dachte ich mir“, antwortet er am anderen Ende. Es klingt nicht, als hege er einen Vorwurf. „Gut so. Du hast gestern wirklich schlecht ausgesehen. Geht es dir inzwischen besser?“ „Mh. Ich habe Medizin bekommen und bin dann sofort ins Bett. Das Fieber ist mittlerweile gesunken.“ „Das freut mich zu hören. Du klingst aber noch etwas heiser.“ „Mh.“ Da kann ich ihm nicht widersprechen. „Ich huste noch ab und an, aber es geht einigermaßen. Wenigstens ist mir nicht mehr so schwindlig.“ „Lass es langsam angehen“, redet er gutmeinend auf mich ein. „Wir wollen nicht, dass du rückfällig wirst. Nimmst du dir von der Arbeit frei?“ „Ich schätze schon … Ich muss noch mit Waka-san reden und ihn über meinen Zustand in Kenntnis setzen.“ Mir graut es vor diesem Gedanken, aber es muss sein. Wird schon schiefgehen. „Du erreichst ihn auf Arbeit. Da fällt mir ein, du hast deine Tasche im Café vergessen. Soll ich sie dir später vorbeibringen?“ „Echt?“ Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Doch jetzt, da er es sagt … Ein prüfender Blick durch mein Zimmer bestätigt mir, dass sie nicht auf den gewohnten Plätzen liegt. Das ist schlecht. In der Tasche befinden sich mein Portemonnaie und mein Schlüssel. Die brauche ich früher oder später, und zwar dringend. „Da hat wohl niemand dran gedacht. Kann ja passieren. Ich hole sie nachher ab.“ „Du willst ins Café kommen? Bleib lieber zu Hause“, klingt er besorgt, gleichzeitig tadelnd. „Das ist sicherer für dich. Nur weil das Fieber gesunken ist, bist du nicht gleich wieder fit. Ich bringe sie dir später vorbei.“ „Schon okay“, beteuere ich. Es kitzelt verdächtig in meinem Hals, doch ich kämpfe den Hustenreiz hinunter. „Du hast Uni und ich habe dir gestern schon genug Ärger bereitet. Die kurze Strecke schaffe ich, wenn ich mit der Bahn fahre. Ich muss auch mal raus, frische Luft schnappen und so. Das Immunsystem stärken, du weißt schon.“ Toma seufzt am anderen Ende der Leitung. „Was mache ich nur mit euch? Ihr könnt es einfach nicht ruhig angehen lassen und euch die Auszeit gönnen. Hanna ist da genauso … Na schön“, gibt er bei, „aber lass dich begleiten. Wenn dir auf dem Weg etwas passiert und keiner ist da, kann das böse ausgehen. Ich werde Waka-san in Kenntnis setzen.“ „Ja, gut“, lenke ich ein. Dass er Waka vorwarnen möchte, will mir nicht gefallen. „Übrigens“, regt er an. „Wenn wir gerade reden. Wegen neulich …“ „Hm?“, setze ich nach, als er nach Sekunden immer noch schweigt. Ich erhalte keine Antwort. „Ach nein, schon gut. Ist nicht so wichtig.“ „Toma?“ „Wirklich. Erhol dich erst einmal, das ist wichtiger. Mach dir keine Gedanken.“ Ja, toll. Als ob ich das jetzt noch könnte. „Toma“, mahne ich streng. „Fang bitte kein Thema an, das du dann nicht beendest. Wenn es etwas gibt, dann sag es.“ „Ein andermal, in Ordnung? Ruh dich erst einmal aus.“ Ich stöhne genervt. Wie ich solche Andeutungen hasse. Insbesondere dann, wenn ich den Sinn dahinter nicht kapiere. „Ich muss jetzt los. Gib mir Bescheid, solltest du etwas brauchen. Du kannst mich jederzeit erreichen, wenn etwas ist.“ „Danke, das ist lieb von dir. Aber ich werde versuchen, davon abzusehen. Du hast genug um die Ohren.“ „Das ist schon in Ordnung“, versichert er. „Ich stelle nichts in Aussicht, was ich nicht einhalten kann.“ „Danke“, sage ich erneut und lächle. „Ich weiß das zu schätzen. Und auch für gestern danke, dass du so schnell reagiert hast. Es ist beruhigend zu wissen, dass man sich auf dich verlassen kann.“ „Na, nun machst du mich aber verlegen. Das war doch selbstverständlich.“ Ich lächle nur und sage nichts. „Du, ich muss jetzt Schluss machen. Danke, dass du dich gemeldet hast.“ „Selbstverständlich.“ „Ich bin froh, dass es dir besser geht. Kurier dich gut und werd bald gesund. Wir warten auf dich im Meido.“ „Danke, das freut mich. Ich werde mir Mühe geben. Dir viel Erfolg in der Uni.“ „Das kann ich brauchen. Also, bis dann.“ „Bis dann.“ Nachdem wir das Telefonat beendet haben, lasse ich mich rücklings aufs Bett fallen. Das Lächeln will mir nicht vom Gesicht weichen, während ich über das Gespräch nachdenke. Tomas Worte haben ein gutes Gefühl in mir hinterlassen. Ich fühle mich bestärkt. „Na dann werden wir mal schnell gesund!“ Beine voraus schwinge ich mich vom Bett. Ich fühle mich gut und bin hochmotiviert! … Wäre da nur nicht der Schwindel, der mir meinen Elan strafend quittiert. Ich taumle für kurz und stütze mich ab. Mein Atem geht stockend und schwer, ein Hustenschwall folgt. ‚Ruhig Blut, immer schön langsam‘, denke ich still. Jetzt bloß nichts überstürzen. Ich schaffe das! Kapitel 4: Eskorte vs. Leichtsinn --------------------------------- Bis zur Bahn war es noch gutgegangen. Ich habe Ukyo versichert, dass er mich nicht weiter begleiten muss, da es vom Bahnhof bis zum Meido wirklich nicht weit ist. Ich will nicht, dass man uns zu oft zusammen sieht – ihm zuliebe. Aber im Zug kehrte der Schwindel zurück. Ein Gefühl der Mattigkeit überkam mich, und obendrein zittere ich unter der Kälte. Glaube ich. Vielleicht hätte ich Tomas Angebot nicht ausschlagen sollen. Ich könnte jetzt gemütlich im Bett liegen und warten, dass sich alle Probleme von selbst lösen. Wie schön wäre das gewesen, aber nein, ich musste ja selbst losziehen. Tolle Kiste. Es kommt mir vor, als sei es schon besser, als ich den stickigen Wagon verlassen habe. Die kühle Winterluft fühlt sich herrlich erquickend an. Zu kalt zwar, als dass ich die Hände aus den Taschen nehmen will, dennoch angenehm. „Hey!“ Die laute Stimme lässt mich erschrocken zusammenfahren. Sie war nah gewesen, zu nah für meinen Geschmack. Ich drehe mich hastig herum und erkenne, dass es Shin ist, der auf halber Armlänge hinter mir steht. „Shin!“, stoße ich aus und japse nach Luft. Indem ich mir die Hand auf die Brust presse, versuche ich, mein ausschlagendes Herzklopfen zu besänftigen. „Mann, tu das nie wieder! Du hast mich halb zu Tode erschreckt.“ „Was machst du für einen Aufstand?“, wirft er mir vor und zieht die Augenbrauen tief. „Selbst schuld. Ich habe dich dreimal gerufen, aber du bist stur an mir vorbeigelaufen. Mach andere nicht für deine Dummdöseligkeit verantwortlich.“ „‘tschuldige. Ich habe dich nicht gehört.“ „Das habe ich mitbekommen, Trantüte.“ Ich schnaube verächtlich. Na toll, nun habe ich ausgerechnet Shin an der Backe. Das hat mir gerade noch gefehlt. Und sonderlich nett ist er auch nicht. Was habe ich anderes erwartet? „Darf man fragen, was du hier machst?“ „Wonach sieht es denn aus?“, patzt er zurück. Er geht an mir vorbei, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen. „Ich bin dein Begleitschutz, oder auch Babysitter für Leichtsinnige. Bedank dich bei Toma dafür. Machst du dir eigentlich gar keine Gedanken darüber, krank durch die Weltgeschichte zu spazieren? Leute wie du gehören ins Bett, schon mal davon gehört?“ „Entschuldige mal“, grolle ich und setze ihm langsam nach. „Ich weiß ja wohl noch am besten, wie viel ich mir zumuten kann. Ich würde nicht hier draußen herumstiefeln, wenn ich der Meinung wäre, es geht nicht.“ „Denkst du.“ „Weiß ich.“ „Ist mir egal.“ „Ganz toll, Shin“, werde ich ungehalten. Den Ärger habe ich gerade noch gebraucht. „Ehrlich. Habe ich dir irgendwas getan? Wieso machst du mir schon wieder Vorwürfe? Ich habe dich nicht herbeordert.“ „Tu dir einen Gefallen und spar dir den Atem.“ Ich beiße fest die Zähne aufeinander. Manchmal könnte ich ihn einfach …! „Könntest du bitte auch mal vernünftig mit mir reden?“ Shin kommt zu einem Stopp und dreht sich nach mir herum. Stumm mustert er mich einen Moment, bis seine Miene an Strenge gewinnt. „Statt zu reden, beeile dich ein bisschen. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“ Boah, dieser kleine …! „Seit wann renne ich dir hinterher?“, schnippe ich. „Rennen kann man das nicht nennen“, kommentiert er unbeeindruckt. „Schleichen trifft es eher. Selbst ein Rentner auf Krücken würde dich überholen.“ Ich verkneife mir, ihn daran zu erinnern, dass ich immer noch krank bin. Nein, dieses Eingeständnis will ich ihm nicht machen. Bei allem was recht ist, aber das ginge zu weit. „Wie wär’s, wenn du dich einfach umdrehst und vorgehst?“, brumme ich und wende den Blick zur Seite ab. Ich bin diese Diskussion einfach nur leid. „Oder wohin auch immer du wolltest. Ich komme schon allein zurecht, ob du es glaubst oder nicht.“ Ich sehe es nicht, spüre aber Shins eingehende Musterung auf mir ruhen. Schließlich dreht er sich ab und ich höre, wie er sich langsamen Schrittes entfernt. Die Reue meldet sich im selben Moment. War das jetzt wirklich nötig? Ich sollte in der Lage sein, Shins Sticheleien auszublenden und darüber zu stehen. Wieso also gelingt es mir nicht? Das Ganze ist so albern. Dabei hätte ich es schön gefunden, wenn wir zur Abwechslung friedlich miteinander ausgekommen wären. Ich will nicht immerzu streiten. Ich will ihm nachrufen, mich entschuldigen, tue es aber nicht. Ich bezweifle, dass es irgendetwas ändern würde. Mir fehlt die Kraft, um mich weiter vor ihm zu rechtfertigen und zu argumentieren. Ohne würde es nur leider nicht gehen, das weiß ich mit trauriger Gewissheit. Entmutigt trotte ich ihm nach. Meine Laune ist unter Kellerniveau gesunken und bedient sich an meinem Frust. Bitte, ist mir egal. Ich will nur so schnell es geht ankommen, meine Tasche schnappen und dann nichts wie nach Hause. Blöd, dass Shin und ich dieselbe Strecke haben. Ich will nicht auf seinen Rücken starren müssen, weswegen ich meinen Blick starr gen Pflaster gesenkt halte. Ich ignoriere alles um mich herum: die Passanten, die städtische Umgebung. Irgendwann holt mich ein kräftiger Ruck aus meinem tranceartigen Zustand, was mich aufschrecken lässt. Ich taumle zwei Schritte zur Seite, drehe mich ungelenk auf meinen Absätzen herum und fürchte für einen Schreckmoment, das Gleichgewicht zu verlieren. Zum Glück ist da dieser feste Halt an meinem Arm, der zwar dezent schmerzt, mich aber vor Schlimmerem bewahrt. „Bist du blind? Sieh nach vorn, Dummkopf!“, höre ich Shin mich schelten. Irritiert sehe ich mich um, bis ich die rote Ampel erkenne, vor der wir inmitten weiterer Passanten stehen. „Unglaublich“, rümpft er sich, wobei seine Hand von mir ablässt. „Du bist wirklich unglaublich. Willst du dich überfahren lassen? Wenn du nur vor dich hin träumst, hättest du zu Hause im Bett bleiben sollen.“ „Danke“, flüstere ich leise und wende den Blick ab. Ich bin beschämt, dass mir diese Unachtsamkeit unterlaufen ist. Das hätte mir nicht passieren dürfen. „Du hast recht, ich habe nicht aufgepasst. Tut mir leid.“ Stille kehrt zwischen uns ein, die mich im Unklaren lässt, was in Shin vorgeht. Ich wage nicht, zu ihm aufzusehen. Zu groß ist die Scham, die an mir nagt. „Sag mal“, spricht er nach einiger Zeit. „Was ich nicht verstehe: Wieso bist du vor die Tür gegangen? Du wirst wohl kaum in deinem Zustand arbeiten wollen.“ „Ich habe meine Tasche vergessen“, erwidere ich kleinlaut, nahezu flüsternd. „Und? Die wird auch noch da sein, wenn du wieder auf Arbeit kommst.“ „Ich weiß, aber es befinden sich wichtige Dinge darin. Ich kann nicht solange warten.“ Er schweigt einen Moment, wohl um über mein Gesagtes nachzudenken. „Hättest du sie dir nicht von jemandem bringen lassen können? Toma zum Beispiel. Der Kerl reißt sich darum, andere zu verhätscheln.“ „Ich weiß. Er hat es mir auch angeboten, aber ich wollte es niemandem aufhalsen. Ich dachte, das schaffe ich auch allein.“ Wieder wird es still zwischen uns. Als sich alle anderen um uns herum in Bewegung setzen, verharrt Shin weiterhin an meiner Seite. Fragend richte ich den Blick an ihn. „Brauchst du eine Einladung?“, höre ich ihn fragen. Ich bemerke mit Verwunderung, dass er mir seinen Arm entgegenhält. „Was genau wird das?“ „Wonach sieht es aus?“, gibt er ruhig zurück. Ich bin verwirrt, als ich in seinem Gesicht kein Anzeichen von Vorwurf erkenne. Im Gegenteil, fast wirkt sanft, wie er mich aus seinen stechend roten Augen besieht. „Los jetzt, es bleibt nicht ewig Grün. Zum Meido ist es kürzer als zu dir, oder nicht?“ „Schon, aber ich kann allein gehen.“ „Das haben wir gesehen.“ Ich seufze ergebend. Es nützt nichts. Eine weitere Diskussion ist zu ermüdend. Ich lasse jeden Widerstand fallen und hake mich bei ihm unter. Wir sprechen kein Wort, als wir gemeinsam im Strom die Straße überqueren. Ich will es mir nicht eingestehen, aber ich bin erleichtert. Ich freue mich sehr über diese kleine Geste des Waffenstillstands. Auch wenn es nur Shin ist – oder vielleicht gerade weil er es ist – empfinde ich im Augenblick ein Glücksgefühl, wie es mit Worten kaum zu beschreiben ist. Kapitel 5: Tadel vs. Einsicht ----------------------------- Ich bin erleichtert, als das »Meido no Hitsuji« in Sichtweite gerät. Es hat keine weiteren Vorfälle gegeben zwischen Shin und mir. Vermutlich war es das erste Mal, dass wir so lange friedlich miteinander ausgekommen sind. Naja, den Großteil zumindest. „Du solltest dich vorsehen.“ „Wovor?“ „Vor Waka-san“, erklärt er und prüft mich über die Schulter. „Du läufst ihm besser nicht über den Weg. Das Klügste wär‘, du wartest hier und ich hole die Tasche. Weißt du, wo sie ist?“ „Sie müsste in meinem Spind sein“, antworte ich zögerlich. Fragend lege ich den Kopf schief. „Wieso soll ich mich vor ihm in Acht nehmen?“ „Das willst du nicht erfahren. Glaub mir, ich tue dir damit einen Gefallen.“ Beunruhigend. Dabei hatte ich gehofft, im Pausenraum ein wenig verschnaufen zu können. „Warte hier und verhalte dich ruhig“, weist er mich an. „Na schön.“ Ich seufze geschlagen und drehe mich zur Seite ab, um mich gegen die Hauswand zu lehnen. Noch bevor ich sie erreiche, höre ich es poltern: „Soldaten, stillgestanden!“ Erschrocken verwurzle ich an Ort und Stelle und wende mich nach hinten um. Dort erkenne ich Shin, die Hand noch nicht in Reichweite der Klinke, und unseren Boss, der wenig erfreut in der Tür steht. Sein Blick ist grimmig hinter der schmalen Brille und jagt mir einen kühlen Schauer über den Rücken. „Shin“, spricht er laut und kühl, „du bist spät. Ich habe dein Eintreffen vor zehn Minuten erwartet. Bericht! Was hat dich aufgehalten?“ „Sie“, sagt er kurz und deutet mit dem Finger auf mich. Ich will mich hinter der nächsten Mülltonne verkriechen, doch Wakas Blick ist schneller. „Shizana“, adressiert er mich. Die Ruhe in seiner tiefen Stimme trifft mich wie ein Dolchstoß, extra eisgekühlt. Vorbei ist jede Aussicht auf Flucht. „Toma hat mich über dein Eintreffen unterrichtet. Was machst du hier? Du hast auf dem Schlachtfeld nichts verloren.“ „Ich“, setze ich an und muss mich räuspern, um das Kratzen aus meiner wispernden Stimme zu verdrängen. „Ich wollte meine Tasche holen.“ „Darüber bin ich im Bilde. Sie ist bei uns in gutem Gewahrsam. Es besteht kein Grund zur Sorge.“ „Meine wichtigen Dinge befinden sich darin“, erkläre ich rechtfertigend. „Mein Schlüssel und mein Portemonnaie. Ich komme nicht lange ohne diese Dinge aus.“ Stille kehrt ein und ich fühle mich unbehaglich. Von der Seite fange ich Shins vorwurfsvollen Blick auf, der mir sagt, dass ich es anders hätte haben können. Recht hat er, aber dafür ist es nun zu spät. „Ich verstehe“, bricht Waka das Schweigen und nickt. „Mutig von dir, trotz deines Zustands kein Raum für Schwäche zu lassen. Dennoch, ich kann diesen Leichtsinn nicht tolerieren. Shin, geh nach hinten dich umziehen. Ich werde ausnahmsweise von einer Bestrafung absehen, dafür, dass du Shizana sicher eskortiert hast.“ „Danke.“ „Gut gemacht.“ Die beiden schenken sich ein Nicken, schon zieht Shin an Waka vorbei ins Innere. Ich wäre ihm zu gern gefolgt, stattdessen … „Und du“, adressiert mich Waka erneut, was mich unwohl schlucken lässt. „Du wirst mich begleiten. Keine Widerrede.“ Gehorsam setze mich nach ihm in Bewegung und folge ihm anstandslos durch den erleuchteten Flur. Wir begegnen glücklicherweise keinem auf unseren Weg. In der Küche ist es ruhig, das Café noch geschlossen. Ich hoffe, dass ich verschwunden sein werde, bevor irgendeiner der anderen auf mich aufmerksam wird. Peinlichkeiten und Moralpredigten hatte ich zu Genüge.   „Setz dich“, lautet der Befehl, kaum dass wir in Wakas Büro angekommen sind. Unmissverständlich wird mir ein Stuhl gewiesen, auf den ich mich dankbar niederlasse. „Ich hole, wofür du hergekommen bist. Hat Toma dir nicht angeboten, die Auslieferung zu übernehmen?“ „Doch, schon“, gestehe ich verhalten. „Aber ich wollte ihm keine Umstände machen. Es ist nicht so, dass ich nicht laufen kann, und bis zum Meido war es nicht weit.“ „Das war verantwortungslos von dir“, werde ich getadelt. Im nächsten Moment steht Waka wieder vor mir und reicht mir die kleine schwarze Stoffhandtasche, die mit ihrem aufgestickten Pentagramm unverkennbar mir gehört. „Dein letzter Einsatz hat dich schwer verwundet. Ukyo musste extra beordert werden für deine Heimeskorte.“ „Ich weiß … Es tut mir leid wegen all der Umstände. Aber mir geht es wirklich besser.“ Er besieht mich für einen langen Moment, bevor seine Augen schmal werden. „Wirklich?“ Ich nicke trotz seines anzweifelnden Untertons. Es scheint ihn nicht zu überzeugen, denn er tritt näher an mich heran und beugt sich vor. „Du machst nicht den Anschein auf mich. Ich erkenne, wenn ein Krieger an seinem Limit steht.“ „Ich bin vielleicht erschöpft von dem Weg …“, knicke ich ein. Wakas Nähe bedrängt mich, ich sinke unwillkürlich weiter auf meinem Stuhl zusammen. Derweil beobachte ich, wie Waka sich den schwarzen Handschuh von seiner rechten Hand streift. Die Bewegung ist so vornehm, einem Butler würdig, dass es sie mich gänzlich in ihren Bann zieht. „Darf ich?“, vergewissert er sich, worauf ich wortlos nicke. Seine Finger fühlen sich angenehm kühl an, als sie unter mein Pony fahren und dort verweilen. „Erhöhte Temperatur“, lautet seine Diagnose, worauf er die Hand zurückzieht und sich in eine gerade Haltung begibt. „Du bist schwerer getroffen, als ich vermutet hätte. Du stehst unter Quarantäne und strenger Observation! Ich kann als dein Anführer nicht verantworten, dass sich dein Zustand weiter verschlechtert, solange du dich unter meiner Obhut befindest.“ „Ähm … so schlimm ist es nicht.“ „Keine Widerrede! Du bleibst hier, bis ich einen geeigneten Geleitschutz für dich gefunden habe. Das ist ein Befehl!“ Dagegen kann ich nichts erheben. Ich nicke nur und willige ein, als Waka mir anbietet, mir einen Tee zu bereiten. Darauf verschwindet er und ich atme erschöpft durch. Meine Schläfen hämmern wie ein Specht von beiden Seiten. Ich schreibe es Wakas lauter Stimme zu, dass ich mich so beladen fühle. Vielleicht ist es auch die Anstrengung von dem Weg, aber das kann eigentlich nicht sein. Die meiste Strecke bin ich gefahren und die paar Meter, die ich gelaufen bin … Habe ich mich so sehr überschätzt? „Wenn du noch etwas brauchst, sag es“, lässt Waka mich nach seiner Rückkehr wissen. Der Tee, den er vor mir auf dem niedrigen Kaffeetisch abstellt, duftet stark nach Kräutern. „Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Es ist meine oberste Pflicht, meinen Leuten in Zeiten des Kampfes beizustehen.“ „Ich fühle mich nicht so gut“, gestehe ich leise und drücke mir eine Hand gegen die pochende Stirn. Sie schwitzt und ist heiß. Dahinter dreht sich alles. „Ich würde mich gern hinlegen. Nur kurz. Geht das?“ Kapitel 6: Pflicht vs. Schuld ----------------------------- Um mich herum wird es laut. Müde schlage ich die Augen auf und blinzle gegen das helle Licht der Deckenbeleuchtung. Ich liege auf weichem Polster. Vor mir erkenne ich auf Kipp einen Raum mit Spinden. Ach ja, richtig. Ich bin noch immer im Meido; im Pausenraum, um genau zu sein. Waka hatte mich hierher gebracht, damit ich mich auf die Couch legen kann. Inzwischen geht es mir besser, glaube ich. Zumindest dreht es sich nicht in meinem Kopf, als ich mich etwas aufstütze. Ich bin nur müde und mir ist kalt, ein wenig. „Sieht so aus, als sei sie wach“, höre ich jemanden sagen. Der nüchterne, stoische Klang kommt mir bekannt vor. Kento, ohne Zweifel. „Geht es dir besser?“, fragt jemand anderes und ich sehe in ein Paar besorgter rehbraune Augen direkt vor mir. Sawa, erkenne ich bald, und setze mich auf. „Du bist so eine Idiotin, weißt du das? Herzukommen, obwohl du krank bist und Fieber hast. Hast du wenigstens deine Medizin dabei?“ Müde schüttle ich den Kopf. „Nein. Wie lange habe ich geschlafen?“ „Ich weiß nicht genau. Als ich vor zehn Minuten reinkam, lagst du schon da“, erklärt sie mir. „Wo ist Waka-san?“ „Vorne im Café“, antwortet mir Kento. Seine Schritte sind gemächlich, als er zu uns Mädchen herantritt. Ich muss den Kopf heben, um in sein gesenktes Gesicht blicken zu können. „Heute ist kein Butler anwesend, deswegen übernimmt er diese Position. Er wird nicht nach hinten kommen, um uns zu verabschieden.“ „Uns?“, frage ich irritiert zurück. „Wer ist »uns«?“ „Dich und mich. Ich fahre dich heim.“ „Langsam“, werfe ich ein, während ich mich richtig zur Seite aufsetze. „Bitte nochmal von vorne. Ich war eine Weile weggewesen, wie man gesehen hat, und habe ein paar Dinge nicht mitbekommen.“ „Waka-san hat Kento-san gebeten, dich nach Hause zu bringen“, erklärt Sawa an Kentos Stelle. Ich bin ihr dankbar dafür, aber diese Information wirft mich kurz aus der Bahn. „Wie jetzt? Ich komme auch allein nach Hause“, erhebe ich vorsichtig Widerspruch. „Ich habe mich nur kurz ausruhen müssen. Ich fahre mit der Bahn und laufe nur ein kurzes Stück. Du hättest nicht extra herkommen müssen, Kento, das tut mir leid.“ „Ich bin nicht deinetwegen hier“, entgegnet er trocken und sieht ungerührt zu mir herunter. „Ich hatte Erledigungen im »Meido no Hitsuji«. Der Boss hat mich aufgehalten, als ich aufbrechen wollte. Er hat gefragt, ob ich zu Fuß oder mit dem Auto unterwegs bin und mich anschließend beauftragt, dich bei dir zu Hause abzusetzen. Er mutet dir nicht zu, dass du den Weg allein schaffst.“ Argh, wie peinlich ist das denn bitte? Alle machen so einen Aufriss, nur weil ich krank bin. Gut, vielleicht bin ich nicht so fit wie sonst, aber das ist übertrieben. Wäre ich nur besser zu Hause geblieben. „Das ist lieb von dir, aber das muss wirklich nicht sein“, protestiere ich lächelnd. Ich will nicht, dass man mir die Beschämung und Verärgerung über mich selbst anmerkt. „Stell dich nicht so an“, wirft Sawa mir vor und lehnt sich kritisch zu mir hinunter. „Was ist denn dabei? Jeder kann sehen, dass es dir nicht gut geht. Ich würde dich auch nicht allein irgendwohin gehen lassen, wenn es meine Entscheidung wäre. Lass dich doch einfach von ihm nach Hause fahren und leg dich zurück ins Bett.“ „Ihr übertreibt alle“, murmle ich leise, unwillig. Sawas Gesicht wird streng. „Tun wir nicht. Wann hast du zuletzt deine Medizin genommen?“ „Ich weiß nicht genau“, zögere ich und versuche nachzudenken. „Heute Morgen gegen acht, glaube ich.“ „Bist du wahnsinnig?!“, scheltet sie mich. Ich glaube, so wütend habe ich sie noch nie erlebt. „Wir haben es inzwischen nach halb drei! Du wirst dich jetzt von Kento-san nach Hause fahren lassen, nimmst deine Medizin, legst dich hin und ruhst dich aus. Keine Widerrede!“ „Aber …“ „Lässt sich nichts machen“, wirft Kento unbetroffen ein. „Wenn sie der Überzeugung ist, dass sie keine Hilfe braucht –“ „Doch, tut sie! Keine Aber, auch von dir nicht, Kento-san!“ Wir beide, sowohl Kento als auch ich, sehen sie aus überraschten Augen an. Ich kann mich nicht entsinnen, Sawa je so bevormundend erlebt zu haben. Einerseits rührt es mich, auf der anderen … nein, eigentlich wollte ich sie nicht zu dieser Haltung provozieren. „Du wirst dich nach Hause bringen lassen. Und du wirst sie nach Hause bringen. Ihr wollt doch sicher nicht, dass ich Ikki-san erzähle, dass ihr euch wie verantwortungslose Kindsköpfe verhalten habt?“   Gegen Sawa gab es kein Diskutieren. Ich wusste ja, dass sie recht hat. Und nicht nur sie, auch Waka, Shin und Toma. Ich gebe inzwischen auch zu, dass ich mich überschätzt habe, aber … „Tut mir leid, dass du jetzt wegen mir diesen Aufwand hast.“ „Nicht der Rede wert“, kommentiert Kento von der Seite, gänzlich auf die Straße fixiert. Ich bin beruhigt, dass er so aufmerksam und konzentriert ist. Es hat keine fünf Minuten gedauert, dass ich mich als Beifahrer neben ihm sicher fühle. „Ich habe mich bereiterklärt zu helfen. Zumal Ikkyu nicht erfreut gewesen wäre, wenn er erfährt, dass ich dich in deinem Zustand allein durch die Straßen gehen lassen habe.“ „Sofern er es erfahren hätte.“ „Hätte er“, meint er überzeugt. „Ich hätte es ihm erzählt.“ „Wieso würdest du das tun?“ „Ikkyu hätte früher oder später angefangen, über dich zu reden. Wir wären zwangsweise auf das Thema zu sprechen gekommen. Wieso sollte ich ihm nicht sagen, dass du im Meido zugegen warst und jemanden gebraucht hast, der dich sicher nach Hause bringt?“ „Lügen ist wirklich nicht gerade deine Stärke.“ „Ich sehe keinen Sinn darin zu lügen. Zu welchem Zweck sollte ich das tun?“ „Schon gut“, sage ich und entlasse ein Seufzen. Müde sinke ich tiefer in das weiche Leder meines Sitzes und lasse den Blick leer nach draußen schweifen. Der Gedanke an Ikki lässt meine Wangen kribbeln. Ich will nicht weiter über Kentos Aussage nachdenken, dass sie über mich sprechen. Da ist nichts dabei. Jeder tauscht sich über die Ereignisse des Tages aus, inklusive anderer Leute. Das hat rein gar nichts zu bedeuten, alles ganz normal. Und dennoch … verdammt! „Danke.“ „Wie ich schon sagte: Nicht der Rede wert.“   Die Fahrt dauert keine halbe Stunde, bis ich die Straße erkenne, in der ich gemeinsam mit Ukyo wohne. Vor dem Wohnblock halten wir am Straßenrand und Kento schaltet den Motor aus. „Bleib sitzen. Ich helfe dir raus.“ Ich warte brav, bis Kento aus seinem Sitz gestiegen und auf meine Seite gewechselt ist. Still staune ich, woher diese Initiative rührt. Ist sie nicht recht unüblich an ihm? Sehe ich wirklich so schlecht aus, dass man mir jede Zurechnungsfähigkeit anzweifelt? „Du übertreibst“, brumme ich leise, während ich mir aus dem Sitz helfen lasse. Das Ganze ist mir so dermaßen peinlich, dass ich mich erneut ärgere, nicht einfach zu Hause geblieben zu sein. Einen tollen Eindruck mache ich auf jene, die ich einst so sehr bewundert habe. Und es wird noch schlimmer. In meiner Duseligkeit trete ich daneben und rutsche an der schrägen Bordsteinkante ab. Zu meiner Rettung fangen mich zwei starke Arme und ziehen mich sicher nach oben. Mein Herz rast vor Schreck, gleichzeitig spüre ich anhand des kühlen Leders an meiner Haut, wie erhitzt meine Wangen sind. „Pass auf“, höre ich Kento über mir sagen. Er klingt nicht sonderlich berührt von dem, was hier gerade passiert ist. „Bist du verletzt?“ „Nein, alles gut. Danke“, fiepse ich heiser und drücke mich von seiner Brust weg. Gott, wie peinlich. Ich bin so ein Dussel, so ein Idiot! Argh, ich will am liebsten im Boden versinken. „Soll ich dich noch bis zu deiner Tür bringen?“ Ich schüttle den Kopf. „Nein, das brauchst du nicht.“ „Sicher?“ „Ja.“ Ich ringe um ein Lächeln, als ich zu ihm hochsehe. „Ganz sicher. Du hast schon genug getan. Danke.“ „Wenn du meinst. Dann werde ich warten, bis du im Haus bist.“ Dagegen kann ich schlecht etwas sagen. Ich bedanke mich erneut und entschuldige mich für die entstandenen Umstände. Als ich mich anschließend herumdrehe, gefriere ich binnen eines Augenblicks. Dort, unweit vom Hauseingang entfernt, steht eine Person auf dem Grundstück. Sie sieht direkt zu uns. Und was noch viel schlimmer ist: gerade jetzt setzt sie sich in Bewegung. Zielgerichtet auf mich zu. „Luka?“, frage ich überrascht. Im gleichen Moment wird mir bewusst, dass dies ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt für ein Zusammentreffen ist. „Was machst du hier? Mit dir habe ich nicht gerechnet.“ „Wärst du so gut, mir die Situation zu erklären?“ Ich schlucke ertappt. Oh, Mist! Kapitel 7: Wehr vs. Anspruch ---------------------------- Luka ist pissed, so richtig. Zumindest glaube ich das. Der strenge Ausdruck auf seinem Gesicht lässt nichts Gutes vermuten. Ganz schlechter Zeitpunkt! „Wer ist das?“, fragt er frostig und nickt vielsagend in Kentos Richtung. „Kennst du ihn?“ „Das ist Kento, mein Arbeitskollege“, erkläre ich schnell. Eingeschüchtert sehe ich zwischen den beiden Männern hin und her. „Er hat mich nach Hause gefahren, weil es mir nicht so gut ging“, setze ich nach. Ich weiß nicht, was mir mehr Unbehagen bereitet: Lukas niederringender Blick, der Kento gilt, oder Kentos ungerührte Haltung zu der Sache, was ihn fast arrogant wirken lässt. Der Fakt, dass Luka an meine Seite tritt und einnehmend den Arm um meine Schulter legt, macht es jedenfalls nicht besser. „Hm, seltsam“, murrt er und zieht mich näher an sich. „Ich erinnere mich an niemanden mit diesem Gesicht. Und man sollte annehmen, dass ich das Arbeitsumfeld meiner Freundin kenne.“ Das Wort Freundin betont er mit Absicht. Es bewirkt, dass ich auf Mausgröße zusammenschrumpfe, innerlich zumindest. Auf Kento schindet es keinen Eindruck. Nicht sichtlich. „Ich arbeite die meiste Zeit in der Küche“, erklärt Kento, gewogen in der Stimme wie immer. „Ich bezweifle nicht, dass man mein Gesicht nicht kennt. Dasselbe gilt allerdings nicht umgekehrt. Du bist Shizanas Freund, nehme ich an?“ „Der bin ich“, sagt Luka fest. Könnten Blicke töten, wäre Kento längst zu Stein erstarrt. „Freut mich. Nun, da es die Gelegenheit ergibt, möchtest du sie vielleicht ab hier übernehmen. Ich habe meine Dinglichkeit getan.“ „Das werde ich, mit Verlass.“ „Gut. Nun denn, ich empfehle mich.“ Kento verneigt sich knapp, schon dreht er sich herum und verschwindet in seinem Auto. Keine zehn Sekunden später erklingt der Motor und ich sehe dem silbernen Kombi mit gemischten Gefühlen nach. „Dir geht es nicht gut?“, holt mich Lukas Stimme ins Hier zurück. Sie klingt sanfter als zuvor, dennoch erschrecke ich. „Naja“, beginne ich stammelnd. Eigentlich will ich Luka nichts von meinem Zustand beichten, jedoch befürchte ich, dass er vorher keine Ruhe geben wird. Zumal, wenn ich den anderen Glauben schenken darf, findet er es eh heraus, wenn er nur richtig hinsieht. „Ich bin etwas angeschlagen. Habe Fieber seit gestern, aber es ist schon besser geworden. Waka-san wollte mich dennoch nicht allein nach Hause gehen lassen, deswegen hat Kento mich gefahren.“ „Du hast Fieber?“ Ehe ich mich versehe, hat Luka mich an den Schultern zu sich gedreht und zwingt mich, ihn anzusehen. Seine Hände sind forschend, als sie sich erst auf meine Wangen, dann unter mein Pony legen. „Du glühst ja! Wieso bist du in solch einem Zustand draußen unterwegs? Wieso hast du mir nichts gesagt?“ „Weil –“ Zu einer Antwort komme ich nicht. Mir entfleucht ein kurzer Schrecklaut, als mir die Beine entrissen werden und ich mich in Lukas Armen wiederfinde. Aus Reflex lege ich beide Arme um seinen Hals, noch bevor ich richtig realisiere habe, was hier passiert. „Luka!“, fluche ich und beginne mich zu winden. „Lass mich runter, ich bin schwer! Lass mich bitte runter!“ „Wo ist dein Schlüssel?“ „Luka, ich meine es ernst. Lass mich runter, sofort!“ „Aber …“ Am Ende gewinnt mein Zetern und Trampeln und ich spüre wieder festen Boden unter den Füßen. Erleichtert atme ich aus, bevor ich vorwurfsvoll zu Luka sehe. „Tu das bitte nie wieder“, mahne ich, die Wangen heiß vor Scham. Ich gehe fest davon aus, dass es deswegen ist. „Ich mag das nicht. Ich bin kein Fliegengewicht, weißt du?“ „Ich wollte dich nur sicher ins Haus bringen.“ „Ich weiß, aber trotzdem. Ihr tut ja alle geradeso, als könnte ich jeden Moment umkippen.“ Ich stöhne verzweifelt. „Erlaube mir wenigstens, dich zu begleiten“, beharrt er und besieht mich eindringlich. „Ich will dich sicher zu Hause wissen. Vielleicht kann ich noch etwas für dich tun oder etwas bringen, das du brauchst.“ „Luka, das ist lieb von dir, aber du –“ „Bitte!“, fährt er mir ins Wort. Ein Blick in seine Augen genügt, um mich zu entwaffnen. „Ich bin dein Freund. Ich will in der Lage sein, etwas für meine Freundin tun zu können, wenn es ihr schlecht geht. Gib mir diese Chance!“ Uhm, was soll ich dazu sagen? Dieser Kerl weiß, wie er einen kriegt. „… Du übertreibst.“   Ich lasse mich in die Wohnung ein. Flüchtig versichere ich mich, ob Ukyo da ist oder nicht, ehe ich Luka in die Wohnung einlasse. Seine Jacke und die Mütze fehlen an der Garderobe, seine Schuhe ebenfalls. Auch das kleinere Paar Kinderschuhe fehlt, was mich stutzig macht. Ist wirklich niemand zu Hause? „Komm rein“, sage ich knapp und halte die Tür hinter mir auf. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder zerknirscht bin, versuche mir aber nichts von beidem anmerken zu lassen. Luka tritt an mir vorbei in den kurzen Flur, sieht sich kurz um, bevor er sich mir zuwendet. „Ich nehme dir den Mantel ab.“ „Schon okay“, will ich verneinen, doch ein fester Blick von ihm genügt, dass ich ihn gewähren lasse. Ich führe ihn anschließend ins Wohnzimmer und zeige die Küche. „Wo ist dein Zimmer?“, möchte er wissen. Verstohlen schiele ich in Richtung zutreffender Tür. „Da hinten, aber das tut nichts zur Sache.“ „Ich möchte, dass du dich hinlegst“, kommandiert er strikt. „Und ausruhst.“ „Gewiss nicht, solange ich Besuch habe“, protestiere ich stur. Allein der Gedanke, kränklich im Bett zu liegen, während Luka in der Wohnung tollt … Nein, das kommt absolut nicht infrage! „Du bist krank“, wirft er vor und tritt auf mich zu. Ich zucke im Reflex zusammen, als er die Hände hebt und sacht auf meine Wangen legt. „Sieh dich doch an“, spricht er eindringlich, fast flüsternd. „Du bist erschöpft. Du brauchst Ruhe.“ „Ich will mich nicht hinlegen, solange jemand hier ist“, widerspreche ich weiter. Dass ich mit »jemand« gezielt ihn meine, verheimliche ich. „Ich ruhe mich aus, sobald ich allein bin.“ „Ich gehe erst, wenn ich sicher weiß, dass meine Freundin gut aufgehoben ist. Und zwar aus erster Hand“, betont er ruhig. Ich schlucke unbewusst. Sein Blick haftet eisern an meinem. In mir schleicht die Erkenntnis empor, dass wir so nicht weiterkommen werden. „Dann befinden wir uns in einem Teufelskreis“, spreche ich leise. Es klingt leider nicht so standhaft, wie ich es gern gewollt hätte. „Ich kann sehr stur sein“, raunt er warnend. „Ich auch … aber nicht in diesem Zustand. Hab doch wenigstens einmal Nachsicht mit mir.“ „Sag mir, was du brauchst“, übergeht er mein Flehen, „und wo ich es finde. Ich bringe es dir. Derweil zieh dich um und leg dich hin. Ich bin dann gleich bei dir.“ Jeder Widerstand nützt nichts, Luka lässt keine Argumente zu. In weniger als fünf Minuten gehen mir alle Möglichkeiten aus und mir bleibt keine Wahl, als mich zu fügen. Missmutig trotte ich in mein Zimmer, verschließe die Tür und wechsle die Kleider. Ich merke erst, wie erschöpft ich bin, als ich die weichen Polster unter meinem Rücken spüre und die Decke sehnsüchtig über mich ziehe. Müdigkeit umfängt mich, ich will schlafen. „Hier“, höre ich Lukas Stimme wenig später, wie in weiter Ferne, „deine Medizin. Komm, ich helfe dir beim Aufsetzen. Mach langsam.“ Mein Zustand ist schwammig, als ich mich mit Lukas Hilfe zu erheben versuche. Schwach und zittrig nehme ich die Medikamente entgegen, die längst überfällig sind. Das kühle Wasser fühlt sich herrlich erfrischend an, ich kippe zwei Gläser davon hinter. „Sehr gut. Jetzt langsam …“, assistiert mir Luka beim Liegen, wobei er beruhigend spricht. Er legt mir irgendetwas Kühles auf die Stirn und streicht mir einmal behutsam über den Kopf. „Kann ich noch etwas tun? Möchtest du, dass ich dir etwas vorlese? Oder soll ich einfach nur reden?“ Ich schüttle den Kopf. „Erzähl mir irgendwas.“ „In Ordnung. Was möchtest du gern hören?“ Ich überlege einen Moment. „Erzähl mir vom Anfang. Erzähl mir, wie wir uns kennengelernt haben.“ Er schaut verwundert. „Aber die Geschichte kennst du doch. Du warst selbst dabei, und wir haben schon so oft darüber gesprochen.“ „Du hast recht.“ Zu dumm, aber ich kann nichts entgegnen. Angestrengt suche ich nach einer Alternative. „Dann erzähl mir etwas zu deinen Bildern. Die Elfen, wie sieht ihre Welt aus? Wie leben sie?“ „Ich hätte sie dir noch einmal erzählt“, flüstert er zärtlich. Seine Finger streichen liebkosend über meine erhitzten Wangen. „Die Geschichte, wie ich mein Herz an ein Mädchen verlor, das mit mir eine Seele teilt. Aber wenn du es wünschst, erzähle ich dir von den Elfen und wie ihre Geschichte im Zauberwald weitergeht. Schließ deine Augen und folge meiner Stimme.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)