Soulmate von Livera ================================================================================ Kapitel 6: Schlafwandeln ------------------------ Kapitel 6: Schlafwandeln Adrian Herzrasen und Übelkeit weckten mich. Hatte ich schlecht geträumt? Nein. Ich träumte seit Wochen nicht mehr. Atemlos starrte ich an die fremde Decke. Unbarmherzig starrte sie zurück. Ich war in Death City. Das hier war mein Zimmer. In Valeries Wohnung. Valerie. Hatte sie genug gegessen? „Fuck.“ Der gnadenlosen Übelkeit entgegenwirkend griff ich nach dem Fenster über meinem Bett und öffnete es. Doch die Luft war nicht frisch und kühl, sondern staubig, trocken und verbraucht. Keine Minute später stürzte ich ins Badezimmer und übergab mich. Als ich wieder auf den Flur trat, brannte Licht in der Küche. Geblendet hielt ich mir die Hand vors Gesicht. Eigentlich wollte ich wieder schlafen. Ich hatte mich schon abgewendet, als ein Gegenstand laut fallen gelassen wurde und der Lärm mich endgültig weckte. An der Spüle erkannte ich den zerzausten, blonden Hinterkopf meiner Meisterin. Als das Wasser aufgedreht wurde, zuckte sie zusammen und schnappte zischend nach Luft. „Valerie?“ Sie erschrak heftig beim Klang ihres Namens und wirbelte zu mir herum. Ihre grünen Augen waren gezeichnet von Panik und Schock. Tränen glitzerten auf ihren blassen Wangen. Ich wollte auf sie zulaufen, doch bereits nach den ersten Schritten schrie sie mich aufgelöst an: „Geh weg!“ Eilig griff sie ins Waschbecken, zog ein Küchenmesser heraus und richtete es auf mich. Ihre schmalen Finger umklammerten den Griff so heftig, dass das Werkzeug zitterte. Das Wasser rauschte immer noch aus der Leitung, doch es konnte nicht alle Blutspuren von der Klinge waschen. Tiefrote Tropfen flossen über ihre Hände und fielen lautlos zu Boden. Schnitte durchzogen die helle Haut ihrer Unterarme. Entsetzt starrte ich sie an. Entsetzt starrte sie zurück. Beschwichtigend – als müsste ich ein wildes Tier zähmen – setzte ich langsam einen Fuß vor den anderen und trat aus dem Flur. „Hey“, sprach ich sie vorsichtig an. „Geht’s dir gut? Du blutest.“ Anstatt mir zu antworten, holte sie aus und warf das Messer zielsicher in meine Richtung. Zischend sauste es über meinen Kopf hinweg, als ich mich duckte, und blieb unbarmherzig in der Wand am Ende des Ganges stecken. Okay ... Ganz offensichtlich ging es ihr nicht gut. Jetzt, da sie das Mordinstrument aus der Hand gelegt hatte, wagte ich mich schneller vor. Als ich um die Kücheninsel drum herumgegangen war, schien sie ihren Fehler bemerkt zu haben und wich bis zur Wand zurück. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in einem schnellen Rhythmus. Die Panik stand immer noch in ihrem blassen Gesicht, gemischt mit unsicherer Wut. „Hau ab!“, versuchte sie es noch einmal mit lauter aber zitternder Stimme. Von der Küchenzeile schnappte sie sich eine leere Plastikschüssel und warf diese ebenfalls nach mir, allerdings ohne mich zu treffen. Gespannt blieb ich stehen. Wartete ab. Valerie rührte sich nicht. Was für eine unangenehme Situation. Ich meine, was sagte man jemandem, der sich … na ja … „Was … was tust du da?“, fragte die Meisterin, als ich langsam vor ihr in die Hocke ging und mich mit kriechend auf sie zu bewegte. Bestimmt sah ich albern aus. Und, verdammt, es war albern, aber … „Ich habe mal in einer Doku gesehen, wie ein Ranger ich auf diese Weise einer wilden Löwin genähert hat. “ Sie schniefte, wischte sich hastig über die Wangen und kommentierte mein Tun mit: „Das ist doch lächerlich.“ Ich umging die kleinen Blutstropfen auf dem Boden so gut es ging und richtete mich wieder auf, als ich bei ihr angekommen war. „Du hast mit diversen Küchengeräten nach mir geworfen. Wenn es dir nichts ausmacht, bin ich lieber lächerlich als tot.“ Valerie atmete einmal tief durch, blieb aber angespannt. Von Nahem fiel mir auf, dass sie recht klein war. Nein, eher winzig. Ihr Scheitel erreichte nicht mal meine Schultern, das hatte ich vorher nie bemerkt. „Darf ich mal?“, fragte ich und griff nach ihren Händen. Nur zögernd ließ sie mich ihre Unterarme anschauen: blutige Schnitte auf beiden Seiten. Einige waren schon älter und verkrustet oder vernarbt, andere ganz frisch. Ohne sie loszulassen, fischte ich nach der Rolle Küchenpapier auf der Arbeitsfläche und tupfte mit einem Tuch vorsichtig über die Wunden. Sie zuckte zusammen, gab aber keinen Mucks von sich. „Hast du … das mit Absicht gemacht?“ Erschrocken sah sie mich an und entriss mir kraftvoll ihre Arme. „So ist das nicht!“ Sie wandte sich ab. Mit hängenden Schultern lehnte sie sich an die Wand und starrte resigniert auf ihre Füße. „Nein, so ist das nicht.“ Schwere, träge Dunkelheit legte sich über ihr Gesicht, ihre Augen. „Würdest du mich jetzt bitte allein lassen?“ „Nein.“ Beherzt nahm ich sie an den Schultern, schob sie durch die Küche und den Flur ins Bad und drückte sie auf den Badewannenrand. Schweigend holte ich den Erste-Hilfe Kasten aus dem Schrank unter dem Waschbecken und kramte darin nach Kompressen, Verbänden und Desinfektionsmittel. Ohne einen Einwand zu erheben, ließ Valerie zu, dass ich ihre Wunden reinigte und verband. Sie zuckte nicht einmal, als der Alkohol ihre blutenden Arme berührte. Ich war fertig, doch sie würdigte mich keines Blickes. „Wenn du“, begann ich zögernd. „Wenn du reden willst, dann bin ich für dich da.“ Das klang schmalzig. Schmalzig und unehrlich, aber irgendwie musste man ja ein guter Mensch sein. „Du würdest mir eh nicht glauben.“ Ihr Blick war auf ihre Fingernägel geheftet. „Niemand hat mir je geglaubt. Nicht mal Doktor Stein oder der Shinigami. Nur meine Schwester, aber die interessiert es nicht.“ „Ist es denn so schlimm?“ Sie zuckte mit den Schultern, als würde sie kurz auflachen. „Die halten mich für verrückt.“ Nun sah sie mich doch an. Ernst und voller Verletzlichkeit durchbohrten mich ihre grünen Augen. Nur für einen Moment. Dann erhob sie sich zum Gehen. „Als sich das erste Mal Teile meines Körpers in Klingen verwandelt habe“, sprach ich schließlich, Valerie war schon draußen, da drehte sie sich noch mal um, „schickten mich meine Eltern zu einem Psychiater. Da war ich gerade zehn oder elf. Glaub mir, ich wäre der Letzte, der dich für verrückt erklären würde.“ Einen Augenblick noch stand sie da und ich dachte, sie würde es mir erzählen. Doch sie ging ohne ein weiteres Wort. Seufzend räumte ich die Sachen zusammen. Gerade, als ich das Licht ausschalten wollte, tauchte Valerie wieder im Flur auf. „Hier.“ In ihrer ausgestreckten Hand lag ein einzelner Schlüssel. „Der ist für mein Zimmer. Könntest du mir einen Gefallen tun und mich einschließen?“ Entgeistert sah ich auf sie herab. Die Meisterin war winzig im Vergleich zu mir und in dem weiten Schlafshirt unglaublich zierlich, doch ihre Präsenz wirkte in diesem Moment so … nahe. Als würde etwas tief in mir sie kennen. „Spinnst du?“ Ich drückte ihre Hand zurück. „Was, wenn in deinem Zimmer ein Feuer ausbricht, während ich schlafe? Dann verbrennst du, weil du nicht rauskommst!“ „Ich könnte aus dem Fenster springen.“ „Wir sind im vierten Stock!“ Sie betrachtete argwöhnisch erst mein Gesicht, dann meine Hände auf ihren, bevor sie sich mit Kraft losriss und endgültig in ihrem Zimmer verschwand. Mit einem Pling schlug der Schlüssel achtlos auf den Fliesen auf. Ich hob ihn auf und seufzte erneut. An ihrer Tür steckte ich ihn ins Schloss, ohne ihn umzudrehen. Bevor ich wieder ins Bett ging, räumte ich noch Schüssel und Küchenpapier an ihren ursprünglichen Platz. Im Flur fiel mein Blick auf das Messer in der Wand. Kaum zu glauben, dass ein junges Mädchen so viel Kraft besaß, dass es stecken blieb. Als ich nähertrat, stellte ich allerdings fest, dass sich unter der Tapete kein Beton oder Stein, sondern eine Gipsplatte verbarg. Ohne Mühe zog ich das Messer aus der Platte und verstaute es in einem der Küchenschränke ganz oben, ganz hinten. Die Übelkeit weckte mich noch zweimal in dieser Nacht. Als irgendwo in der Stadt eine Kirchenglocke vier Uhr schlug, gab ich das Schlafen endgültig auf. Ich füllte in der Küche ein Glas mit Leitungswasser, trank es restlos aus und füllte es erneut, bevor ich mich auf die Couch setzte und den Fernseher einschaltete. Das Programm beschränkte sich auf Homeshopping, Dokusoaps vom Vortag und Kindersendungen. Bei einem alten Cartoon blieb ich hängen. Mit schneller Musik rasten Tom und Jerry über den Bildschirm. Ich konnte bis heute nicht sagen, ob sie wirklich Feinde waren oder ob lediglich ihre Instinkte sie zu der ständigen Jagd zwangen. Es vergingen kaum ein paar Minuten, da öffnete sich im Flur eine Tür. Leise Schritte kamen näher, bevor Valerie im Türrahmen auftauchte. „Hey, kannst du auch nicht schlafen“, sprach ich sie an, bekam allerdings keine Antwort. Schweigend tapste sie in die Küche. Sie öffnete einen der Küchenschränke - den Schrank, in den ich das Messer gelegt hatte. Die oberste Ablage war leer und verstaubt gewesen, vermutlich, weil sie nicht herankam. Valerie hob einen Arm, stellte sich auf die nackten Zehenspitzen und streckte sich. Das Longshirt, das sie trug, rutschte nach oben und entblößte weiß bepunktete Unterwäsche. Sie streckte sich weiter, obwohl sie eindeutig zu klein war. „Hey!“, rief ich sie noch einmal. „Valerie!“ Nichts. Als hätte sie mich nicht gehört. Als wäre ich gar nicht da. Ich stand auf und trat zu ihr. Ihr Gesicht war angespannt, als würde sie sich darüber ärgern, dass sie nicht herankam, und ihre Augen wirkten glasig. Ich griff nach der ausgestreckten Hand und wollte sie noch unten ziehen, doch in dem Moment, in dem ich sie berührte, sackte sie zusammen. Schwer atmend landete sie auf allen Vieren. Ihr Körper bebte und zitterte und ich stand nur da und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, während ein kurzer, heftiger Schreck wie eine Peitsche durch den Raum glitt und gleich darauf wieder verschwand. Zurück blieben Schaudern und Keuchen. Nach einigen schweren Atemzügen setzte sich meine Meisterin auf und lehnte sich an einen der Küchenschränke. „Deswegen wollte ich, dass du mich einschließt.“ Sie sah mich nicht an. Ihre Stimme war belegt, über ihre Wange lief eine einzelne Träne, während ich versuchte, zu verstehen, was da gerade passiert war. Valerie stand mitten in der Nacht auf. Sie lief herum, ohne auf Geräusche zu reagieren. Sie wollte sich selbst verletzten, obwohl ich eindeutig anwesend war. „Du“, äußerte ich meine Vermutung, die so unglaublich klang, dass es schon wieder möglich war. „Du schlafwandelst.“ Ich hatte mal von einem Mann gehört, der seine Frau im Schlaf umgebracht haben sollte, weil er sie für einen Einbrecher gehalten hatte. Aber das hier war- „Verrückt, oder?“ Die Blonde sah mich an und lächelte, als wäre das tatsächlich nur ein Witz. „Hast du das gerade eben zufällig gefilmt? Ich würde es gerne mal Doktor Stein zeigen.“ Schlafwandeln … tatsächlich. Aber sowas machten doch eigentlich nur Kleinkinder und gestresste Unternehmer. Im Schneidersitz setzte ich mich zu ihr auf den Boden. „Er glaubt dir nicht?“ „Nein. Ich war schon früher Schlafwandler, meine Schwester auch. Bei Kindern kommt das häufig vor.“ Ein Schniefen unterbrach sie. „Als ich an die Shibusen kam, fing es wieder an. Ich habe Medikamente bekommen, aber die halfen nicht. Das war auch gar nicht schlimm. Ich meine, Schlafwandeln ist eigentlich harmlos. Ich bin nachts ab und zu aufgestanden und habe den Haushalt gemacht.“ Sie lachte kurz ein raues Lachen und schniefte noch einmal. „Es war echt cool, morgens aufzuwachen und das Geschirr sauber in den Schränken zu sehen.“ Gedankenverloren knaupelte sie an ihren Fingernägeln. „Was ist passiert?“, hakte ich nach. „Meine erste Partnerschaft ging in die Brüche. Das war ziemlich hässlich, wie haben uns sogar geprügelt. In der ersten Nacht, die ich alleine in dieser Wohnung verbracht habe, bin ich an der Spüle aufgewacht. Mit einem Messer in der Hand und einem Schnitt im Unterarm.“ Sie sah mich an und in ihrem Blick erkannte ich einen Schmerz, der tiefer ging als jede Schlucht dieser Erde. Die Welt um uns herum schien stillzustehen. Sie blieb stehen, drehte sich weiter, blieb wieder stehen. Nur die Wanduhr tickte verräterisch. „Passiert das öfter?“ Meine Stimme war heiser, mein Mund trocken. Als würde die Erinnerung genauso schwer auf mir liegen wie auf ihr. „Seltener als früher. Kurz nach der Trennung bin ich fast jede Nacht aufgestanden. Ich habe nasse Handtücher auf den Boden meines Zimmers gelegt, um aufzuwachen. Aber das funktioniert mittlerweile nicht mehr. Es kommt darauf an, ob ich einen guten oder schlechten oder richtig, richtig miesen Tag hatte.“ Sie schnaubte verächtlich. „Manchmal kann ich diese Tage selber nicht voneinander unterscheiden. Wenn ich denke, dass es gut lief, laufe ich trotzdem nachts umher. Das ist echt zum Kotzen.“ „Und dagegen kann man gar nichts machen?“ „Ha!“, lachte sie kurz und bitter auf und sah mich verärgert an. „Doch, aufwachen! Ich habe zwei große Schüsseln mit Eiswasser vor meinem Bett stehen. Guck mal, ich bin sogar durchgelaufen.“ Ihr nacktes Bein wirbelte herum, ihr nasser Fuß stoppte kurz vor meinem Gesicht. „Aber das weckt mich nicht mehr. Nicht mal die Schnitte wecken mich! Manchmal wache ich morgens in der Küche auf und habe vier neue Wunden, von denen ich nichts weiß.“ Sie zitterte erneut, als Tränen über ihr Gesicht liefen. Irgendwie war es logisch. Wenn man jeden Morgen von Baustellenlärm geweckt wurde, überhörte man das auch irgendwann und schlief einfach weiter. Man gewöhnte sich daran. Es war logisch und grauenhaft. „Wie kann ich dir helfen?“ „Helfen?!“ Wütend sprang Valerie auf und sah mich an, als hätte ich ihren Vater, ihren Bruder und ihre Katze beleidigt. „Klar willst du helfen! Alle haben Mitleid und wollen irgendwas tun. Ständig schenken mir die Menschen in der Schule Risotto oder Auflauf, als wäre irgendjemand gestorben, oder Eis, weil mit Eis alles besser wird. Am Arsch!“ Sie griff nach einer hellblauen Plastikschüssel – derselben Schüssel wie vorhin – und schmiss sie mit Gewalt durch den Raum. Mit einem krachenden Geräusch prallte der Gegenstand gegen die Wohnzimmerwand und ging genauso laut zu Boden. Ich erhob mich langsam. Ein Stück blaues Plastik lag abseits des Rests auf dem grauen Teppich. „Ich habe kein Mitleid mit dir.“ Meine Stimme klang barscher als beabsichtigt, aber ich hatte das Gefühl, dass ich mich nur so gegen ihren Aufruhr durchsetzen konnte. „Stimmt, deine Situation ist ziemlich scheiße und vielleicht gehen deswegen andere Menschen nicht ganz pfleglich mit dir um. Aber jegliche Hilfe abzublocken, weil du ein klein wenig anders bist, finde ich viel schlimmer.“ „Ich habe nichts abgeblockt. Diese Hilfe“, sie macht mit den Fingern Anführungsstriche und verzog dabei das Gesicht zu einer mürrischen Grimasse, „hat mir nur nicht viel gebracht. Schau.“ Sie deutete auf ihre verbundenen Arme. „Immer noch selbstmordgefährdet. Trotz Medikamente gegen Schlafwandeln. Trotz Therapie und Antidepressiva, die ich nicht nehme, weil ich keine scheiß Depression habe!“ Ihre Brust hob und senkte sich in einem schnellen Rhythmus. Mit trampelnden Schritten ging sie in den Eingangsbereich und riss ihre Jacke von der Garderobe. Ich folgte ihr, ohne zu zögern. Böse keifte Valerie mich an: „Halt dich aus meinem Leben raus, Adrian.“ Ihre Wut ergoss sich über mir wie ein Schwall eiskaltes Wasser, drang in mich ein und füllte die tiefen Kratzer meiner Seele aus, bevor ich sie zu ihrem Ursprung zurückschleuderte. „Ich bin dein Partner, ich bin Teil deines Lebens! Vielleicht wäre ein bisschen Wertschätzung angebracht gegenüber jemanden, der versucht, sich um dich zu kümmern!“ Sie gab ein hohes, empörtes Geräusch von sich, als sie sich zu mir umdrehte. „Ich habe dich nie darum gebeten. Überhaupt, was weißt du schon von Partnerschaft? Wir kennen uns gerade mal zwei Tage. Hattest du eigentlich schon mal einen richtigen Partner?“ „Nein.“ Ich trat näher an sie heran. So nahe, dass sie ihren Nacken überstrecken musste, um mich weiterhin so aufgebracht von oben herab ansehen zu können. „Und du, soweit ich weiß, auch nicht.“ „Stimmt.“ In ihrer Stimme lag eine gefährliche Drohung und sie war das hohe Pendant zu meiner eigenen. „Obwohl ich bereits ein Dutzend Gelegenheiten hatte. Sie haben mich alle im Stich gelassen. Glaub ja nicht, dass du etwas Besonderes wärst, nur, weil der Shinigami dich persönlich ausgewählt hat.“ „Wahrscheinlich sind die auch einfach alle abgehauen, weil du so eine schlechte Meisterin bist.“ Lautlos grollte ein Donnerschlag durch die Wohnung. Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen. Vielleicht hatte ich eine Grenze überschritten, die es nicht zu überschreiten galt. Oh, ich war mir ziemlich sicher, eine Grenze überschritten zu haben. „Arsch!“ Mit der ganzen Kraft, die so eine kleine Person aufbringen konnte – und das war, wie ich lernen durfte, eine Menge – trat sie mir gegen's Schienbein. Der Schmerz fegte wie ein beißender Wind durch meinen Körper und ich widerstand dem Drang, auf die Knie zu fallen, konnte ein Stöhnen aber nicht unterdrücken. „Dann kann es dir doch erst recht egal sein, wenn ich mich im Schlaf umbringe! Schließlich hat niemand Verwendung für so eine schlechte Meisterin, wie mich!“ „Sag mal geht’s noch?!“ Ich ignorierte mein pochendes Bein. Ich ignorierte die Nachbarn, die wir mit unserem Geschrei vermutlich weckten. Ich ignorierte die Welt. „Hast du schon mal gesehen, wie jemand stirbt? Hast du jemals in deinem Leben so viel Blut gesehen? Ich schon. Und ich habe keine Lust, nochmal über die Leiche eines Menschen stolpern zu müssen, der mir nahesteht!“ „Ich stehe dir nicht nahe!“ Sie war so kurz davor, mir eine zu knallen. Hart mit der Faust, nicht wie ein Mädchen. Und ich war so kurz davor, das Eingesteckte zurückzugeben, hätte ein Klick-klick uns nicht unterbrochen. Hinter Valerie ging die Eingangstür schwungvoll auf und ein Junge mit schneeweißen Haaren und blutroten Augen erschien auf der Schwelle. „Habt ihr eigentlich eine Vorstellung davon, wie spät es ist?“, brüllte er uns an und war dabei mindestens doppelt so laut wie wir. „Es gibt Menschen in diesem Haus, die ihren Nachtschlaf brauchen!“ Ich kannte ihn nicht. Er hatte einen Schlüssel zu der Wohnung, also kannte er offenbar Valerie. „Soul! Hast du sie noch alle?“ Hinter dem Jungen tauchte eine weitere Person auf: ein Mädchen mit blonden Haaren, dunkler als Valeries, und einem sehr dicken, sehr schwer aussehenden Buch in der Hand, welches sie ihm brutal über den Schädel zog. Der Junge, Soul, ging zu Boden. „Oi!“, beschwerte er sich, wurde allerdings gekonnt ignoriert. „Alles okay?“, fragte das blonde Mädchen und schaute besorgt zwischen mir und meiner Meisterin hin und her. Anstatt eine Antwort zu geben, drängte sich Valerie mit ihrer Jacke an den beiden vorbei und rannte die Treppen hinunter. Unten knallte die Haustür. Ich wollte ihr hinterher, doch Soul – ein Nachbar, nahm ich an – hielt mich auf. „Mach das lieber nicht“, murmelte er gedämpft, als er sich aufrappelte. „Glaub mir, ich kenne mich mit jähzornigen Meistern aus.“ „Entschuldige?!“, keifte die Blonde ihn an, bevor sie sich an mich wandte. „Wir kennen uns noch nicht. Ich bin Maka.“ Sie hielt mir mit einem freundlichen Lächeln ihre schmale Hand entgegen. Ich erwiderte ihren Händedruck. „Adrian.“ „Du bist neu hier, oder? Soul und ich wohnen da drüben.“ Ihr Finger deutete hinter sich auf die gegenüberliegende Wohnung. „Wann bist du denn eingezogen?“ „Am Donnerstag.“ Soul stellte sich zwischen mich und Maka und von Nahem sah ich erst, wie unglaublich jung er war. „Dich hat wohl der Shinigami geschickt.“ Er betrachtete mich argwöhnisch von oben bis unten. „Mein Beileid.“ Gähnend drehte er sich um und verschwand in der anderen Wohnung. „Bitte ignoriere diesen unsensiblen Idioten.“ Das Mädchen sah mich erschrocken an und hob die Hände, als wollte sie sagen, er habe es nicht so gemeint. „Valerie ist manchmal … ein bisschen verbissen … und emotional, aber sie ist ein sehr lieber Mensch. Du darfst die Sachen, die sie manchmal von sich gibt, nicht persönlich nehmen.“ Sie nahm den Zweitschlüssel aus unserer Haustür und ging schon ein paar Schritte zurück. „Soul und ich sind in der EAT. Wenn du Fragen hast, zögere nicht, zu uns zu kommen.“ Mit einem Winken verschwand auch sie. Valerie war eine Stunde später immer noch nicht zurück. Während die aufgehende Sonne die restliche Stadt an diesem Samstagmorgen weckte, schlief ich auf der Couch noch mal ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)