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Countless

... wounds
von

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Larva

 

Soubi hatte den Kopf so weit zur Tischplatte hinabgebeugt, dass sich die langen Strähnen seiner Haare wie ein Vorhang um den Zettel schlossen, der vor ihm lag. Der Stift zwischen seinen Fingern glitt in Zeitlupe über das brüchige Papier und schrieb mühsam Buchstabe um Buchstabe auf. In seiner schönsten Schrift, genau so, wie man es ihm aufgetragen hatte.

Diese ganzen Worte und Zahlen ergaben keinen Sinn. Nicht für ihn. Längengrade, Breitengrade, Namen auf Latein, die er nicht verstand. Was wollte Ritsu damit? Warum war er es, der das alles auf diese kleine Etiketten schreiben musste? Und weshalb waren diese Etiketten überhaupt so klein?

Soubis Kopf neigte sich noch ein Stück weiter in Richtung Tischplatte. Seine Katzenohren sanken ermattet mit. Ihm war langweilig und seine Hand schmerzte vom konzentrierten Schreiben der winzigen Buchstaben auf nicht weniger winzige Zettel. Draußen schien die Sonne und er saß hier in seinem Zimmer und schrieb sich die Finger wund. Seit zwei Tagen war Soubi schon dabei, die Zettel in Ritsus Auftrag zu beschriften, und die Liste mit den Namen und Angaben, die ihm Ritsu gegeben hatte, wurde einfach nicht kürzer. Im Gegenteil. Sie schien magisch immer wieder länger zu werden, sobald er sicher war, eine ganze Menge davon geschafft zu haben.

Seufzend stieß Soubi die Luft aus und teilte damit die Haare vor seinem Gesicht, so dass sich für einen Sekundenbruchteil ein magerer Sonnenstrahl auf die bleichen Wangen des Jungen stehlen konnte. Wenn er nicht bald etwas anderes zu tun bekam, schlief er hier am Tisch ein. Schon wieder.

"Eury-" Ein flinker Blick zur Liste. "Eurytides Protasileus-"

"Protesilaus!"

Soubi fuhr erschrocken auf. Die Spitze des Stiftes kratzte über das Papier und hinterließ einen schwarzen Strich durch das bereits Geschriebene hindurch. Zweihundert Jahre. In zweihundert Jahren ungefähr war er hier fertig.

Ritsu hatte unbemerkt sein Zimmer betreten und stand nun vor Soubis Tisch; den strengen Blick auf Soubi geheftet, der unter der Schwere dieses Moments ein wenig auf seinem Stuhl zusammensank.

"Die hier sind auch alle fehlerhaft." Ritsu schob einen kleinen Stapel bereits beschrifteter Etiketten über den Tisch zu Soubi hin, dessen resignierter Gesichtsausdruck sich der Erkenntnis, auch in zweihundert Jahren nicht mit seiner Arbeit voran gekommen zu sein, anpasste.

"Schreib sie neu." Ungeachtet der düster zusammengezogenen Augenbrauen seines Schülers, wandte sich Ritsu von Soubi ab, der die kleinen Zettel vor sich mit Abscheu ansah.

Das verhaltene Wofür, das ihm durch das ansonsten stille Zimmer folgte, ließ Ritsu mitten im Weggehen anhalten. Es war nicht der Widerspruch, der ihn wie angewurzelt stehen bleiben ließ; die Verweigerung. Es war der resignierte Tonfall, der Ritsu innehalten und sich wieder umdrehen ließ. Der Zweifel darin, dass man etwas Unsinniges verlangt hatte. Dass das, was Ritsu in Auftrag gegeben hatte, ohne Substanz war. Wertlos.

Soubi verfluchte die Sekunde, in der sich sein Hirn von seinem Verstand verabschiedet und die Frage nach dem Wofür aus ihm herausgesprudelt war. Ritsus verkniffene Mundwinkel entspannten sich einen Moment.

"Steh auf und komm mit", zischte Ritsu ohne weitere Erklärung und Soubi erhob sich bereits von seinem Platz, kaum dass sein Lehrer die beiden Worte ausgesprochen hatte.

 

 

Ritsus Schweigen, während sie dem sorgfältig geharkten Weg durch den Garten folgten, der weitläufig das Schulgebäude einschloss, nagte mit jedem Schritt an Soubi. Links und rechts von ihnen säumten knorrige Bäume den Weg. Einige standen in voller Blüte und verströmten dabei einen betörend süßen Duft, dem aber weder Ritsu noch Soubi Beachtung schenkten.

Soubi hatte seine Hände fest zu Fäusten geballt, damit sie nicht mehr so zitterten. Vielleicht hätte er sich das Wofür verkneifen sollen. Nein, nicht vielleicht – Soubi biss sich auf die Unterlippe. Ganz bestimmt hätte er sich das Wofür verkneifen sollen. Die Bestätigung lief vor ihm durch den Garten der Schule und dachte nicht im Geringsten daran, dem armen Tropf hinter sich endlich zu sagen, zu welchem Zweck sie hier waren. Und die Tatsache, dass Ritsu seine forsche Gangart verlangsamte, sobald er bemerkte, dass sein Schüler immer weiter hinter ihm zurückblieb, ließ alle Hoffnung schwinden, einfach nur den passenden Augenblick erwischen zu können, um sich bei Ritsu zu entschuldigen und damit alles wieder in Ordnung zu bringen.

Im weitesten vom Schulgebäude entfernten Teil des Gartens blieb Ritsu schließlich stehen.

Soubi ließ seine Blicke zögerlich über seine Umgebung schweifen. Die Bäume und Sträucher hier wuchsen so dicht, dass man kaum erkennen konnte, was dahinter lag. Grüne Wände schlossen sie ein, kaum dass sie ein paar Schritte abseits des Weges standen. Die Äste der Sträucher um sie herum waren mit üppigen Blüten gesäumt, so dass sie sich unter deren unglaublichen Anzahl weit zu Boden neigten. Der schwere Duft, der Soubi von allen Seiten einschloss, erzeugte schon nach kurzer Zeit ein schwindeliges Gefühl hinter seiner Stirn. Er wusste nicht, ob er weiter hier stehenbleiben wollte, um die ätherische Atmosphäre auf sich einströmen zu lassen, oder ob er sich umdrehen und ungeachtet was Ritsu sagen oder tun würde, wieder zurück in den übersichtlicheren Teil des Gartens gehen sollte.

"Wir sind gleich da", unterbrach Ritsus Stimme Soubis hin und hergerissene Gedanken. Er hob einen Ast mit dicken lilafarbenen Blütenwolken an und bedeutete Soubi, darunter hindurch zu gehen.

Mit leisem Rascheln sank der Ast hinter Ritsu zurück in seine ursprüngliche Position. Winzige lila Blütenblätter taumelten wie Schneeflocken zu Boden.

 

Soubi stand wie angewurzelt in dem neuen Areal des Gartens, das sich jetzt vor ihm erstreckte.

Die Pflanzen wuchsen nicht mehr so dicht beieinander, wie in dem Teil davor. Hier und da standen sie in kleinen Gruppen, aber insgesamt waren sie besser verteilt und bildeten kein grünes Dach. Er konnte sogar den Himmel wieder sehen und auch der Duft der blühenden Bäume verflüchtigte sich besser, so dass der Schwindel nach einigem Durchatmen langsam wieder nachließ.

"Dafür." Ritsu stand still neben Soubi. "Dafür solltest du die Zettel beschriften", fügte er auf die ausbleibende Reaktion seines Schülers hinzu.

Soubis Blicke folgten Ritsus ausgestreckter Hand, die auf die Sträucher im Zentrum wies. Neugierig setzte er sich in Bewegung, bis er dicht vor den Sträuchern stand. Sie wirkten so normal, wie alle anderen Sträucher, die Soubi bisher gesehen hatte. Sie waren grün. Nichts besonderes. Bis auf- Soubi blinzelte irritiert und machte einen kleinen Schritt weiter hin zu dem Strauch, vor dem er stand. Bis auf die seltsamen Blütenknospen, die manche Äste zierten, führte Soubi seinen begonnenen Gedanken fort. Schillernd grüne, etwa Daumenlange Knospen hingen da wie Perlen aufgeschnürt an einer Kette. Solche Knospen hatte Soubi noch nie gesehen.

"Das sind Puppen", beantwortete Ritsu Soubis Frage, noch ehe der sie hatte stellen können.

"Puppen", wiederholte Soubi mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ratlosigkeit.

"Schmetterlingspuppen, um genau zu sein." Ritsu stand nun dicht neben Soubi, der in die Hocke gegangen war, um die schimmernden Hüllen besser sehen zu können. Es waren verschiedene Puppen, das sah selbst Soubi. Einige waren rundlich glatt geformt, während andere abgeflachte Seiten hatten. Die Puppen mit den flachen Außenseiten hatten winzige Spitzen, die wie Hörner wirkten.

Soubi konnte es sich nicht verkneifen und tippte mit der Fingerspitze vorsichtig eine Puppe an. Das scheinbar starre Gebilde begann sich augenblicklich zu schütteln. Soubi schrak zurück und stieß dabei gegen Ritsu. Erschrocken sah er zu seinem Lehrer hinauf, dessen sonst so beherrschte Mundwinkel nun ein leichtes Lächeln zierten.

"Dachtest du, die seien leer?" Ritsu wandte sich von dem Strauch ab und schlenderte zu einem anderen hin.

Die Puppe zitterte noch immer leicht. An der einen Spitze war sie mit einem seidig dünnen Faden am Ast befestigt, wie Soubi nun sehen konnte. Doch so dünn der Faden auch war, der die Puppe hielt, er riss nicht unter der Erschütterung.

"Ich dachte, sie schlafen."

"Tun sie auch, aber trotzdem passen sie auf, was um sie herum geschieht." Ritsu wartete, bis Soubi bei ihm stand und nickte dann zu dem Strauch vor sich hin.

 

 

Die Blätter des Strauchs waren voller kleiner grün-schwarzer Raupen. Die meisten davon fraßen sich durch die sattgrünen Blätter, während andere geschäftig die Äste auf und ab krochen. Ein paar besonders große und fette Exemplare lagen träge auf den längsten Blättern.

"In ein paar Tagen sehen sie so aus." Ritsu hob ein Blatt an. Zwischen Stielansatz und Ast hing eine bräunliche Puppe. "Weißt du, was im Inneren der Puppe passiert, wenn sie ruhen?"

Soubi schüttelte langsam den Kopf. "Ihnen wachsen Flügel?"

"Nicht nur." Ritsu ließ das Blatt sinken. Er sah Soubi nachdenklich an. Soubis Katzenohren waren aufmerksam zu Ritsu gedreht. "Fast alles, was einmal die Larve ausgemacht hat, verändert sich. Sie löst sich auf, ordnet sich neu an, bis irgendwann dann ein völlig anderes Wesen aus der Hülle schlüpft. Die Puppe häutet sich – sie wird erwachsen."

Soubi konnte sich kaum vorstellen, was in der kleinen Hülle vor sich gehen sollte. Ein völlig anderes Wesen? Nur weil es erwachsen wurde?

"Zweimal geboren werden, zwei neue Anfänge. Kein schlimmer Gedanke, oder, Soubi?"

So weit er wusste, taten Geburten meistens weh.

"Wer sagt, dass es dem Tierchen Schmerzen bereitet?" Ritsu musste an Soubis bestürztem Gesichtsausdruck seine Gedanken abgelesen haben. "Es bekommt eine neue Chance, ein Leben als anderes Ich zu leben. Vielleicht freut es sich ja darauf und vergisst den Schmerz darüber – wenn es überhaupt welchen fühlen kann. Findest du das so furchtbar?"

Soubi sah zu den Raupen hin, die vermutlich noch keine Ahnung von ihrem baldigen Schicksal hatten.

"Könntest du mir einen Gefallen tun?"

Soubi hob den Kopf. Ritsu rückte seine Brille etwas gerade, doch seine Blicke gingen an dem aufmerksam lauschenden Jungen vorbei hinauf zum Himmel.

"Ich habe im Moment nicht viel Zeit. Wenn du möchtest, könntest du ein bisschen auf die Raupen und Puppen acht geben." Ritsus umherschweifende Blicke blieben schließlich an Soubi hängen. "Nur etwas aufpassen, dass die Vögel hier nicht zu frech werden und die ganzen Tierchen fressen. Würdest du das tun?"

"Ja, sehr gerne", stieß Soubi fast atemlos hervor. Ritsu bat ihn um etwas, was mit Sicherheit interessanter und lehrreicher war, als das, was hier meistens von ihm verlangt worden war. Da musste er nicht lange überlegen.

"Danke, Soubi." Ritsu lächelte amüsiert über die schnelle Einwilligung. "Es wäre ja schade um die ganzen Etiketten, die du schon beschriftet hast", waren die letzten Worte, die er an Soubi richtete, ehe er sich zum Gehen umwandte.

Chrysalis

Die Vögel wurden nach einer Weile tatsächlich weniger frech, sobald sie Soubi im Garten erspähten. Selbst wenn sie ihn nur schon von Weitem sahen, wie er den Weg entlang ging, machten sie bereits einen großen Bogen um den Teil des Gartens, in dem die Raupen lebten. So viele von den Tierchen hatten sich mittlerweile ungestört verpuppt, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis diejenigen endlich schlüpften, die Soubi bei seinem ersten Besuch hier schon als Puppen gesehen hatte.

Ritsu hatte ihm nicht verraten wollen, welche Schmetterlingsarten er besaß. Soubi solle sich überraschen lassen, hatte er knapp geantwortet.

Seitdem besuchte Soubi die Puppen fast täglich. Er konnte mittlerweile die unterschiedlichen Stadien der Metamorphose unterscheiden, welche die Raupen durchmachten. Je weiter die Verpuppung vorangeschritten war, umso mehr glich das grünschillernde Gebilde einem trockenen verwelkten Blatt. Bei manchen ließ sich sogar schon etwas Farbe unter der papierdünnen Oberfläche der Puppe erahnen.

Ein paar Mal noch hatte Soubi die Puppen aus Neugierde angestoßen, um zu sehen, wie sie sich zitternd gegen den vermeintlichen Feind wehren wollten, aber damit hatte er aufgehört, als ihm bewusst wurde, wie weich die Chrysalis tatsächlich war, die das schlummernde Tier umschloss, und dass ihn Ritsu dafür verantwortlich machen würde, wenn etwas während der Entwicklung der Schmetterlinge schief gehen sollte. Es reichte auch, wenn man sie anpustete. Das ließ die kleinen Kerlchen genauso wütend wackeln.

Soubi lachte leise vor sich hin.

Er saß im Schneidersitz unter dem grünen Dach des in voller Blüte stehenden Geißblatts, das sich um die verwitterte Statue eines trauernden Engels rankte, der sein Gesicht mit seinen Händen bedeckte. Das hieß, er hätte sein Gesicht mit den Händen bedeckt, wenn er noch ein Gesicht – oder auch nur einen Kopf – besessen hätte.

Noch einmal pustete Soubi die Puppe an, die nur wenige Zentimeter vor seiner Nase an einem Ast hing, und sich auch gleich wie wild zu schütteln begann.

Nach einigen Sekunden hielt sie normalerweise wieder still, was diese hier nicht tat. Die Puppe zuckte weiter, obwohl Soubi jetzt sogar die Luft anhielt, um sie auch ja nicht mehr zu reizen. Doch sie wollte nicht aufhören. Die Puppe plusterte sich rhythmisch auf und fiel wieder zusammen. Immer und immer wieder. Eine ganze Weile ging das so und Soubi bekam es langsam mit der Angst zu tun. Hoffentlich hatte er das Tier nicht zu sehr gereizt. Ritsu würde ihm den Kopf abreißen und ihn neben den Engel in den Garten verbannen. Mindestens.

Und dann geschah das, worauf Soubi seit Tagen gewartet hatte und was ihn nun doch völlig überrumpelte. Die Puppe brach auf. Zuerst war es nur ein kleiner Riss an einer der Seiten. Doch je mehr Bewegung im Inneren stattfand, umso länger und breiter wurde der Riss, der sich bald schon von einem Ende der Hülle zum anderen zog. Mit scheinbar letzter Kraft bäumte sich die Puppe auf und brach völlig auseinander.
 

Aus der Puppenhülle kam etwas zum Vorschein, das kaum Ähnlichkeit mit einem Schmetterling hatte – eher noch mit einer Motte. Zuerst sah man zwei lange Antennen, die suchend umher tasteten. Auf sie folgte ein Paar dünner Beine, das erst nach Halt suchte, bevor die restlichen mit vorsichtigen Schritten nachkamen. Das war ein Schmetterling?! Ein verklebtes, haariges Tierchen, das zitternd auf staksigen Beinchen stand. Die angeblich so prachtvollen Flügel lagen wie ein zerknitterter Mantel um seinen Oberkörper.

Soubi stieß erleichtert die Luft aus und vergaß, dass sein Atem die Wirkung eines Orkans auf das filigrane Tier hatte, dessen Flügel noch nicht entfaltet waren und das nun ein paar Zentimeter empor gewirbelt wurde, ehe es Richtung Boden fiel.

Beinahe hätte Soubi das hilflos zur Erde taumelnde Tier mit seinen Händen aufgefangen, doch im letzten Moment erinnerte er sich daran, dass Ritsu ihn davor gewarnt hatte, die Schmetterlinge anzufassen. Die Flügel waren so empfindlich, dass eine unvorsichtige Berührung den Schmetterling flugunfähig machen konnte. Mit bis zum Hals schlagendem Herzen sah Soubi dem Schmetterling nach.

Auf dem Bein des Jungen kam das herabfallende Tier schließlich zum Liegen. Etwas betäubt lag der Schmetterling mit angezogenen Beinchen da und zeigte keine Regung. Kurz bevor Soubi dachte, dass er den Sturz doch nicht überlebt hatte, fing er endlich an, sich aufzurichten. Die winzigen Füße suchten wieder nach Halt und gleich nachdem sie ihn gefunden hatten, schien der Schmetterling durchzuatmen. So sah es aus. Doch dann sah Soubi, was er tatsächlich tat. Er entfaltete die Flügel. Mit jedem Ein- und Ausatmen streckte er sich und spreizte die Flügel, bis sie endlich vollkommen geöffnet waren. Das vordere Flügelpaar schimmerte Grün und das hintere in einem strahlenden Sonnengelb. Und fliegen konnte er auch.

Soubis Hals wurde eng. Er konnte kaum atmen.

Er war tatsächlich dabei gewesen, als ein Schmetterling geboren wurde.

Soubi sprang auf und rannte zurück zur Schule.
 


 

"Ja?" Ritsu hatte das Klopfen an seiner Tür eigentlich überhören wollen, doch seine reflexartige Antwort darauf, hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.

So leise wie das Klopfen gewesen war, so langsam ging nun die Tür auf.

"Was ist denn, Soubi?", bellte Ritsu den Jungen ungeduldig an, der in der offenen Tür stand und nicht wusste, ob er das Büro seines Lehrer betreten sollte, oder nicht. Nervös zupfte er am Saum seines Hemdes.

"Die Schmetterlinge", ertönte es leise und zögerlich von der Tür her. Er hatte sich dazu entschlossen, das Büro nicht zu betreten. Ritsus düstere Blicke, die er ihm zuwarf, hatten ihm die Entscheidung abgenommen.

Soubi räusperte sich und versuchte es dann noch mal. "Ein Schmetterling ist geschlüpft", berichtete er mit immer noch schwankender Stimme. "Und-" Soubi verfluchte seine eigene Scheu, sobald er Ritsu gegenüber stand, wenn dieser so gelaunt war, wie in diesem Moment. Noch nicht einmal der Abstand, den er zu ihm hatte, konnte etwas daran ändern, dass er sich unsicher fühlte.

"Und was?" Ritsus Stimmung, die wie ein unter der Oberfläche brodelnder Geysir wirkte, schwappte plötzlich wie eine wütende Welle durch den Raum hinüber zu Soubi und riss ihn beinahe von den Beinen. Er fühlte sich, als würde er in Ritsus Nähe ertrinken. Seine Blicke trafen ihn wie Nadeln. Soubi hob den Kopf und rang nach Luft.

"Er ist grün", stieß Soubi heiser aus.

Irritiert sah Ritsu den bleichen Jungen an, der aussah, als würde er sich am liebsten in Luft auflösen. Bevor er antworten konnte, hatte Soubi die Tür von Außen zugezogen. Das Letzte, was er hörte, waren die eiligen Schritte des Jungen im Flur, die sich hastig von Ritsus Büro entfernten.

Imago

Soubi schaffte es kaum, vernünftig durchzuatmen. Er hatte einfach nur so schnell und weit wie gerade möglich von Ritsu weg gewollt und war ohne einmal zu stoppen in den Garten der Raupen gerannt. Sein Brustkorb fühlte sich an, als läge ein tonnenschweres Gewicht auf ihm. Sein Inneres brannte und der Rest seines Körpers fühlte sich an, als stehe er in Flammen.

Er war doch kein Baby! Soubi presste die Hände gegen seine Augen, in denen es verdächtig kribbelte. Er wartete, bis seine eiskalten Finger die aufsteigenden Tränen gekühlt hatten und hob dann müde den Blick.

Das Geißblatt, das sich um die Schultern des Engels wandte, duftete betörend süß. Die ganze Luft war schwer davon. Und dann, wie auf ein unhörbares Kommando hin, geriet um ihn herum die Luft in Bewegung. Unzählige Schatten stiegen aus den Bäumen und Sträuchern empor und flatterten aufgeregt umher.

Mit offenem Mund sah Soubi den Schmetterlingen zu, die durch die Luft flogen. In der kurzen Zeit, in der er Ritsu vom Schlupf des ersten Schmetterlings berichtet hatte, musste der Rest von ihnen ebenfalls geschlüpft sein.

Ungläubig beobachtete Soubi die zarten Tierchen, die voller Lebensfreude ihre Umgebung erkundeten. Es waren so viele! Und so viele unterschiedliche Arten, dass Soubi kaum mit Schauen hinterherkam. Kaum dachte er, dass es nicht mehr mehr werden konnten, stieg irgendwo ein neuer auf. Sie stürzten sich auf die abertausenden blühenden Pflanzen und begannen mit ihren kleinen Rüsseln den Nektar aus der Blüte zu trinken.

Staunend sah Soubi zu, wie einige begannen, ihn zu umkreisen. Als sich die ersten auf ihm niederließen, stand der Junge bewegungslos da. Nicht einmal einen Finger krümmte er. Ihre winzigen Füße kitzelten als sie erkundend über seine Katzenohren trippelten.

Soubis Schultern zuckten, aber er zwang sich dazu, nicht zu lachen, um die Schmetterlinge nicht zu erschrecken.

"Das hat sich ja gelohnt", erklang es leise neben Soubi.

Er kannte die Stimme und auch wenn ihn Ritsus unvermutetes Auftauchen erschreckte, blieb Soubi still stehen. In seinem Augenwinkel sah er Ritsu neben sich treten.
 

"Der Großteil hat wohl überlebt." Ritsu hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Ein leichtes Schmunzeln umspielte seine Mundwinkel. Er sah zu Soubi hin, der die Blicke seines Lehrers reglos entgegnete. Ein paar Schmetterlinge hatten sich auf seinem Kopf niedergelassen und er traute sich nun wohl nicht, auch nur eine falsche Bewegung zu machen.

Ein Schmetterling erklomm gerade die Spitze eines seiner Ohren, während ein anderer seine Kopfseite hinabkletterte.

Soubi konnte nicht anders. Der schwere Duft des Geißblatts reizte seine Nase so sehr, dass er niesen musste. Augenblicklich erhoben sich die beiden Falter in die Luft. Der, der Soubis Kopfseite erforscht hatte, verhedderte sich in den langen Haarsträhnen des Jungen und flatterte hilflos auf und ab, nur, um sich noch weiter in den Haaren zu verfangen.

"Was soll ich tun?" Mit aufgerissenen Augen sah Soubi ängstlich zu Ritsu, der mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm stand und nicht wirkte, als wolle er ihm die Entscheidung abnehmen.

Soubi schloss kurz die Augen. Der Schmetterling zerrte an seinen Haaren. Dann hob Soubi die Hand und schloss sie vorsichtig um das Tier. Der kleine Insektenkörper zuckte ängstlich zwischen den vorsichtig tastenden Fingern. Er hatte mindestens genauso viel Angst wie Soubi selbst. Soubi fühlte die feinen Härchen des gefangenen Tierchens. Nach einer kurzen Pause begann er wieder mit den Flügeln zu schlagen und Soubi zog die Hand weg.

Hilflos sah Soubi zu Ritsu, der noch immer keine Anstalten machte, einzugreifen, während sich der Schmetterling mehr und mehr in den Haaren verfing.

Soubis schmale Finger zitterten, als er sie erneut nach dem Tier ausstreckte, und auf seiner Stirn brach der Schweiß aus. Er warf einen zögerlichen Blick zu Ritsu, senkte aber sofort die Lider, als er auf dessen kühlen, fast abweisenden Gesichtsausdruck traf.

Er konnte nur alles falsch machen, dachte Soubi resigniert. Das Flattern des Schmetterlings hörte kurz auf. Aus den Augenwinkeln sah Soubi, dass das Tier wohl Kräfte sammelte. Sein Körper blähte sich auf und sank zusammen. Immer abwechselnd. Genau so, wie er es bei dem gerade geschlüpften Schmetterling beobachtet hatte.

Soubi nahm seinen ganzen Mut zusammen und tastete erneut nach dem gefangenen Schmetterling. Dieses Mal würde er es schaffen, ihn zu befreien!
 

Tränen brannten in Soubis Augen. Er schaffte es einfach nicht. Sobald er unter seinen Fingern spürte, wie der Schmetterling zu zappeln begann, ließ er los. Es war wie verflucht. Er hatte Angst davor, das Tier zu verletzen. Aber eigentlich hatte er mehr Angst davor, Ritsu zu verärgern oder sich die Blöße geben zu müssen, in dessen Augen nie genug zu sein.

"Einer von euch beiden wird wohl nachgeben müssen", erklang Ritsus ruhige Stimme.

Soubi schluckte die Tränen hinunter.

"Entweder reißt du dich zusammen und schaffst du es, ihn zu befreien, ohne ihn dabei noch mehr zu verletzen, oder-"

Am liebsten hätte sich Soubi die Ohren zugehalten. Er wollte das Oder nicht hören. Der Schmetterling zerrte an seinen Haaren. Mit jeder Bewegung schnürten ihn die feinen Strähnen mehr ein.

"Oder er schafft es von alleine", fuhr Ritsu fort. "In beiden Fällen kommt er mit dem Leben davon, aber im Moment schaut es nicht danach aus." Reglos beobachtete er seinen Schüler, in dessen Haar der Schmetterling um sein Leben kämpfte. "Er wird bald verenden", stellte er kühl fest.

Soubi biss sich auf die Lippe. Er würde nicht weinen. Nicht wie sonst...

"Also, Soubi, was tust du?" Ritsus Blicke bohrten sich in die Augen des Jungen. "Du bist für das Schicksal des Schmetterlings verantwortlich. Es liegt an dir, ob er lebt oder stirbt."

Nun lief die erste Träne Soubis Wange hinab und brannte dabei wie Säure.

"Fühlst du dich der Verantwortung für das Leben eines anderen gewachsen?"

Das Flügelflattern in Soubis Augenwinkel wurde immer schwächer, bis es nur noch vereinzelt aufwallte. Er ließ die Hand, die er noch immer erhoben hatte, um den Schmetterling zu befreien, kraftlos sinken.

Ritsu machte einen Schritt auf Soubi zu. "Du hast jedes Stadium des Schmetterlings mit erlebt. Du warst dabei, als er sich verpuppte und du hast gesehen, wie er erneute geboren wurde. Als er sich auf sein neues Leben vorbereitete, warst du bei ihm. Du hast auf ihn aufgepasst, als er noch eine Raupe war, du hast die Vögel verscheucht, während er in seiner nahezu schutzlosen Hülle ruhte und heranwuchs. Was empfindest du jetzt? Jetzt, wo sich das Lebewesen, um das du dich so lange gekümmert hast, in einer tödlichen Situation befindet, in die es ohne dich überhaupt nicht hineingeraten wäre?"

Er empfand Angst. Furchtbare Angst. Eine andere Form der Angst, als die, die man spürt, wenn man etwas Wichtiges verpasst hatte. Es war eine ausweglose Angst, die sich in ihm ausbreitete, ohne dass er wusste, wie er sich verhalten sollte.

"Angst?" Ritsu streckte die Hand nach Soubis Gesicht aus. Seine Finger strichen über die Wange des Jungen, der die Luft anhielt. "Die musst du hinter dir lassen. Schau sie dir nicht an, lass sie nicht merken, dass du sie spürst." Ritsus Finger schlossen sich wie ein Käfig um den Schmetterling. Vorsichtig zog er das Insekt aus Soubis Haaren.

Soubi fühlte die Erleichterung als wäre ein zenterschweres Gewicht von ihm genommen worden, als ihm Ritsu den befreiten Schmetterling in seiner geöffneten Handfläche präsentierte. Er lebte und seine Flügel waren auch intakt.

Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, folgte Soubi Ritsu, der den Schmetterling in seiner Hand trug.
 

Ritsu öffnete die Tür zu einem Raum, den Soubi bisher noch nicht kannte, und trat ein. Er wartete, bis Soubi es ihm gleichtat und schloss die Tür hinter ihnen.

Ein unangenehmer Geruch schlug Soubi entgegen. Es war eine Mischung aus Staub, Lackfarbe und etwas Saurem. Soubi sah sich unauffällig um. Hohe Vitrinen säumten eine Wand des Zimmers. Hinter den Glastüren herrschte eine Art geordnetes Chaos aus übereinander gestapelten Büchern, diversen Glaswaren und Behältern mit undefinierbaren Flüssigkeiten darin. Überall wo Platz war, hingen eingerahmte Bilder von Schmetterlingen an den Wänden.

Ohne auf seinen Begleiter zu achten schritt Ritsu durch den Raum zu einem Tisch hin, der dort mittig stand. Eine Lampe flackerte über der spiegelnden Fläche des Tischs auf und tauchte alles um sich herum in helles Licht.

Soubi sah, wie Ritsu den Schmetterling auf einem Holzbrett absetzte. Das Tier blieb erstaunlich ruhig. Ab und zu öffnete und schloss es seine Flügel, ohne jedoch Anstalten zu machen, wegfliegen zu wollen.

Ritsu stand leicht vornübergebeugt am Tisch und öffnete eine kleine Schachtel, die neben dem Holzbrett lag.

"Wird er überleben?" Soubi sah von dem Schmetterling hinauf zu Ritsu, der ihn kaum beachtete.

"Soll er?", fragte Ritsu zurück.

"Natürlich", bejahte Soubi eifrig.

Ritsu lächelte Soubi freundlich an. Er nahm den Schmetterling wieder in seine Hand und hielt den kleinen Körper sachte zwischen Daumen und Zeigefinger fest. Der Schmetterling spreizte die Flügel und bewegte sie sachte. Fasziniert sah Soubi, wie der Schmetterling die Beine bewegte, wie sein pelziger Körper pulsierte. Das erste Mal fiel ihm die hübsche Zeichnung an der Unterseite des Insekts auf.

"Dazu hättest du dich früher entscheiden müssen."

Noch ehe Ritsus Worte richtig bei ihm ankommen konnten, sah Soubi die golden glänzende Spitze, die sich durch den Leib des Schmetterlings bohrte. Das Tier bäumte sich zwischen Ritsus Fingern auf, der ihn unnachgiebig festhielt.

Soubi taumelte einen Schritt zurück. Schockiert presste er sich die Hände gegen die Ohren, als fürchte er, dass das Tier in Ritsus Hand jeden Moment vor Schmerzen aufschrie. Mit offenem Mund sah Soubi zu Ritsu und dem Schmetterling hin, der vergeblich versuchte, sich aus dem Griff und der Nadel in seinem Körper zu befreien. Er wand sich hilflos, krümmte sich, bäumte sich auf und schlug mit den Flügeln.

Ritsu sagte irgendetwas, doch alles, was Soubi hörte, war sein eigenes Blut, das im panischen Takt seines hämmernden Herzschlag rauschte. Er konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Auf seinen Fingerspitzen brannten noch die Erinnerung daran, wie der kleine Körper des Schmetterlings sich angefühlt hatte. Weich und warm, voller Leben, das nun in Ritsus Fingern ihr Ende fand.

Es wäre ja schade um die ganzen Etiketten, die du schon beschriftet hast – Jetzt ergab Ritsus Satz einen Sinn. Er hatte nie etwas anderes mit den Schmetterlingen geplant gehabt.

Soubi wurde übel.
 

Den Kopf erschöpft über die unzähligen Etiketten gebeugt, saß Soubi wieder an seinem Tisch. Die Liste mit den Schmetterlingsnamen war endlich abgearbeitet. Vor ihm lag ein Stapel beschrifteter Etiketten; alles schön säuberlich geschrieben, fehlerlos und ohne auch nur einen Buchstaben verschmiert zu haben. Es fehlte nur noch ein einziges Etikett.

Die Lektion, die ihm Ritsu erteilt hatte, war mehr als bitter gewesen, aber sie hatte gewirkt.

Soubi sah auf den kleinen Zettel in seiner Hand hinab.

Ornithoptera goliath stand in seiner schönsten Schrift auf dem Etikett geschrieben. Direkt darunter der Fundort und der Name des Finders: Agatsuma Soubi.

Vorsichtig pustete Soubi die noch feuchte Tinte trocken. Dann nahm er den Zettel und pinnte ihn unter den präparierten Schmetterling, der mit gespreizten Flügeln und mit einer goldenen Nadel in der Brust in dem Schaurahmen befestigt war, den Ritsu ihm geschenkt hatte.
 


 

E N D E
 



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