Vergiss mein nicht von reuab_art (Willkommen im düstersten Kapitel des 19. Jahrhunderts /Otayuri /Victuuri) ================================================================================ Kapitel 6: Tränen ----------------- Kapitel 7 Tränen   Regen peitschte gewaltsam gegen die alten Buntglasscheiben, die wie verhöhnende Augen in den Raum starrten. Drinnen knisterte das Feuer im Kamin, zischte und loderte unaufhörlich. Yura saß auf dem Boden vor dem wärmenden Platz und starrte in die orangenen und gelben Flammen. In seinen Gedanken verloren, konnte er die letzten Stunden nicht vergessen. Nachdem Otabek Jean niedergestreckt hatte, musste er um sein Leben laufen. Das wusste der Junge selber und doch schmerzte es ihn, dass sein Liebster ihn einfach zurückgelassen hatte. Alleine mit all den Gedanken, Ängsten und Bedrohungen. Ein Zittern durchfuhr den dürren Blonden und er zog die Beine näher an den Oberkörper. Immer wieder fragte er sich, warum Otabek ihn nicht einfach mitgenommen hatte. Weit fort, weg von diesem Leben. In dem Moment hatte er ihm nur kurz in die Augen gesehen und gewusst, dass er wieder alleine sein würde. Jean hatte sich nach dem Streit zwar schnell wieder aufgerafft und alles heruntergespielt, aber Yura wusste, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm war. Tränen bahnten sich langsam den Weg über die weißen Wangen und Verzweiflung machte sich in ihm breit. Er kannte diesen Mann doch gar nicht und trotzdem hatte er ihm sein Herz gestohlen. Gedankenverloren hielt der Junge seine Hand zum Feuer hin, besah das Spiel der Flammen um seine Finger und spürte die schmerzhafte Hitze. Ob es wohl mehr wehtun würde als sein Herz? Als die Tür in das Schloss fiel, erschrak Yura entsetzlich und hätte sich fast schwer verbrannt. Keuchend wandte er sich um und hielt die schmerzende Hand. Jean hatte die Kammer betreten und starrte zu ihm nach unten. Als der Blonde keinen Grund sah aufzustehen, kniete der Geschäftsmann sich zu ihm. Langsam strich er über das Halsband mit dem goldenen Anhänger und folgte den langen Bändern bis zur Brust. Sein Blick war undurchdringlich, gierig wie der eines Wolfes, der anzugreifen droht. Yura vergaß fast zu atmen, so sehr ängstigte ihn die unerwartete Nähe. „Warum?“, fragte ihn Jean fast tonlos, während seine Hand weiterhin über die Bänder strich. „Warum bist du so undankbar?“ Mit den Worten ergriff er das Halsband und zog es fest zu, sodass Yura nach Luft schnappte. „Glaubst du wirklich, er liebt dich?  Bist du so dumm? So naiv? Er kann dir nichts geben, was ich nicht auch kann.“ Langsam zog er den Blonden mit den Bändern näher zu sich. „Willst du das? Irgendwo in Armut verrecken?“ Sein Atem war heiß als er Yuras Wange mit den Lippen streifte. „Ich kann dir alles bieten und das weißt du. Eine Position in der Gesellschaft, Geld, Sicherheit. Du bist doch nicht so dumm und schlägst das aus?“ Seine Frage klang wie eine Drohung und Yura wusste, er konnte nur verlieren. Für einen Moment musste der Junge tatsächlich ein erneutes Zittern unterdrücken, doch er wusste, was zu sagen war. „Du kannst meinen Körper brechen, nicht meinen Willen. Du kannst mich haben, aber nie mein Herz. Glaubst du wirklich, ich lasse mich so einfach von dir manipulieren? Tu, was du nicht lassen kannst, aber spar dir deine widerlichen Worte!“ Damit spuckte er dem Geschäftsmann unverhohlen ins Gesicht. Perplex wich er zurück und wischte sich mit dem Handrücken über die Wange. „Du bist eine Wildkatze, aber ich zähme dich schon noch. Scheinbar ist dir nicht bewusst, was deinem armen Otabek droht? Lieb ihn nur, solange er lebt. Es wird nicht lange sein!“ Schwungvoll erhob Jean sich und grinste vielsagend. Verwirrt  strich Yura sich eine Strähne aus dem Gesicht, richtete sich ebenso schnell auf und packte seinen Gegenüber am Handgelenk. „Was soll das heißen?“, schrie er verzweifelt und erhoffte sich eine schnelle Antwort. Jean lachte und schüttelte den Griff ab. „Oh, wusste das Kätzchen etwa nicht, wie krank sein Held ist? Welch Jammer, welch Schmach! Nun bin ich doch der Überbringer schlechter Nachrichten. Nun, meine Blüte, du wirst mich noch anflehen, dir eine Chance zu geben. Das weiß ich!“ Yuras Blick verschwamm augenblicklich vor Tränen, die brennend heiß ihren Weg suchten. Verzweifelt suchte er Halt, fand jedoch nichts und sank schmerzhaft auf die dünnen Knie. Warum nur hatte er ihm nichts gesagt? „Wie egoistisch, nicht wahr? Er stiehlt dir dein Herz und sagt dir nicht einmal, dass er todkrank ist. So wichtig bist du ihm also. Ich kenne ihn nur zu gut. Lass mich dir sagen, wie es ist. Er spielt mit dir, mehr nicht. Du wirst nie Teil seines Lebens sein.“ Jeans Worte durchbohrten Yura wie eine Speerspitze. Hatte er Recht? Wollte Otabek nicht, dass er etwas von ihm wusste? Warum hatte er ihm nicht die Wahrheit gesagt? „Nun weine nicht, meine Blüte! Ich werde dir keinen Grund dazu geben. Vertrau mir und du wirst glücklich sein!“ Otabek hielt sich die schmerzende Brust. Kaum konnte er ausreichend Luft holen, begann der Husten erneut. Seine Lunge fühlte sich an als wäre sie von Nägeln durchbohrt und der kalte Schweiß auf seiner Stirn verriet ihm, dass sich das Fieber wieder eingestellt hatte. Chris brachte eine neue Kanne Tee und sah ihn besorgt an. „Kind, du darfst dich nicht so überanstrengen! Hast du wirklich geglaubt, dass du in dem Zustand ein solches Wegstück rennen könntest? Was hast du dir nur wieder bei allem gedacht. Herr im Himmel, schicke diesem Jungen endlich einen Funken Vernunft!“, maulte er und tupfte dem Arbeiter mit einem nasse Tuch die Stirn ab. Ein entschuldigender Blick war alles, was Otabek erwidern konnte. Der heiße Tee tat gut und er kam langsam wieder zu Kräften. „Musstest du wieder den Helden spielen, ja? Ach, Herr, was hast du mich mit diesem törichten Wicht gestraft!“, tadelte der Reverend weiter. „Gott stellt die Menschen vor viele Aufgaben, aber du, mein Kind, bist lebensmüde.“ Er seufzte und goss Tee nach. Otabek kannte die melodramatischen Anfälle des Priesters zur Genüge und konnte es einfach nicht ernst nehmen. „Father, ich weiß selber, dass es dumm war. Aber… aber diese Augen, diese unglaublichen, starken Augen.“ Er seufzte und sein Blick schweifte ab. „Wie kann ich sie vergessen, wenn sie in mein Herz gesehen haben? Was soll ich nur tun?“ Die Stimme des Arbeiters klang verzweifelt, doch  Chris schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Der Herr hat für uns alle einen Weg, mein Sohn. Und ich habe einen direkten Weg!“ Damit zauberte er einen Bund Schlüssel hervor. „Den wird man hoffentlich nicht zu schnell dort vermissen.“ Otabeks Blick muss unbeschreiblich gewesen sein, denn der Priester musste sofort lauthals lachen. Völlig perplex starrte der Arbeiter auf die Schlüssel. „Nun ruhen wir uns aber erst einmal aus. Wenn der neue Tag anbricht, können wir uns Gedanken machen. Leg dich ruhig in der Kammer hinten schlafen, heute musst du nicht mehr nach Hause laufen.“   Der nächste Tag brachte seichte Sonnenstrahlen, doch die Kälte kroch weiterhin in jede Ritze. Noch schlaftrunken blinzelte Yura und zog die feine Samtdecke enger um sich. Erst langsam wurde ihm gewahr, dass er nicht alleine war. Lange Finger streichelten Strähne für Strähne sein Haar und er traute sich kaum zu atmen. Vorsichtig öffnete er die Augen gänzlich und sah, wie Jean nur kaum bekleidet neben ihm am Bettrand saß.  Verschreckt setzte er sich auf und wich etwas zurück. „Guten Morgen! Hast du gut geschlafen? Mein Bett scheint dir ja zu gefallen!“, raunte der Geschäftsmann vielsagend. Yura schluckte ängstlich und versuchte sich an die letzten Stunden zu erinnern. Panisch sammelte er jeden Gedankenfetzen, den er finden konnte. „Ich konnte dich doch so traurig nicht dort unten hocken lassen. Hat dir die Nacht in meinem Arm etwa missfallen?“ Langsam konnte der Junge wieder alles zuordnen. Völlig erschöpft hatte er sich an Jeans Brust in den Schlaf geweint. Als könnte sein Gegenüber Gedankenlesen, schmunzelte er. „Keine Sorge, ich habe das nicht ausgenutzt. Hier, ich habe dir ein Frühstück zubereiten lassen.“ Anstatt sich artig zu bedanken, verzog der Junge nur angewidert das Gesicht. „Ich will deine Gunst nicht, lass mich!“, keifte er, doch Jean hob beschwichtigend die Hände. „Wie du willst. Zieh dich an! Wir gehen in die Stadt und kaufen dir etwas Schönes. Klingt das besser?“, versuchte er es noch einmal. Yura wollte wieder protestieren, doch er wusste, dass er keine Wahl hatte. Mit gesenktem Blick nickte er und erhob sich lautlos. Es dauerte nicht lange, da hatte er sich gewaschen, sein Oberhaar am Hinterkopf zusammengebunden und sich angekleidet. Er mochte die Stücke, die Jean ihm stets hinlegte, gerne, aber das würde er nicht zugeben.  So trug er heute eine schwarze Hose mit fliederfarbenem Hemd, den Kragen mit einer schmalen Samtschleife gebunden. Darüber trug der Junge eine schwarze, kurze Weste mit Rückenschnürung aus silbernen Bändern. Während er noch gedankenverloren durch seine Haare strich, legte Jean seine Hände auf die schmalen Schultern. „Du bist wunderschön. Ich weiß, warum ich dich wollte!“, hauchte er ihm unverhohlen ins Ohr. „Und ich bekomme immer, was ich will!“   Die seichten Sonnenstrahlen wärmten kaum, sodass Yura seinen Mantel mit dem Pelzbesatz trug, um nicht bei der Kutschfahrt zu frieren. Jean hielt ihn fest im Arm, während er die Pferde mit der anderen Hand lenkte. Die schwarzen Rösser flogen geradezu durch die Gassen. „Für den nahenden Winter sollten wir die geschlossene Kutsche anspannen lassen oder was denkst du, meine Blüte?“, fragte der Schwarzhaarige ohne wirkliches Interesse an einer Antwort. Darum nickte Yura auch nur kurz, denn ihm war nicht nach einer Konversation zumute. In der Stadt war allerhand los, die Menschen eilten rastlos von einem Geschäft zum anderen. Die industrielle Revolution hatte die Spanne zwischen arm und reich noch deutlich erhöht und die wohlhabenden Familien brachten ihr Geld gerne in die Läden. Als Jean die Pferde ordentlich angebunden hatte und einem Mann wenige Geldstücke für das Aufpassen gegeben hatte, wandte er sich an seine junge Begleitung. „Was wünscht du dir? Ein paar neue Kleider? Schmuck? Sag es mir nur, es soll dir gehören.“ Doch Yuras Blick war gesenkt. Er wollte nichts anderes, als sein geliebtes Goldarmband von Otabek tragen. Nichts auf der weiten Welt könnte dies übertreffen. Jean legte den Kopf schief und seufzte. Dieser Junge würde ihm noch graue Haare bescheren. „Jetzt benimm dich ordentlich und heb den Kopf. Habe ich dir nicht ausreichend Manieren beigebracht?!“, fragte er wütend. Der Blonde hob brav den Kopf, wandte aber die Augen ab. „Nun komm, ich zeige dir etwas!“ Jean nahm ihn fest bei der Hand und zog ihn schmerzhaft hinter sich her. Ein Geschäft nach dem anderen musste der Junge über sich ergehen lassen. Es gab feine Bekleidung, einen neuen Wintermantel, eine goldene Spange für sein Haar. All dies konnte sein Gemüt nicht erhellen. Als sie nach einiger Zeit an einem kleinen Laden vorbeikamen, blieb Yuras Blick daran hängen. Ohne zu fragen, eilte er hinein und Jean folgte ihm mit fragendem Blick. Aus den Regalen drang ein seltsamer Geruch, den Yura nicht kannte. Seine Finger strichen über die Einbände in allen nur erdenklichen Farben. Das Leder fühlte sich hart an und die geprägten Buchstaben zogen ihn in ihren Bann. Ein Buch faszinierte ihn besonders, denn darauf waren Blumen jeder Art geprägt. Die Blüten waren goldverziert und mit feinen Linien umwoben. Jean stand mittlerweile hinter ihm. „Was willst du damit?“, fragte er etwas genervt. „Ich mag es!“, entfuhr es Yura leise, doch Jean lachte laut. „Du kannst ja nicht lesen, warum willst du ein Buch?“ Traurig sah er Jean in die Augen und erhoffte sich dennoch, dass er ihn verstand. „Liest du es mir vor?“, bat er vorsichtig, doch das führte nur zu noch mehr Belustigung. „Sehe ich aus, als wenn ich für solche Kindereien Zeit hätte?“, mahnte ihn der Geschäftsmann und schüttelte den Kopf. Enttäuscht verzog Yura das Gesicht. „Du hast mich gefragt, was ich will und ich will dieses Buch! Stehst du nicht zu deinem Wort?“, fragte er schließlich frech. Dies ließ der Andere nicht auf sich sitzen, entriss ihm das Buch und bezahlte es eilig. Fast angeekelt ließ er es wieder in Yuras Hände gleiten. „Nimm es, aber sei dann endlich dankbar!“, tadelte er. Ein kleines Lächeln stahl sich auf die Lippen des Jungen. Fest umklammerte er den Einband und ließ ihn auch die gesamte Rückfahrt nicht los. Als er endlich wieder in der Kammer war, ließ er sich auf das große Bett sinken und öffnete das Buch. Bedächtig strich er über die erste Seite. Die Buchstaben waren in einem dunklen Goldton gedruckt und schön geschwungen. Vorsichtig versuchte er, das größte Wort ganz oben zu lesen. „G..Ge…“, entfuhr es ihm, doch schon bei dem dritten Buchstaben wusste er nicht weiter. Traurig blätterte er in dem Buch herum, besah die schönen Blütenlithografien und versuchte hin und wieder ein paar Buchstaben zu erkennen. Unwillkürlich fragte er sich, ob Otabek wohl lesen konnte? Bei dem Gedanken an den Mann erhitzen sich seine Wangen wieder und er musste mit den Tränen kämpfen. Ob er ihn jemals wiedersehen würde? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)