Soulmate von Livera ================================================================================ Kapitel 13: Édénique -------------------- Kapitel 13: Édénique Adrian An unserem Zielort hatte es geregnet. Viel geregnet. Der Boden war ein einziger schlammiger Sumpf und es nieselte noch immer ein wenig. Der Busfahrer drehte ein paar Runden über das Gelände wohl in der Hoffnung, eine halbwegs trockene Stelle zu finden, an der er uns rauslassen konnte. Die gab es allerdings nicht und so hielt er schließlich auf dem glitschigen Untergrund an. Mit den Worten „Ich hoffe, ihr habt Gummistiefel eingepackt“ öffneten sich die Türen. Kim Diehl, die mit ihrer Partnerin direkt vor uns gesessen hatte, war die erste an der Tür. Mit pinken Gummistiefeln an den Füßen sprang sie im hohen Bogen von der Treppe des Busses in den nassen Matsch. Dabei spritzte der Dreck bis an die Fenster. „Oh mein Gott, das ist so widerlich“, seufzte ihre Waffe, während sie ihr folgte. An der Tür allerdings hielt Jacqueline inne und zum allgemeinen Erstaunen nahm Kim sie auf die Arme und trug sie durch die schlammige Landschaft. Neben mir begann Raphael, sich seine Schuhe auszuziehen und die Hosenbeine hochzukrempeln. Hinter uns näherten sich klackernde Schritte. „Ich werde dich ganz bestimmt nicht tragen“, motzte er, noch bevor Cordelia ganz ankommen konnte. Mit ordentlich Schmackes schmiss sie ihm ihren Rucksack gegen die Brust und widersprach: „Das seh‘ ich anders.“ Einige der Jüngeren schauten nicht schlecht als die Blonde sich vor allen Augen verwandelte und in einem weißen Licht an Raphaels Hüfte verschwand. Erst jetzt fiel mir die lederne Messerscheide auf, die an seinem Gürtel befestigt war. Genervt rollte Raphael mit den Augen und drängte sich mit den zwei geschulterten Taschen durch den schmalen Gang. Draußen versanken meine nackten Füße fast bis zum Knöchel im kalten Schlamm. Bis zum eigentlichen Zeltplatz waren es noch ein paar hundert Meter über durchgeweichten Waldweg. „Dieses Geräusch ist widerlich“, kommentierte Valerie, die ebenfalls barfuß neben mir herlief, das Pitsch und Patsch, das mit jedem Schritt durch die Gruppe hallte. Zum großen Leidwesen aller anderen hatte Black*Star am Ende des Trosses eine Schlammschlacht angefangen und versuchte nun, so viele Leute wie möglich mit reinzuziehen. Tsubaki bemühte sich, nachdem ihr Versuch, ihren Meister ruhig zu stellen, misslungen war, Abstand zwischen sich und das Chaos zu bringen. Ich kam dabei nicht umhin, mich zu fragen, wie die beiden trotz der offensichtlichen Unterschiede ein eingespieltes Team werden konnten. „Ganz schön beschwerlicher Weg“, meinte sie zu uns und blickte herab auf ihre dreckigen Schuhe. „Redest du von dem Wetter“, fragte Valerie und fiel in einen zynischen Ton, „oder von deinem kindischen Meister?“ Von der Seite warf Tsubaki ihr einen mahnenden Blick zu. „Er hat halt seinen Bewegungsdrang. Wie läuft’s eigentlich mit deiner Verwandlung?“ Sie wandte sich an mich. Ihre hübschen, dunklen Augen musterten mich abwartend und ich zögerte kurz, ihr zu sagen, dass es trotz täglicher Übung keine nennenswerten Erfolge zu verbuchen gab. Doch Valerie kam mir zuvor: „Er hat vorhin, als Black*Star mich angemacht hat, in einem Anflug von heldenhaftem Beschützerinstinkt die Krallen ausgefahren.“ Tsubaki lachte auf bei der Beschreibung und aus irgendeinem Grund war mir das Ganze nun peinlich. Schließlich war das weder willkürlich gewesen noch sonderlich kontrolliert. Und bestimmt nicht heldenhaft. „Ach, wie nobel.“, meinte die Waffe nur und lächelte zufrieden vor sich hin. Der Campingplatz war eine Lichtung umringt von hohen Eichen und Nadelbäumen. In einigen Metern Höhe über einer zentralen Feuerstelle war eine weiße Plane mit einem Loch für den Rauch gespannt, welche zusammen mit den Baumkronen wohl das meiste Regenwasser abgefangen hatte; sodass der Platz einigermaßen trocken geblieben war. Etwas abseits standen drei Hütten dicht nebeneinander gestellt, die jeweils beschriftet waren mit „Küche“, „WC/Duschen“ und „Campleitung“. „Wollen wir unser Zelt nah am Klo aufschlagen?“, schlug ich vor, doch meine Meisterin deutete in genau die entgegengesetzte Richtung. „Nein, lass uns bitte möglichst viel Abstand zur Küche halten.“ Ich wollte protestieren, als die ersten bereits Plätze bei den Hütten für sich beanspruchten, doch da fiel mir ein: Mit Küche meinte sie Küchengeräte wie Messer und Scheren, von denen sie sich fernhalten wollte Valerie war schon einige Meter vorausgelaufen. Ich schloss zu ihr auf und sprach in leisem Ton: „Du, ich glaube, die schließen die Küche nachts ab. Wegen den Tieren.“ „Ich will kein Risiko eingehen.“ „Hast du die Kette dabei?“ Sie nickte. „Gut.“ Ich nickte ebenfalls, mehr zur Bestätigung für mich selbst, dass dieses Wochenende sicher lustig, abenteuerlich und uns weiterbringen wird. Ganz bestimmt. „Schau mal, da vorne sieht es nett aus.“ Ich deutete auf eine freie Grasfläche zwischen zwei Büschen vor uns. Valeries gebrummtes „Mmh“ war Zustimmung genug. Wir hatten uns für ein praktisches, großes Wurfzelt entschieden, sodass das Aufbauen keine großen Schwierigkeiten mit sich brachte. Ob und wie wir das Ding am Sonntag allerdings wieder zusammengebaut bekommen würden, stand in den Sternen. Ich bot an, das Aufpumpen der Luftmatratzen zu übernehmen, doch meine Meisterin entgegnete nur, wenn ich anfinge, sie wie ein Mädchen zu behandeln, würde sie sich auch wie eines benehmen. Dabei deutete sie auf Cordelia, die nicht allzu weit entfernt neben einem Haufen aus Tuch, Planen und Stangen stand und ihrem Partner schweigend beim Arbeiten zusah. Also liehen wir uns von einer jungen, enthusiastischen Frau im Pfadfinderoutfit eine manuelle Luftpumpe aus und wechselten uns mit den Matratzen ab, was bereits nach kurzer Zeit in einem Wettbewerb ausartete, wer die meisten Züge schaffte, ehe ihm die Arme abfielen. Nach knapp 20 Minuten lagen wir schnaufend im Zelt. „Das Wurfzelt war eine gute Idee“, befand ich beim Anblick derer, die immer noch mit dem Aufbau zu kämpfen hatten. „Jup“, stimmte Valerie mir zu. „Hey“, sie setzte sich auf. Dabei stieß ihr Kopf nicht mal an die Decke. „Lass uns die Matratzen drehen. Die passen bestimmt auch quer rein.“ „Wozu?“ „Ich will nicht am Ausgang schlafen.“ Sie scheuchte mich mit einer Handbewegung von den Luftbetten und aus dem Zelt und fügte deutlich leiser hinzu: „Wenn ich nachts aufstehe, wirst du eher wach, wenn ich über dich drüber klettern muss.“ Sie wuchtete und drehte die Matratzen und nach einigen Augenblicken lagen sie längs im Zelt. Schwerfällig ließ sie sich wieder fallen. „Ich mach ein Nickerchen“, beschloss sie. „Weck mich bitte, wenn es was zu essen gibt.“ Langsam fielen ihr Lider zu. Vorsichtig legte ich mich auf mein Bett an der Öffnung des Zeltes dazu und betrachtete meine Meisterin für ein paar Momente. Von Nahem erkannte ich eine Reihe blasser Sommersprossen auf ihrer Nase und Stirn und ein stecknadelgroßes Muttermal auf dem Schlüsselbein. Der fruchtige Geruch von Shampoo hing über ihr. Ich fuhr erschrocken zurück, als plötzlich ihre Augen aufschlugen und mich direkt anfunkelten. „Wehe dir, wenn du mich des Nachts begrapschst, Adrian.“ Mit Lichtgeschwindigkeit schoss mir das Blut in die Wangen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass wir ja ein Junge und ein Mädchen waren, die auf engsten Raum miteinander schlafen mussten. Also nicht miteinander. Zusammen halt. Nebeneinander. „Wüstling“, lachte Valerie mich aus, weil ich knallrot wohl ein ziemlich lachhaftes Bild abgab. „An was du wieder denkst?“ Liebevoll boxte ich ihr in den Oberarm. „Hey, wenn du deine Griffel bei dir lässt, lass ich meine bei mir.“ Ein kurzes, süßes Kichern kam von ihr, dann griff sie nach ihrer türkisfarbigen, kuscheligen Decke, die so groß war, dass drei Leute es darunter warm haben konnten, und verschwand fast gänzlich darin. Ein Schauer von Müdigkeit überkam mich und ich wagte es, mich auch kurz zurückzulegen und den Geräuschen der Natur um uns herum zu lauschen. Das Rauschen von Wind in den Baumkronen und zwitschernder Vogelgesang mischte sich mit dem Rascheln der Zelte, Plappern der Schüler und den ruhigen Atemzügen meiner Meisterin. Kein Straßenlärm, keine grellen LED-Leuchten, keine fernen Polizeisirenen. Alles Vergangenheit. Hier und heute konnte ich es wagen, für fünf Minuten die Augen zu schließen und an nichts zu denken. ~*~ Licht lag wie eine samtige Decke über mir. Licht, ein erdiger Geruch und eine verschwommene, französische Stimme. „Adrien! Allez!“ Da waren schnelle Schritte über Kies und Asphalt, ein Lachen, das mit dem Wind in den Kronen des Central Parks tanzte. „Ici, c’est le paradis!“ Paradiesisch, ja. Aber zu welchem Preis? Das Licht zog davon, riss das Lachen mit sich. Zurück blieben nur Herzrasen und Schnaufen, ein Keuchen durch dunkle Gassen und Angst. „Adrien! Adrien!“ Ein Schuss fiel. Ein zweiter. „Adrian!“ Ein westamerikanischer Dialekt und das schrille Klingeln von Glöckchen rissen mich zurück in die Wirklichkeit. Schwer atmend starrte ich rauf zur Zeltdecke. Valeries schreckgeweitetes Gesicht blickte zurück. Zwischen ihren schlanken Fingern zitterte die goldene Fußkette. „Oh Gott, na endlich“, seufzte sie schniefend. „Was ist denn los?“ Schwerfällig rappelte ich mich auf. Mein Rücken fühlte sich an, als hätten Pferde ihn zertrampelt, und hinter meiner Stirn brummte ein pochender Schmerz. „Weinst du etwa?“, fragte ich, als ich die glitzernde Feuchtigkeit auf ihren Wangen bemerkte. Blitzschnell drehte Valerie sich auf den Knien von mir weg. „Natürlich nicht.“ Mit dem Ärmel ihres Sweatshirts wischte sie sich grob über das Gesicht. „Du hast im Schlaf plötzlich angefangen zu zittern und warst ganz heiß, als hättest du einen Fieberanfall. Und du bist einfach nicht aufgewacht.“ Sie schniefte noch einmal und kramte in unseren Rucksäcken nach Taschentüchern. „Entschuldige. Das hat dich sicher erschreckt.“ Ein Stückchen rückte ich näher heran und legte behutsam meine Fingerspitzen auf ihren Rücken. Warme, pulsierende Energie strömte von ihrer Wirbelsäule in meine Hand und augenblicklich fühlte ich mich wach und ausgeruht. Langsam drehte Valerie sich wieder zu mir um. Ihre Augen und Wangen waren ein bisschen rot. Eine ihrer schlanken Hände legte sich auf meine Stirn, wahrscheinlich um zu schauen, ob ich wirklich Fieber hatte. Natürlich hatte ich keines, ich war kerngesund. Das Leben auf der Straße hatte mein Immunsystem robust gemacht. Doch anstatt erfreut – oder zumindest erleichtert – darüber zu sein, verzog mein Gegenüber genervt das Gesicht. Und schlug mit derselben Handfläche hart gegen meine Stirn, sodass ich von der Wucht wieder ins Bett fiel. „Wenn du so was mitten in der Nacht machst, schläfst du draußen!“, rief sie in ihrem üblichen gereizten Tonfall laut genug, damit alle anderen an ihrem Unmut teilhaben konnten. Ich erkannte Raphaels Stimme, die von draußen provokant sprach: „Schon Ärger im Paradies?“ „Ich geb‘ dir gleich Ärger! Was ist das denn? Euer Zelt steht ja immer noch nicht.“ Entschlossen stampfte Valerie über den Platz zu Raphael und seiner Waffe, die sich jetzt doch an den Stangen und Tüchern versucht hatte. Offensichtlich erfolglos. Wieder rauschte ein sanfter Wind durch die kräftigen Äste und verfärbten Blätter der Bäume und sang sein bekanntes Lied. C’est le paradis! Paradis, hm? New York war alles andere als ein Paradies. Die Ungebundenheit, die Regellosigkeit, die Freiheit – das war traumhaft gewesen. Aber die Freiheit, gehen zu können wohin man wollte, brachte auch immer die Gefahr mit sich, dass man Orte entdeckte, die lieber unentdeckt geblieben wären. Das einzig Paradiesische an New York war Ina. Sie hatte nie in die Stadt gepasst. Sie war ein Mädchen vom Land gewesen, das gerne über lange Feldwege spaziert und durch Weinreben gesprungen war. Zwischen den hohen Häuserfassaden der Innenstadt und in den unterirdischen Clubs war sie furchtbar verloren gewesen, im Central Park hatte sie sich wohl gefühlt. Ich setzte mich im Schneidersitz in den Eingang unseres Nachtlagers und beobachtete Valerie von weitem. Sie war ein bisschen größer und kräftiger als Ina, was wohl von ihrem Training kam, aber genauso temperamentvoll. Ihre Haare hatten die gleiche Länge, aber ansonsten unterschieden sie sich gänzlich voneinander. Ina war brünett gewesen wie frischer Kuhmist – ihre Aussage –und nett zu jedem, der ihr über den Weg gelaufen war. Sie hatte gerne Feldbücher in der Stadtbücherei gelesen und davon geträumt, Biologie zu studieren und Botanikern zu werden – weil ich so dumm gewesen war und ihr gesagt hatte, in Amerika könnte man alles werden, wenn man nur fest daran glaubte. Sie war in New York nie zur Schule gegangen. Da fiel mir ein: Ich wusste gar nicht, was Valerie gerne in ihrer Freizeit tat, wenn sie nicht lernte, trainierte oder zu Wochenendausflügen gezwungen wurde. Von der Seite kamen Schritte näher. Neben dem Zelt stand Black*Star, der missmutig auf mich herab blickte. „Alter. Das“, er deutete mit einer kreisenden Fingerbewegung auf sein Gesicht, „solltest du lassen. Welcher Mann heult denn vor allen anderen?“ Verwirrt wischte ich mit der Hand über meine Wangen und betrachtete die Feuchtigkeit darauf. Hatte der Traum mich zum Weinen gebracht? Oder war es der Gedankenfluss gewesen, in den ich dann gestürzt war? Wahrscheinlich beides. Ich schlug mir beide Hände vors Gesicht und ließ mich mit einem tiefen Seufzer nach hinten fallen. Ich hatte fast gar nicht bemerkt, was für ein emotionales Wrack ich in den letzten Wochen geworden war. „Ach komm, so schlimm?“ Der Meister hockte sich hin und schaute durch die Öffnung ins Zelt. „Nee, alles ok.“ Nichts war ok. Aber zumindest brannten manche Wunden nicht mehr wie Höllenfeuer, wenn man sie mal versehentlich streifte. „Du hast großes Glück, dass wir Erfahrenen da sind, um euch Jungspunden zur Seite zu stehen. Falls du also einen großartigen Rat brauchst“, mit einem stolzen Grinsen deutete er mit dem Daumen auf sich, „ich bin dein Senpai.“ „Nein, danke“, wies ich ihn prompt ab. Da fiel mir doch etwas ein: „Halt, warte, eine Frage habe ich.“ Ich setzte mich wieder auf. „Was sind das für Spannungen zwischen dir und Valerie?“ Auch wenn mich ihre privaten Streitigkeiten nichts angingen, hatte ich das Bedürfnis, Bescheid wissen zu wollen, wen oder wer sie in Zukunft vielleicht mal zu einem Kampf herausfordern könnte. „Sie hat Potenzial, keine Frage“, antwortete er. „Aber für meinen Geschmack ist sie etwas zu großkotzig, dafür dass sie kaum Erfolge vorlegen kann.“ Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. „Ich finde dich sehr viel großkotziger.“ „Hahaha, stimmt!“, lachte er laut, obwohl ich ihn beleidigt hatte. „Aber im Gegensatz zu Valerie hab‘ ich’s auch drauf. Während sie in der NOT rumhängt und nur ihren Boxsack vermöbelt, bekomm ich die richtig wichtigen Dinger von Shinigami!“ „Die du aber trotzdem nicht hinkriegst!“, kam es direkt von Tsubaki, die einige Meter weiter mit einem jungen Mädchen sprach und ihren Partner wohl gehört hatte. Eigentlich kein Wunder bei seiner Lautstärke. „Ach komm schon, so übel sind wir gar nicht.“ „Ihr seid so unterschiedlich“, bemerkte ich und hatte recht: Tsubaki war so zart und ruhig, er dagegen … war es nicht. „Wie kann es sein, dass ihr so gut funktioniert?“ Back*Star schien kurz zu überlegen und meinte schließlich bedächtig: „Sie ist die einzige, die mich wirklich wertschätzt und so sieht, wie ich bin.“ Seine Nase fuhr stolz nach oben und auf seinem Gesicht erschien wieder dieses breite Grinsen. „Und sie gibt mir immer recht. Eine wirklich gute Waffe!“ Er lachte erneut, erhob sich und stolzierte davon. Irgendwie überkam mich das Gefühl, dass Tsubaki mehr Sklavin als Partnerin war. Aber sie schien ja nicht unglücklich zu sein. Ich war also kein Stück schlauer als vorher. Die Campleitung bestand aus einer sehr quirligen Frau im hellbraunen Outfit und aus einem groß gebauten Mann in derselben Aufmachung – nur dass bei ihm das blattgrüne Tuch um den Hals und die bunten Abzeichen auf der Brust irgendwie albern aussahen. Von ihnen wurden wir angewiesen, in kleinen Gruppen Feuerholz zu sammeln und danach das Abendessen selber zu machen. Irgendwie hatte ich mit etwas Spektakulärerem gerechnet, aber für einige waren die Anreise und das Aufbauen bereits abenteuerlich genug gewesen. „Was macht ihr?“, fragte ich Valerie und ein jüngeres Mädchen, dessen Namen ich nicht kannte. Sie rührten bereits seit einigen Minuten in zwei großen Schüsseln einen hellbraunen Teig an. „Stockbrot“, antworteten sie unisono. „Was für Brot?“ „Stockbrot“, wiederholte meine Partnerin. „Jetzt erzähl mir nicht, dass du Stockbrot nicht kennst.“ „Ich war noch nie Campen“, erklärte ich. Ungläubig sahen die beiden Mädchen mich an. „Klingt nach einer unerfüllten Kindheit“, meinte die Unbekannte, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit widmeten. Stockbrot war, wie ich später herausfand, eine Teigware, die man auf einem Stock über offenem Feuer backte. Meine Bedenken bezüglich der Hygiene – man wickelte den Teig um einen richtigen, unbehandelten Stock vom Waldboden – verwarf ich, als ich den ersten Bissen probierte und mir dabei nur ein klein wenig die Zunge verbrannte. So schmeckte also eine erfüllte Kindheit. Nicht schlecht. Der Abend klang ruhig aus. Wir wurden angehalten, früh ins Bett zu gehen, da wohl am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang ein straffes Programm auf uns warten würde. Doch das hinderte Black*Star nicht daran, allen am Lagerfeuer eine Gruselgeschichte aufzubinden, die dem ein oder anderen den Nachtschlaf rauben würde. Valerie schien das jedoch kalt zu lassen. Bereits wenige Minuten nachdem wir uns hingelegt hatten, erfüllten ihre ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge unser Zelt. Die friedvolle Stimmung, die ihre Ruhe ausstrahlte, lullte mich ein und schickte mich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. ~*~ Vom Klingeln der Glöckchen und Rascheln des Schlafsackes wachte ich später in der Nacht auf. Valerie saß an meinem Fußende und machte sich gerade am Reißverschluss des Zeltes zu schaffen. „Hey“, sprach ich sie an. „Bist du wach?“ „Ja“, flüsterte sie zurück. Sie streckte ihren Kopf ein wenig nach draußen und sah sich um. „Was ist los?“, fragte ich sie und rappelte mich auf. „Hörst du das nicht?“ „Was hören?“ „Dieses … Summen.“ Ich hielt einen Moment den Atem an und lauschte angestrengt. Doch da war nichts. „Nein.“ „Schau mal.“ Sie öffnete den Reißverschluss weiter sodass ich auch rausgucken konnte, und zeigte auf den Himmel. „Da.“ Südlich von unserem Camp erhellten grün und blau flackernde Lichtschweife die Nacht über den Bäumen. „Nordlichter?“, staunte ich atemlos. „Aber doch nicht hier.“ „Was ist das dann?“ Scheinwerfer von zwei Taschenlampen jagten über die Wiese. Ein paar Zelte weiter standen die vier EAT-Schüler und betrachteten ebenfalls das Schauspiel. Obwohl wir uns bedeckt hielten und jedes Geräusch vermieden, entdeckte Black*Star uns und kam mit gesenkter Lampe herüber. „Hörst du das?“, fragte er Valerie. Er grinste breit – und irgendwie diabolisch – als sie zur Bestätigung nickte. „Was ist das?“ „Hexengesänge.“ Er schnellte nach vorne und drückte ihr seine Handfläche auf den Mund, als meiner Meisterin ein erschrockener Laut entglitt. „Schsch“, machte Black*Star mit einem Finger vor dem Gesicht. „Das darf eigentlich keiner wissen. Seit einigen Wochen sollen Hexen in diesem Wald ihre Riten abhalten. Wir haben den Auftrag vom Shinigami bekommen, ihr Lager aufzuspüren und Informationen über die Zeremonien zu sammeln.“ Er ließ Valerie los und schaute erwartungsvoll zu den schwebenden Lichtern am Himmel und dann wie zu uns, bevor er fragte: „Wollt ihr mitkommen?“ AN.: Ich hab keine Ahnung, wie /ob Stockbrot/Knüppelbrot/Knüppelkuchen in Amerika verbreitet ist. Ich hoffe, ihr seid genauso gut reingerutscht wie ich ;) Nächstes Kapitel 31.01.2020 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)