Soulmate von Livera ================================================================================ Kapitel 7: Ginger Hair ---------------------- Kapitel 7: „Ginger Hair“ Adrian Ein gleißendes Licht weckte mich. Durch das blanke Wohnzimmerfenster schien die Sonne hoch am Himmel stehend erbarmungslos in mein Gesicht. Wie spät war es? Mühsam und schweißgebadet rappelte ich mich auf. Dabei fiel die Decke, die über mir ausgebreitet wurde, auf den Boden. Die war vorher noch nicht da gewesen. Auch der Fernseher war ausgeschaltet. Ohne weiter darüber nachzudenken – ich musste mich regelrecht zwingen, nicht darüber nachzudenken – ging ich ins Bad. Dort lagen Valeries Klamotten überall auf den Fliesen verteilt. Ich hob sie nicht auf, schob die Sachen aber mit dem Fuß in eine unauffällige Ecke, bevor ich in die Duschen stieg. Valerie schlafwandelte. Sie schnitt sich die Arme auf. Im Schlaf. Kein Wunder, dass andere sie für verrückt hielten, ich würde es selbst nicht glauben, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen. Valerie war zusammengebrochen, als sie die ordentliche Wohnung gesehen hatte. Das klang eigentlich noch viel verrückter. Ihre verkorkste Seele hatte sie es genannt. „Stell dir vor, jemand hat eine total musikalische Seele, er möchte immer von Musik umgeben sein. Und ein Anderer hat eine total faule Seele. Derjenige liegt am liebsten den ganzen Tag im Bett.“ Vielleicht beschrieb das Wort verkorkst Valerie nicht ganz, sondern eher chaotisch. Jemand mit einer chaotischen Seele konnte demnach Ordnung nicht leiden. Aber deswegen gleich umzukippen… Seufzend stellte ich die Brause ab und trat aus der Dusche. Ich sollte zum Shinigami oder zu Doktor Stein gehen, wenn ich irgendetwas wissen wollte, hatte sie gesagt. Keiner von beiden war mir sonderlich angenehm, aber da der Doktor immerhin ein Gesicht hatte und menschlich war, würde ich wohl ihn aufsuchen. Mit nassen Haaren und einem Handtuch um den Hals hängend betrat ich die Küche. Da ich gestern einkaufen war, würde mein Frühstück – oder eher Brunch, denn die Uhr am Herd zeigte bereits 11:26 Uhr an – heute wohl etwas reichhaltiger ausfallen. In der Wohnung war es ruhig. Eigentlich ungewöhnlich ruhig für eine Studenten-WG. Doch ich zwang mich, auch darüber nicht nachzudenken. Oder über Valeries Eigenarten. Oder über unseren Streit. Nein, ich schob mir lieber Fertigpancakes in den Toaster, übergoss sie mit einer Wagenladung Sirup und stopfte sie in mich hinein. Auf das mein Frust an den Kalorien erstickte. Es funktionierte nicht. Ich hatte keine Ahnung, wo Doktor Stein wohnte. An einem Samstag würde ich ihn wohl kaum in der Schule finden. Und planlos in der Stadt herumirren und dabei riskieren, mich zu verlaufen, kam auch nicht infrage. Ich könnte zu Valerie gehen. Sie wusste es bestimmt. Ich sollte zu Valerie gehen, denn diese Partnerschaft war meine einzige Chance und wenn ich die nicht nutzte, war alles aus. Also riss ich mich zusammen und klopfte an ihre Tür. Zunächst blieb alles ruhig. Vielleicht war sie gar nicht da. Doch dann ging die Tür auf und meine Meisterin erschien, völlig zerknittert und zerzaust. Angesichts der tiefen, dunklen Ringe, die ihre Augen einrahmten, konnte ich mir ein überraschte „Woah“ nicht verkneifen. „Geht’s dir gut?“, fragte ich und war schon wieder kurz davor, ihr meine Hilfe anzubieten. Dann erinnerte ich mich daran, dass sie allergisch auf das Wort helfen reagierte und ließ es bleiben. „Ja.“ Sie zupfte an ihrer zerrupften Frisur. „Brauchst du irgendwas?“ „Nein. Äh, ja, doch.“ Was zur Hölle war das denn? „Weißt du, wo Doktor Stein wohnt?“ Ein merkwürdiger Schleier legte sich über ihre Augen, doch bevor ich ihn näher betrachten konnte, lehnte sie die Tür an und ging zurück ins Zimmer. Mit einem Zettel in der Hand kam sie wieder. In unsauberer Schritt war eine Adresse darauf notiert. „Hier.“ Ungeduldig reichte sie mir den Post-it. Ich nahm ihn entgegen und als sie gerade die Tür wieder schließen wollte, hielt ich sie mit meiner Hand im Rahmen auf. Abwartend sah Valerie mich an. „Ich … Ich wollte … “ Die Worte entglitten mir. Sie lagen mir auf der Zunge und dann waren sie weg. Weg. Ich machte den Mund zu und wieder auf, doch was ich sagen wollte, blieb verschollen. Was wollte ich überhaupt sagen? Über ihren verschleierten grünen Augen hob sich eine Augenbraue. Nachdem ich nach einer geschlagenen Minute immer noch nichts rausgebracht hatte, schlug die Meisterin meine Hand weg und schloss die Tür. Ich blieb zurück. Ohne Worte, ohne einen klaren Gedanken. ~*~ Ich war überrascht: Death City war wie jede andere amerikanische Stadt. Auf den Straßen deutete nichts auf etwas Übernatürliches hin. Die Schaufenster strahlten mit Produkten; die Menschen redeten übers Wetter, schleppten große Einkaufstaschen herum, liefen zu langsam und blieben ab und zu ganz spontan stehen. Und überall roch es nach Fritten. Mein Weg zu Doktor Stein führte mich mitten durch die Innenstadt. Vermutlich. Ich hatte zwar eine Karte auftreiben können, doch da mein Orientierungssinn noch nie wirklich ausgeprägt war, schritt ich eher planlos als zielstrebig durch die volle Einkaufsmeile. So viel zum Thema sich nicht zu verlaufen. Auf der Suche nach einer Bank oder Ähnlichem, an der ich kurz anhalten und mich umsehen konnte, stellte ich mich auf die Zehenspitzen und entdeckte ein mehr oder weniger bekanntes Gesicht: Der Junge mit der merkwürdigen, unsymmetrischen Frisur – wie hieß er noch gleich? – schlenderte auf sein Handy starrend durch die Passage, flankiert von zwei Mädchen. Er blickte nur kurz auf und sah mich direkt an, als hätte er meine Anwesenheit gespürt. Sein Gesicht hellte auf und mit etwas, was vielleicht eine freudestrahlende Miene war, kam er schnellen Schrittes auf mich zu. „Adrian“, sprach er mich an. „Hast du deinen ersten Schultag gut überstanden?“ „Äh.“ Ich kannte ihn – offenbar – aber ich konnte mich nicht an seinen Namen erinnern. Die Mädchen mit dem skeptischen Blick kannte ich nicht und ehrlich gesagt wollte ich sie auch nicht kennenlernen. Aber der junge Mann deutete mit seinen gelben Augen auf die großen Plastiktüten mit Klamotten, die er trug, und dann wieder auf mich, als wäre ich ein heimlicher Verbündeter. „Ja“, spielte ich mit und setzte ein Lächeln auf. „Lief gut.“ Erleichterung huschte über seinen Blick. „Sehr schön. Das sind im Übrigen meine Waffen Liz“, er zeigte auf die Größere zu seiner Linken, „und Patty“, sein Finger ging zu seiner rechten Seite. „Mädels, das ist Adrian. Er ist neu an der Schule.“ „Hiii“, grüßte die Kleinere, Patty, fröhlich und riss ihren Arm nach oben. Zwei Waffen. Oha. Ich hatte nicht gewusst, dass so was überhaupt erlaubt war. „Du erkundest die Stadt wohl auf eigene Faust?“, fragte der Typ. „Suchst du einen bestimmten Ort?“ „Ja, ich muss zu Doktor Stein.“ Liz schnaubte überrascht und zog ihre gezupften Augenbrauen nach oben. „Was willst du denn dort?“, fragte sie argwöhnisch. „Weißt du nicht, wie gefährlich das ist?“ „Liz hat recht.“ Der Junge – ich war mir ziemlich sicher, dass er ein Schüler der EAT war – drückte seinen Partnerinnen den Einkauf in die Hände und packte mich am Arm. „Du solltest auf keinen Fall allein dorthin gehen.“ Mit einer knappen Verabschiedung an seine Waffen zerrte er mich hastig weg. Wir liefen in eine Seitenstraße. Bevor er langsamer wurde, drehte er sich nochmal um und seufzte schließlich erleichtert, als wir anscheinend außer Sichtweite waren. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich, „aber das musste sein. Warst du jemals mit zwei Frauen einkaufen?“ „Nein.“ Ich bin gestern zum ersten Mal seit Jahren einkaufen gewesen. „Dein Glück. Es ist grauenhaft.“ Er deutete in eine Richtung von den überfüllten Gassen weg. „Komm, ich zeig dir den Weg.“ Ich bedankte mich und folgte ihm und so liefen wir eine Weile schweigend nebeneinander her. Immer wieder glitten seine wachsamen, hellen Augen zu mir herüber, formulierten eine Frage, die er aber nicht stellte. Gut so. Es ging ihn nichts an. Wir traten in ein düsteres Viertel. Die Straßenlaternen sahen nicht mehr vollständig funktionsfähig aus, selbst die Vögel schwiegen. Und in der Stille moderten die kahlen Häuser vor sich hin. „Weiter werde ich dich nicht bringen“, erklärte mein Begleiter schließlich. „Wenn Doktor Stein mich sieht, lädt er mich bestimmt zu sich herein. Das will ich nicht. Nimm von ihm besser nichts an. Er ist sehr experimentierfreudig und kippt oft seine Mixturen in die Getränke.“ Eindringlich musterte er mich von oben bis unten und kurz sah es so aus, als wollte er noch etwas hinzufügen. Doch er hob nur die Hand und verabschiedete sich mit einem knappen „Das Haus am Ende der Straße. Wir sehen uns.“ Das Haus am Ende der Straße war … anders. Und damit meinte ich nicht die ungewöhnliche Fassade oder die Bäume im Vorgarten, deren Äste zu Pfeilen wuchsen. Das ganze Gebäude strahlte eine Atomsphäre aus, die selbst die Ratten fernhielt. Das schmiedeiserne Tor schwang auf, noch bevor ich die Klingel betätigen konnte. Als sich daraufhin auch die Haustür öffnete und eisige Stille eine Geisterhausstimmung zu mir herübertrug, war ich drauf und dran, wieder umzukehren. Dieser Ort fühlte sich definitiv nicht heimisch an. Ein metallisches Rollen kam aus dem Inneren des Gebäudes. In der Dunkelheit des Flures erschien Doktor Stein, der auf einem … Bürostuhl … herangerollt kam. An der Eingangstür stoppt ihn die kleine Kante, sodass er mit einem erschrockenen Laut umkippte und sichtlich unsanft auf dem Rücken landete. „Adrian! Na, das ist eine Überraschung“, bemerkte er, als er sich aufrappelte. „Du könntest einem Älteren ruhig aufhelfen.“ „Ähm … Verzeihung?“ „Ach, schon gut.“ Grob klopfte er sich den Staub vom Kittel und setzte sich breitbeinig auf den Stuhl. „Was willst du hier?“ „Ich brauche ein paar Antworten.“ Doktor Stein lachte ein kurzes, rauchiges Lachen. „Nun, dann brauche ich wohl ein paar Fragen.“ Die Einrichtung des Hauses war … gewöhnungsbedürftig. An fast jeder Wand standen Regale gefüllt mit Glaskaraffen und Phiolen mit fragwürdigem Inhalt. In einem Einmachglas waren Augen in einer gelblichen Flüssigkeit eingelegt und ich hätte schwören können, dass sich die Pupillen bewegt hatten, als ich daran vorbeigegangen war. Unruhig rutschte ich auf dem grauen Polster des Sofas hin und her. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, hierherzukommen. Vielleicht hätte ich zum Shinigami gehen sollen. „Also“, der Doktor stelle ein Becherglas mit heißem Wasser und einem Teebeutel vor mir auf den Couchtisch und setzte sich in den Sessel mir gegenüber. „Frag.“ Das sagte sich so leicht. Denn ich wusste weder, wo ich anfangen sollte, noch was ich eigentlich genau wissen wollte. „Warum“, begann ich zögernd mit dem Erstbestem, das mir einfiel, „findet Valerie keine Waffe?“ Er sah mich kurz überrascht an, als hätte er mit etwas anderem gerechnet. „Das kann ich dir zeigen“, meinte Stein schließlich und stand wieder auf, ging zu einem Regal und kam mit einem Gegenstand wieder, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er war bräunlich-schwarz, rund und voller spitzer Stacheln. „Wenn sich zwei Menschen treffen, dann treffen sich auch ihre Seelenwellen. Normalerweise verhalten sich Seelenwellen wie andere Wellen auch: Sie schwingen. So“, er ließ sich wieder in das Polster fallen und legte das Ding auf den Tisch. „Valeries Seelenwellen allerdings sind wie die Stacheln dieses getrockneten Seeigels. Nicht schwingend und weich, sondern hart, direkt und spitz zulaufend. Gib mir mal deine Hand.“ Er beugte sich herüber und griff nach meinem Handgelenk. Die Handinnenfläche schwebte über dem Seeigel und mein Gegenüber drückte sie herab, bis die Stacheln meine Haut berührten. „Autsch!“ „Unangenehm, oder?“ Er ließ mich los und zog sich zurück. „Genauso geht es den Menschen, die Valerie begegnen. Und deshalb gehen sie eher auf Abstand. Ist deine Frage damit beantwortet?“ Entspannt lehnte der Doktor sich zurück und betrachtete mich eindringlich. „Aber dann wird sie von anderen doch viel zu schnell verurteilt, bevor sie sie überhaupt kennenlernen können“, gab ich angesäuert zurück. „Das ist ziemlich unfair.“ „Stimmt, fair ist das nicht und an einer gewöhnlichen High-School hätte sie wohl gar keine Freunde. Aber in Death City sehen die Menschen jeden Tag kuriose Sachen. Sie sind sozusagen desensibilisiert, sodass Leute wie Valerie nicht sozial ausgegrenzt werden. Eines interessiert mich aber.“ Der Lehrer beugte sich wieder nach vorn, stützte die Unterarme auf seine Beine und sah mich durch dicke Brillengläser aufmerksam an. „Wie war es, als du ihr zum ersten Mal begegnet bist? War das unangenehm?“ Hm … gute Frage. „Ich habe einen Scherz gemacht und sie hätte mich dafür fast verprügelt.“ Jap, das war ziemlich einprägsam gewesen. „Sie hat ziemlich viel Kraft.“ Noch während ich sprach, brach Doktor Stein in Gelächter aus. „Du hast einen Scherz gemacht?“, rief er kichernd aus. „Tja, du scheinst wirklich anders zu sein.“ Beiläufig fischte er eine Packung aus der Tasche seines Kittels und zündete sich eine Zigarette an. „Sprich weiter. Wie war es gestern und heute?“ In meinem Kopf ließ ich die letzten 48 Stunden Revue passieren. Sollte ich ihm von heute Nacht erzählen? Lieber nicht. Vermutlich würde Valerie nicht wollen, dass andere Details solche Ereignisse erfuhren und Stein sah aus wie jemand, der gerne nach Einzelheiten fragte. Eine weitere Szene blieb in meinem Kopf hängen. „Gestern ist sie in Ohnmacht gefallen, weil ich aufgeräumt hatte.“ Mein Gegenüber lachte schon wieder. „Ich wüsste nicht, was daran lustig sein soll“, schimpfte ich aufgebracht. „Wissen Sie eigentlich, wie sehr mich das erschreckt hat?“ „Ich kann’s mir vorstellen. Aber da machst du dir zu viele Gedanken, das war nicht deine Schuld.“ „Sie sagte, dass ihr so was öfter passiert.“ „Das kann ich nicht beurteilen.“ Er nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch geräuschlos nach oben. „Valerie reagiert auf alles ziemlich heftig. Sie wird schnell wütend, ist nah am Wasser gebaut und häufig gestresst. An dem Tag ist sie doch wieder mit Cordelia aneinandergeraten, oder? Und dann hast du ihre gewohnte Umgebung verändert. Wahrscheinlich war das einfach zu viel für sie gewesen.“ „Aber ich habe doch nur aufgeräumt.“ Meine Stimme klang lauter und aufgewühlter als beabsichtigt. „Sie meinte, ihr Zusammenbruch hätte irgendwas mit ihrer Seele zu tun.“ „Sie ist mit sich unzufrieden und schiebt deshalb alles auf ihre Seele.“ Stein nahm seine Zigarette aus dem Mund und deutete damit auf mich. „Ihr Teenager durchlebt eine hormonelle Achterbahn, manche mehr, manche weniger. Für Valerie ist ihre Unordnung momentan das einzig Beständige. Willst du meinen Rat?“ Er nahm noch einen Zug, schickte den Rauch diesmal aber direkt in meine Richtung. „Find dich damit ab. Oder bist du etwa ein Ordnungsfanatiker?“ Nein. Nein, das war ich nicht. Mürrisch verschränkte ich die Arme und lehnte mit auf dem Sofa weiter zurück. „Wer genau ist Cordelia?“ „Niemand Besonderes.“ Der Lehrer zuckte nur mit den Schultern. „Eine Waffe, die zur selben Zeit angefangen hat, wie Valerie. Sie konkurrieren seit Jahren miteinander, sind aber irgendwie trotzdem befreundet.“ Nach Freundschaft sah die Szene gestern im Badezimmer aber nicht aus. „Die beiden ähneln sich, doch eine Partnerschaft würde nicht funktionieren.“ „Warum nicht?“ „Na ja.“ Nachdenklich schaute er hinauf zur Decke, als wären dort oben die Worte, die er suchte. „Cordelia ist eine sehr dominante Waffe. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, solange der Meister noch dominanter und selbstbewusster ist. Aber so jemand ist Valerie nicht.“ Eine Waffe war also derjenige, der sich unterzuordnen hatte? „Und Raphael schon?“ Ich klang forscher als beabsichtigt. „Raphael ist wie für sie geschaffen. Ich persönlich kann ihn nicht leiden, weil er im Unterricht ständig Diskussionen anfängt und immer anderer Meinung ist, aber mit seiner sturen Art kann er Cordelia in Zaum halten.“ „Also“, schlussfolgerte ich mehr für mich selbst, „sollte der Meister derjenige sein, der in einer Partnerschaft den Ton angibt?“ „Nicht zwangsläufig“, antwortete Doktor Stein und sah mich wieder eindringlich an. „Partner sind sich gleichgestellt. Man geht Kompromisse ein und respektiert einander. Andererseits, wenn man sie im Kampf beobachtet…“ Sein Blick blieb stechend, wurde aber etwas nachdenklicher. „Wenn man sie im Kampf beobachtet, stellt man fest, dass es der Meister ist, der die Richtung vorgibt. Die Waffe verstärkt die Seelenwellen und verleiht Kraft, aber der Meister bestimmt die Bewegung. So gesehen hast du gar nicht so unrecht.“ „Und wie sollte ich mich dann als Waffe verhalten?“ Hoffentlich sagte er nicht etwas Ausgelutschtes wie ´Sei einfach du selbst´ oder so ähnlich. „Hm“, machte er und überlegte, bevor er noch mal aufstand und ein Glas aus einem der Regale holte. „Wenn Valeries Seele der Seeigel ist, dann bist du das hier.“ Stein schraubte das Gefäß auf und schüttete sich den Inhalt auf die Hand. Er war grün und glibbrig und ich wollte gar nicht wissen, was genau das war. „Valeries Seele ist hart und unverformbar und deine Seele dagegen ist weich und anpassungsfähig. Wenn es anders wäre, hätten wir dich nicht aus New York geholt.“ Der Schleim glitt auf den Seeigel, breitete sich darüber aus und umhüllte die Stacheln wie eine zweite Haut, ohne kaputtzugehen. „Ich bin also hier, um aus Valerie eine gute Meisterin zu machen, weil meine Seele so ist, wie sie ist?“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage. „Du bist hier, um zu beweisen, dass du kein brutaler Taugenichts bist, der sich nicht im Griff hat, damit die Strafe für deine Taten nicht auf den Galgen hinaus läuft. Mit welchem Meister du das tust, ist deine Sache. Der Shinigami dachte nur, dass Valerie vielleicht eine gute Partie wäre.“ Der Doktor lachte ein kurzes, rauchiges Lachen und drückte die Zigarette im Aschenbecher vor ihm aus. „Eigentlich war es eher ein letzter Versuch, Valeries Potential auszuschöpfen. Er sagte, wenn diese Waffe es nicht schaffe, schaffe es keine. Ich meine“, mein Gegenüber fuchtelte mit der Hand in meine Richtung, als wollte er mich einrahmen, „weil deine Seele so ist, wie sie ist, reicht es, denke ich, wenn du einfach du selbst bist.“ Na toll… Stein legte den Kopf schief und sah mich verwundert an. „Du scheinst mit meiner Antwort nicht zufrieden zu sein.“ Ts! Ich selbst sein? Wenn der wüsste … „Ich hatte irgendwie auf etwas Konkreteres gehofft.“ Irgendwo tropfte ein Wasserhahn. BANG! Das Geräusch ließ mich zusammenzucken. Nein, ich selbst konnte das unmöglich schaffen. „Was willst du denn hören?“, seufzte der Lehrer genervt. „Es gibt keinen Verhaltenskodex, das wäre ja viel zu leicht. Vor allem, wenn so viel auf dem Spiel steht wie bei dir.“ „Bitte sagen Sie mir, wie ich eine gute Waffe sein kann!“ Ich klang verzweifelt und laut, meine Stimme hallte unangenehm von den Wänden wider. „Hättest du in meinem Seminar nicht geschlafen, wüsstest du es. Eine Partnerschaft ist wie eine sehr enge Freundschaft oder eine Liebesbeziehung. Man kennt den Anderen besser als sich selbst und vertraut einander mehr als jedem sonst. Wenn du also eine gute Waffe sein willst“, er stand langsam auf und blickte durch blitzende Brillengläser unheilverkündend auf mich herab, „dann geh nach Hause und freunde dich mit deiner Meisterin an.“ Das klang wie ein Rauswurf. „Oder lass sie im Stich wie alle anderen und such‘ dir einen neuen Meister.“ Es war ein Rauswurf, der mich wachrüttelte – vielleicht lag es auch an seiner drohenden Tonlage –, sodass ich ohne eine Verabschiedung das Wohnzimmer, das Haus und schließlich auch das düstere Grundstück verließ. ~*~ Mein Rückweg stellte sich als ähnlich schwierig heraus wie der Hinweg. Die Gassen und Einkaufsmeilen der Innenstadt waren immer noch voll und eng, doch diesmal entdeckte ich keinen Einheimischen, der mich führte. Stattdessen blitzte mich aus einem bunt dekorierten Schaufenster etwas an, etwas Hübsches, Goldenes. Es war ein Modeschmuckladen, daher absolut preiswert, und ehe ich mich versah, war ich hineingegangen und hatte es gekauft. Mehr durch Zufall als durch bewusstes Den-Weg-Kennen landete ich irgendwann vor dem Wohnblock, den ich mein neues Zuhause nannte. Das Apartment war genauso ruhig wie heute Mittag. Als ich an Valeries Tür klopfte, war Schweigen die einzige Antwort. Ich klopfte noch einmal, diesmal etwas lauter, doch es blieb still. Und die Tür war verschlossen. Panik flackerte in mir auf bei dem Gedanken, dass sie vielleicht da drin lag und – Unruhig spähte ich durchs Schlüsselloch: Das Zimmer war hell, doch ein großer, dunkler Gegenstand in der Mitte des Raumes versperrte mir die Sicht. Wahrscheinlich war sie einfach unterwegs. Ja, so musste es sein. Valerie hatte eine PS3. Um mir die Zeit zu vertreiben, startete ich die Konsole und begann das Spiel, das eingelegt war: Call of Duty. Ein Ballerspiel, wie ich feststellen musste, noch dazu eines, indem ich unglaublich schlecht war, was vielleicht daran lag, dass ich so was noch nie gespielt hatte. Es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe ich die Steuerung raushatte, und nochmal mindestens genauso lange, bis ich herausgefunden hatte, auf was genau ich eigentlich schießen musste. Erst gegen 18 Uhr klickte der Schlüssel im Schloss der Haustür und meine Meisterin betrat den Flur. Mitten im Weg zog sie ihre Schuhe aus und ließ sie dort liegen. „Hey“, grüßte sie knapp. „Hey. Wo warst – woah!“, unterbrach ich mich, als Valerie ins Licht des Wohnbereichs trat. Ihre langen, blonden Haare waren nicht mehr lang und blond, sondern reichten ihr in einem hellen Rotton nur noch bis knapp an die Schultern. Langsam stand ich auf und trat stauend an sie heran. „Ich hatte Therapie“, antwortete sie und wich mir aus. Ich konnte mir mein Grinsen nicht verkneifen. „Das ist ja ein interessanter Therapeut, der dir die Haare färbt.“ „Ha ha“, blockte sie mich ab und nahm sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Sie wollte in ihr Zimmer, doch ich hielt sie auf. „Warte.“ Ich umfasste leicht ihr Handgelenk, wich den Verbänden aus. Ein warmer Schauer durchflutete mich. Als würden meine Finger genau da hingehören. Valerie war da wohl anderer Meinung. Sie entriss sich mir augenblicklich und drehte sich zu ihrer Tür. Eilig kramte sie in ihrer Jackentasche wahrscheinlich nach dem Schlüssel. Warum hatte sie ihr Zimmer extra abgeschlossen? „Bitte hör mir zu“, sprach ich lauter. Sie seufzte genervt und drehte sich mit rollenden Augen zu mir um. „Was ist?“ „Es tut mir leid, dass ich mich heute Morgen im Ton vergriffen habe“, erklärte ich vernünftig, um nicht schon wieder einen Streit zu provozieren. „Das war nicht okay.“ „Aha“, gab sie nur von sich und nestelte weiter an ihrer Tasche herum. Oha, also mit so viel Kälte hatte ich wirklich nicht gerechnet. „Ähm, an der Stelle wäre es vielleicht angebracht, wenn du“, ich zeigte mit den Fingern auf sie, „dich für die nicht ganz netten Sachen, die du gesagt hast, entschuldigst und dann könnten wir“, meine Daumen deuteten über meine Schulter auf die Küche, „uns was zu essen bestellen und schauen, was heute Abend im Fernsehen kommt.“ Zum Ende wurde meine Stimmer immer höher, sodass ich mir wie ein bettelnder Idiot vorkam, anstatt wie ein vernünftiger Mensch, der einen anderen vernünftigen Menschen hinsichtlich Manieren und Ausdruck zurechtweist. Die Meisterin seufzte erneut und es klang schon fast theatralisch. „Wieso bist du eigentlich noch hier?“ Fragend legte ich den Kopf schief. „Na ja, ich bin dein Partner und deshalb ich wohne hier.“ Sie machte die gleiche Geste und sah verwirrt zu mir herauf. „Bist du nicht zu Doktor Stein gegangen, um nach einem neuen Meister zu fragen?“ „Was? Nein.“ Erst jetzt wurde mir klar, dass mein Verhalten für sie wohl leicht missverständlich war. „Du hast gesagt, wenn ich etwas wissen wollte, sollte ich zu Doktor Stein oder dem Shinigami gehen. Also … bin ich hingegangen.“ Ihre grünen Augen blitzten nervös auf. „Und was hat er gesagt?“ „Er hat deine Seele mit einem getrockneten Seeigel verglichen.“ Verdutzt zuckte Valerie zusammen. Vielleicht hätte ich das netter verpacken sollen. „Na toll. Neulich war ich noch ein Topf, jetzt bin ich ein Seeigel. Das wird ja immer besser.“ Sie zog den kleinen Schlüssel aus ihrer Jacke und wendete sich ab. „Warte“, rief ich noch einmal. „Was denn noch? Ich hab' zu tun.“ Irgendwie fühlte ich mich armselig. Als würde ich permanent gegen eine Wand laufen. „Wollen wir uns nicht etwas zu essen bestellen und schauen, was so im Fernsehen kommt?“ Geräuschvoll atmete meine Meisterin aus, als ob sie am liebsten schon wieder seufzen wollte. „Warum gibst du dir eigentlich so viel Mühe, Adrian, wenn du es mit jemand anderem doch viel leichter haben könntest?“, fragte sie ernst und verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum gibst du dir denn gar keine Mühe?“ Das war noch freundlich ausgedrückt, so hart wie sie mich schon von sich gestoßen hatte. „Weil mein Bemühen in der Vergangenheit nie erwidert wurde.“ „Dann weißt du ja, wie es mir gerade geht.“ Sie blinzelte bei dem Konter überrascht auf und irgendwie hatte ich das Gefühl, gewonnen zu haben. „Ist ziemlich scheiße, was?“ Ihre Wangen und Ohren – und kurz darauf auch ihr ganzes Gesicht – färbten sich rosa. Hätte sie noch Hörner, würde sie aussehen wie ein kleiner, roter Teufel. Die Vorstellung ließ mich kichern. „Ähm“, machte sie kleinlaut nach einigen peinlichen Augenblicken. Ihr Zimmerschlüssel verschwand wieder in der Tasche. „Auf der anderen Seite des Blocks ist ein Asiate. Wollen wir uns dort Frühlingsrollen hohlen?“ Ihr unbeholfener Ausdruck ließ mich breit grinsen. Asiatisches Essen? Das klang ja fast wie ein Friedensangebot. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)