Soulmate von Livera ================================================================================ Kapitel 2: Angekommen --------------------- Kapitel 2: „Angekommen“ Adrian In meiner ersten Nacht in Death City schlief ich schlechter als je zuvor seit ihrem Tod. Immer wenn ich dachte, dass das Chaos in mir zur Ruhe gekommen war, wurde es von irgendetwas wieder aufgewühlt. Stets und ständig wachte ich auf, riss das Fenster auf, weil mir schlecht war, machte es wieder zu, weil ich zitterte. Als es schon eine ganze Weile hell draußen war, gab ich schließlich auf und schleppte mich aus dem Bett. Valeries Wohnung war nicht gerade ordentlich. Sauber, aber unaufgeräumt. Sehr unaufgeräumt. Im Wohnzimmer fand ich diverse benutzte Tassen, Waffenzeitschriften und Bestallkataloge überall verteilt. Es war wie in einem Wimmelbild. Doch trotz des Durcheinanders wirkte dieser Ort irgendwie heimisch … alltäglich. Als wäre es normal, keine Zeit fürs Aufräumen zu haben. Valeries Chaos war ganz anders als meines. Ich wollte Pancakes zum Frühstück machen, doch ich fand weder Backpulver, noch Mehl, nur ein Ei und einen bedauernswerten Schluck Milch. Stattdessen waren die Schränke vollgestopft mit Teebeuteln, Crackern und Fertiggerichten. Offenbar war sie auch zu beschäftigt zum Einkaufen. Oder zum Kochen. In der mit Barhockern ausgestatteten Kücheninsel fand ich eine ungeöffnete Packung Toast und Instantkaffee. Das war immer etwas. Küche und Wohnzimmer gingen ineinander über. Es gab weder Bilder, noch Pflanzen; die Wände waren weiß. Nur ein grauer, runder Teppich unter einem niedrigen Couchtisch war ein Ansatz von Dekoration. Auch der Tisch war vollgestellt: Benutzte Müslischalen und Teller stapelten sich auf Heftern, Dokumenten, Magazinen und mittendrin lag … ein BH. Schwarz mit hellblauen Nähten. Ich beschloss, die Unterwäsche zu ignorieren. Ich sollte sie ignorieren und mir erst mal einen Kaffee machen. Denn im Grunde genommen war es mir relativ egal, wo Valerie ihre Sachen liegen ließ, solange noch genug Platz für mein eigenes Zeug blieb. Was das betraf: Das Gästezimmer, das ich bezogen hatte, wurde vor meiner Ankunft aufgeräumt. Oder nie betreten. Der Hacken allerdings war: Da lag ein BH im Wohnzimmer. Als wäre sie nach Hause gekommen, hätte sich auf dem Weg ins Bad ausgezogen und … Vielleicht sollte ich duschen gehen. Die Digitaluhr am Herd zeigte 7:46 Uhr an. Unterricht begann erst halb neun. Und ich stank immer noch zum Himmel nach dieser gottlosen Stadt an der Ostküste. Ja, ich sollte wirklich duschen gehen. „Fuck!“ Ein Fluchen schallte durch die Wohnung, gefolgt von trampelnden Schritten, bevor eine Tür aufgerissen wurde und Valerie über den Flur ins Bad stürmte. Wasser wurde aufgedrehte, kurz darauf wieder abgedreht. Nur in ein Handtuch gehüllt kam sie wieder heraus. Ihre blonden Haare waren zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden, lange Strähnen hingen in ihrem Gesicht. Sie sah aus wie ihre Wohnung. Der Gedanke brachte mich zum Schmunzeln. „Alles okay?“, fragte ich und füllte das braune Pulver aus der Kaffeedose in eine Tasse. Ob ich wohl Zucker finden würde? Unwahrscheinlich, aber suchen konnte ich ja trotzdem. „Ich habe verschlafen“, erklärte sie atemlos. „Ich muss um acht in der Schule sein.“ Suchend sah sie sich im Raum um, schnappte sich die Jogginghose von der Rückenlehne der Couch und verschwand wieder in ihrem Zimmer. Kaum ein Augenblick verging, da kam sie mit einem „Ach Scheiße!“ wieder heraus und wuselte hetzend durch die Räume. „Was brauchst du?“ „BH.“ Ich sah zum Couchtisch. Es war nicht so, dass ich pedantisch war, aber vielleicht sollte man in diesem Haushalt wirklich mal Ordnung schaffen. „Hier!“ Keuchend trat sie an die Küchenzeile. Ihr Handtuch war ihr in der Hektik so weit verrutscht, dass sie es festhalten musste. Ich deutete mit dem Kopf aufs Wohnzimmer. Sie musterte mein Gesicht für einen Augenblick, bevor sie sich mit knallroten Wangen die Unterwäsche schnappte und verschwand. ~*~ Zusammen mit ein paar Dutzend anderen Schülern schleppte ich mich viertel neun die Treppe zur Shibusen hoch. Ich fragte mich, ob dieser Aufstieg eine Art verpflichtender Frühsport sein sollte oder einfach nur ein schlechter architektonischer Scherz war. Wer auch immer dafür verantwortlich war, ich verfluchte ihn. Die Schule an sich war … imposant. Trotz der Symmetrie wirkte sie irgendwie unruhig und abenteuerlich. Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich wieder in die Schule ging. Dass ich die Chance hatte, mir einen geregelten Alltag aufzubauen. Dass meine Existenz einen Sinn hatte. Ich war eine Waffe und anderswo mochte das schrecklich und unnormal sein, aber hier war es okay, wenn nicht sogar erwünscht. Trotz der unruhigen Nacht hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, an einem Ort zu sein, an dem ich wirklich sein sollte. Oben angekommen musste ich erst mal tief durchatmen. Auf meinem Weg wurde ich von einigen Schülern überholt, die mit einer unglaublichen Geschwindigkeit vorangeschritten waren. „Es ist nicht mehr weit“, hatte ein Mädchen mit langem, schwarzen Pferdeschwanz versucht, mich anzuspornen. „Der Ausblick von oben ist toll. Halte durch!“ Dann war sie davongerannt und ich fragte mich, ob ich auch irgendwann so fit werden würde, wenn ich jeden einzelnen Tag hier hoch latschen musste. Als das Ziehen in meinen Beinen nachgelassen hatte und ich wieder einigermaßen Luft bekam, drehte ich mich um und staunte. Und staunte und staunte und staunte. Minutenlang. Die Stadt lag in Miniatur vor mir. Dächer aller möglichen Farben und Formen ragten hinauf, Passanten waren nicht mehr als winzige Punkte im gewaltigen Gefüge des Straßennetzes mit der Shibusen im Zentrum. Dahinter erstreckte sich die unendliche Weite der flimmernden Wüste und dahinter der Horizont. Wie eine Schneekugel, nur dass keine weißen Kunststoffflocken vom Himmel herab regneten, und ich stand mittendrin. Wie es wohl nachts aussah, wenn alles vom Licht der Häuser hell erstrahlte? Euphorie erfasste mich und fast hätte ich laut aufgelacht. Mit neuer Energie wirbelte ich herum und schritt auf die Shibusen zu, deren Tore einladend geöffnet war. Auf dem Vorplatz stand ein Junge mit einer komischen Frisur und beäugte das Gebäude kritisch. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, hörte ich ihn im Vorbeigehen murmeln. Eigentlich wollte ich ihn ignorieren, doch er hielt mich mit einem „Hey, Neuling“ an der Schulter fest, sodass ich mich zu ihm umdrehen musste. „Was?“, fragte ich. „Dir auch einen guten Morgen.“ Er nahm meine Hand und schüttelte sie. „Death The Kid. Willkommen an der Shibusen.“ Sah man mir so sehr an, dass ich nicht von hier war? „Äh, Adrian Laurent. Und danke.“ Ich versuchte mich ihm zu entziehen. Diese Person machte keinen sehr klaren Eindruck auf mich. Seine grellen goldenen Augen musterten mich eingehend, als würde er nicht nur mich genau beäugen, sondern auch die Tiefen meiner Seele. Wie Doktor Stein es in New York getan hat. Unangenehm. „Adrian, du musst mir mal helfen“, verkündete Death The Kid mit einer Stimme, als würde er mit einem kleinen Kind reden. „Was hältst du vom Aufbau der Schule?“ Mit beiden Händen an meinen Schultern drehte er mich zum Gebäude, sodass ich es anschauen musste. „Na ja“, überlegte ich. „Es ist symmetrisch.“ Das schien ihn nicht zufriedenzustellen. „Es sollte symmetrisch sein“, bemerkte er. „Aber irgendwas… Ich hab‘ so ein Gefühl, dass…“ Der Rest ging in einem unverständlichen Murmeln unter. Für einen Augenblick schien er völlig in Gedanken versunken zu sein. Er zuckte zusammen, als ich fragte: „Ist offenes Feuer an einem Haus nicht gefährlich?“ Mit dem Zeigefinger deutete ich auf die gigantischen Kerzen. „Die Kerzen ... Natürlich!“ Euphorisch riss er die Arme in die Luft. „Die Tatsache, dass sie wohl unterschiedlich schnell abgebrannt sind, zerstört die komplette Symmetrie! Das war es, wonach ich gesucht hatte!“ Er wandte sich mir zu und klopfte mir übertrieben anerkennend auf den Oberarm. „Du hast ein gutes Auge. Achte immer darauf.“ In einer Art Superheldenpose drehte er sich um. „Entschuldige mich nun, ich muss ein Problem beheben.“ Und schon war er weg. Was für ein Kauz. Hoffentlich gab es hier nicht noch mehr von seiner Sorte. Als Doktor Stein den Klassenraum betrat, verstummten sämtliche Gespräche augenblicklich. Ein Mann im Kittel, dem eine Schraube einmal quer durch den Kopf ging – die er sogar drehen konnte! – machte offenbar Eindruck. Nun, es wäre verwunderlich, wäre es anders. „Willkommen an der Shibusen, Frischfleisch!“ Er warf sein Klemmbrett mit allerlei Dokumenten auf den Lehrertisch und setzte sich verkehrt herum breitbeinig auf den Drehstuhl. „Der Ablauf für heute ist folgendermaßen: Ich erzähl euch ein bisschen was über die Schule, Partnerschaften, Seelen und die ganzen Sachen, die auf euch zukommen werden. Anschließend machen wir auf dem Sportplatz ein paar Fitnesstests. Wenn alles glatt läuft, sind wir zum Mittagessen fertig.“ Er angelte sich einen Zettel und Stift und mit dem Satz „Mal schauen, ob alle hergefunden haben“ rief er einen Namen nach dem anderen auf. Ein paar Leute fehlten tatsächlich. Einer stand nicht auf der Anwesenheitsliste. Er wurde nach draußen quittiert. „Also gut.“ Mit einem schwerfälligen Seufzer stand Doktor Stein wieder auf und begann mit lauter Stimme zu erzählen. „Die Shibusen ist eine Schule für Waffen und Waffenmeister. Die Waffen unter euch werden lernen, wie die Kraft eurer Seele zu kontrollieren ist und wie man verhindert, von ihr kontrolliert zu werden. Die Meister dagegen werden hauptsächlich im Kampf mit und gegen Waffen trainiert. Um die Ausbildung hier erfolgreich abzuschließen, muss eine Prüfung bestehend aus einem theoretischen und einem praktischen Teil absolviert werden. Die Zulassung dafür allerdings erhaltet ihr nur, wenn ihr es in die EAT schafft. Anfänger gehören zur NOT. Um aufzusteigen, müsst ihr in einem Aufnahmetest eine stabile Partnerschaft nachweisen. Früher war es einzelnen Waffen und Meistern möglich, ihre Effizienz zu beweisen und den Test und die Abschlussprüfung alleine zu bestehen, doch aufgrund diverser Zwischenfälle in der Vergangenheit hat der Shinigami Alleingänge verboten. Ihr könnt natürlich auch in der EAT eine Prüfung absolvieren und einen Abschluss erlangen, aber das ist nicht viel mehr als ein gewöhnlicher Collegeabschluss und dafür seid ihr nicht hier.“ Nachdem der Doktor einige Schritte monologisierend durch den Raum gewandert war, blieb er schließlich stehen, zog eine Zigarettenpackung aus der Tasche seines Kittels und zündete sich vor aller Augen eine Zigarette an. Schweigend beobachtete er, wie sich der graue Rauch seines ersten Zuges mit der Luft vermengte und schließlich verschwand. „Ich hoffe“, setzte er in düsterer Tonlage fort, „euch allen ist klar, dass nicht jeder von euch es schaffen wird. Ein Viertel fällt durch die Aufnahmeprüfung der EAT und nicht einmal die Hälfte der EAT-Schüler macht den Abschluss. Nicht etwa weil sie nicht genug gelernt oder hart genug trainiert haben. Nein. Sie sterben.“ Auf bedrückendes Schweigen folgte ein unruhiges Raunen. „Sie überschätzen sich oder werden von Dämonen und Hexen überlistet und bei Aufträgen getötet.“ Das Raunen schwoll an, wurde zu einer hitzigen Diskussion, die sich im ganzen Hörsaal verbreitete. Neben mir sprang ein junges Mädchen mit einer blonden Bobfrisur auf und fragte entrüstet: „Soll das heißen, dass der Shinigami die Leben seiner Schüler leichtfertig aufs Spiel setzt? Wer übernimmt dafür die Verantwortung?“ „Junge Dame, jeder ist für sich selbst verantwortlich.“ Stein trat heran, die Zigarette qualmend zwischen den Lippen geklemmt. „Wenn du denkst, dass du mit deinem Partner eine Hexe besiegen kannst und scheiterst, musst du daraus lernen. Wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten. Aber es ist nicht so, dass wir euch machen lassen, was ihr wollt.“ Er wandte sich wieder ab und mit einem einzigen verheißungsvollen Blick durch die Runde brachte er die Stimmen zum Schweigen. „Hier Schüler zu sein bringt ein gewisses Risiko mit sich. Und angesichts dessen ist es auch keine Schande, zu gehen, wenn ihr euch dieser Sache nicht gewachsen fühlt. Niemand, der die Ausbildung abbricht, wird als Feigling verurteilt.“ Er nahm noch einen tiefen Zug und blies den Rauch geräuschlos nach oben, bevor er die Zigarette in einem Asche auf dem Lehrerpult ausdrückte. „Handelt einfach so, dass ihr mit euch selbst zufrieden sein könnt.“ Meine Nachbarin senkte sich sehr langsam wieder auf ihren Stuhl herab, ihre Augen vor Schreck geweitet. „Nun“, verkündete der Doktor. „Kommen wir zu einem … weniger erschütternden Thema – zumindest für den einen oder anderen.“ In der folgenden Stunde wurde die Partnerschaft erklärt. Sehr viel bekam ich davon nicht mit. Den Kopf auf die Arme gelegt, döste ich bereits nach wenigen Minuten ein. Eine Hand auf meiner Schulter ließ mich hochschrecken. Verschlafen blickte ich in ein Paar haselnussbraune Augen. Sie gehörten dem Mädchen mit dem Bob. „Hey Dornrösschen“, sprach sie mit einem bezaubernden Lächeln. „Du machst wohl Power-Napping für den Fitnesstest?“ Verwirrt rieb ich mir über das Gesicht und die Augen. Hatte ich etwa die ganze Stunde verpennt? „Ich mache was?“ „Power-Napping. Sagt man das etwa nicht mehr so?“ Mein Gegenüber lief bis auf die Ohren puterrot an. „Also … Jedenfalls, wir gehen jetzt auf den Sportplatz.“ Sie deutete auf die Tür, durch die die Schüler reihenweise den Raum verließen. Müde raffte ich mich hoch und trottete dem Strom hinterher. Die kurze Nacht forderte nun wohl ihren Tribut. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Ein fettes Dankeschön an meinem Beta (https://www.fanfiktion.de/u/Lonely+Raven). Schaut doch mal bei ihm vorbei, er freut sich bestimmt über ein paar Kommis (ich mich im Übrigen auch). Nächtes Kapitel: 30./31.12. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)