Soulmate von Livera ================================================================================ Kapitel 1: Das Mädchen im Spind ------------------------------- Kapitel 1: „Das Mädchen im Spind“ Valerie Ich hasste die Menschen. Ich hasste die Art, wie sie mit mir umgingen, mit mir sprachen, mich ansahen. Ich hasste ihre jämmerlichen Versuche, mir in Momenten helfen zu wollen, in denen ich keine Hilfe brauchte. Von allen Menschen hasste ich mich selbst am meisten. Ich hasste mich dafür, dass ich so war, wie ich war und nicht so, wie ich sein sollte. Man sagte mir mal, eine Waffe ohne Meister bliebe immer noch eine Waffe, aber ein Meister ohne Waffe sei einfach nur ein Mensch. Tja, und ich war eben nur ein Mensch. Ich glaube, ich hatte noch nie wirklich Freunde. Als ich klein war, hatte ich meine Schwester. Aber jetzt ich war nicht mehr klein. „Findet die Schlampe!“, schallte es auf der anderen Seite der Metalltür über den Flur. Ich glaube, ich war auch noch nie wirklich beliebt. Und ich glaube, ich war auch nicht wirklich schlau. „Sucht sie! Das Miststück schmeiß ich vom Dach runter!“ Das Miststück war ich. Ich will nicht behaupten, dass ich etwas sehr, sehr Dummes gemacht habe, aber … Ich habe etwas sehr, sehr Dummes gemacht. Heather Moon war ein Alptraum in Person. Um es kurz zu sagen: Sie hasste mich. Viele konnten mich nicht leiden, aber sie hasste mich regelrecht. Und weil, laut Doktor Steins Aussage, die Shibusen eine Schule sei, an der nur die Starken aufsteigen könnten und ich deshalb gefälligst Maßnahmen ergreifen sollte, um die Stärkere zu sein … Nun, ich habe Maßnahmen ergriffen. Üble Maßnahmen, für die ich bestimmt eine Anzeige wegen Körperverletzung bekommen werde. Heather wohnte im Mädchenwohnheim der Shibusen, zusammen mit Kim Diehl, einer sehr bestechlichen Person. Also habe ich im Sinne meiner Maßnahmen Kim Geld gegeben. Und sie hat in meinem Auftrag … Haarentfernungszeug in Heathers Shampoo gekippt. Ich weiß. Eine unmöglich dumme Idee, aber ich war 16! In meinem Alter machte man unmöglich dumme Sachen. Und deswegen stand ich, eine circa 1,50 Meter große Meisterin, jetzt hier in einem 1,60 Meter hohen Spind, versteckt vor Heather Moon und ihrer Clique, die irgendwie spitzt gekriegt hatten, dass ich hinter der Aktion steckte. Vielleicht hatte mich auch mein Kichern verraten, als sie heute Morgen mit einer stilvollen Wollmütze in die Schule kam und sich selbst im Unterricht weigerte, sie abzunehmen. Im Gegensatz zu mir war Heather sehr beliebt. Vor allem bei sportlichen Schlägertypen und Waffen, die ihren Standpunkt gerne mit der Faust festmachten. „Wenn ich diese Fynker erwische, werde ich sie in Stücke reißen!!“ Jap, ich steckte definitiv in Schwierigkeiten. Für gewöhnlich betete ich ja nicht, aber das war vermutlich ein guter Zeitpunkt, damit anzufangen. Die breiten Absätze ihrer edlen, schwarzen Preppy-Lackschuhe klapperten über das Linoleum, direkt vor meinem Spind. Durch die schmalen Durchlüftungsschienen konnte ich ihre lange Löwenmähne erkennen, die von so vielen Mädchen der Schule bewundert wurde. Und die ich wohl ruiniert hatte. Heather lief, sichtlich verärgert, über den Flur an mir vorbei, gefolgt von ihrer wachsamen Gefolgschaft. Dann war sie weg. Erleichterung durchflutete mich, als sie außer Hör- und Sichtweite waren und gerade, als ich mich in Sicherheit wiegen wollte, ging die Spindtür auf. Mit voller Wucht wurde eine Bauchtasche hineingeworfen, die mich unangenehm am Kopf trat. Rückblickend betrachtet war es ein Wink des Schicksals, wenn auch ein recht schmerzhafter, den ich in dem Moment nur mit groß, dunkelhaarig und in dreckige Jeans gekleidet beschreiben konnte. Völlig entgeistert beugte sich der Fremde zu mir hinunter. Er hatte ein hübsches Gesicht mit markanten Wangenknochen und grün-braunen Augen, die mich hochverwirrt anschauten. „Hi“, war das Cleverste, was mir einfiel. „Ist das dein Spind?“ Ganz offensichtlich war es sein Spind. Der Typ nickte leicht und legte den Kopf dabei so merkwürdig schief, dass ich die Bewegung nachahmte, ohne mir dessen richtig bewusst zu sein. „Allerdings. Und was machst du hier drin?“ „Ich verstecke mich vor einer Bande Schlägern.“ „Aha.“ Er stütze sich mit beiden Händen an der oberen Kante des Spindes ab und beugte sich weiter hinunter. „Du musstest wohl noch nie vor Schlägern abhauen, oder?“ Seine Worte hatten einen bitteren Beigeschmack und aus nächster Nähe waren seine Augen dunkler als erwartet. Ehrlich gesagt hatte ich es schon ziemlich oft mit üben Kerlen zu tun. „Stell dir mal vor, ich wäre so ein Schläger. In einem Spind könntest du weder irgendwohin abhauen, noch ausweichen oder zuschlagen, wenn sie dich packen wollen. Kein sehr kluges Versteck.“ Aha, ein Besserwisser. Oder jemand, der schon oft fliehen musste. „Und was wäre deiner Meinung nach ein kluges Versteck?“ „Da, wo Zeugen sind. Im Krankenzimmer oder irgendwo in der Nähe von Lehrern.“ Na, der kannte sich hier ja nicht sehr gut aus. Selbstgerecht legte ich die Hände in die Hüfte und hob die Nase leicht nach oben in der Hoffnung, mich so ein bisschen breiter und ein bisschen größer zu machen. Was gar nicht so einfach war, wenn man kaum an die 1,60 Meter heranreichte und sich in einem Schrank befand. „Bist wohl neu hier, was?“, sprach ich mit gehässigem Unterton. „Die Lehrer wollen quasi, dass wir uns prügeln. Das ist die Shibusen. Schwächlinge, die sich nicht durchsetzen können, kommen hier nicht weit.“ „Ah, verstehe.“ Der Fremde verzog das Gesicht zu einem widerlichen Grinsen, bei dem mir die Galle hochkam. „Lass mich raten: Die stärksten Schüler hier verstecken sich in den Spinden anderer Leute, stimmt´s? Dann musst du ja ein ganz, ganz großes Kaliber sein.“ Was für ein mieser, kleiner – Wilde Raserei stieg unangenehm in mir auf und ich musste für einen Moment die Fäuste ballen, um sie zu unterdrücken, bevor ich den vorlauten Neuzugang am Kragen packte und kraftvoll auf meine Schulterhöhe zog. „Falls du deinen Platz noch suchst, Frischfleisch“, zischte ich ihm direkt in sein gottverdammtest Gesicht, „grabe ich dir gerne ein sechs Fuß tiefes Loch hinten im Schulgarten.“ Mit einer schwungvollen Bewegung stieß ich den Kerl von mir weg und schleuderte ihm seine Tasche hinterher, sodass er ein paar Schritte in den Flur taumelte und den Weg freimachte. Arrogant, wie Heather es immer tat, warf ich mir die blonden Haare über die Schulter und ging davon, so stolz, wie es eine Meisterin in einer Horde von Waffen sein sollte. Stimmt, ich hatte noch nie wirklich Freunde. Viele mochten mich nicht. Aber vielleicht wollte ich auch gar nicht gemocht werden. ~*~ Ich hätte meine Haare nicht arrogant zurückwerfen und einfach weggehen sollen. Nein, es wäre besser gewesen, wenn ich meine Haare arrogant zurückgeworfen und die Spindtür einfach wieder zugeknallt hätte. Denn dann hätten mich Heather und ihre Gang nicht erwischt. Und dann auch noch an einem so klischeehaften Ort wie dem Mädchenklo. Alle schlimmen Dinge passierten auf dem Mädchenklo. Vielleicht sollte ich mir einen Facebook-Account zulegen. Immerhin war es für Mobber und Schläger über das Social-Media-Wesen sehr viel einfacher geworden, anderen Menschen das Gefühl zu geben, sie würden bis zum Hals in Toilettenwasser stecken. Und das ausgerechnet an dem Tag, an dem mir der Shinigami eine neue Waffe zuteilen wollte. An einem Tag, an dem ich einen guten ersten Eindruck hinterlassen sollte, stand ich also mit einem Handtuch um den Hals und tropfnassen Haaren im Deathroom, quasi als lebendiger Beweis dafür, dass Mädchen immer zu zweit aufs Klo gehen sollten. Und als wäre das für heute nicht schon genug gewesen. „Den da“, sagte ich zum Shinigami und zeigte auf den Typen neben ihm, „können Sie gleich wieder in das Loch zurückstecken, aus dem Sie ihn geholt haben.“ Ich kannte ihn: Es war der unangenehme Kerl, dessen Spind ich als Versteck missbraucht hatte und von dem ich mir anhören durfte, was für eine blöde Idee das gewesen war. Das mit dem guten ersten Eindruck konnte ich also vergessen. „Wow“, sagte er mit diesem blöden Grinsen. „Also das habe ich wirklich nicht erwartet.“ Verwirrte schaute der Todesgott zwischen uns hin und her. „Ihr kennt euch? Na das ist ja toll!“ „Nein“, gab ich mürrisch zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein, wir kenne uns ganz und gar nicht.“ Irgendetwas tief in mir hatte beschlossen, diese Waffe nicht zu mögen. Keine Waffe mehr zu mögen. „Na … na gut.“ Für einen kurzen Moment war der Shinigami verblüfft, als wüsste er nichts mit der Situation anzufangen, doch schnell fing er sich wieder. „Dann lernt ihr euch jetzt eben kennen.“ Mit seiner großen Hand gab er dem jungen Mann einen Schubs in den Rücken und dirigierte ihn so vom Podest herunter in meine Richtung. „Valerie“, sprach er hochtrabend, als sie bei mir angekommen waren. „Das ist Adrian Laurent, ein Nahkampfmesser aus dem Osten des Landes. Adrian“, er wandte sich der Waffe zu. „Das ist Valerie Fynker, deine Meisterin. Wenn du’s vermasselst, werde ich dich wirklich wieder zurück in das Loch stecken, aus dem ich dich geholt habe.“ Die letzten Worte zischte er leis und verbissen. Adrian schnaubte nur verächtlich und sah mich argwöhnisch an. Es vergingen einige Augenblicke peinlichen Schweigens, bevor er mir seine Hand entgegenstreckte. „Ich will keine Waffe“, motzte ich den Shinigami an. Bestimmt werde ich für meine Frechheit später nachsitzen müssen, doch das war mir egal. „Ich brauche keine Waffe. Sie haben selbst gesagt, dass ich die Aufnahmeprüfung auch alleine schaffen könnte.“ „Theoretisch, habe ich gesagt! Theoretisch bist du stark genug, um die Prüfung für die EAT zu bestehen. Aber ich lasse niemanden mehr einen Alleingang machen und du weißt ganz genau warum.“ Seine Maske verzerrte sich bei dem strengen Ton zu einer wütenden Fratze. „Entweder du bewirbst dich am Ende des Schuljahres – mit Adrian – für die EAT oder du machst nur deinen High-School-Abschluss und gehst!“ Stimmt. Dieses Jahr war die Deadline. Wer nach einer bestimmten Anzahl an Semestern keine Partnerschaft auf die Reihe bekam, wurde gewissermaßen aussortiert. Mit einem durchschnittlichen Abschluss als Trostpreis dafür, dass man nicht gut genug war. „Fein.“ Nein, diese Genugtuung wollte ich meinen Eltern – und vor allem meiner Schwester – nicht machen. Also packte ich Adrian am Handgelenk und zerrte ihn mit einem „Komm mit“ durch den Guillotinengang aus dem Deathroom. Erst als die schwere Flügeltür hinter uns zuschlug, ließ ich ihn los. Schweigend liefen wir die endlosen Gänge der Schule entlang. Schüler um uns herum taten es uns gleich, plauderten, lästerten, was auch immer. Mit denen hatte ich wenig am Hut. Als wir bei meinem Spind angekommen waren und ich die Lehrbücher und anderen Kram in meiner Tasche verstaute, ergriff mein neuer Partner das Wort: „Ich glaube wir hatten keinen sehr guten Start, also … Frieden?“ Diesmal sah er mich freundlich an mit einem leichten, netten Lächeln, das bestimmt viele um den Finger wickeln konnte, nur nicht mich. „Tja, man erntet was man säht, Adrian. Wenn du mich blöd anmachst, mach ich dich auch blöd an.“ Mit einem lauten Knall, der im Raunen der schnatternden Menge unterging, schloss ich meinen Spind und ging in Richtig Ausgang. „Es tut mir leid, wenn ich mich anmaßend oder unhöflich ausgedrückt habe“, erklärte er, während er mir hinterhertrottete, „aber ich habe einen sehr langen Tag und eine noch längere Zugfahrt hinter mir.“ Mit großen Schritten holte er mich ein und stellte sich vor mich. „Also? Frieden?“, wiederholte er sich und setzte doch tatsächlich einen albernen Hundeblick auf, der mich fast zum Schmunzeln gebracht hätte. „Waffenstillstand“, lautete mein Kompromiss. Damit gab er sich wohl zufrieden. Ich schob mich an ihm vorbei und trat nach draußen. „Hey, Valerie“, fragte er an der großen Treppe. „Gibt’s hier eigentlich einen Fahrstuhl? Oder muss ich etwa in Zukunft jeden Tag diese Stufen hochlaufen?“ „Es gibt keinen Fahrstuhl“, antwortete ich und beschritt den Weg nach unten im zügigen Tempo. „Fitness ist eine Grundvoraussetzung an dieser Schule. Ich schaffe den Weg nach oben mittlerweile in knapp fünf Minuten“, fügte ich leicht überheblich hinzu. Adrian schnaubte nur. Aber so war ich eben: überheblich, egoistisch und arrogant. Schließlich war das der beste Weg, die eigenen Schwächen zu verbergen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)