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Soulmate

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
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Prolog

Eine gesunde Seele wohnt in einem gesunden Geist und in einem gesunden Körper

Doch ist der Geist krank, dann ist auch die Seele krank.
 


 

Prolog
 

Tick Tack Tick Tack.

Tick Tack.

BANG BANG!

Tick Tack Tick.
 

Adrian Laurent war kurz davor, die monoton tickende Uhr von der Wand des dunklen Verhörraumes zu reißen. Unaufhörlich, unaufhaltsam schritten die Zeiger voran.

Wie konnten sie nur?

Die Welt drehte sich weiter, während er immer noch eingefroren war. Ließ ihn erbarmungslos zurück.

Erbarmungslos. Ja, das war diese Welt.

Das Zugticket, das vor ihm auf dem Tisch lag, hatte er nicht angerührt.
 

29.9.XXXX Grand Central Terminal, New York City, New York – Central Station, Death City, Nevada
 

Dein Freifahrtschein“, hatte der Doktor es genannt. „Entweder du gehst an die Shibusen oder an den Galgen.

Die Shibusen. Adrian hatte davon gehört. Es sollte ein Ort sein, an dem Menschen wie er akzeptiert und sogar ausgebildet wurden. Er hatte es nie gewagt, den Gedanken, dass er dorthin wollte, laut auszusprechen. Wegen ihr.

Doch jetzt war sie tot.

Draußen wurde eine Tür zugeknallt.
 

BANG!
 

Sein Innerstes zuckte zusammen. In jedem Geräusch hörte er die Schüsse, in jedem dunklen Schatten sah er ihr Blut.

Sie war tot und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Nicht, was er mehr verlieren konnte.

Wir stellen dir einen Meister zur Verfügung“, hatte der Doktor weiter erklärt. „Sie geben dir sechs Monate Zeit, um zu beweisen, dass du nicht der Versager bist, für den die Leute dich hier halten.

Sie hatten recht. Er war ein Versagen, das war schon immer so.

Und vielleicht war die Shibusen seine einzige Chance, dies zu ändern.

Also nahm er das Zugticket und sah in das Spiegelglasfenster, hinter dem Ermittler standen, die ihn beobachteten. Doch er sah nur sich selbst, sein ganzer Körper zerkratzt und gezeichnet vom Gräuel dieser Stadt.

Ob Death City anders war?
 

Viel Glück.

Das Mädchen im Spind


 

Kapitel 1: „Das Mädchen im Spind
 

Valerie
 

Ich hasste die Menschen. Ich hasste die Art, wie sie mit mir umgingen, mit mir sprachen, mich ansahen. Ich hasste ihre jämmerlichen Versuche, mir in Momenten helfen zu wollen, in denen ich keine Hilfe brauchte.

Von allen Menschen hasste ich mich selbst am meisten. Ich hasste mich dafür, dass ich so war, wie ich war und nicht so, wie ich sein sollte.

Man sagte mir mal, eine Waffe ohne Meister bliebe immer noch eine Waffe, aber ein Meister ohne Waffe sei einfach nur ein Mensch.

Tja, und ich war eben nur ein Mensch.
 

Ich glaube, ich hatte noch nie wirklich Freunde. Als ich klein war, hatte ich meine Schwester. Aber jetzt ich war nicht mehr klein.

„Findet die Schlampe!“, schallte es auf der anderen Seite der Metalltür über den Flur.

Ich glaube, ich war auch noch nie wirklich beliebt.

Und ich glaube, ich war auch nicht wirklich schlau.

„Sucht sie! Das Miststück schmeiß ich vom Dach runter!“

Das Miststück war ich. Ich will nicht behaupten, dass ich etwas sehr, sehr Dummes gemacht habe, aber … Ich habe etwas sehr, sehr Dummes gemacht.

Heather Moon war ein Alptraum in Person. Um es kurz zu sagen: Sie hasste mich. Viele konnten mich nicht leiden, aber sie hasste mich regelrecht. Und weil, laut Doktor Steins Aussage, die Shibusen eine Schule sei, an der nur die Starken aufsteigen könnten und ich deshalb gefälligst Maßnahmen ergreifen sollte, um die Stärkere zu sein … Nun, ich habe Maßnahmen ergriffen. Üble Maßnahmen, für die ich bestimmt eine Anzeige wegen Körperverletzung bekommen werde.

Heather wohnte im Mädchenwohnheim der Shibusen, zusammen mit Kim Diehl, einer sehr bestechlichen Person. Also habe ich im Sinne meiner Maßnahmen Kim Geld gegeben. Und sie hat in meinem Auftrag … Haarentfernungszeug in Heathers Shampoo gekippt. Ich weiß. Eine unmöglich dumme Idee, aber ich war 16! In meinem Alter machte man unmöglich dumme Sachen.

Und deswegen stand ich, eine circa 1,50 Meter große Meisterin, jetzt hier in einem 1,60 Meter hohen Spind, versteckt vor Heather Moon und ihrer Clique, die irgendwie spitzt gekriegt hatten, dass ich hinter der Aktion steckte. Vielleicht hatte mich auch mein Kichern verraten, als sie heute Morgen mit einer stilvollen Wollmütze in die Schule kam und sich selbst im Unterricht weigerte, sie abzunehmen.

Im Gegensatz zu mir war Heather sehr beliebt. Vor allem bei sportlichen Schlägertypen und Waffen, die ihren Standpunkt gerne mit der Faust festmachten.

„Wenn ich diese Fynker erwische, werde ich sie in Stücke reißen!!

Jap, ich steckte definitiv in Schwierigkeiten. Für gewöhnlich betete ich ja nicht, aber das war vermutlich ein guter Zeitpunkt, damit anzufangen.

Die breiten Absätze ihrer edlen, schwarzen Preppy-Lackschuhe klapperten über das Linoleum, direkt vor meinem Spind. Durch die schmalen Durchlüftungsschienen konnte ich ihre lange Löwenmähne erkennen, die von so vielen Mädchen der Schule bewundert wurde. Und die ich wohl ruiniert hatte. Heather lief, sichtlich verärgert, über den Flur an mir vorbei, gefolgt von ihrer wachsamen Gefolgschaft. Dann war sie weg. Erleichterung durchflutete mich, als sie außer Hör- und Sichtweite waren und gerade, als ich mich in Sicherheit wiegen wollte, ging die Spindtür auf. Mit voller Wucht wurde eine Bauchtasche hineingeworfen, die mich unangenehm am Kopf trat.

Rückblickend betrachtet war es ein Wink des Schicksals, wenn auch ein recht schmerzhafter, den ich in dem Moment nur mit groß, dunkelhaarig und in dreckige Jeans gekleidet beschreiben konnte. Völlig entgeistert beugte sich der Fremde zu mir hinunter. Er hatte ein hübsches Gesicht mit markanten Wangenknochen und grün-braunen Augen, die mich hochverwirrt anschauten.

„Hi“, war das Cleverste, was mir einfiel. „Ist das dein Spind?“ Ganz offensichtlich war es sein Spind.

Der Typ nickte leicht und legte den Kopf dabei so merkwürdig schief, dass ich die Bewegung nachahmte, ohne mir dessen richtig bewusst zu sein. „Allerdings. Und was machst du hier drin?“

„Ich verstecke mich vor einer Bande Schlägern.“

„Aha.“ Er stütze sich mit beiden Händen an der oberen Kante des Spindes ab und beugte sich weiter hinunter. „Du musstest wohl noch nie vor Schlägern abhauen, oder?“ Seine Worte hatten einen bitteren Beigeschmack und aus nächster Nähe waren seine Augen dunkler als erwartet.

Ehrlich gesagt hatte ich es schon ziemlich oft mit üben Kerlen zu tun.

„Stell dir mal vor, ich wäre so ein Schläger. In einem Spind könntest du weder irgendwohin abhauen, noch ausweichen oder zuschlagen, wenn sie dich packen wollen. Kein sehr kluges Versteck.“

Aha, ein Besserwisser. Oder jemand, der schon oft fliehen musste.

„Und was wäre deiner Meinung nach ein kluges Versteck?“

„Da, wo Zeugen sind. Im Krankenzimmer oder irgendwo in der Nähe von Lehrern.“

Na, der kannte sich hier ja nicht sehr gut aus.

Selbstgerecht legte ich die Hände in die Hüfte und hob die Nase leicht nach oben in der Hoffnung, mich so ein bisschen breiter und ein bisschen größer zu machen. Was gar nicht so einfach war, wenn man kaum an die 1,60 Meter heranreichte und sich in einem Schrank befand.

„Bist wohl neu hier, was?“, sprach ich mit gehässigem Unterton. „Die Lehrer wollen quasi, dass wir uns prügeln. Das ist die Shibusen. Schwächlinge, die sich nicht durchsetzen können, kommen hier nicht weit.“

„Ah, verstehe.“ Der Fremde verzog das Gesicht zu einem widerlichen Grinsen, bei dem mir die Galle hochkam. „Lass mich raten: Die stärksten Schüler hier verstecken sich in den Spinden anderer Leute, stimmt´s? Dann musst du ja ein ganz, ganz großes Kaliber sein.“

Was für ein mieser, kleiner –

Wilde Raserei stieg unangenehm in mir auf und ich musste für einen Moment die Fäuste ballen, um sie zu unterdrücken, bevor ich den vorlauten Neuzugang am Kragen packte und kraftvoll auf meine Schulterhöhe zog.

„Falls du deinen Platz noch suchst, Frischfleisch“, zischte ich ihm direkt in sein gottverdammtest Gesicht, „grabe ich dir gerne ein sechs Fuß tiefes Loch hinten im Schulgarten.“

Mit einer schwungvollen Bewegung stieß ich den Kerl von mir weg und schleuderte ihm seine Tasche hinterher, sodass er ein paar Schritte in den Flur taumelte und den Weg freimachte. Arrogant, wie Heather es immer tat, warf ich mir die blonden Haare über die Schulter und ging davon, so stolz, wie es eine Meisterin in einer Horde von Waffen sein sollte.

Stimmt, ich hatte noch nie wirklich Freunde. Viele mochten mich nicht.

Aber vielleicht wollte ich auch gar nicht gemocht werden.
 

~*~
 

Ich hätte meine Haare nicht arrogant zurückwerfen und einfach weggehen sollen. Nein, es wäre besser gewesen, wenn ich meine Haare arrogant zurückgeworfen und die Spindtür einfach wieder zugeknallt hätte. Denn dann hätten mich Heather und ihre Gang nicht erwischt. Und dann auch noch an einem so klischeehaften Ort wie dem Mädchenklo. Alle schlimmen Dinge passierten auf dem Mädchenklo.

Vielleicht sollte ich mir einen Facebook-Account zulegen. Immerhin war es für Mobber und Schläger über das Social-Media-Wesen sehr viel einfacher geworden, anderen Menschen das Gefühl zu geben, sie würden bis zum Hals in Toilettenwasser stecken.

Und das ausgerechnet an dem Tag, an dem mir der Shinigami eine neue Waffe zuteilen wollte. An einem Tag, an dem ich einen guten ersten Eindruck hinterlassen sollte, stand ich also mit einem Handtuch um den Hals und tropfnassen Haaren im Deathroom, quasi als lebendiger Beweis dafür, dass Mädchen immer zu zweit aufs Klo gehen sollten.

Und als wäre das für heute nicht schon genug gewesen.

„Den da“, sagte ich zum Shinigami und zeigte auf den Typen neben ihm, „können Sie gleich wieder in das Loch zurückstecken, aus dem Sie ihn geholt haben.“

Ich kannte ihn: Es war der unangenehme Kerl, dessen Spind ich als Versteck missbraucht hatte und von dem ich mir anhören durfte, was für eine blöde Idee das gewesen war. Das mit dem guten ersten Eindruck konnte ich also vergessen.

„Wow“, sagte er mit diesem blöden Grinsen. „Also das habe ich wirklich nicht erwartet.“

Verwirrte schaute der Todesgott zwischen uns hin und her. „Ihr kennt euch? Na das ist ja toll!“

„Nein“, gab ich mürrisch zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein, wir kenne uns ganz und gar nicht.“ Irgendetwas tief in mir hatte beschlossen, diese Waffe nicht zu mögen. Keine Waffe mehr zu mögen.

„Na … na gut.“ Für einen kurzen Moment war der Shinigami verblüfft, als wüsste er nichts mit der Situation anzufangen, doch schnell fing er sich wieder. „Dann lernt ihr euch jetzt eben kennen.“

Mit seiner großen Hand gab er dem jungen Mann einen Schubs in den Rücken und dirigierte ihn so vom Podest herunter in meine Richtung.

„Valerie“, sprach er hochtrabend, als sie bei mir angekommen waren. „Das ist Adrian Laurent, ein Nahkampfmesser aus dem Osten des Landes. Adrian“, er wandte sich der Waffe zu. „Das ist Valerie Fynker, deine Meisterin. Wenn du’s vermasselst, werde ich dich wirklich wieder zurück in das Loch stecken, aus dem ich dich geholt habe.“ Die letzten Worte zischte er leis und verbissen.

Adrian schnaubte nur verächtlich und sah mich argwöhnisch an. Es vergingen einige Augenblicke peinlichen Schweigens, bevor er mir seine Hand entgegenstreckte.

„Ich will keine Waffe“, motzte ich den Shinigami an. Bestimmt werde ich für meine Frechheit später nachsitzen müssen, doch das war mir egal. „Ich brauche keine Waffe. Sie haben selbst gesagt, dass ich die Aufnahmeprüfung auch alleine schaffen könnte.“

Theoretisch, habe ich gesagt! Theoretisch bist du stark genug, um die Prüfung für die EAT zu bestehen. Aber ich lasse niemanden mehr einen Alleingang machen und du weißt ganz genau warum.“ Seine Maske verzerrte sich bei dem strengen Ton zu einer wütenden Fratze. „Entweder du bewirbst dich am Ende des Schuljahres – mit Adrian – für die EAT oder du machst nur deinen High-School-Abschluss und gehst!“

Stimmt. Dieses Jahr war die Deadline. Wer nach einer bestimmten Anzahl an Semestern keine Partnerschaft auf die Reihe bekam, wurde gewissermaßen aussortiert. Mit einem durchschnittlichen Abschluss als Trostpreis dafür, dass man nicht gut genug war.

„Fein.“

Nein, diese Genugtuung wollte ich meinen Eltern – und vor allem meiner Schwester – nicht machen.

Also packte ich Adrian am Handgelenk und zerrte ihn mit einem „Komm mit“ durch den Guillotinengang aus dem Deathroom. Erst als die schwere Flügeltür hinter uns zuschlug, ließ ich ihn los.

Schweigend liefen wir die endlosen Gänge der Schule entlang. Schüler um uns herum taten es uns gleich, plauderten, lästerten, was auch immer. Mit denen hatte ich wenig am Hut.

Als wir bei meinem Spind angekommen waren und ich die Lehrbücher und anderen Kram in meiner Tasche verstaute, ergriff mein neuer Partner das Wort: „Ich glaube wir hatten keinen sehr guten Start, also … Frieden?“

Diesmal sah er mich freundlich an mit einem leichten, netten Lächeln, das bestimmt viele um den Finger wickeln konnte, nur nicht mich.

„Tja, man erntet was man säht, Adrian. Wenn du mich blöd anmachst, mach ich dich auch blöd an.“ Mit einem lauten Knall, der im Raunen der schnatternden Menge unterging, schloss ich meinen Spind und ging in Richtig Ausgang.

„Es tut mir leid, wenn ich mich anmaßend oder unhöflich ausgedrückt habe“, erklärte er, während er mir hinterhertrottete, „aber ich habe einen sehr langen Tag und eine noch längere Zugfahrt hinter mir.“ Mit großen Schritten holte er mich ein und stellte sich vor mich. „Also? Frieden?“, wiederholte er sich und setzte doch tatsächlich einen albernen Hundeblick auf, der mich fast zum Schmunzeln gebracht hätte.

„Waffenstillstand“, lautete mein Kompromiss. Damit gab er sich wohl zufrieden.

Ich schob mich an ihm vorbei und trat nach draußen.

„Hey, Valerie“, fragte er an der großen Treppe. „Gibt’s hier eigentlich einen Fahrstuhl? Oder muss ich etwa in Zukunft jeden Tag diese Stufen hochlaufen?“

„Es gibt keinen Fahrstuhl“, antwortete ich und beschritt den Weg nach unten im zügigen Tempo. „Fitness ist eine Grundvoraussetzung an dieser Schule. Ich schaffe den Weg nach oben mittlerweile in knapp fünf Minuten“, fügte ich leicht überheblich hinzu.

Adrian schnaubte nur.

Aber so war ich eben: überheblich, egoistisch und arrogant. Schließlich war das der beste Weg, die eigenen Schwächen zu verbergen.

Angekommen


 

Kapitel 2: „Angekommen
 

Adrian
 

In meiner ersten Nacht in Death City schlief ich schlechter als je zuvor seit ihrem Tod. Immer wenn ich dachte, dass das Chaos in mir zur Ruhe gekommen war, wurde es von irgendetwas wieder aufgewühlt. Stets und ständig wachte ich auf, riss das Fenster auf, weil mir schlecht war, machte es wieder zu, weil ich zitterte. Als es schon eine ganze Weile hell draußen war, gab ich schließlich auf und schleppte mich aus dem Bett.
 

Valeries Wohnung war nicht gerade ordentlich. Sauber, aber unaufgeräumt. Sehr unaufgeräumt. Im Wohnzimmer fand ich diverse benutzte Tassen, Waffenzeitschriften und Bestallkataloge überall verteilt. Es war wie in einem Wimmelbild. Doch trotz des Durcheinanders wirkte dieser Ort irgendwie heimisch … alltäglich. Als wäre es normal, keine Zeit fürs Aufräumen zu haben.

Valeries Chaos war ganz anders als meines.

Ich wollte Pancakes zum Frühstück machen, doch ich fand weder Backpulver, noch Mehl, nur ein Ei und einen bedauernswerten Schluck Milch. Stattdessen waren die Schränke vollgestopft mit Teebeuteln, Crackern und Fertiggerichten. Offenbar war sie auch zu beschäftigt zum Einkaufen. Oder zum Kochen. In der mit Barhockern ausgestatteten Kücheninsel fand ich eine ungeöffnete Packung Toast und Instantkaffee. Das war immer etwas.

Küche und Wohnzimmer gingen ineinander über. Es gab weder Bilder, noch Pflanzen; die Wände waren weiß. Nur ein grauer, runder Teppich unter einem niedrigen Couchtisch war ein Ansatz von Dekoration. Auch der Tisch war vollgestellt: Benutzte Müslischalen und Teller stapelten sich auf Heftern, Dokumenten, Magazinen und mittendrin lag … ein BH.

Schwarz mit hellblauen Nähten.

Ich beschloss, die Unterwäsche zu ignorieren. Ich sollte sie ignorieren und mir erst mal einen Kaffee machen. Denn im Grunde genommen war es mir relativ egal, wo Valerie ihre Sachen liegen ließ, solange noch genug Platz für mein eigenes Zeug blieb. Was das betraf: Das Gästezimmer, das ich bezogen hatte, wurde vor meiner Ankunft aufgeräumt. Oder nie betreten.

Der Hacken allerdings war: Da lag ein BH im Wohnzimmer. Als wäre sie nach Hause gekommen, hätte sich auf dem Weg ins Bad ausgezogen und …

Vielleicht sollte ich duschen gehen. Die Digitaluhr am Herd zeigte 7:46 Uhr an. Unterricht begann erst halb neun. Und ich stank immer noch zum Himmel nach dieser gottlosen Stadt an der Ostküste.

Ja, ich sollte wirklich duschen gehen.

Fuck!

Ein Fluchen schallte durch die Wohnung, gefolgt von trampelnden Schritten, bevor eine Tür aufgerissen wurde und Valerie über den Flur ins Bad stürmte. Wasser wurde aufgedrehte, kurz darauf wieder abgedreht. Nur in ein Handtuch gehüllt kam sie wieder heraus. Ihre blonden Haare waren zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden, lange Strähnen hingen in ihrem Gesicht. Sie sah aus wie ihre Wohnung. Der Gedanke brachte mich zum Schmunzeln.

„Alles okay?“, fragte ich und füllte das braune Pulver aus der Kaffeedose in eine Tasse. Ob ich wohl Zucker finden würde? Unwahrscheinlich, aber suchen konnte ich ja trotzdem.

„Ich habe verschlafen“, erklärte sie atemlos. „Ich muss um acht in der Schule sein.“

Suchend sah sie sich im Raum um, schnappte sich die Jogginghose von der Rückenlehne der Couch und verschwand wieder in ihrem Zimmer. Kaum ein Augenblick verging, da kam sie mit einem „Ach Scheiße!“ wieder heraus und wuselte hetzend durch die Räume.

„Was brauchst du?“

„BH.“

Ich sah zum Couchtisch. Es war nicht so, dass ich pedantisch war, aber vielleicht sollte man in diesem Haushalt wirklich mal Ordnung schaffen. „Hier!“

Keuchend trat sie an die Küchenzeile. Ihr Handtuch war ihr in der Hektik so weit verrutscht, dass sie es festhalten musste. Ich deutete mit dem Kopf aufs Wohnzimmer. Sie musterte mein Gesicht für einen Augenblick, bevor sie sich mit knallroten Wangen die Unterwäsche schnappte und verschwand.
 

~*~
 

Zusammen mit ein paar Dutzend anderen Schülern schleppte ich mich viertel neun die Treppe zur Shibusen hoch. Ich fragte mich, ob dieser Aufstieg eine Art verpflichtender Frühsport sein sollte oder einfach nur ein schlechter architektonischer Scherz war. Wer auch immer dafür verantwortlich war, ich verfluchte ihn. Die Schule an sich war … imposant. Trotz der Symmetrie wirkte sie irgendwie unruhig und abenteuerlich.

Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich wieder in die Schule ging. Dass ich die Chance hatte, mir einen geregelten Alltag aufzubauen. Dass meine Existenz einen Sinn hatte. Ich war eine Waffe und anderswo mochte das schrecklich und unnormal sein, aber hier war es okay, wenn nicht sogar erwünscht. Trotz der unruhigen Nacht hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, an einem Ort zu sein, an dem ich wirklich sein sollte.

Oben angekommen musste ich erst mal tief durchatmen. Auf meinem Weg wurde ich von einigen Schülern überholt, die mit einer unglaublichen Geschwindigkeit vorangeschritten waren.

„Es ist nicht mehr weit“, hatte ein Mädchen mit langem, schwarzen Pferdeschwanz versucht, mich anzuspornen. „Der Ausblick von oben ist toll. Halte durch!“ Dann war sie davongerannt und ich fragte mich, ob ich auch irgendwann so fit werden würde, wenn ich jeden einzelnen Tag hier hoch latschen musste.

Als das Ziehen in meinen Beinen nachgelassen hatte und ich wieder einigermaßen Luft bekam, drehte ich mich um und staunte.

Und staunte und staunte und staunte. Minutenlang.

Die Stadt lag in Miniatur vor mir. Dächer aller möglichen Farben und Formen ragten hinauf, Passanten waren nicht mehr als winzige Punkte im gewaltigen Gefüge des Straßennetzes mit der Shibusen im Zentrum. Dahinter erstreckte sich die unendliche Weite der flimmernden Wüste und dahinter der Horizont. Wie eine Schneekugel, nur dass keine weißen Kunststoffflocken vom Himmel herab regneten, und ich stand mittendrin. Wie es wohl nachts aussah, wenn alles vom Licht der Häuser hell erstrahlte?

Euphorie erfasste mich und fast hätte ich laut aufgelacht. Mit neuer Energie wirbelte ich herum und schritt auf die Shibusen zu, deren Tore einladend geöffnet war. Auf dem Vorplatz stand ein Junge mit einer komischen Frisur und beäugte das Gebäude kritisch.

„Irgendetwas stimmt hier nicht“, hörte ich ihn im Vorbeigehen murmeln. Eigentlich wollte ich ihn ignorieren, doch er hielt mich mit einem „Hey, Neuling“ an der Schulter fest, sodass ich mich zu ihm umdrehen musste.

„Was?“, fragte ich.

„Dir auch einen guten Morgen.“ Er nahm meine Hand und schüttelte sie. „Death The Kid. Willkommen an der Shibusen.“

Sah man mir so sehr an, dass ich nicht von hier war?

„Äh, Adrian Laurent. Und danke.“ Ich versuchte mich ihm zu entziehen. Diese Person machte keinen sehr klaren Eindruck auf mich. Seine grellen goldenen Augen musterten mich eingehend, als würde er nicht nur mich genau beäugen, sondern auch die Tiefen meiner Seele. Wie Doktor Stein es in New York getan hat.

Unangenehm.

„Adrian, du musst mir mal helfen“, verkündete Death The Kid mit einer Stimme, als würde er mit einem kleinen Kind reden. „Was hältst du vom Aufbau der Schule?“ Mit beiden Händen an meinen Schultern drehte er mich zum Gebäude, sodass ich es anschauen musste.

„Na ja“, überlegte ich. „Es ist symmetrisch.“ Das schien ihn nicht zufriedenzustellen.

„Es sollte symmetrisch sein“, bemerkte er. „Aber irgendwas… Ich hab‘ so ein Gefühl, dass…“ Der Rest ging in einem unverständlichen Murmeln unter. Für einen Augenblick schien er völlig in Gedanken versunken zu sein.

Er zuckte zusammen, als ich fragte: „Ist offenes Feuer an einem Haus nicht gefährlich?“ Mit dem Zeigefinger deutete ich auf die gigantischen Kerzen.

„Die Kerzen ... Natürlich!“ Euphorisch riss er die Arme in die Luft. „Die Tatsache, dass sie wohl unterschiedlich schnell abgebrannt sind, zerstört die komplette Symmetrie! Das war es, wonach ich gesucht hatte!“ Er wandte sich mir zu und klopfte mir übertrieben anerkennend auf den Oberarm. „Du hast ein gutes Auge. Achte immer darauf.“ In einer Art Superheldenpose drehte er sich um. „Entschuldige mich nun, ich muss ein Problem beheben.“ Und schon war er weg.

Was für ein Kauz. Hoffentlich gab es hier nicht noch mehr von seiner Sorte.
 

Als Doktor Stein den Klassenraum betrat, verstummten sämtliche Gespräche augenblicklich. Ein Mann im Kittel, dem eine Schraube einmal quer durch den Kopf ging – die er sogar drehen konnte! – machte offenbar Eindruck. Nun, es wäre verwunderlich, wäre es anders.

„Willkommen an der Shibusen, Frischfleisch!“ Er warf sein Klemmbrett mit allerlei Dokumenten auf den Lehrertisch und setzte sich verkehrt herum breitbeinig auf den Drehstuhl. „Der Ablauf für heute ist folgendermaßen: Ich erzähl euch ein bisschen was über die Schule, Partnerschaften, Seelen und die ganzen Sachen, die auf euch zukommen werden. Anschließend machen wir auf dem Sportplatz ein paar Fitnesstests. Wenn alles glatt läuft, sind wir zum Mittagessen fertig.“ Er angelte sich einen Zettel und Stift und mit dem Satz „Mal schauen, ob alle hergefunden haben“ rief er einen Namen nach dem anderen auf. Ein paar Leute fehlten tatsächlich. Einer stand nicht auf der Anwesenheitsliste. Er wurde nach draußen quittiert.

„Also gut.“ Mit einem schwerfälligen Seufzer stand Doktor Stein wieder auf und begann mit lauter Stimme zu erzählen. „Die Shibusen ist eine Schule für Waffen und Waffenmeister. Die Waffen unter euch werden lernen, wie die Kraft eurer Seele zu kontrollieren ist und wie man verhindert, von ihr kontrolliert zu werden. Die Meister dagegen werden hauptsächlich im Kampf mit und gegen Waffen trainiert. Um die Ausbildung hier erfolgreich abzuschließen, muss eine Prüfung bestehend aus einem theoretischen und einem praktischen Teil absolviert werden. Die Zulassung dafür allerdings erhaltet ihr nur, wenn ihr es in die EAT schafft. Anfänger gehören zur NOT. Um aufzusteigen, müsst ihr in einem Aufnahmetest eine stabile Partnerschaft nachweisen. Früher war es einzelnen Waffen und Meistern möglich, ihre Effizienz zu beweisen und den Test und die Abschlussprüfung alleine zu bestehen, doch aufgrund diverser Zwischenfälle in der Vergangenheit hat der Shinigami Alleingänge verboten. Ihr könnt natürlich auch in der EAT eine Prüfung absolvieren und einen Abschluss erlangen, aber das ist nicht viel mehr als ein gewöhnlicher Collegeabschluss und dafür seid ihr nicht hier.“

Nachdem der Doktor einige Schritte monologisierend durch den Raum gewandert war, blieb er schließlich stehen, zog eine Zigarettenpackung aus der Tasche seines Kittels und zündete sich vor aller Augen eine Zigarette an. Schweigend beobachtete er, wie sich der graue Rauch seines ersten Zuges mit der Luft vermengte und schließlich verschwand.

„Ich hoffe“, setzte er in düsterer Tonlage fort, „euch allen ist klar, dass nicht jeder von euch es schaffen wird. Ein Viertel fällt durch die Aufnahmeprüfung der EAT und nicht einmal die Hälfte der EAT-Schüler macht den Abschluss. Nicht etwa weil sie nicht genug gelernt oder hart genug trainiert haben. Nein. Sie sterben.“ Auf bedrückendes Schweigen folgte ein unruhiges Raunen. „Sie überschätzen sich oder werden von Dämonen und Hexen überlistet und bei Aufträgen getötet.“

Das Raunen schwoll an, wurde zu einer hitzigen Diskussion, die sich im ganzen Hörsaal verbreitete.

Neben mir sprang ein junges Mädchen mit einer blonden Bobfrisur auf und fragte entrüstet: „Soll das heißen, dass der Shinigami die Leben seiner Schüler leichtfertig aufs Spiel setzt? Wer übernimmt dafür die Verantwortung?“

„Junge Dame, jeder ist für sich selbst verantwortlich.“ Stein trat heran, die Zigarette qualmend zwischen den Lippen geklemmt. „Wenn du denkst, dass du mit deinem Partner eine Hexe besiegen kannst und scheiterst, musst du daraus lernen. Wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten. Aber es ist nicht so, dass wir euch machen lassen, was ihr wollt.“ Er wandte sich wieder ab und mit einem einzigen verheißungsvollen Blick durch die Runde brachte er die Stimmen zum Schweigen. „Hier Schüler zu sein bringt ein gewisses Risiko mit sich. Und angesichts dessen ist es auch keine Schande, zu gehen, wenn ihr euch dieser Sache nicht gewachsen fühlt. Niemand, der die Ausbildung abbricht, wird als Feigling verurteilt.“ Er nahm noch einen tiefen Zug und blies den Rauch geräuschlos nach oben, bevor er die Zigarette in einem Asche auf dem Lehrerpult ausdrückte. „Handelt einfach so, dass ihr mit euch selbst zufrieden sein könnt.“

Meine Nachbarin senkte sich sehr langsam wieder auf ihren Stuhl herab, ihre Augen vor Schreck geweitet.

„Nun“, verkündete der Doktor. „Kommen wir zu einem … weniger erschütternden Thema – zumindest für den einen oder anderen.“

In der folgenden Stunde wurde die Partnerschaft erklärt. Sehr viel bekam ich davon nicht mit. Den Kopf auf die Arme gelegt, döste ich bereits nach wenigen Minuten ein.

Eine Hand auf meiner Schulter ließ mich hochschrecken. Verschlafen blickte ich in ein Paar haselnussbraune Augen. Sie gehörten dem Mädchen mit dem Bob.

„Hey Dornrösschen“, sprach sie mit einem bezaubernden Lächeln. „Du machst wohl Power-Napping für den Fitnesstest?“

Verwirrt rieb ich mir über das Gesicht und die Augen. Hatte ich etwa die ganze Stunde verpennt? „Ich mache was?“

„Power-Napping. Sagt man das etwa nicht mehr so?“ Mein Gegenüber lief bis auf die Ohren puterrot an. „Also … Jedenfalls, wir gehen jetzt auf den Sportplatz.“ Sie deutete auf die Tür, durch die die Schüler reihenweise den Raum verließen.

Müde raffte ich mich hoch und trottete dem Strom hinterher. Die kurze Nacht forderte nun wohl ihren Tribut.
 

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Ein fettes Dankeschön an meinem Beta (https://www.fanfiktion.de/u/Lonely+Raven). Schaut doch mal bei ihm vorbei, er freut sich bestimmt über ein paar Kommis (ich mich im Übrigen auch).

Nächtes Kapitel: 30./31.12.

Gute Bauchgefühle


 

Kapitel 3: Gute Bauchgefühle
 

Valerie
 

Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben“, heißt es, doch kein Abend dieser Welt konnte mich davon überzeugen, dass dieser Tag etwas Anderes war als ein Scheißtag. Und dabei war es noch nicht mal Mittag.
 

Nicht nur, dass ich heute wahrscheinlich erneut einen super miesen Eindruck bei meinem neuen Partner hinterlassen haben musste, indem ich meiner seelischen Unordnung im Wohnzimmer Ausdruck verliehen hatte. Nein, ich hatte auch noch verschlafen. So durfte ich früh am Morgen unter der brennenden Wüstensonne einen Sprint zur Schule hinlegen. Und weil das Leben scheiße war, lag meine Wasserflasche noch zu Hause im Kühlschrank. Und Frühstück musste ja auch ausfallen.
 

Ich war am Krepieren.
 

Die Frau, die einen beträchtlichen Teil zu meiner Situation beigetragen hatte, hieß Madam Mardröm. Sie kam ursprünglich vom schwedischen Militär, trainierte nun aber an der Shibusen Rekruten für das FBI. Es ist keine wirkliche Ausbildung, aber sie schrieb Berichte, die quasi Eintrittskarten zu jedem Police Department waren. Und genau da wollte ich hin. Wenn schon nicht in die EAT, dann zur Polizei.

„Fynker! Du bist zu langsam!“
 

Ich hörte ihren Ruf kaum, das Rauschen des Blutes in meinen Ohren machte mich taub. Da wir heute nicht den gesamten Vormittag den Sportplatz nutzen konnten, gab es nur eine Aufgabe: Laufen. Laufen und laufen und laufen. Quasi bis zum Umfallen. Wenn diese Folter nicht gegen irgendeine Schulordnung verstieß, dann sicher gegen das Jugendschutzgesetz. Aber davon wollte Madam Mardröm nichts wissen. Sie pflegte stets den Grundsatz Der Zweck heiligt die Mittel. Welcher Zweck allerdings dahinter stand, uns Runde um Runde über den Platz zu hetzen, stand in den Sternen. Oder in diesem Fall in dem wolkenlosen, aufgeheizten Himmel über Nevada.
 

Meine Beine brannten, meine Haut und meine Lunge ebenso. Es war, als würde ich in Flammen stehen. Das Feuer stahl mir die Energie und den Atem und mit jedem Schritt, den ich tat, schnürte es meine Kehle mehr und mehr zu.
 

Ich war am Krepieren. Das klang irgendwie zu harmlos.
 

Im Augenwinkel sah ich, wie sich eine Gruppe, angeführt von Nygus und Doktor Stein, näherte. Das mussten die Neuen sein, die gerade eingeschult wurden. Das bedeutete, dass wir den Sportplatz räumen mussten. Euphorie und noch irgendwas Anderes erfassten mich und gaben mir Kraft, als Madam Mardröm die letzte Runde ankündigte. Erstaunlich viel Kraft sogar. Als hätte mich jemand an eine Ladestation angeschlossen, wurden meine Füße leichter, das Gewicht in meiner Brust löste sich auf und ich segelte dahin. Wind verfing sich in meinen Haaren und kühlte meine sonnenverbrannten Schultern. Ich sah noch, wie ich Raphael, den ausdauerndsten und schnellsten Läufer überholte, dann überquerte ich die Startlinie und ließ mich austrudeln. Der Anflug von Energie verschwand so schnell, wie er gekommen war. Erschöpft ließ ich mich auf die rote Kunststoffbahn fallen.
 

„Beeindruckender Endspurt.“ Ich erkannte Doktor Stein nur an seiner Stimme. Alles schien ineinander zu verlaufen wie in einem bunten Farbtopf.
 

„Ja“, keuchte ich nach einigen Augenblicken, als die Welt allmählich wieder klarer wurde. „Keine Ahnung, wo das herkam.“
 

Der Lehrer hockte sich zu mir auf den Boden, machte ein nachdenkliches Geräusch und sah zu den Ersties. Nygus stellte ihnen gerade Madam Mardröm vor. Mir graute, dass dem Shinigami wohl der Gedanke gekommen war, sie als richtige Sportlehrerin einzustellen. Gott bewahre uns. Falls ein Gott etwas gegen die Entscheidungen eines anderen tun konnte.
 

„Weißt du, was Spirit neulich gesagt hat?“ Stein zog langsam eine Zigarette aus den Tiefen seines Kittels, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. Seine Stimme klang fast theatralisch, so bedeutungsschwanger erschien ihm wohl das Zitat. „Auf einen schiefen Topf passt ein schiefer Deckel.
 

Ein schiefer Topf? Na super.
 

Langsam setzte ich mich auf. Er beobachtete immer noch die Gruppe, also tat ich es ihm gleich.
 

„Ich wäre lieber eine Tupperdose“, gab ich argwöhnisch zurück. „So eine zum Aufklappen.“
 

Mein Gegenüber lachte ein kurzes Raucherlachen. „Aber wie wahrscheinlich ist es, dafür einen Deckel zu finden?“ Ächzend richtete er sich wieder auf und trottete zu seinen Schülern zurück. Über die Schulter hinweg rief er noch: „Ach ja! Ich glaube, dein Partner hat an dich gedacht.“
 

Hm? Mein Partner hatte an mich gedacht? Welcher Partner?
 

Ach so, der.
 

Ich suchte die Menge nach Adrian ab. Als ich ihn fand, begegneten sich unsere Blicke. Er deutete erst mit dem Zeigefinger auf mich und strich dann mit der flachen Hand über seinen Bauch. Wie auf Kommando knurrte mein Magen.
 

Unauffällig ging er zu der Stelle, an der die Anderen ihre Getränke auf den Boden geworfen hatten. Aus seinem Beutel kramte er meine eigene Wasserflasche, die ich in der Hektik heute Morgen im Kühlschrank vergessen hatte, und eine Brotbüchse heraus und legte beides ab, bevor er sich zu seiner Gruppe zurück schlich.
 

Etwas, ich wusste nicht was, regte sich in mir.
 

Nur ein winziges bisschen. Eigentlich kaum.
 

Vielleicht bildete ich es mir in meinem Hunger und Durst auch einfach nur ein. Ja, bestimmt war es nur Einbildung.

Schlechte Bauchgefühle


 

Kapitel 4: Schlechte Bauchgefühle
 

Adrian
 

Ich hatte nie das Gefühl, eine Sportskanone zu sein. Wozu auch? Als ich das letzte Mal weglaufen musste, bin ich in einen Zug gestiegen.
 

Bei den allgemeinen Fitnesstests war ich gut. Ziemlich gut sogar. Zugegeben: Ich wusste nicht, welche Lauf-, Spring- und Sonst-was-Werte bei mir normal waren. Den anerkennenden Blicken nach zu urteilen, lag ich wohl über dem Durchschnitt. Stein und die Sportlehrerin mit der autoritären Präsenz und dem europäischen Akzent beratschlagten sich außerhalb meiner Hörweite und sahen dabei ein paar Mal zu oft in meine Richtung. Als sie fertig waren, nickten sie einstimmig als hätten sie gerade den Plan zur Weltherrschaft vollendet und der Doktor kam auf mich zu. Sein Grinsen war breit und stolz und zeigte eine Reihe gelblich verfärbte Zähne.
 

„In dir steckt mehr als wir vermutet hatten.“
 

Er stellte sich neben mich und sah sich um. Mir viel auf, dass er das öfter tat: sich umsah und Leute beobachtete. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob er so ein Mensch war, für den andere wie offene Bücher waren.
 

„Wenn du eine Entscheidung triffst“, jetzt wandte er sich mir zu und plötzlich zweifelte ich kein Stück mehr daran, dass sein forschender Blick mehr tat, als nur zu beobachten, „hörst du dann eher auf deinen Bauch oder auf deinen Kopf?
 

Eine merkwürdige Frage. Ich wollte mir eine genauso kryptische Antwort überlegen, doch angesichts meiner eben gewonnenen Erkenntnis blieb ich lieber bei etwas Gewöhnlichem.
 

„Bauch“, antwortete ich.
 

„Gut.“ Er klopfte mir herzlich auf die Schulter, als wäre er der stolze Vater und ich der Sohn, der es ins beste Footballteam des Staates geschafft hatte. „Instinkte sind immer auch ein Zugang zur eigenen Seele. Und was aus deinem Bauch kommt, ist gut. Symbolisch natürlich.“ In seinen Augen lag eine Mischung aus Du schaffst das und Endlich hat das ein Ende. Mit keiner der Botschaften konnte ich etwas anfangen.
 

~*~
 

Die Gruppe, hechelnd und verschwitzt von Sport und Hitze, wurde in Waffen und Meister geteilt. Die Meister wurden der Sportlehrerin übergeben wie Schweine dem Schlachter. Sie erinnerte mich ein bisschen an Scar aus Der König der Löwen und in dem Moment hallte Be Prepared in meinem Kopf wider.
 

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich froh, eine Waffe zu sein.
 

Der Rest folgte Doktor Stein in ein Wäldchen abseits des Schulgeländes. Es war ein künstlich bepflanztes Feld; der unnatürliche Abstand der Bäume bot viel Platz, trotzdem war das Grün dicht genug, um für ein wenig Privatsphäre zu sorgen. Der Lehrer bedeutete uns, uns hinzusetzen, indem er sich selbst ins Gras fallen ließ.
 

„Also“, begann er, doch an Stelle eines Monologes wie im Einführungsseminar seufzte er nur schwerfällig. „Ich weiß wirklich nicht, was sich der Shinigami dabei denkt“, murmelte er. Dann noch ein Seufzer. Schließlich straffte sich sein Körper und er fing wirklich an. „Der einfachste Weg für euch, um stärker zu werden, ist das Essen von Seelen. Der Shinigami hat eine Liste mit den gefährlichsten, sogenannten Kishineiern, erstellt, die von unseren Schülern der EAT in Aufträgen offiziell gejagt und für den Zweck, eine Death Scythe zu erschaffen, verwendet werden dürfen. Eine Waffe wird zur Death Scythe, wenn sie 99 Kishineier und eine Hexenseele isst. Im Moment betrifft euch das zwar noch nicht, doch lasst euch eines gesagt sein.“ Sein Blick veränderte sich und schaute finster durch die Reihen. Wenn die Sportlehrerin Scar war, dann war Stein eine der Hyänen. „Esst ihr eine Seele, die nicht auf dieser Liste steht – aus welchem Grund auch immer – kriegen wir es mit. Ein Schulverweis wird dann eure geringste Sorge sein, wenn ein ausgebildetes Team auch auf euch Jagd macht.“
 

Der Wind pfiff schrill durch die Baumkronen und drückte wie ein schweres Gewicht auf die unbehagliche Stille. Wenn dieser Mann eines konnte, dann Unheil verkünden. Nicht Unheil im Sinne von zusätzlichen Hausaufgaben oder Überraschungstests wie gewöhnliche Lehrer, sondern mehr in Richtung Mord und Totschlag.
 

„So!“ Der Doktor klatschte und rieb sich die Hände, als würde er sich darüber freuen, Angst und Schrecken verbreitet zu haben. „Eigentlich haben wir ja eine Death Scythe in der Stadt. Aber so, wie ich ihn kenne, sitzt er wahrscheinlich gerade in einer Bar und versucht über Drinks und Frauen seine Ex zu vergessen. Deshalb kann ich euch als Meister nicht garantieren, dass das, was ich euch sagen werde, funktioniert. Ich habe eben keine Ahnung, wie es ist eine Waffe zu sein.“ Er sah erwartend in die Runde. „Wer hat denn schon einmal versucht, sich zu verwandeln?“ Diverse Arme gingen nach oben. Ich schloss mich ihnen an. „Und bei wem war es einigermaßen kontrolliert und erfolgreich?“ Mein Arm blieb oben; der einiger anderer nicht. „Na, damit kann man doch arbeiten.“ Seine Stimme glich der eines Staubsaugerverkäufers im Shoppingkanal. Man merkte – obwohl er genau das wahrscheinlich nicht wollte – dass er besseres zu tun hatte, als ein paar unerfahrenen Waffen die Verwandlung beizubringen. Vor allem weil er es ja selbst nicht konnte. Warum hatte der Shinigami keiner Waffe den Job überlassen?
 

Da Doktor Stein ganz offensichtlich nichts mit uns anzufangen wusste, schlug er Meditation vor. Das war eine Übung, die ich persönlich sehr begrüßte, von einigen anderen allerdings mit skeptischen Blicken kritisiert wurde. Dennoch wagte es niemand, Einspruch zu erheben.
 

Der Therapeut, zu dem mich meine Eltern geschleppt hatten, als rauskam, dass ich eine Waffe war, meditierte auch oft mit mir. Ich mochte ihn. Bis ich in einer Sitzung meine Finger vor seinen Augen in Klingen verwandelt hatte. Noch in derselben Woche schloss er seine Praxis und verließ die Stadt. Mein Vater tat es ihm nach einem Monat gleich. Meine Mutter nach einem halben Jahr.
 

Ich drückte meine Fußsohlen aneinander, legte die Hände darauf und lockerte meine Schultern.
 

„Schließt eure Augen.“
 

Doktor Steins Stimme war ruhig und leicht wie die einer Wahrsagerin. Anders als man es von ihm gewohnt war.
 

„Fühlt in eure Seele.“
 

Als ich die Augen schloss und nur noch die Geräusche wahrnahm, merkte ich, wie ruhig es in diesem Teil der Schule war. Die Bäume schluckten jegliche Lautstärke vom Sportplatz und dem Gebäude, sodass eine natürliche entspannte Atmosphäre entstand.
 

„Sucht nach eurer Energie.“
 

Ich suchte die Energie und fand sie.
 

Aber es war nicht meine. Meine Energie war kontrolliert und gefasst, nicht sehr stark, aber ich hatte sie im Griff, doch jetzt war es … anders. Das, was da gerade in meinem Inneren war, glich eher einer tollenden Katze, die einem sich aufrollenden Wollknäuel hinterherjagte und dabei die ganze Wohnung verwüstete. Mein Puls stieg ohne Grund ins Unermessliche und als ich versuchte, meine Augen zu öffnen, blieben sie geschlossen und zeigten mir stattdessen eine Szene, die ich nicht kannte.
 

Ich saß auf dem kalten Boden eines gefliesten Raumes, über mir stand eine Person, die kein Gesicht hatte, und von meinen Armen tropfte tiefrotes Blut.
 

Panik durchströmte meine Adern. Die Bilder verschwanden wieder so schnell, wie sie gekommen waren, und wichen Bäumen und Sträuchern und Doktor Steins verwundertem Blick.
 

Zwischen schnellen, lauten Atemzügen raste mein Herz. Viele Augenpaare starrten mich an.
 

Ein Junge, der deutlich jünger war als ich, reichte mir ein blaues Stofftaschentuch. „Deine Nase“, erklärte er. „Sie blutet.“
 

Erst, als ich mich vorbeugte, um das Tuch entgegen zu nehmen, spürte ich die Feuchtigkeit in meinem Gesicht. Ein tiefroter Tropfen fiel wie in Zeitlupe ins dunkle Gras. In dem Moment, in dem er den Boden berührte, schoss an der Stelle eine Klinge in die Höhe bis knapp unter mein Kinn. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Und dann noch einen.
 

Die Waffe war schlank und lang, aber abgestumpft. Unscharf. Ungefährlich.
 

„Vielleicht“, flüsterte Doktor Stein finster, „solltest du mal ins Bad gehen. Am besten in das im obersten Stockwerk des Ostflügels.“ Er deutete hinter sich auf einen mir unbekannten Teil des Schulgebäudes. Und obwohl ich mich fragen sollte, warum er mich – mit diesem Wissen in den Augen – in das Badezimmer schickte, das am weitesten entfernt zu sein schien, stand ich wortlos auf und ging in die gezeigte Richtung.

Ich wusste den Weg nicht. Aber etwas in meinem Bauch kannte ihn.
 

~*~
 

Meine Beine liefen und liefen Schritt um Schritt durch unendliche Flure und mein Kopf folgte bloß. Als ich gerade eine wohl besonders wichtige Treppe emporstieg, schallte eine Stimme von den Wänden. Ich kannte sie nicht und ich wollte sie auch nicht kennenlernen. Aber ich musste da hinauf.
 

„Was sollen sie denn von dir denken? Auf so eine jämmerliche Gestalt wie dich will doch keiner aufpassen müssen.“
 

Die Person – es klang wie eine Frau – verlieh ihren ekligen Worten noch mehr Bosheit, indem sie ein lautes, schadenfreudiges Lachen erklingen ließ.
 

„Du kannst es wohl kaum erwarten, bis du stirbst.“
 

Auf die Stufen folgte eine Abbiegung. Der Gang dahinter wirkte schmuddelig, als wäre er seit Jahren nicht mehr benutz worden. Abblätternder Putz und schlechte Graffitis zeugten von Nachlässigkeit, sogar im Hause eines Gottes.
 

Beinahe überraschte es mich, dass ich auf der rechten Seite eine Toilette fand. Die Zeichen für Mann und Frau waren verblasst, aber das WC-Schild glänzte wie am ersten Tag. Von dort kam die Stimme. Ich folgte ihr.
 

Das Badezimmer, das ich betrat, war mal rosa gefliest gewesen, doch mittlerweile fiel die Keramik bröckelnd von den Wänden.
 

Inmitten der Scherben saß Valerie. Blut floss in Rinnsalen über ihre Arme, beschmierte ihre Hose, ihre Schuhe, den Boden. Feuchtigkeit tropfte von ihren Haarspitzen. Sie bemerkte mich als Erste. Ihr Blick glitt von erschrocken über entsetzt zu wütend.
 

Vor ihr stand eine junge Frau, vermutlich im selben Alter, vermutlich auch eine Schülerin. Die Hände in die Seiten gestützt und mit gekrümmten Rücken über meine Meisterin gebeugt folgte sie ihren Augen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn dieses Mädchen Schauspielerin gewesen wäre; die Rolle der bösen Stiefschwester aus Cinderella oder der tyrannischen Cheerleaderkapitänin eines schlechten Highschool-Filmes schien ihr wie auf den Leib geschneidert. Ihre Klamotten waren zu kurz, ihre Haare zu wasserstoffblond, ihre Nägel zu lang.
 

Sie wollte irritiert eine Frage stellen, doch Valerie kam ihr zuvor: „Geh weg!“ Ihr Atem ging langsam und schwer; in ihrem Blick lagen Schock und Verzweiflung, wie ich es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte.
 

Oh, doch. Bei einem.
 

„Hau ab!“
 

Die blonde Highschool-Antagonistin lachte laut und klirrend, als sie die Szene verstand.
 

„Dir soll wohl gar nicht geholfen werden, was?“, stellte sie nüchtern an Valerie gerichtet fest. „Du wirst dein Leben nie auf die Reihe kriegen.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen und süffisantem Lächeln stolzierte sie auf mich zu. Ihre Schuhe waren hoch und ich war mir ziemlich sicher, dass sie gegen die Kleiderordnung verstießen. Direkt vor mir blieb sie stehen.
 

„Hallo Nummer zwölf.“
 

Sie war nicht größer als ich – eigentlich war sie, trotz der Absätze, ziemlich klein – trotzdem baute sie sich mit breiter Schulter und hoher Nase vor mir auf, als könnte sie die Welt beherrschen.
 

„Wer bist du?“, wollte ich wissen, doch im gleichen Augenblick fiel mir eine viel wichtigere Frage ein: „Was ist hier eigentlich los?“
 

Ich sprach Valerie direkt an, aber sie wich meinem Blick aus und sank förmlich in sich zusammen. Mit der Wand im Rücken und dem Blut zu ihren Füßen war sie ein gebrochenes Geschöpf, zu kaputt, um selbst Helfende an sich heranzulassen.
 

Schritte aus dem Korridor erregten unsere Aufmerksamkeit. Ein langer Schatten gefolgt von einem jungen Mann tauchte in der Tür auf. Es dauerte einige Sekunden, ehe er die Situation, offenbar besser als ich, erfasste und genervt, fast schon resigniert seufzte. Er beäugte mich kurz mit einem prüfenden Blick, ging dann aber schnellen Schrittes an mir vorbei auf Valerie zu. Seine Hände wirkten zu groß und zu kräftig, als er ihr Gesicht darin festhielt, den Kopf hin und her drehend auf Verletzungen untersuchte und dabei leise vor sich hin meckerte.
 

„Lass mich in Ruhe, Raphael“, schimpfte das Mädchen weniger verärgert als mir gegenüber. „Mir geht’s gut.“ Vertraut an seine Schultern gestützt, als wären sie gute Freunde, hievte sie sich hoch und atmete erschöpft durch.
 

Der blonden Bösen missfiel das Ganze. Stinksauer trat sie von einem Fuß auf den anderen, verzog das Gesicht wie ein weinerliches Kind und motzte: „Was soll das, Raph? Du solltest auf meiner Seite stehen!“

Raphael, ein sportlicher aber ansonsten durchschnittlicher Typ mit hellbraunen Haaren, richtete sich dominant vor ihr auf. Er überragte sie noch mehr als ich es tat.
 

„Dein Scheiß ist nicht mein Scheiß!“ Er war wütend, aber in einem moderaten Ausmaß, während sein Gegenüber rasend war. „Wenn du Probleme hast, helfe ich dir und wenn du dir nicht helfen lassen willst, ist das deine Entscheidung. Ich stehe hinter dir, aber nicht hinter deinem Bockmist. Ich bin nicht dein Gefolgsmann, sondern dein Partner.“
 

Man konnte das Fass förmlich überlaufen sehen. Mit einem geschrienen „Arsch!“ stürzte sich das Mädchen auf ihn. Recht erfolglos versuchte sie, ihren Gegner von den Füßen zu reißen, mit dem Ergebnis, dass er sie lässig über seine Schulter warf und so dingfest machte.
 

Mir zugewandt musterte Raphael erst mich, dann Valerie. Sie wirkte gleichgültig, passiv, schloss alles aus: mich, ihn, wahrscheinlich die ganze Welt.
 

Raphael verschwand mit dem blonden Bündel tobender Wut auf seinem Rücken. Ich blieb mit meiner Meisterin zurück. Die Atmosphäre war erdrückend. Die gesamte Szene, die sich gerade abgespielt hatte, war so unwirklich. Ich dachte gestern, bei einer selbstbewussten emanzipierten jungen Frau eingezogen zu sein, die sich, trotz Teevorliebe, eine Kaffeemaschine zugelegt hatte.
 

Doch in diesen Momenten wurde mir klar, dass dies nur ein Bild, eine Mauer war, die Valerie ständig wieder neu aufbauen musste, weil es Menschen gab, die sie niederrissen. Ich war mir nicht sicher, ob ich einer von ihnen sein wollte. Offensichtlich machten sie Valerie unglücklich.
 

Deshalb sagte ich auch nichts, als sie wortlos an mir vorbei nach draußen ging.
 

~*~
 

Es war schon lange nicht mehr Vormittag, als ich immer noch vor der Schule saß und auf meine Partnerin wartete. Die Luft hier draußen war trocken und heiß und das im Oktober.
 

„Hey!“, rief jemand hinter mir. Erst als sich eine Hand auf meine Schulter legte, wusste ich, dass ich gemeint war. Raphael stand mit zwei Dosen Eistee hinter mir. Ich nahm das Getränk an, es war eiskalt. Ohne ein weiteres Wort setzte er sich auf die nächsthöhere Stufe und musterte die Stadt schweigend.
 

„Sag mal“, fing ich an, weil ich die Ruhe nicht aushielt. „Bist du wirklich der Partner von diesem Mädchen?“
 

Seine Dose wurde zischend geöffnet. Er ließ mich warten, während er trank. Als er schließlich antwortete, war seine Stimme stolz, aber nicht vollends mit Stolz erfüllt. „Ja, ich bin Cordelias Meister.“
 

Cordelia … Das klang definitiv nach Cheerleaderin.
 

„Sie ist kein schlechter Mensch.“ Raphael hatte sich vorne über gebeugt, als müsste er mich unbedingt überzeugen. „Wirklich nicht. Das vorhin tut mir ehrlich leid. Sie hat ein paar Probleme. Und macht ziemlich viel Mist.“
 

Ich öffnete meinen Eistee, musste ihn bei dem starken süßen Geruch aber unangerührt auf die Stufe stellen.
 

„Ja“, erwiderte ich vorsichtig. „Das machen wir doch alle.“
 

„Hm.“ Raphael leerte seine Dose in einem Zug und erhob sich schwungvoll. „Ich habe auch keine Ahnung, was zwischen Cordelia und Valerie läuft. Und solange sie es mir nicht freiwillig sagen wollen, frage ich auch nicht danach. Auf jeden Fall kann ich dir versichern, dass es sinnlos ist, hier auf Valerie zu warten.“ Damit trottete er die Treppen zur Stadt hinunter.
 

Ich rief ihm hinterher: „Was soll das heißen?“
 

„Na, das ist doch klar.“ Als er sich umdrehte, wirkte er kein bisschen besserwisserisch oder herablassend. Er lächelte sogar. „Das starke ungebrochene Mädchen entblößt in einem Moment der Schwäche. Dafür schämt sie sich doch in Grund und Boden. Wahrscheinlich wird sie warten, bis du weg bist oder heute gar nicht mehr nach Hause kommen.“ Er kehrte mir wieder den Rücken zu und verließ das Schulgelände endgültig.
 

Keine Minute verging, da sauste eine blonde Gestalt an mir vorbei. Sie war barfuß, in der Hand hielt sie ein Paar hohe Schuhe. Hetzend lief sie Raphael hinterher und hackte sich bei ihm unter, als sie ihn erreicht hatte.
 

Liebevoll küsste er ihre Stirn.
 

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Hallöchen :) Danke, dass ihr diesen Monat wieder auf meine Geschichte geklickt habt. Und auch ein fettes Dankeschön an meinen lieben Beta.

Nächtes Kapitel: 31.3. weil Prüfungen...

Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch und einen tollen Start ins Jahr 2019 ^^

Das Wollknäuel einer Katze


 

Kapitel 5: Das Wollknäuel einer Katze
 

Valerie
 

Ich wollte nicht nach Hause.
 

Doch in meiner Wohnung waren ein Bett und eine Dusche und Essen. Ich war am Verhungern.

Adrian war auch dort. Also wollte ich nicht nach Hause.
 

Das Geräusch des Schlüssels im Schloss glich einem Donnerschlag; das Klicken hätte die ganze Stadt wecken können. Als die Tür schließlich ohrenbetäubend aufschwang, schien ich wie durch ein Portal in eine andere Welt zu gehen: Alle Jacken hingen ordentlich an der Garderobe – ich hatte eine Garderobe? – und die Schuhe standen säuberlich aufgereiht an ihrem Platz, wo auch immer dieser herkam. Ich schmiss meine Sachen achtlos dazu und ging aus dem Flur in den offenen Ess- und Wohnbereich. Nirgendswo lagen Teller, Tassen, Klamotten oder sonst was herum. Der Couchtisch war frei, die Arbeitsfläche auch und mit der Obstschale auf der Kücheninsel gab es sogar so etwas wie Dekoration.
 

Adrian räumte gerade die Spülmaschine aus. Als er mich sah, lächelte er zunächst entspannt, doch das hielt nicht lange an. Ich musste wohl ziemlich entsetzt aussehen.
 

„Du hast aufgeräumt“, stellte ich atemlos fest. Natürlich hatte er aufgeräumt. Wer sollte es sonst gewesen sein? Es war ja nicht so, als kämen kleine Wichtel einfach so in meine Wohnung, um Ordnung zu schaffen.
 

„Ja. Ich-“, er erklärte irgendwas mit Geschirr und meinen Klamotten, doch weder verstand ich seine Worte, noch konnte ich sie in einen Zusammenhang bringen. Mein Herz raste wie auf dem Highway, ein Feuer in meinem Kopf ließ meine Augen tränen und hinter meiner Stirn explodierte das Weihnachtsfeuerwerk von New York.
 

Ich schloss die Lider und versuchte, ruhig zu atmen.
 

Es gelang mir nicht. Bis Adrian zu mir gelaufen kam. Als er mich an den Armen festhielt und mich so vor dem Umkippen bewahrte, breitete sich ein heilendes Kribbeln unter meiner Haut aus.
 

Schon wieder.
 

Augenblicklich verlangsamte sich mein Puls, als hätte er mir eine Beruhigungsspritze gegeben. Als wäre er meine Beruhigungsspritze.
 

„Hey, was ist denn los?“ Seine Stimme war laut und deutlich und so glasklar wie meine eigenen Gedanken; als beherrsche sie meinen Geist.
 

Langsam schob er mich zum Sofa.
 

„Komm, setz dich.“ Und wieder waren seine Worte zu stark und so unnatürlich nahe. Ein schallendes Echo blieb in meinem Kopf zurück; es verdrängte meine innere Stimme und öffnete der erneut aufsteigenden Panik alle Türen zu meinem Innersten.
 

Omega.
 

Psi.
 

Chi.
 

Phi.
 

Doktor Stein meinte, ich solle mir eine Übung suchen, die meine volle Konzentration beansprucht und sämtliche Störfaktoren verdrängt. Ich hatte mal versucht, Primzahlen rückwärts aufzulisten, angefangen mit der größten, die ich kannte, aber ich war noch nie ein Freund von Zahlen gewesen.
 

Ypsilon.
 

Tau.
 

Sigma.
 

Rho.
 

Pi.
 

Adrian war so ein Störfaktor.
 

Omik
 

Der Moment, in dem mir das bewusst wurde, kam, noch bevor ich Alpha erreicht hatte. Ich fand mich auf der Couch wieder. Meine Beine lagen in die Luft gestreckt auf einem Stapel aus Kissen und Decken. Die Waffe kniete neben mir auf dem Boden. Mir fiel auf, dass Adrian eigentlich ein ziemlich hübscher Störfaktor war: Schulterlange, dunkle Haare, die zum Verwuscheln

einluden, hohe Wangenknochen, braune Augen, die eigentlich grün sein wollten.
 

Sein besorgter Gesichtsausdruck und das zitternde Wasserglas in seiner Hand passten nicht zu der Reaktion auf diese Szene,

wie ich sie in meinem Kopf hatte.
 

„Geht’s dir gut?“, fragte er wieder in einem normalen Ton. „Du bist plötzlich umgekippt.“
 

„Ja.“ Ich wollte mich hinsetzen, doch Adrian – wie ein Retter in der Not – stützte mir gleich den Rücken und hielt mir das Glas unter die Nase. „Schon okay“, beschwichtigte ich ihn. „So was kommt öfter vor.“ Ich wimmelte ihn ab und trat mit den Füßen

so kräftig gegen die Decken und Kissen, dass das Polster sich chaotisch im Wohnzimmer verteilte.
 

„Also fällst immer du einfach so um?“ Seine Stimme klang übertrieben besorgt. „Hast du das mal mit einem Arzt abgeklärt?“ Er war ein viel zu guter Mensch. Viel zu gut für mich. Keine Ahnung, was sich der Shinigami dabei gedacht hatte.
 

„Ja. Na ja, ich“, versuchte ich zu erklären, während ich mich mental darauf vorbereitete, bereits nach 24 Stunden Bekanntschaft von meinem neuen Partner für verrückt gehalten zu werden. Er war schließlich nicht der Erste. „Hat der Shinigami … oder Doktor Stein … irgendwas von meiner … verkorksten … Seele gesagt?“
 

Adrian musterte mein Gesicht genau und ich war mir sicher, dass er nach Defiziten suchte. „Mehr oder weniger.“ Die würde er in Massen finden. „Was bedeutet das? Verkorkste Seele?“
 

Mein Kopf pochte schmerzhaft, als ich mich aufsetzte. „Also … Stell dir vor, jemand hat eine total musikalische Seele, er möchte immer von Musik umgeben sein. Und ein Anderer hat eine total faule Seele. Derjenige liegt am liebsten den ganzen Tag im Bett. Verstehst du, was ich dir sagen will?“
 

Adrian starrte mich an wie ein Auto. Eine seiner Augenbrauen ging nach oben und es sah urkomisch aus, aber jetzt zu lachen wäre unangebracht gewesen.
 

„Kein einziges Wort.“ Er schüttelte sachte den Kopf.
 

„Gut“, gab ich zurück. „Ich nämlich auch nicht.“ Ich setzte meine Füße auf dem Laminatboden ab und stand langsam auf. Kein Schwindel, keine Übelkeit, nur ein bisschen Kopfschmerzen. Alles im grünen Bereich. „Ich weiß nur, dass ich in manchen Situationen umkippe und dass das irgendwas mit meiner Seele zu tun hat. Aber das ist hoch komplizierte Wissenschaft, von der ich keine Ahnung habe. Wenn du irgendwas wissen willst, solltest du zu Doktor Stein oder dem Shinigami gehen.“ Ich trat an ihm vorbei und lief zügig in Richtung meines Zimmers.
 

„Warte.“ Adrian war ebenfalls aufgestanden und sah mich skeptisch an. „Hat das etwas mit mir zu tun? Oder damit, dass ich aufgeräumt habe?“
 

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vermutlich.“
 

„Soll das heißen, dass du selbst nicht weißt, was mit dir los ist?“ Er stellte das Glas in seiner Hand ein bisschen zu heftig auf den Couchtisch, sodass das Wasser überschwappte. Er war wütend.
 

„Ja, ich versteh es selber nicht. Deshalb erwarte ich auch gar nicht, dass du das tust. Also nerv mich bitte nicht damit.“ Ich drehte mich um und verließ das Wohnzimmer mit trampelnden Schritten.
 

„Aber ich könnte dir doch helfen“, rief die Waffe und kam mir hinterher.
 

„Glaubst du nicht, dass ich es nicht schon längst versucht hätte, wenn es irgendetwas gäbe, was mir helfen könnte?“ Meine Wut schien sich auf ihn zu übertragen. Als ich mich erneut abwenden wollte, griff er nach meinen bandagierten Armen.

Schmerz und noch irgendetwas anderes durchfuhren mich.
 

„Was war das heute in der Schule? Wer war dieses Mädchen? War sie diejenige, die dich verletzt hat?“

„Das geht dich einen Scheiß an! Lass mich los!“ Er ließ nicht los, sogar als ich anfing, seine Unterarme mit meinen Fingernägeln zu zerkratzen.
 

„Aber ich habe dich gesehen. Ich meine, nicht dich direkt, aber das Bad und diese Person in einer Art Vision. Ganz deutlich, als wäre ich selbst dort. Was zur Hölle hat das zu bedeuten?!“
 

„Woher soll ich das wissen? Vielleicht kannst du ja hellsehen!“
 

Adrian ließ immer noch nicht locker. Also rammte ich meine Fersen in das abgelaufene Laminat und warf mich mit einem gesamten Körpergewicht in seine Magengrube. Er stöhnte und beugte sich nach vorn, als er mich freigab. Ohne zurückzublicken, lief ich in mein Zimmer, schlug die Tür unmissverständlich laut zu und drehte den Schlüssel herum.

Theatralisch warf ich mich auf den Kleiderhaufen, unter welchem sich mein Bett befand. Immerhin war dieser Raum von Adrians Aufräumattacke verschont geblieben.
 

Als es irgendwann später leise an der Tür klopfte, blieb ich liegen.
 

„Hey. Ich … ich habe dir Abendessen gemacht.“
 

In meinem Nachtschrank war noch ein kleiner Crackervorrat. Ich brauchte kein gottverdammtes Abendessen. Schon gar nicht von ihm.
 

„Valerie?“
 

Als er meinen Namen sprach, veränderte sich irgendwas.
 

„Hau ab!“, rief ich der Veränderung entgegenwirkend, doch es war zu spät: Die Wut, von der ich mich nährte, um nicht hungrig zu werden, löste sich in Luft aus. Mein Magenknurren klang wie das Brüllen einer Furie.
 

„Ich lass dir den Teller hier stehen.“
 

Ein klapperndes Geräusch. Schritte. Stille. Geistesabwesend öffnete ich die Schublade meines Nachtschrankes und zog eine leere Plastiktüte heraus. Keine Cracker.
 

Na toll. Ich hatte nicht gefrühstückt. Mein Mittagessen bestand aus einem Sandwich vom Dienstag, das Adrian mir mitgebracht hatte – wahrscheinlich, weil es das einzig Essbare in meinem Kühlschrank gewesen war – und einem Proteinshake. Als ich das laufende Wasser der Dusche im Bad hörte, schlich ich mich nach draußen. Adrian hatte einen Teller über den anderen gelegt, damit das Essen nicht kalt wurde, und Besteck daneben in eine Serviette gerollt. Geräuschlos nahm ich alles und schloss mich

wieder ein.
 

Vorsichtig hob ich den oberen Teller an und spähte darunter. Dampfende Nudeln kamen zum Vorschein. Natürlich waren sie noch warm. Natürlich dufteten sie fantastisch. Natürlich schmeckten sie fantastisch. Wahrscheinlich lag es am Käse und nicht etwa an seinen tollen Kochkünsten, die für ein paar Nudeln nun wirklich nicht erforderlich waren. Geschmolzener Käse machte schlichtweg alles besser.
 

Adrian kochte also. Er räumte auf. Er kümmerte sich um andere. Er hatte die besten Ergebnisse bei den Sporttests. Wahrscheinlich sprach er Französisch oder Mandarin oder irgendeinen anderen exotischen Kram und sendete jeden Monat fünf Dollar nach Namibia, damit sich eine arme Familie eine Ziege leisten konnte. Wahrscheinlich war sein Vater Arzt und seine Mutter Sängerin oder Tänzerin am Broadway und seine Geschwister gingen allesamt auf Eliteunis und private Highschools, während er in die Wüste von Nevada verbannt wurde, um für mich zu kochen und meine Wohnung aufzuräumen.

Aber weil er so ein guter Mensch war, beschwerte er sich nicht.

Schlafwandeln


 

Kapitel 6: Schlafwandeln
 

Adrian
 

Herzrasen und Übelkeit weckten mich. Hatte ich schlecht geträumt? Nein. Ich träumte seit Wochen nicht mehr.

Atemlos starrte ich an die fremde Decke. Unbarmherzig starrte sie zurück. Ich war in Death City. Das hier war mein Zimmer. In Valeries Wohnung.
 

Valerie.
 

Hatte sie genug gegessen?
 

„Fuck.“
 

Der gnadenlosen Übelkeit entgegenwirkend griff ich nach dem Fenster über meinem Bett und öffnete es. Doch die Luft war nicht frisch und kühl, sondern staubig, trocken und verbraucht. Keine Minute später stürzte ich ins Badezimmer und übergab mich.
 

Als ich wieder auf den Flur trat, brannte Licht in der Küche. Geblendet hielt ich mir die Hand vors Gesicht. Eigentlich wollte ich wieder schlafen. Ich hatte mich schon abgewendet, als ein Gegenstand laut fallen gelassen wurde und der Lärm mich endgültig weckte.
 

An der Spüle erkannte ich den zerzausten, blonden Hinterkopf meiner Meisterin. Als das Wasser aufgedreht wurde, zuckte sie zusammen und schnappte zischend nach Luft.
 

„Valerie?“
 

Sie erschrak heftig beim Klang ihres Namens und wirbelte zu mir herum. Ihre grünen Augen waren gezeichnet von Panik und Schock. Tränen glitzerten auf ihren blassen Wangen.
 

Ich wollte auf sie zulaufen, doch bereits nach den ersten Schritten schrie sie mich aufgelöst an: „Geh weg!“ Eilig griff sie ins Waschbecken, zog ein Küchenmesser heraus und richtete es auf mich. Ihre schmalen Finger umklammerten den Griff so heftig, dass das Werkzeug zitterte.
 

Das Wasser rauschte immer noch aus der Leitung, doch es konnte nicht alle Blutspuren von der Klinge waschen. Tiefrote Tropfen flossen über ihre Hände und fielen lautlos zu Boden. Schnitte durchzogen die helle Haut ihrer Unterarme.
 

Entsetzt starrte ich sie an. Entsetzt starrte sie zurück.
 

Beschwichtigend – als müsste ich ein wildes Tier zähmen – setzte ich langsam einen Fuß vor den anderen und trat aus dem Flur. „Hey“, sprach ich sie vorsichtig an. „Geht’s dir gut? Du blutest.“ Anstatt mir zu antworten, holte sie aus und warf das Messer zielsicher in meine Richtung. Zischend sauste es über meinen Kopf hinweg, als ich mich duckte, und blieb unbarmherzig in der Wand am Ende des Ganges stecken.
 

Okay ... Ganz offensichtlich ging es ihr nicht gut.
 

Jetzt, da sie das Mordinstrument aus der Hand gelegt hatte, wagte ich mich schneller vor. Als ich um die Kücheninsel drum herumgegangen war, schien sie ihren Fehler bemerkt zu haben und wich bis zur Wand zurück. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in einem schnellen Rhythmus. Die Panik stand immer noch in ihrem blassen Gesicht, gemischt mit unsicherer Wut.
 

„Hau ab!“, versuchte sie es noch einmal mit lauter aber zitternder Stimme. Von der Küchenzeile schnappte sie sich eine leere Plastikschüssel und warf diese ebenfalls nach mir, allerdings ohne mich zu treffen.
 

Gespannt blieb ich stehen. Wartete ab. Valerie rührte sich nicht.
 

Was für eine unangenehme Situation. Ich meine, was sagte man jemandem, der sich … na ja …
 

„Was … was tust du da?“, fragte die Meisterin, als ich langsam vor ihr in die Hocke ging und mich mit kriechend auf sie zu bewegte. Bestimmt sah ich albern aus. Und, verdammt, es war albern, aber …
 

„Ich habe mal in einer Doku gesehen, wie ein Ranger ich auf diese Weise einer wilden Löwin genähert hat. “
 

Sie schniefte, wischte sich hastig über die Wangen und kommentierte mein Tun mit: „Das ist doch lächerlich.“
 

Ich umging die kleinen Blutstropfen auf dem Boden so gut es ging und richtete mich wieder auf, als ich bei ihr angekommen war. „Du hast mit diversen Küchengeräten nach mir geworfen. Wenn es dir nichts ausmacht, bin ich lieber lächerlich als tot.“

Valerie atmete einmal tief durch, blieb aber angespannt. Von Nahem fiel mir auf, dass sie recht klein war. Nein, eher winzig. Ihr Scheitel erreichte nicht mal meine Schultern, das hatte ich vorher nie bemerkt. „Darf ich mal?“, fragte ich und griff nach ihren Händen. Nur zögernd ließ sie mich ihre Unterarme anschauen: blutige Schnitte auf beiden Seiten. Einige waren schon älter und verkrustet oder vernarbt, andere ganz frisch. Ohne sie loszulassen, fischte ich nach der Rolle Küchenpapier auf der Arbeitsfläche und tupfte mit einem Tuch vorsichtig über die Wunden. Sie zuckte zusammen, gab aber keinen Mucks von sich.
 

„Hast du … das mit Absicht gemacht?“
 

Erschrocken sah sie mich an und entriss mir kraftvoll ihre Arme.
 

„So ist das nicht!“ Sie wandte sich ab. Mit hängenden Schultern lehnte sie sich an die Wand und starrte resigniert auf ihre Füße. „Nein, so ist das nicht.“ Schwere, träge Dunkelheit legte sich über ihr Gesicht, ihre Augen. „Würdest du mich jetzt bitte allein lassen?“
 

„Nein.“
 

Beherzt nahm ich sie an den Schultern, schob sie durch die Küche und den Flur ins Bad und drückte sie auf den Badewannenrand. Schweigend holte ich den Erste-Hilfe Kasten aus dem Schrank unter dem Waschbecken und kramte darin nach Kompressen, Verbänden und Desinfektionsmittel. Ohne einen Einwand zu erheben, ließ Valerie zu, dass ich ihre Wunden reinigte und verband. Sie zuckte nicht einmal, als der Alkohol ihre blutenden Arme berührte.
 

Ich war fertig, doch sie würdigte mich keines Blickes.
 

„Wenn du“, begann ich zögernd. „Wenn du reden willst, dann bin ich für dich da.“ Das klang schmalzig. Schmalzig und unehrlich, aber irgendwie musste man ja ein guter Mensch sein.
 

„Du würdest mir eh nicht glauben.“ Ihr Blick war auf ihre Fingernägel geheftet. „Niemand hat mir je geglaubt. Nicht mal Doktor Stein oder der Shinigami. Nur meine Schwester, aber die interessiert es nicht.“
 

„Ist es denn so schlimm?“
 

Sie zuckte mit den Schultern, als würde sie kurz auflachen.
 

„Die halten mich für verrückt.“ Nun sah sie mich doch an. Ernst und voller Verletzlichkeit durchbohrten mich ihre grünen Augen. Nur für einen Moment. Dann erhob sie sich zum Gehen.
 

„Als sich das erste Mal Teile meines Körpers in Klingen verwandelt habe“, sprach ich schließlich, Valerie war schon draußen, da drehte sie sich noch mal um, „schickten mich meine Eltern zu einem Psychiater. Da war ich gerade zehn oder elf. Glaub mir, ich wäre der Letzte, der dich für verrückt erklären würde.“
 

Einen Augenblick noch stand sie da und ich dachte, sie würde es mir erzählen. Doch sie ging ohne ein weiteres Wort. Seufzend räumte ich die Sachen zusammen. Gerade, als ich das Licht ausschalten wollte, tauchte Valerie wieder im Flur auf.
 

„Hier.“ In ihrer ausgestreckten Hand lag ein einzelner Schlüssel. „Der ist für mein Zimmer. Könntest du mir einen Gefallen tun und mich einschließen?“
 

Entgeistert sah ich auf sie herab. Die Meisterin war winzig im Vergleich zu mir und in dem weiten Schlafshirt unglaublich zierlich, doch ihre Präsenz wirkte in diesem Moment so … nahe. Als würde etwas tief in mir sie kennen.
 

„Spinnst du?“ Ich drückte ihre Hand zurück. „Was, wenn in deinem Zimmer ein Feuer ausbricht, während ich schlafe? Dann verbrennst du, weil du nicht rauskommst!“
 

„Ich könnte aus dem Fenster springen.“
 

„Wir sind im vierten Stock!“
 

Sie betrachtete argwöhnisch erst mein Gesicht, dann meine Hände auf ihren, bevor sie sich mit Kraft losriss und endgültig in ihrem Zimmer verschwand. Mit einem Pling schlug der Schlüssel achtlos auf den Fliesen auf. Ich hob ihn auf und seufzte erneut. An ihrer Tür steckte ich ihn ins Schloss, ohne ihn umzudrehen. Bevor ich wieder ins Bett ging, räumte ich noch Schüssel und Küchenpapier an ihren ursprünglichen Platz.
 

Im Flur fiel mein Blick auf das Messer in der Wand. Kaum zu glauben, dass ein junges Mädchen so viel Kraft besaß, dass es stecken blieb. Als ich nähertrat, stellte ich allerdings fest, dass sich unter der Tapete kein Beton oder Stein, sondern eine Gipsplatte verbarg. Ohne Mühe zog ich das Messer aus der Platte und verstaute es in einem der Küchenschränke ganz oben, ganz hinten.
 

Die Übelkeit weckte mich noch zweimal in dieser Nacht. Als irgendwo in der Stadt eine Kirchenglocke vier Uhr schlug, gab ich das Schlafen endgültig auf.
 

Ich füllte in der Küche ein Glas mit Leitungswasser, trank es restlos aus und füllte es erneut, bevor ich mich auf die Couch setzte und den Fernseher einschaltete. Das Programm beschränkte sich auf Homeshopping, Dokusoaps vom Vortag und Kindersendungen. Bei einem alten Cartoon blieb ich hängen.
 

Mit schneller Musik rasten Tom und Jerry über den Bildschirm. Ich konnte bis heute nicht sagen, ob sie wirklich Feinde waren oder ob lediglich ihre Instinkte sie zu der ständigen Jagd zwangen.
 

Es vergingen kaum ein paar Minuten, da öffnete sich im Flur eine Tür. Leise Schritte kamen näher, bevor Valerie im Türrahmen auftauchte.
 

„Hey, kannst du auch nicht schlafen“, sprach ich sie an, bekam allerdings keine Antwort.
 

Schweigend tapste sie in die Küche. Sie öffnete einen der Küchenschränke - den Schrank, in den ich das Messer gelegt hatte. Die oberste Ablage war leer und verstaubt gewesen, vermutlich, weil sie nicht herankam.
 

Valerie hob einen Arm, stellte sich auf die nackten Zehenspitzen und streckte sich. Das Longshirt, das sie trug, rutschte nach oben und entblößte weiß bepunktete Unterwäsche. Sie streckte sich weiter, obwohl sie eindeutig zu klein war.
 

„Hey!“, rief ich sie noch einmal. „Valerie!“ Nichts. Als hätte sie mich nicht gehört. Als wäre ich gar nicht da.
 

Ich stand auf und trat zu ihr. Ihr Gesicht war angespannt, als würde sie sich darüber ärgern, dass sie nicht herankam, und ihre Augen wirkten glasig. Ich griff nach der ausgestreckten Hand und wollte sie noch unten ziehen, doch in dem Moment, in dem ich sie berührte, sackte sie zusammen.
 

Schwer atmend landete sie auf allen Vieren. Ihr Körper bebte und zitterte und ich stand nur da und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, während ein kurzer, heftiger Schreck wie eine Peitsche durch den Raum glitt und gleich darauf wieder verschwand. Zurück blieben Schaudern und Keuchen.
 

Nach einigen schweren Atemzügen setzte sich meine Meisterin auf und lehnte sich an einen der Küchenschränke.

„Deswegen wollte ich, dass du mich einschließt.“ Sie sah mich nicht an. Ihre Stimme war belegt, über ihre Wange lief eine einzelne Träne, während ich versuchte, zu verstehen, was da gerade passiert war.
 

Valerie stand mitten in der Nacht auf. Sie lief herum, ohne auf Geräusche zu reagieren. Sie wollte sich selbst verletzten, obwohl ich eindeutig anwesend war.
 

„Du“, äußerte ich meine Vermutung, die so unglaublich klang, dass es schon wieder möglich war. „Du schlafwandelst.“
 

Ich hatte mal von einem Mann gehört, der seine Frau im Schlaf umgebracht haben sollte, weil er sie für einen Einbrecher gehalten hatte. Aber das hier war-
 

„Verrückt, oder?“ Die Blonde sah mich an und lächelte, als wäre das tatsächlich nur ein Witz. „Hast du das gerade eben zufällig gefilmt? Ich würde es gerne mal Doktor Stein zeigen.“
 

Schlafwandeln … tatsächlich. Aber sowas machten doch eigentlich nur Kleinkinder und gestresste Unternehmer.

Im Schneidersitz setzte ich mich zu ihr auf den Boden. „Er glaubt dir nicht?“
 

„Nein. Ich war schon früher Schlafwandler, meine Schwester auch. Bei Kindern kommt das häufig vor.“ Ein Schniefen unterbrach sie. „Als ich an die Shibusen kam, fing es wieder an. Ich habe Medikamente bekommen, aber die halfen nicht. Das war auch gar nicht schlimm. Ich meine, Schlafwandeln ist eigentlich harmlos. Ich bin nachts ab und zu aufgestanden und habe den Haushalt gemacht.“ Sie lachte kurz ein raues Lachen und schniefte noch einmal. „Es war echt cool, morgens aufzuwachen und das Geschirr sauber in den Schränken zu sehen.“ Gedankenverloren knaupelte sie an ihren Fingernägeln.

„Was ist passiert?“, hakte ich nach.
 

„Meine erste Partnerschaft ging in die Brüche. Das war ziemlich hässlich, wie haben uns sogar geprügelt. In der ersten Nacht, die ich alleine in dieser Wohnung verbracht habe, bin ich an der Spüle aufgewacht. Mit einem Messer in der Hand und einem Schnitt im Unterarm.“
 

Sie sah mich an und in ihrem Blick erkannte ich einen Schmerz, der tiefer ging als jede Schlucht dieser Erde. Die Welt um uns herum schien stillzustehen. Sie blieb stehen, drehte sich weiter, blieb wieder stehen. Nur die Wanduhr tickte verräterisch.

„Passiert das öfter?“ Meine Stimme war heiser, mein Mund trocken. Als würde die Erinnerung genauso schwer auf mir liegen wie auf ihr.
 

„Seltener als früher. Kurz nach der Trennung bin ich fast jede Nacht aufgestanden. Ich habe nasse Handtücher auf den Boden meines Zimmers gelegt, um aufzuwachen. Aber das funktioniert mittlerweile nicht mehr. Es kommt darauf an, ob ich einen guten oder schlechten oder richtig, richtig miesen Tag hatte.“ Sie schnaubte verächtlich. „Manchmal kann ich diese Tage selber nicht voneinander unterscheiden. Wenn ich denke, dass es gut lief, laufe ich trotzdem nachts umher. Das ist echt zum Kotzen.“
 

„Und dagegen kann man gar nichts machen?“
 

„Ha!“, lachte sie kurz und bitter auf und sah mich verärgert an. „Doch, aufwachen! Ich habe zwei große Schüsseln mit Eiswasser vor meinem Bett stehen. Guck mal, ich bin sogar durchgelaufen.“ Ihr nacktes Bein wirbelte herum, ihr nasser Fuß stoppte kurz vor meinem Gesicht. „Aber das weckt mich nicht mehr. Nicht mal die Schnitte wecken mich! Manchmal wache ich morgens in der Küche auf und habe vier neue Wunden, von denen ich nichts weiß.“ Sie zitterte erneut, als Tränen über ihr Gesicht liefen.
 

Irgendwie war es logisch. Wenn man jeden Morgen von Baustellenlärm geweckt wurde, überhörte man das auch irgendwann und schlief einfach weiter. Man gewöhnte sich daran. Es war logisch und grauenhaft.
 

„Wie kann ich dir helfen?“
 

Helfen?!“ Wütend sprang Valerie auf und sah mich an, als hätte ich ihren Vater, ihren Bruder und ihre Katze beleidigt. „Klar willst du helfen! Alle haben Mitleid und wollen irgendwas tun. Ständig schenken mir die Menschen in der Schule Risotto oder Auflauf, als wäre irgendjemand gestorben, oder Eis, weil mit Eis alles besser wird. Am Arsch!“
 

Sie griff nach einer hellblauen Plastikschüssel – derselben Schüssel wie vorhin – und schmiss sie mit Gewalt durch den Raum. Mit einem krachenden Geräusch prallte der Gegenstand gegen die Wohnzimmerwand und ging genauso laut zu Boden. Ich erhob mich langsam. Ein Stück blaues Plastik lag abseits des Rests auf dem grauen Teppich.
 

„Ich habe kein Mitleid mit dir.“ Meine Stimme klang barscher als beabsichtigt, aber ich hatte das Gefühl, dass ich mich nur so gegen ihren Aufruhr durchsetzen konnte. „Stimmt, deine Situation ist ziemlich scheiße und vielleicht gehen deswegen andere Menschen nicht ganz pfleglich mit dir um. Aber jegliche Hilfe abzublocken, weil du ein klein wenig anders bist, finde ich viel schlimmer.“
 

„Ich habe nichts abgeblockt. Diese Hilfe“, sie macht mit den Fingern Anführungsstriche und verzog dabei das Gesicht zu einer mürrischen Grimasse, „hat mir nur nicht viel gebracht. Schau.“ Sie deutete auf ihre verbundenen Arme. „Immer noch selbstmordgefährdet. Trotz Medikamente gegen Schlafwandeln. Trotz Therapie und Antidepressiva, die ich nicht nehme, weil ich keine scheiß Depression habe!“
 

Ihre Brust hob und senkte sich in einem schnellen Rhythmus. Mit trampelnden Schritten ging sie in den Eingangsbereich und riss ihre Jacke von der Garderobe. Ich folgte ihr, ohne zu zögern.
 

Böse keifte Valerie mich an: „Halt dich aus meinem Leben raus, Adrian.“
 

Ihre Wut ergoss sich über mir wie ein Schwall eiskaltes Wasser, drang in mich ein und füllte die tiefen Kratzer meiner Seele aus, bevor ich sie zu ihrem Ursprung zurückschleuderte.
 

„Ich bin dein Partner, ich bin Teil deines Lebens! Vielleicht wäre ein bisschen Wertschätzung angebracht gegenüber jemanden, der versucht, sich um dich zu kümmern!“
 

Sie gab ein hohes, empörtes Geräusch von sich, als sie sich zu mir umdrehte. „Ich habe dich nie darum gebeten. Überhaupt, was weißt du schon von Partnerschaft? Wir kennen uns gerade mal zwei Tage. Hattest du eigentlich schon mal einen richtigen Partner?“
 

„Nein.“ Ich trat näher an sie heran. So nahe, dass sie ihren Nacken überstrecken musste, um mich weiterhin so aufgebracht von oben herab ansehen zu können. „Und du, soweit ich weiß, auch nicht.“
 

„Stimmt.“ In ihrer Stimme lag eine gefährliche Drohung und sie war das hohe Pendant zu meiner eigenen. „Obwohl ich bereits ein Dutzend Gelegenheiten hatte. Sie haben mich alle im Stich gelassen. Glaub ja nicht, dass du etwas Besonderes wärst, nur, weil der Shinigami dich persönlich ausgewählt hat.“
 

„Wahrscheinlich sind die auch einfach alle abgehauen, weil du so eine schlechte Meisterin bist.“
 

Lautlos grollte ein Donnerschlag durch die Wohnung.
 

Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen. Vielleicht hatte ich eine Grenze überschritten, die es nicht zu überschreiten galt. Oh, ich war mir ziemlich sicher, eine Grenze überschritten zu haben.
 

„Arsch!“
 

Mit der ganzen Kraft, die so eine kleine Person aufbringen konnte – und das war, wie ich lernen durfte, eine Menge – trat sie mir gegen's Schienbein. Der Schmerz fegte wie ein beißender Wind durch meinen Körper und ich widerstand dem Drang, auf die Knie zu fallen, konnte ein Stöhnen aber nicht unterdrücken.
 

„Dann kann es dir doch erst recht egal sein, wenn ich mich im Schlaf umbringe! Schließlich hat niemand Verwendung für so eine schlechte Meisterin, wie mich!“
 

„Sag mal geht’s noch?!“ Ich ignorierte mein pochendes Bein. Ich ignorierte die Nachbarn, die wir mit unserem Geschrei vermutlich weckten. Ich ignorierte die Welt. „Hast du schon mal gesehen, wie jemand stirbt? Hast du jemals in deinem Leben so viel Blut gesehen? Ich schon. Und ich habe keine Lust, nochmal über die Leiche eines Menschen stolpern zu müssen, der mir nahesteht!“
 

„Ich stehe dir nicht nahe!“
 

Sie war so kurz davor, mir eine zu knallen. Hart mit der Faust, nicht wie ein Mädchen. Und ich war so kurz davor, das Eingesteckte zurückzugeben, hätte ein Klick-klick uns nicht unterbrochen.
 

Hinter Valerie ging die Eingangstür schwungvoll auf und ein Junge mit schneeweißen Haaren und blutroten Augen erschien auf der Schwelle.
 

„Habt ihr eigentlich eine Vorstellung davon, wie spät es ist?“, brüllte er uns an und war dabei mindestens doppelt so laut wie wir. „Es gibt Menschen in diesem Haus, die ihren Nachtschlaf brauchen!“
 

Ich kannte ihn nicht. Er hatte einen Schlüssel zu der Wohnung, also kannte er offenbar Valerie.
 

„Soul! Hast du sie noch alle?“ Hinter dem Jungen tauchte eine weitere Person auf: ein Mädchen mit blonden Haaren, dunkler als Valeries, und einem sehr dicken, sehr schwer aussehenden Buch in der Hand, welches sie ihm brutal über den Schädel zog. Der Junge, Soul, ging zu Boden.
 

„Oi!“, beschwerte er sich, wurde allerdings gekonnt ignoriert.
 

„Alles okay?“, fragte das blonde Mädchen und schaute besorgt zwischen mir und meiner Meisterin hin und her. Anstatt eine Antwort zu geben, drängte sich Valerie mit ihrer Jacke an den beiden vorbei und rannte die Treppen hinunter. Unten knallte die Haustür. Ich wollte ihr hinterher, doch Soul – ein Nachbar, nahm ich an – hielt mich auf.
 

„Mach das lieber nicht“, murmelte er gedämpft, als er sich aufrappelte. „Glaub mir, ich kenne mich mit jähzornigen Meistern aus.“
 

„Entschuldige?!“, keifte die Blonde ihn an, bevor sie sich an mich wandte. „Wir kennen uns noch nicht. Ich bin Maka.“ Sie hielt mir mit einem freundlichen Lächeln ihre schmale Hand entgegen.
 

Ich erwiderte ihren Händedruck. „Adrian.“
 

„Du bist neu hier, oder? Soul und ich wohnen da drüben.“ Ihr Finger deutete hinter sich auf die gegenüberliegende Wohnung. „Wann bist du denn eingezogen?“
 

„Am Donnerstag.“
 

Soul stellte sich zwischen mich und Maka und von Nahem sah ich erst, wie unglaublich jung er war. „Dich hat wohl der Shinigami geschickt.“ Er betrachtete mich argwöhnisch von oben bis unten. „Mein Beileid.“ Gähnend drehte er sich um und verschwand in der anderen Wohnung.
 

„Bitte ignoriere diesen unsensiblen Idioten.“ Das Mädchen sah mich erschrocken an und hob die Hände, als wollte sie sagen, er habe es nicht so gemeint. „Valerie ist manchmal … ein bisschen verbissen … und emotional, aber sie ist ein sehr lieber Mensch. Du darfst die Sachen, die sie manchmal von sich gibt, nicht persönlich nehmen.“ Sie nahm den Zweitschlüssel aus unserer Haustür und ging schon ein paar Schritte zurück. „Soul und ich sind in der EAT. Wenn du Fragen hast, zögere nicht, zu uns zu kommen.“ Mit einem Winken verschwand auch sie.
 

Valerie war eine Stunde später immer noch nicht zurück. Während die aufgehende Sonne die restliche Stadt an diesem Samstagmorgen weckte, schlief ich auf der Couch noch mal ein.

Ginger Hair


 

Kapitel 7: „Ginger Hair“
 

Adrian
 

Ein gleißendes Licht weckte mich. Durch das blanke Wohnzimmerfenster schien die Sonne hoch am Himmel stehend erbarmungslos in mein Gesicht. Wie spät war es?
 

Mühsam und schweißgebadet rappelte ich mich auf. Dabei fiel die Decke, die über mir ausgebreitet wurde, auf den Boden. Die war vorher noch nicht da gewesen. Auch der Fernseher war ausgeschaltet.
 

Ohne weiter darüber nachzudenken – ich musste mich regelrecht zwingen, nicht darüber nachzudenken – ging ich ins Bad. Dort lagen Valeries Klamotten überall auf den Fliesen verteilt. Ich hob sie nicht auf, schob die Sachen aber mit dem Fuß in eine unauffällige Ecke, bevor ich in die Duschen stieg.
 

Valerie schlafwandelte. Sie schnitt sich die Arme auf. Im Schlaf. Kein Wunder, dass andere sie für verrückt hielten, ich würde es selbst nicht glauben, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen.
 

Valerie war zusammengebrochen, als sie die ordentliche Wohnung gesehen hatte. Das klang eigentlich noch viel verrückter.

Ihre verkorkste Seele hatte sie es genannt.
 

Stell dir vor, jemand hat eine total musikalische Seele, er möchte immer von Musik umgeben sein. Und ein Anderer hat eine total faule Seele. Derjenige liegt am liebsten den ganzen Tag im Bett.
 

Vielleicht beschrieb das Wort verkorkst Valerie nicht ganz, sondern eher chaotisch. Jemand mit einer chaotischen Seele konnte demnach Ordnung nicht leiden. Aber deswegen gleich umzukippen…
 

Seufzend stellte ich die Brause ab und trat aus der Dusche. Ich sollte zum Shinigami oder zu Doktor Stein gehen, wenn ich irgendetwas wissen wollte, hatte sie gesagt. Keiner von beiden war mir sonderlich angenehm, aber da der Doktor immerhin ein Gesicht hatte und menschlich war, würde ich wohl ihn aufsuchen.
 

Mit nassen Haaren und einem Handtuch um den Hals hängend betrat ich die Küche. Da ich gestern einkaufen war, würde mein Frühstück – oder eher Brunch, denn die Uhr am Herd zeigte bereits 11:26 Uhr an – heute wohl etwas reichhaltiger ausfallen.

In der Wohnung war es ruhig. Eigentlich ungewöhnlich ruhig für eine Studenten-WG. Doch ich zwang mich, auch darüber nicht nachzudenken. Oder über Valeries Eigenarten.
 

Oder über unseren Streit.
 

Nein, ich schob mir lieber Fertigpancakes in den Toaster, übergoss sie mit einer Wagenladung Sirup und stopfte sie in mich hinein. Auf das mein Frust an den Kalorien erstickte.
 

Es funktionierte nicht.
 

Ich hatte keine Ahnung, wo Doktor Stein wohnte. An einem Samstag würde ich ihn wohl kaum in der Schule finden. Und planlos in der Stadt herumirren und dabei riskieren, mich zu verlaufen, kam auch nicht infrage.
 

Ich könnte zu Valerie gehen. Sie wusste es bestimmt. Ich sollte zu Valerie gehen, denn diese Partnerschaft war meine einzige Chance und wenn ich die nicht nutzte, war alles aus. Also riss ich mich zusammen und klopfte an ihre Tür.
 

Zunächst blieb alles ruhig. Vielleicht war sie gar nicht da. Doch dann ging die Tür auf und meine Meisterin erschien, völlig zerknittert und zerzaust. Angesichts der tiefen, dunklen Ringe, die ihre Augen einrahmten, konnte ich mir ein überraschte „Woah“ nicht verkneifen.
 

„Geht’s dir gut?“, fragte ich und war schon wieder kurz davor, ihr meine Hilfe anzubieten. Dann erinnerte ich mich daran, dass sie allergisch auf das Wort helfen reagierte und ließ es bleiben.
 

„Ja.“ Sie zupfte an ihrer zerrupften Frisur. „Brauchst du irgendwas?“
 

„Nein. Äh, ja, doch.“ Was zur Hölle war das denn? „Weißt du, wo Doktor Stein wohnt?“
 

Ein merkwürdiger Schleier legte sich über ihre Augen, doch bevor ich ihn näher betrachten konnte, lehnte sie die Tür an und ging zurück ins Zimmer. Mit einem Zettel in der Hand kam sie wieder. In unsauberer Schritt war eine Adresse darauf notiert.
 

„Hier.“ Ungeduldig reichte sie mir den Post-it. Ich nahm ihn entgegen und als sie gerade die Tür wieder schließen wollte, hielt ich sie mit meiner Hand im Rahmen auf.
 

Abwartend sah Valerie mich an.
 

„Ich … Ich wollte … “ Die Worte entglitten mir. Sie lagen mir auf der Zunge und dann waren sie weg. Weg. Ich machte den Mund zu und wieder auf, doch was ich sagen wollte, blieb verschollen. Was wollte ich überhaupt sagen? Über ihren verschleierten grünen Augen hob sich eine Augenbraue.
 

Nachdem ich nach einer geschlagenen Minute immer noch nichts rausgebracht hatte, schlug die Meisterin meine Hand weg und schloss die Tür.
 

Ich blieb zurück. Ohne Worte, ohne einen klaren Gedanken.
 


 

~*~
 

Ich war überrascht: Death City war wie jede andere amerikanische Stadt. Auf den Straßen deutete nichts auf etwas Übernatürliches hin. Die Schaufenster strahlten mit Produkten; die Menschen redeten übers Wetter, schleppten große Einkaufstaschen herum, liefen zu langsam und blieben ab und zu ganz spontan stehen. Und überall roch es nach Fritten.
 

Mein Weg zu Doktor Stein führte mich mitten durch die Innenstadt. Vermutlich. Ich hatte zwar eine Karte auftreiben können, doch da mein Orientierungssinn noch nie wirklich ausgeprägt war, schritt ich eher planlos als zielstrebig durch die volle Einkaufsmeile. So viel zum Thema sich nicht zu verlaufen.
 

Auf der Suche nach einer Bank oder Ähnlichem, an der ich kurz anhalten und mich umsehen konnte, stellte ich mich auf die Zehenspitzen und entdeckte ein mehr oder weniger bekanntes Gesicht: Der Junge mit der merkwürdigen, unsymmetrischen Frisur – wie hieß er noch gleich? – schlenderte auf sein Handy starrend durch die Passage, flankiert von zwei Mädchen. Er blickte nur kurz auf und sah mich direkt an, als hätte er meine Anwesenheit gespürt. Sein Gesicht hellte auf und mit etwas, was vielleicht eine freudestrahlende Miene war, kam er schnellen Schrittes auf mich zu.
 

„Adrian“, sprach er mich an. „Hast du deinen ersten Schultag gut überstanden?“
 

„Äh.“ Ich kannte ihn – offenbar – aber ich konnte mich nicht an seinen Namen erinnern. Die Mädchen mit dem skeptischen Blick kannte ich nicht und ehrlich gesagt wollte ich sie auch nicht kennenlernen. Aber der junge Mann deutete mit seinen gelben Augen auf die großen Plastiktüten mit Klamotten, die er trug, und dann wieder auf mich, als wäre ich ein heimlicher Verbündeter.
 

„Ja“, spielte ich mit und setzte ein Lächeln auf. „Lief gut.“
 

Erleichterung huschte über seinen Blick. „Sehr schön. Das sind im Übrigen meine Waffen Liz“, er zeigte auf die Größere zu seiner Linken, „und Patty“, sein Finger ging zu seiner rechten Seite. „Mädels, das ist Adrian. Er ist neu an der Schule.“
 

„Hiii“, grüßte die Kleinere, Patty, fröhlich und riss ihren Arm nach oben.
 

Zwei Waffen. Oha. Ich hatte nicht gewusst, dass so was überhaupt erlaubt war.
 

„Du erkundest die Stadt wohl auf eigene Faust?“, fragte der Typ. „Suchst du einen bestimmten Ort?“
 

„Ja, ich muss zu Doktor Stein.“
 

Liz schnaubte überrascht und zog ihre gezupften Augenbrauen nach oben. „Was willst du denn dort?“, fragte sie argwöhnisch. „Weißt du nicht, wie gefährlich das ist?“
 

„Liz hat recht.“ Der Junge – ich war mir ziemlich sicher, dass er ein Schüler der EAT war – drückte seinen Partnerinnen den Einkauf in die Hände und packte mich am Arm. „Du solltest auf keinen Fall allein dorthin gehen.“
 

Mit einer knappen Verabschiedung an seine Waffen zerrte er mich hastig weg. Wir liefen in eine Seitenstraße. Bevor er langsamer wurde, drehte er sich nochmal um und seufzte schließlich erleichtert, als wir anscheinend außer Sichtweite waren.
 

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich, „aber das musste sein. Warst du jemals mit zwei Frauen einkaufen?“
 

„Nein.“ Ich bin gestern zum ersten Mal seit Jahren einkaufen gewesen.
 

„Dein Glück. Es ist grauenhaft.“ Er deutete in eine Richtung von den überfüllten Gassen weg. „Komm, ich zeig dir den Weg.“
 

Ich bedankte mich und folgte ihm und so liefen wir eine Weile schweigend nebeneinander her. Immer wieder glitten seine wachsamen, hellen Augen zu mir herüber, formulierten eine Frage, die er aber nicht stellte. Gut so. Es ging ihn nichts an.

Wir traten in ein düsteres Viertel. Die Straßenlaternen sahen nicht mehr vollständig funktionsfähig aus, selbst die Vögel schwiegen. Und in der Stille moderten die kahlen Häuser vor sich hin.
 

„Weiter werde ich dich nicht bringen“, erklärte mein Begleiter schließlich. „Wenn Doktor Stein mich sieht, lädt er mich bestimmt zu sich herein. Das will ich nicht. Nimm von ihm besser nichts an. Er ist sehr experimentierfreudig und kippt oft seine Mixturen in die Getränke.“ Eindringlich musterte er mich von oben bis unten und kurz sah es so aus, als wollte er noch etwas hinzufügen. Doch er hob nur die Hand und verabschiedete sich mit einem knappen „Das Haus am Ende der Straße. Wir sehen uns.“
 

Das Haus am Ende der Straße war … anders. Und damit meinte ich nicht die ungewöhnliche Fassade oder die Bäume im Vorgarten, deren Äste zu Pfeilen wuchsen. Das ganze Gebäude strahlte eine Atomsphäre aus, die selbst die Ratten fernhielt.
 

Das schmiedeiserne Tor schwang auf, noch bevor ich die Klingel betätigen konnte. Als sich daraufhin auch die Haustür öffnete und eisige Stille eine Geisterhausstimmung zu mir herübertrug, war ich drauf und dran, wieder umzukehren. Dieser Ort fühlte sich definitiv nicht heimisch an.
 

Ein metallisches Rollen kam aus dem Inneren des Gebäudes. In der Dunkelheit des Flures erschien Doktor Stein, der auf einem … Bürostuhl … herangerollt kam. An der Eingangstür stoppt ihn die kleine Kante, sodass er mit einem erschrockenen Laut umkippte und sichtlich unsanft auf dem Rücken landete.
 

„Adrian! Na, das ist eine Überraschung“, bemerkte er, als er sich aufrappelte. „Du könntest einem Älteren ruhig aufhelfen.“
 

„Ähm … Verzeihung?“
 

„Ach, schon gut.“ Grob klopfte er sich den Staub vom Kittel und setzte sich breitbeinig auf den Stuhl. „Was willst du hier?“
 

„Ich brauche ein paar Antworten.“
 

Doktor Stein lachte ein kurzes, rauchiges Lachen. „Nun, dann brauche ich wohl ein paar Fragen.“
 

Die Einrichtung des Hauses war … gewöhnungsbedürftig. An fast jeder Wand standen Regale gefüllt mit Glaskaraffen und Phiolen mit fragwürdigem Inhalt. In einem Einmachglas waren Augen in einer gelblichen Flüssigkeit eingelegt und ich hätte schwören können, dass sich die Pupillen bewegt hatten, als ich daran vorbeigegangen war.
 

Unruhig rutschte ich auf dem grauen Polster des Sofas hin und her. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, hierherzukommen. Vielleicht hätte ich zum Shinigami gehen sollen.
 

„Also“, der Doktor stelle ein Becherglas mit heißem Wasser und einem Teebeutel vor mir auf den Couchtisch und setzte sich in den Sessel mir gegenüber. „Frag.“
 

Das sagte sich so leicht. Denn ich wusste weder, wo ich anfangen sollte, noch was ich eigentlich genau wissen wollte.
 

„Warum“, begann ich zögernd mit dem Erstbestem, das mir einfiel, „findet Valerie keine Waffe?“
 

Er sah mich kurz überrascht an, als hätte er mit etwas anderem gerechnet.
 

„Das kann ich dir zeigen“, meinte Stein schließlich und stand wieder auf, ging zu einem Regal und kam mit einem Gegenstand wieder, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er war bräunlich-schwarz, rund und voller spitzer Stacheln.
 

„Wenn sich zwei Menschen treffen, dann treffen sich auch ihre Seelenwellen. Normalerweise verhalten sich Seelenwellen wie andere Wellen auch: Sie schwingen. So“, er ließ sich wieder in das Polster fallen und legte das Ding auf den Tisch. „Valeries Seelenwellen allerdings sind wie die Stacheln dieses getrockneten Seeigels. Nicht schwingend und weich, sondern hart, direkt und spitz zulaufend. Gib mir mal deine Hand.“
 

Er beugte sich herüber und griff nach meinem Handgelenk. Die Handinnenfläche schwebte über dem Seeigel und mein Gegenüber drückte sie herab, bis die Stacheln meine Haut berührten.
 

„Autsch!“
 

„Unangenehm, oder?“ Er ließ mich los und zog sich zurück. „Genauso geht es den Menschen, die Valerie begegnen. Und deshalb gehen sie eher auf Abstand. Ist deine Frage damit beantwortet?“ Entspannt lehnte der Doktor sich zurück und betrachtete mich eindringlich.
 

„Aber dann wird sie von anderen doch viel zu schnell verurteilt, bevor sie sie überhaupt kennenlernen können“, gab ich angesäuert zurück. „Das ist ziemlich unfair.“
 

„Stimmt, fair ist das nicht und an einer gewöhnlichen High-School hätte sie wohl gar keine Freunde. Aber in Death City sehen die Menschen jeden Tag kuriose Sachen. Sie sind sozusagen desensibilisiert, sodass Leute wie Valerie nicht sozial ausgegrenzt werden. Eines interessiert mich aber.“ Der Lehrer beugte sich wieder nach vorn, stützte die Unterarme auf seine Beine und sah mich durch dicke Brillengläser aufmerksam an. „Wie war es, als du ihr zum ersten Mal begegnet bist? War das unangenehm?“

Hm … gute Frage.
 

„Ich habe einen Scherz gemacht und sie hätte mich dafür fast verprügelt.“ Jap, das war ziemlich einprägsam gewesen. „Sie hat ziemlich viel Kraft.“
 

Noch während ich sprach, brach Doktor Stein in Gelächter aus.
 

„Du hast einen Scherz gemacht?“, rief er kichernd aus. „Tja, du scheinst wirklich anders zu sein.“ Beiläufig fischte er eine Packung aus der Tasche seines Kittels und zündete sich eine Zigarette an. „Sprich weiter. Wie war es gestern und heute?“

In meinem Kopf ließ ich die letzten 48 Stunden Revue passieren. Sollte ich ihm von heute Nacht erzählen? Lieber nicht. Vermutlich würde Valerie nicht wollen, dass andere Details solche Ereignisse erfuhren und Stein sah aus wie jemand, der gerne nach Einzelheiten fragte.
 

Eine weitere Szene blieb in meinem Kopf hängen.
 

„Gestern ist sie in Ohnmacht gefallen, weil ich aufgeräumt hatte.“
 

Mein Gegenüber lachte schon wieder.
 

„Ich wüsste nicht, was daran lustig sein soll“, schimpfte ich aufgebracht. „Wissen Sie eigentlich, wie sehr mich das erschreckt hat?“
 

„Ich kann’s mir vorstellen. Aber da machst du dir zu viele Gedanken, das war nicht deine Schuld.“
 

„Sie sagte, dass ihr so was öfter passiert.“
 

„Das kann ich nicht beurteilen.“ Er nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch geräuschlos nach oben. „Valerie reagiert auf alles ziemlich heftig. Sie wird schnell wütend, ist nah am Wasser gebaut und häufig gestresst. An dem Tag ist sie doch wieder mit Cordelia aneinandergeraten, oder? Und dann hast du ihre gewohnte Umgebung verändert. Wahrscheinlich war das einfach zu viel für sie gewesen.“
 

„Aber ich habe doch nur aufgeräumt.“ Meine Stimme klang lauter und aufgewühlter als beabsichtigt. „Sie meinte, ihr Zusammenbruch hätte irgendwas mit ihrer Seele zu tun.“
 

„Sie ist mit sich unzufrieden und schiebt deshalb alles auf ihre Seele.“ Stein nahm seine Zigarette aus dem Mund und deutete damit auf mich. „Ihr Teenager durchlebt eine hormonelle Achterbahn, manche mehr, manche weniger. Für Valerie ist ihre Unordnung momentan das einzig Beständige. Willst du meinen Rat?“ Er nahm noch einen Zug, schickte den Rauch diesmal aber direkt in meine Richtung. „Find dich damit ab. Oder bist du etwa ein Ordnungsfanatiker?“
 

Nein. Nein, das war ich nicht.
 

Mürrisch verschränkte ich die Arme und lehnte mit auf dem Sofa weiter zurück. „Wer genau ist Cordelia?“
 

„Niemand Besonderes.“ Der Lehrer zuckte nur mit den Schultern. „Eine Waffe, die zur selben Zeit angefangen hat, wie Valerie. Sie konkurrieren seit Jahren miteinander, sind aber irgendwie trotzdem befreundet.“ Nach Freundschaft sah die Szene gestern im Badezimmer aber nicht aus. „Die beiden ähneln sich, doch eine Partnerschaft würde nicht funktionieren.“
 

„Warum nicht?“
 

„Na ja.“ Nachdenklich schaute er hinauf zur Decke, als wären dort oben die Worte, die er suchte. „Cordelia ist eine sehr dominante Waffe. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, solange der Meister noch dominanter und selbstbewusster ist. Aber so jemand ist Valerie nicht.“
 

Eine Waffe war also derjenige, der sich unterzuordnen hatte?
 

„Und Raphael schon?“ Ich klang forscher als beabsichtigt.
 

„Raphael ist wie für sie geschaffen. Ich persönlich kann ihn nicht leiden, weil er im Unterricht ständig Diskussionen anfängt und immer anderer Meinung ist, aber mit seiner sturen Art kann er Cordelia in Zaum halten.“
 

„Also“, schlussfolgerte ich mehr für mich selbst, „sollte der Meister derjenige sein, der in einer Partnerschaft den Ton angibt?“

„Nicht zwangsläufig“, antwortete Doktor Stein und sah mich wieder eindringlich an. „Partner sind sich gleichgestellt. Man geht Kompromisse ein und respektiert einander. Andererseits, wenn man sie im Kampf beobachtet…“ Sein Blick blieb stechend, wurde aber etwas nachdenklicher. „Wenn man sie im Kampf beobachtet, stellt man fest, dass es der Meister ist, der die Richtung vorgibt. Die Waffe verstärkt die Seelenwellen und verleiht Kraft, aber der Meister bestimmt die Bewegung. So gesehen hast du gar nicht so unrecht.“
 

„Und wie sollte ich mich dann als Waffe verhalten?“
 

Hoffentlich sagte er nicht etwas Ausgelutschtes wie ´Sei einfach du selbst´ oder so ähnlich.
 

„Hm“, machte er und überlegte, bevor er noch mal aufstand und ein Glas aus einem der Regale holte. „Wenn Valeries Seele der Seeigel ist, dann bist du das hier.“ Stein schraubte das Gefäß auf und schüttete sich den Inhalt auf die Hand. Er war grün und glibbrig und ich wollte gar nicht wissen, was genau das war. „Valeries Seele ist hart und unverformbar und deine Seele dagegen ist weich und anpassungsfähig. Wenn es anders wäre, hätten wir dich nicht aus New York geholt.“
 

Der Schleim glitt auf den Seeigel, breitete sich darüber aus und umhüllte die Stacheln wie eine zweite Haut, ohne kaputtzugehen.
 

„Ich bin also hier, um aus Valerie eine gute Meisterin zu machen, weil meine Seele so ist, wie sie ist?“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
 

„Du bist hier, um zu beweisen, dass du kein brutaler Taugenichts bist, der sich nicht im Griff hat, damit die Strafe für deine Taten nicht auf den Galgen hinaus läuft. Mit welchem Meister du das tust, ist deine Sache. Der Shinigami dachte nur, dass Valerie vielleicht eine gute Partie wäre.“ Der Doktor lachte ein kurzes, rauchiges Lachen und drückte die Zigarette im Aschenbecher vor ihm aus. „Eigentlich war es eher ein letzter Versuch, Valeries Potential auszuschöpfen. Er sagte, wenn diese Waffe es nicht schaffe, schaffe es keine. Ich meine“, mein Gegenüber fuchtelte mit der Hand in meine Richtung, als wollte er mich einrahmen, „weil deine Seele so ist, wie sie ist, reicht es, denke ich, wenn du einfach du selbst bist.“
 

Na toll…
 

Stein legte den Kopf schief und sah mich verwundert an. „Du scheinst mit meiner Antwort nicht zufrieden zu sein.“
 

Ts! Ich selbst sein? Wenn der wüsste …
 

„Ich hatte irgendwie auf etwas Konkreteres gehofft.“
 

Irgendwo tropfte ein Wasserhahn.
 

BANG!
 

Das Geräusch ließ mich zusammenzucken.
 

Nein, ich selbst konnte das unmöglich schaffen.
 

„Was willst du denn hören?“, seufzte der Lehrer genervt. „Es gibt keinen Verhaltenskodex, das wäre ja viel zu leicht. Vor allem, wenn so viel auf dem Spiel steht wie bei dir.“
 

„Bitte sagen Sie mir, wie ich eine gute Waffe sein kann!“ Ich klang verzweifelt und laut, meine Stimme hallte unangenehm von den Wänden wider.
 

„Hättest du in meinem Seminar nicht geschlafen, wüsstest du es. Eine Partnerschaft ist wie eine sehr enge Freundschaft oder eine Liebesbeziehung. Man kennt den Anderen besser als sich selbst und vertraut einander mehr als jedem sonst. Wenn du also eine gute Waffe sein willst“, er stand langsam auf und blickte durch blitzende Brillengläser unheilverkündend auf mich herab, „dann geh nach Hause und freunde dich mit deiner Meisterin an.“ Das klang wie ein Rauswurf. „Oder lass sie im Stich wie alle anderen und such‘ dir einen neuen Meister.“
 

Es war ein Rauswurf, der mich wachrüttelte – vielleicht lag es auch an seiner drohenden Tonlage –, sodass ich ohne eine Verabschiedung das Wohnzimmer, das Haus und schließlich auch das düstere Grundstück verließ.
 


 

~*~
 

Mein Rückweg stellte sich als ähnlich schwierig heraus wie der Hinweg. Die Gassen und Einkaufsmeilen der Innenstadt waren immer noch voll und eng, doch diesmal entdeckte ich keinen Einheimischen, der mich führte. Stattdessen blitzte mich aus einem bunt dekorierten Schaufenster etwas an, etwas Hübsches, Goldenes. Es war ein Modeschmuckladen, daher absolut preiswert, und ehe ich mich versah, war ich hineingegangen und hatte es gekauft.
 

Mehr durch Zufall als durch bewusstes Den-Weg-Kennen landete ich irgendwann vor dem Wohnblock, den ich mein neues Zuhause nannte. Das Apartment war genauso ruhig wie heute Mittag.
 

Als ich an Valeries Tür klopfte, war Schweigen die einzige Antwort. Ich klopfte noch einmal, diesmal etwas lauter, doch es blieb still. Und die Tür war verschlossen. Panik flackerte in mir auf bei dem Gedanken, dass sie vielleicht da drin lag und –
 

Unruhig spähte ich durchs Schlüsselloch: Das Zimmer war hell, doch ein großer, dunkler Gegenstand in der Mitte des Raumes versperrte mir die Sicht. Wahrscheinlich war sie einfach unterwegs. Ja, so musste es sein.
 

Valerie hatte eine PS3. Um mir die Zeit zu vertreiben, startete ich die Konsole und begann das Spiel, das eingelegt war: Call of Duty. Ein Ballerspiel, wie ich feststellen musste, noch dazu eines, indem ich unglaublich schlecht war, was vielleicht daran lag, dass ich so was noch nie gespielt hatte. Es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe ich die Steuerung raushatte, und nochmal mindestens genauso lange, bis ich herausgefunden hatte, auf was genau ich eigentlich schießen musste.
 

Erst gegen 18 Uhr klickte der Schlüssel im Schloss der Haustür und meine Meisterin betrat den Flur. Mitten im Weg zog sie ihre Schuhe aus und ließ sie dort liegen.
 

„Hey“, grüßte sie knapp.
 

„Hey. Wo warst – woah!“, unterbrach ich mich, als Valerie ins Licht des Wohnbereichs trat.
 

Ihre langen, blonden Haare waren nicht mehr lang und blond, sondern reichten ihr in einem hellen Rotton nur noch bis knapp an die Schultern. Langsam stand ich auf und trat stauend an sie heran.
 

„Ich hatte Therapie“, antwortete sie und wich mir aus.
 

Ich konnte mir mein Grinsen nicht verkneifen. „Das ist ja ein interessanter Therapeut, der dir die Haare färbt.“
 

„Ha ha“, blockte sie mich ab und nahm sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank.
 

Sie wollte in ihr Zimmer, doch ich hielt sie auf.
 

„Warte.“ Ich umfasste leicht ihr Handgelenk, wich den Verbänden aus. Ein warmer Schauer durchflutete mich. Als würden meine Finger genau da hingehören.
 

Valerie war da wohl anderer Meinung. Sie entriss sich mir augenblicklich und drehte sich zu ihrer Tür. Eilig kramte sie in ihrer Jackentasche wahrscheinlich nach dem Schlüssel. Warum hatte sie ihr Zimmer extra abgeschlossen?
 

„Bitte hör mir zu“, sprach ich lauter.
 

Sie seufzte genervt und drehte sich mit rollenden Augen zu mir um. „Was ist?“
 

„Es tut mir leid, dass ich mich heute Morgen im Ton vergriffen habe“, erklärte ich vernünftig, um nicht schon wieder einen Streit zu provozieren. „Das war nicht okay.“
 

„Aha“, gab sie nur von sich und nestelte weiter an ihrer Tasche herum.
 

Oha, also mit so viel Kälte hatte ich wirklich nicht gerechnet.
 

„Ähm, an der Stelle wäre es vielleicht angebracht, wenn du“, ich zeigte mit den Fingern auf sie, „dich für die nicht ganz netten Sachen, die du gesagt hast, entschuldigst und dann könnten wir“, meine Daumen deuteten über meine Schulter auf die Küche, „uns was zu essen bestellen und schauen, was heute Abend im Fernsehen kommt.“ Zum Ende wurde meine Stimmer immer höher, sodass ich mir wie ein bettelnder Idiot vorkam, anstatt wie ein vernünftiger Mensch, der einen anderen vernünftigen Menschen hinsichtlich Manieren und Ausdruck zurechtweist.
 

Die Meisterin seufzte erneut und es klang schon fast theatralisch. „Wieso bist du eigentlich noch hier?“
 

Fragend legte ich den Kopf schief. „Na ja, ich bin dein Partner und deshalb ich wohne hier.“
 

Sie machte die gleiche Geste und sah verwirrt zu mir herauf. „Bist du nicht zu Doktor Stein gegangen, um nach einem neuen Meister zu fragen?“
 

„Was? Nein.“ Erst jetzt wurde mir klar, dass mein Verhalten für sie wohl leicht missverständlich war. „Du hast gesagt, wenn ich etwas wissen wollte, sollte ich zu Doktor Stein oder dem Shinigami gehen. Also … bin ich hingegangen.“
 

Ihre grünen Augen blitzten nervös auf. „Und was hat er gesagt?“
 

„Er hat deine Seele mit einem getrockneten Seeigel verglichen.“
 

Verdutzt zuckte Valerie zusammen. Vielleicht hätte ich das netter verpacken sollen.
 

„Na toll. Neulich war ich noch ein Topf, jetzt bin ich ein Seeigel. Das wird ja immer besser.“ Sie zog den kleinen Schlüssel aus ihrer Jacke und wendete sich ab.
 

„Warte“, rief ich noch einmal.
 

„Was denn noch? Ich hab' zu tun.“
 

Irgendwie fühlte ich mich armselig. Als würde ich permanent gegen eine Wand laufen.
 

„Wollen wir uns nicht etwas zu essen bestellen und schauen, was so im Fernsehen kommt?“
 

Geräuschvoll atmete meine Meisterin aus, als ob sie am liebsten schon wieder seufzen wollte.
 

„Warum gibst du dir eigentlich so viel Mühe, Adrian, wenn du es mit jemand anderem doch viel leichter haben könntest?“, fragte sie ernst und verschränkte die Arme vor der Brust.
 

„Warum gibst du dir denn gar keine Mühe?“ Das war noch freundlich ausgedrückt, so hart wie sie mich schon von sich gestoßen hatte.
 

„Weil mein Bemühen in der Vergangenheit nie erwidert wurde.“
 

„Dann weißt du ja, wie es mir gerade geht.“ Sie blinzelte bei dem Konter überrascht auf und irgendwie hatte ich das Gefühl, gewonnen zu haben. „Ist ziemlich scheiße, was?“
 

Ihre Wangen und Ohren – und kurz darauf auch ihr ganzes Gesicht – färbten sich rosa. Hätte sie noch Hörner, würde sie aussehen wie ein kleiner, roter Teufel. Die Vorstellung ließ mich kichern.
 

„Ähm“, machte sie kleinlaut nach einigen peinlichen Augenblicken. Ihr Zimmerschlüssel verschwand wieder in der Tasche. „Auf der anderen Seite des Blocks ist ein Asiate. Wollen wir uns dort Frühlingsrollen hohlen?“
 

Ihr unbeholfener Ausdruck ließ mich breit grinsen. Asiatisches Essen? Das klang ja fast wie ein Friedensangebot.

Actio - Ractio


 

Tag 4: Actio – Reactio
 

Valerie
 

Der Raum war düster. Pechschwarz. Mein Kopf reichte bis knapp unter die Decke.
 

Ich kannte diesen Ort. Es war mein Innerstes: dunkel, eng, kalt und unendlich weit. Und egal wie lange ich lief, ich kam hier nicht raus.
 

Auf dem Boden vor mir lag ein Messer. Die Klinge war scharf und schön, der Griff geschmückt mit eleganten Rankenmustern.

„Schwesterlein“, sprach es mit lieblicher Stimme, die in der Weite widerhallte. „Dumme, schwache Schwester.“ Ein klares, helles Lachen erschallte. „Beweg dich.“
 

Also schritten meine Beine voran, liefen auf ihren Befehl. Meine Finger griffen nach der Waffe. Die Klinge hinterließ blutige Wunden auf meiner Haut.
 

Wieder schallte das süße Kichern.
 

„Tut das nicht weh? Du wehrst dich ja gar nicht“, lachte sie. „Dummes, schwaches Schwesterlein.“
 

~*~
 

An Tagen wie diesen liebte ich das schrille Schreien meines Weckers. Ich träumte lieber gar nichts, anstatt immer wieder in diesem Traum zu landen.
 

Doch ich träumte lieber immer wieder diesen Alptraum, anstatt blutend in der Küche aufzuwachen.
 

Die grelle Wüstensonne war gerade aufgegangen, im Baum vor dem Fenster herrschte zwitschernde Betriebsamkeit. Frieden

erfüllte die Welt, doch bis in meine Ecken kam er nicht.
 

Als ich an diesem Sonntagmorgen in den Kühlschrank schaute, strahlte mich ein Glas Erdbeermarmelade an, das am Freitag noch nicht da gewesen war. Zugegeben: Daran konnte ich mich gewöhnen. Ich ging nicht gerne einkaufen. An solch belebten Orten wie dem Supermarkt oder der Innenstadt waren zu viele Menschen, die mich komisch ansahen.
 

Doktor Stein hatte meine Seele mit einem Seeigel verglichen. Die Metapher passte wohl relativ gut. Ein Seeigel hatte keinen Deckel.
 

Frustriert klatschte ich drei Zentner Marmelade auf einen Toast und schaltete die Acht-Uhr-Nachrichten im Fernsehen ein.
 

Hinter mir im Flur öffnete sich leise eine Tür und eine total verschlafene Waffe trottete ins Wohnzimmer. Mit völliger Missgunst schaute er mich an.
 

„Es ist Sonntag“, stellte Adrian beinahe fassungslos fest. „Wer zur Hölle steht an einem Sonntag vor zehn Uhr auf?“
 

„Jemand, der um halb neun zum Lernen verabredet ist“, antwortete ich und ignorierte seine reizende Wuschelfrisur.
 

Mein Mehr-oder-weniger-Partner gähnte herzhaft. „Wer zur Hölle steht an einem Sonntag vor zehn Uhr auf, um zu lernen?“
 

„Jemand, der ein gutes theoretisches Wissen braucht, weil die Noten der Tests zu 33 Prozent in die Aufnahmeprüfung der EAT

einfließen.“ Das Toastbrot krachte zwischen meinen Zähnen, als ich einen großen Bissen nahm.
 

„Okay.“ Müde rieb Adrian sich die Augen. „Ich habe noch keine Lehrbücher bekommen. Also … werde ich mich eurer Runde wohl nicht anschließen können. Vielleicht beim nächsten Mal. An einem Nachmittag.“ Mit einem weiteren Gähnen verschwand er wieder in seinem Zimmer. Nachdenklich sah ich ihm nach.
 

Adrian war … nett. Letzte Nacht habe ich im Halbschaf mitgekriegt, wie er kurz in mein Zimmer gespäht hatte. Ich mochte es nicht, andere Menschen in mein Zimmer zu lassen, doch es war irgendwie schön zu wissen, dass jemand reinkam, um nach mir zu sehen. Außer bei einem Stalker.
 

Adrian war ziemlich überfürsorglich. Total lästig, wenn dir ständig jemand unter die Arme greifen will. Aber das hatte bestimmt einen tieferen Grund.
 

Ich habe keine Lust, nochmal über die Leiche eines Menschen stolpern zu müssen, der mir nahesteht!
 

Soweit ich es wusste, kam er aus New York. In Großstädten lebten viele Waffen auf der Straße, vor allem junge, weil diese ihre Verwandlung nicht gut kontrollieren konnten. Sie trauten sich nicht zur Schule oder Arbeit, mussten sich mit Diebstahl und Drogenverkauf über Wasser halten, fingen an zu trinken, weil ihr Leben nüchtern nicht mehr zu ertragen war. Viele legten sich mit der Polizei oder kriminellen Organisationen an, weil sie sich dank ihrer übernatürlichen Fähigkeiten stark fühlten, gerieten in Straßenkämpfe und starben dabei. Oder sie überlebten, aßen die Seelen ihrer Opfer und wurden zu Kishineiern. Schüler der EAT wurden ständig in Metropolen geschickt, um dort für Recht und Ordnung zu sorgen, weil die Behörden überfordert waren.

Ob Adrian eine von diesen Waffen von der Straße war? Ich sollte ihn danach fragen, bestimmt hatte er viel durchgemacht. Aber dann würde er wohl auch Sachen über mich wissen wollen und …
 

Er war bei Doktor Stein gewesen. Eigentlich wusste er schon viel zu viel über mich.
 

Und trotzdem war er immer noch hier.
 

Na toll. Jetzt fühlte ich mich auch noch schlecht, weil ich ihn angemotzt und als makellosen Musterknabe abgestempelt hatte. Der er ja war … Vermutlich … Mir gegenüber zumindest.
 

Ein ungeduldiges Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Schnell wischte ich mir mit dem Ärmel meines abgetragenen Hoodies die Marmelade aus dem Gesicht und ging zur Tür. Davor wartete eine breit grinsende Maka.
 

„Heyy“, strahlte sie mich an, als hätte ich für irgendwas Ehrenhaftes einen Orden verliehen bekommen. „Bereit, dir Wissen anzueignen?“
 

Nicht wirklich. Aber das war immer noch besser, als sich mit meinen eigentlichen Problemen auseinanderzusetzen. Also bat ich sie und ihre gute Laune herein.
 

„Tolle Frisur! Mensch, ist das ordentlich bei dir“, staunte sie, als sie ins Wohnzimmer trat und ihre Unterlagen auf den freien Couchtisch legte.
 

„Adrian hat aufgeräumt“, erklärte ich. Ich setzte für uns beide einen Tee auf und holte die Lehrbücher aus meinem Zimmer.

„Und ist das okay für dich?“
 

Nein. Ich mochte meine Unordnung. Sie war das einzige, worüber ich Herr war.
 

„Ich war … überrascht.“
 

„Hm.“ Und da war er: der Maka-Blick. Die Art und Weise, wie ihre Augen an mir auf und ab wanderten, verriet mir, dass sie mich untersuchte. Meine Seele betrachtete. Das war noch viel schlimmer als Adrian, der Doktor Stein über mich ausfragte.

Genervt stöhnte ich: „Können wir bitte anfangen?“
 

Was auch immer sie an mir gesehen hatte, sie ignorierte es. „Klar“, antwortete sie stattdessen und schlug ein Physikbuch auf.
 


 

Maka monologierte über die Newtonschen Gesetze, doch ich konnte ihr kaum folgen. Als sie mich das dritte Mal vor meinem Gesicht schnipsend aus der Träumerei holen musste, fragte sie: „Willst du mir nicht sagen, was passiert ist oder soll ich warten, bis du einschläfst und es mir im Schlaf erzählst?“ Ihre mintgrünen Augen lagen wachsam auf mir.
 

Seufzend ergab ich mich. Sie würde es mir ja doch aus der Nase ziehen.
 

„Maka“, begann ich vorsichtig, weil ich das Gefühl hatte, dass meine Frage albern war. „Findest du meine Nähe nicht … unangenehm?“
 

Fragend legte sie den Kopf schief. „Warum sollte ich?“
 

„Du hast selbst gesagt, dass meine Seelenwellen anders sind.“
 

An einem sehr stürmischen Tag sind Maka und ich uns zum ersten Mal auf dem Schulflur begegnet. Sie hielt mich auf, starrte mich sekundenlang stumm an und meinte daraufhin: „Du hast ja eine abgefahrene Seele. Wollen wir Freunde sein?“ Das war einer der merkwürdigsten Momente meines Lebens und ich betete dafür, dass ich ihn nie vergessen werde.
 

„Ja“, kicherte meine Freundin. „Aber das ist doch nichts Schlechtes.“ Ihr Lächeln verschwand. „Hat dich wieder jemand genervt? Ich kann Soul darauf ansetzen, wenn du willst.“
 

„Nein, so war das nicht.“ Obwohl es ziemlich viele Menschen gab, denen Soul mit seinem Haifischgrinsen mal einen Besuch abstatten konnte. „Es ist nur so: Doktor Stein hat Adrian gegenüber etwas gesagt, was mir irgendwie … Unwohlsein bereitet.“
 

Die Sensenmeisterin schlug das schwere Buch auf ihrem Schoß zu, verschränkte die Arme und sah mich mit einem Sag-es! – Blick an.
 

„Er hat mich, oder eher meine Seele, mit einem Seeigel verglichen. Du weißt schon, diese runden Meereslebewesen mit den spitzen Stacheln.“
 

Ein verständnisvolles Nicken. „Autsch.“
 

„Wusstest du, dass einige davon sogar giftig sind?“ Mit Sicherheit wusste sie es, sie hatte schon dutzende Bücher gelesen.
 

„Also ich glaube, auf ihn kann ich Soul nicht hetzen.“ Liebevoll stupste sie mich vom anderen Ende der Couch mit dem Fuß an. „Hey, du bist kein Seeigel.“
 

„Das sagst du nur, weil du meine Freundin bist.“
 

„Das sage ich, weil du hier bist und nicht im Pazifik vor der Küste LA’s, um irgendeinem Touristen mit deinen Stacheln den Urlaub zu vermiesen.“
 

Bei dem Kommentar musste ich kichern. Wie konnte es sein, dass so ein lieber Mensch mir direkt gegenüber wohnte?

„Hör bloß nicht auf Doktor Stein.“ Warnend hob Maka den Finger. „Bestimmt hat er das nicht beleidigend gemeint. Deine Seele ist anders, aber deswegen ist sie nicht minderwertiger als die deiner Mitmenschen. Es ist wie, als“, ihre Augen glitten kurz nach oben und ihre Hände machten eine suchende Bewegung, „als hättest du knallbunte Haare. Oder als wärst du transsexuell. Du unterscheidest dich vom Durchschnitt, natürlich gefällt das nicht jedem. Aber weißt du was?“ Mit einem mysteriösen Funkeln beugte sie sich vor und flüsterte grinsend: „Scheiß auf die Hater.“
 

Ich holte überrascht Luft und musste mir die Hand vor den Mund halten, um nicht schreiend loszulachen. So eine Ausdrucksweise war man von Maka absolut nicht gewohnt und irgendwie klangen die vulgären Begriffe bei ihr merkwürdig.
 

„He! Lachst du mich etwa aus?“ Empört schlug sie mir auf den Oberschenkel. Sie griff wieder nach ihrem Buch und suchte die Seite, aus der sie vorgelesen hatte.
 

„Es gefällt mir eben nicht, dass mir die meisten Menschen so negativ begegnen“, fügte ich kleinlaut hinzu, als ich mich wieder eingekriegt hatte.
 

Maka seufzte. „Hey, sag mal“, sie rückte ein Stückchen näher und legte den Kopf merkwürdig schief. „Bist du eigentlich mit deinem Leben zufrieden?“
 

Hm. Der Schulabschluss, den ich immer haben wollte, stand auf der Kippe, alle meine vorherigen Waffen hassten mich, meine Schwester und ich führten Krieg gegeneinander und – oh! Geküsst wurde ich auch noch nie!
 

„Könnte besser laufen.“
 

„Weißt du, es ist nämlich so.“ Wie eine Lehrerin hob sie den Finger. „Seelen verhalten sich in vielen Fällen ähnlich wie physikalische Körper. Das heißt, dass auch für sie die meisten physikalischen Gesetze gelten, wie zum Beispiel das dritte newtonsche Axiom, das da lautet?“ Ihre Stimme ging fragend nach oben und ihre Augen sah mich erwartungsvoll an.
 

„Ähm.“ In meinem Kopf kramte ich nach dem Merksatz, den ich auswendig gelernt hatte. „Übt ein Körper A auf einen anderen

Körper B eine Kraft aus, sooo … wirkt eine gleich große, aber entgegen gerichtete Kraft … von Körper B auf Körper A?*“
 

„Bingo!“ Stolz grinste die Meisterin mich an. „Und wenn wir das jetzt auf die Seelenlehre übertragen, können wir daraus schließen, dass …?“
 

„Ääh … Wenn ich jemanden beleidige“, antwortete ich zuversichtlich, dass ich falsch lag, „beleidigt derjenige mich zurück?“
 

Für einen Moment presste Maka gespannt die Lippen aufeinander. „So ähnlich. Und umgekehrt heißt das: Wenn du jemandem mit einer positiven Einstellung begegnest, begegnet er oder sie dir auch positiv. Kennst du diese total charismatischen Menschen, die von allen geliebt werden?“
 

„Wie Ellen DeGeneres?“
 

„Genau! Bei solchen Leuten sind Körper und Geist in Harmonie. Ihre Zufriedenheit wirkt sich auf ihre Seelenwellen aus. Muggel bezeichnen dies als positive Ausstrahlung.“
 

Obwohl das Thema sicher ernst war, musste ich grinsen. Es war süß, wie sie Menschen, die nichts von Seelen und Waffen wussten, als Muggel bezeichnete.
 

„Du hingegen“, fuhr sie fort, „denkst negativ von dir. Auch eine Dissonanz beeinflusst die Seele in diesem Sinne. Wenn du also willst, dass andere dich mögen, musst du dich vorher erst selbst gernhaben.“
 

„Sowas ist aber ganz schön schwer.“ Resigniert stützte ich meinen Ellenbogen aufs Knie und legte den Kopf in meine Hand.
 

„Ich weiß.“ Maka lächelte verständnisvoll. „Das erfordert viel Überwindung. Aber das ist es, was du tun musst, denn ich glaube“, sie verzog das Gesicht zu einer schmerzvollen Miene. „Ich glaube, dass du deswegen keinen Partner findest. In einer Partnerschaft harmonieren zwei fremde Geister und fremde Körper miteinander, aber … wenn man diese Harmonie nicht mal mit sich selbst vereinbaren kann, dann …“ Sie brach ab.
 

Ich wusste, wie der Satz weiterging: Wenn man diese Harmonie nicht mal mit sich selbst vereinbaren konnte, dann konnte man es auch nicht mit jemand anderem tun. Dann war man unfähig als Partner. Dann war man ungeeignet.
 

Maka kannte diese Realität. Ich kannte diese Realität. Doch sie laut auszusprechen verlieh dem Ganzen eine schmerzhafte Endgültigkeit, die ich nicht bereit war hinzunehmen.
 

„Hey!“, machte meine Freundin, als sie spürte, wie meine Verzweiflung durch den Raum schlug. „Newton hat die Schwerkraft durch einen herunterfallenden Apfel entdeckt. Manchmal haben die schwierigsten Probleme ganz einfache Lösungen.“
 

Und so optimistisch die Worte auch klangen, erreichte mich ihre Zuversicht nicht.
 


 

AN:

*siehe Wikipedia

Mein physikalisches Wissen ist leider etwas beschränkt.
 

Nächstes Kapitel: 31.07. schätz ich mal

Eine Antwort für eine Antwort


 

Kapitel 9: Eine Antwort für eine Antwort
 

Valerie
 

Es war kurz vor elf an diesem Sonntag, als ein lautes Rumsen aus Adrians Zimmer schallte. Ich saß mit einem Buch auf der Couch, immer noch über Physik grübelnd, obwohl Maka schon seit einer Stunde weg war. Im Flur hinter mir öffnete sich eine Tür.
 

„Hey“, grüßte die Waffe verschlafen.
 

„Morgen.“ Langsam trat er ins Wohnzimmer, schlapp und vollkommen zerzaust. „Bist du eben aus dem Bett gefallen?“
 

„So ungefähr.“

Adrian ging an mir vorbei in die Küche und machte sich einen Kaffee. Dabei hielt er die ganze Zeit ein gefaltetes Papier in der Hand.
 

„Schau mal.“ Mit einer Tasse in der Hand kam er ins Wohnzimmer zurück und hielt mir den Zettel unter die Nase. „Das wurde unter meiner Tür durchgeschoben. Darauf bin ich gerade ausgerutscht.“
 

Ungläubig sah ich ihn an. „Du bist auf einem Blatt Papier ausgerutscht?“
 

„Ja.“, winkte er knapp ab. „Lies mal, was draufsteht.“
 

Ich entfaltete die Notiz und in radikaler Schrift schlugen mir die Worte VALERIE IST KEIN SEEIGEL, DU LEICHTGLÄUBIGER IDIOT! entgegen.
 

Na super.
 

Adrian setzte sich neben mich auf das Sofa und nippte mit fragendem Blick an seinem Kaffee.

„Das ist wohl von Maka“, erklärte ich zögerlich, ließ den Zettel auf den Couchtisch fallen und vergrub mich peinlich berührt in

mein Lehrbuch.
 

Diese Idiotin! Mischte sich in Sachen ein, die sie absolut nichts angingen. Warum dachten andere Leute immer, dass sie mir helfen mussten? Ich brauchte keine Hilfe, ich kam mit meinem Leben prima allein zurecht.
 

Adrian kicherte neben mir. „Dein Gesicht. Du bist tomatenrot.“
 

„Halt die Klappe, Trottel!“ Wütend verpasste ich ihm einen Tritt und ging ein ordentliches Stück auf Abstand.
 

„Findest du es beleidigend oder … verletzend, dass dich Doktor Stein mit einem Seeigel verglichen hat? Du weißt, dass das nur eine Metapher ist, oder?“ Er sah mich nicht an, sondern starrte geradeaus auf den schwarzen Fernseher, die Tasse ruhig in seinem Schoß.
 

„Doktor Steins Meinung ist kompetent. Er hat als Meister ein unheimlich gutes Gespür für Seelen und kennt sich aus. Es ist also nicht so, dass er mich beleidigen wollte. Er hat lediglich die Fakten dargelegt.“ Wenn er also der Meinung war, ich sei ein Seeigel, dann war ich auch einer.
 

„Hm“, machte Adrian und lehnte sich grübelnd nach hinten. „Weißt du, mich hat er als eine Handvoll Schleim bezeichnet.“
 

Ich ließ das Buch erneut sinken. „Bitte was?“
 

„Er meinte, wenn du der Seeigel seist, sei ich das hier.“ Mit seiner freien Hand formte er eine Art Schöpfkelle und tat so, als würde er mich etwas reichen. „Und dann hat er etwas sehr Schleimiges aus einem Einmachglas in seine Hand getan.“ Er verzog das Gesicht angewiderten. „Ich will gar nicht wissen, was das war. Als er dieses … Zeug über den Seeigel gekippt hat, da hat es sich wie eine Schicht über die Stacheln gelegt und ist nicht kaputtgegangen.“ Kurz nahm er noch einen Schluck von seinem Getränk. „Also, selbst wenn du ein Seeigel bist, anscheinend macht mir das nichts aus.“
 

Augenblicklich schoss mir das Blut in den Kopf. Eine Welle der Aufrichtigkeit schwappte zu mir herüber, umarmte und lullte mich eine wie eine warme Wolldecke.
 

„Du bist schon wieder total rot“, grinste Adrian mich an, doch diesmal verzichtete ich auf eine Attacke.
 

~*~
 

„Aaalsoo“, verkündete mein Partner gedehnt, als er fertig angezogen und ausgehbereit im Wohnzimmer stand. „Was machen wir heute?“
 

Ich, immer noch über einem Lehrbuch hockend, weil ich im letzten Semester durch zwei Prüfungen gefallen war, die ich nächste Woche nachholen musste, antwortete: „Physik.“
 

Unbeeindruckt sah Adrian mich an. „Noch irgendwelche anderen Vorschläge?“
 

„Shakespeare?“
 

Er seufzte theatralisch. „Ich dachte eher an so was wie Sightseeing.“
 

„Ich muss morgen zur Nachprüfung“, erklärte ich. „Wenn ich die verhaue, kann ich nicht nur die EAT vergessen, sondern auch meinen High-School-Abschluss. Dann steh ich am Ende des Jahres mit nichts da.“
 

Schwerfällig ließ sich die Waffe ins Polster fallen. „Ist die EAT denn so wichtig?“
 

„Ja!“, rief ich empört aus. „Ist sie! Die EAT ist das, worauf jeder an der Shibusen hinarbeitet! Dort bekommt man Anerkennung und Respekt und Empfehlungen bei guten Arbeitgebern, ganz zu schweigen von den bezahlten Aufträgen des Shinigamis!“
 

„Aha“, war seine einzige Reaktion, die mein Blut zum Brodeln machte. „Aber es gibt doch noch andere Wege, Anerkennung zu bekommen, als Blut- oder Organspender zum Beispiel.“
 

„Aber nicht für mich! Ich kann dir einen Stadtplan geben, wenn du dir was ansehen willst.“
 

Trotzig hielt ich mir das Buch vors Gesicht und schottete mich ab.
 

„Also, eigentlich … wollte ich mit dir“, er setzte sich im Schneidersitz zurecht und deutete mit den Fingern zwischen uns hin und her. „Du weißt schon. Wir sollten uns näher kennenlernen, schließlich sind wir Partner.“
 

Genervt seufzte ich. Der ließ sich wohl nicht so leicht umstimmen.
 

„Ich bin ja der Meinung, dass du, da du bei Doktor Stein warst, schon genug über mich weißt, aber“, ich legte die Lektüre endgültig weg. Ohne Maka verstand ich den Kram sowieso nicht. „Fein. Du willst mich kennenlernen? Dann frag.“
 

Adrian stutzte kurz vor Überraschung, als hätte er nicht mit meiner Aufforderung gerechnet, bevor er unverblümt anfing: „Was ist mit deiner Schwester?“
 

„Das geht dich nichts an“, wies ich ihn prompt ab. Vermutlich kein guter Start in ein ernsthaftes Gespräch. Aber das war schließlich seine blöde Idee gewesen.
 

Mein Gegenüber ließ enttäuscht die Schultern hängen, warf mir einen Blick zu wie ein Hund, dessen Herrchen seinen Lieblingsknochen weggeschmissen hat, und sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen.
 

Verdammt sei er.
 

„Meine Schwester und ich“, sprach ich versöhnlich, vermied es jedoch, ihm ins Gesicht zu schauen. „Wir … wir sind Zwillinge. Zweieiig, aber wir haben trotzdem viel gemeinsam. Hatten viel gemeinsam, genauer gesagt. Bis zu dem Tag, an dem herauskam, dass sie eine Waffe ist. Und ich nicht.“
 

Gespannt horchte Adrian auf. „Red‘ weiter“, forderte das Blitzen seiner dunklen Augen.
 

„Unsere Eltern sind beide starke Waffen. Da ist es nur logisch, dass ihre Nachkommen auch so mächtig werden, vor allem bei Zwillingen, aber“, ich seufzte kurz auf. „Es ist, als hätte sie alles bekommen und ich gar nichts.“
 

Er nickte verständnisvoll. „Als wir uns das erste Mal begegnet sind, hättest du mich fast verprügelt, schon vergessen?“ Ein nettes Lächeln breitete sich in seinem hübschen Gesicht aus. „Ich glaube nicht, dass alle starken Gene spurlos an dir vorbeigegangen sind.“
 

Adrian konnte auf zwei unterschiedliche Arten lächeln: Entweder er verzog das Gesicht zu einem ekligen Grinsen, wenn er sich über jemanden lustig machte, weil er einen ekligen Humor hatte, oder er grinste einmal im Kreis. Freundlich, aufrichtig und ehrlich, weil er genau das war: aufrichtig und ehrlich. Seine ungeheure Nettigkeit blendete mich.
 

Ich schnaubte nur trotzig. „Das sagst du nur, weil du nett bist“, wich ich ihm aus und steuerte das Schiff in sicherere Gewässer. „Ich bin dran: Bist du in New York geboren?“
 

Kurz zuckte er zusammen, als wäre er enttäuscht über den Themawechsel, ließ sich aber nichts anmerken.
 

„Nein, ich komme ursprünglich aus Frankreich.“
 

Für einen Moment war ich verblüfft. „Oh, wie exotisch!“ Insgeheim hatte ich mit so etwas gerechnet, hätte aber nie geahnt, dass es tatsächlich so war. „Sag mal was auf Französisch.“
 

Er legte den Kopf schief und sah mich genervt und vorwurfsvoll an. „Non“, kam aus seinem Mund, doch seine Augen sprachen: „Wirklich? Du kommst mir mit so einem Klischee?“
 

Unwillkürlich musste ich kichern und Zufriedenheit spiegelte sich in der Miene der Waffe wider. Da fiel mir auf: Er hatte gar keinen Akzent.
 

„Was ist mit dir?“, fragte er. „Wo kommst du her?“
 

„Ich bin in Death City geboren und aufgewachsen. Als wir alt genug für die Shibusen waren, sind unsere Eltern nach Australien ausgewandert.“
 

Verblüfft stutzte die Waffe. „Sie haben dich und deine Schwester einfach allein gelassen?“
 

Ich zuckte nur mit den Achseln. „Das war nicht schlimm. Wir hatten ja uns, da mussten wir uns auch nicht um einen Partner bemühen. Mit anderen Menschen kamen wir sowieso nicht gut aus. Freunde aus dem Kindergarten oder der Nachbarschaft hatten wir kaum.“
 

Eindringlich sah er mich an, als würde er in meinen Worten mehr erkennen als da war.
 

„Warum hast du Europa verlassen?“, übernahm ich wieder schnell das Wort, weil ich an seinen Augen erkennen konnte, dass

seine Gedanken Wege einschlugen, die sich nicht passieren sollten.
 

Adrian zögerte einen Moment – das einzige Indiz darauf, dass wohl auch für ihn das Gespräch unangenehm wurde. Die Bosheit in mir suhlte sich in Schadenfreude.
 

„Mein Vater ist dort Bankier. Ich hatte gehofft, bei ihm leben zu können.“ Seine Stimme wurde flacher. Die braunen Augen

hefteten sich auf den Dreck, den er unter seinen Fingernägeln hervorpulte.
 

Ein Elternteil von ihm war amerikanisch. Wahrscheinlich war er bilingual aufgewachsen, deshalb sprach er akzentfrei. Sein Vater … ein New Yorker der oberen Schicht – und trotzdem war er hier gelandet.
 

Er ist abgelehnt worden.
 

„Warum bist du geblieben? In Amerika, meine ich.“ Die Frage klang wie ein Vorwurf, obwohl es keiner war, ich war einfach nur neugierig.
 

Genauso wie er wohl nur neugierig war. Prompt fühlte ich mich wieder schlecht.
 

„In Frankreich gab es nichts.“ Jetzt war er es, der mit den Achseln zuckte, und ich stellte fest, wie unbefriedigend diese Geste bei anderen wirkte. „Und in New York habe ich Menschen gefunden, die so … abnormal waren wie ich.“
 

Also hatte er sich einer Gruppe anderer Waffen angeschlossen.
 

In Frankreich gab es nichts.
 

Und deine Mutter? Danach zu fragen, schien mir zu unsensibel, zu frech, weil auch ich nicht wollte, dass er mir so persönliche Fragen stellte. Also schwieg ich.
 

„Was ist mit dir?“, fing er sich wieder. Wenn er überhaupt gestolpert war. „Du bist doch auch irgendwie … anders. Bist du mit jemandem befreundet, der dir … na ja, ähnlich ist?“
 

„Hm“, überlegte ich.
 

Ich war mit Kim Diehl befreundet. Irgendwie. Das hieß, ab und an spendierte ich ihr ein Mittagessen oder einen Kakao und sie hielt dafür die Mobber von mir fern, so gut sie das eben konnte. Aber Kim war eine Hexe, was nicht unbedingt jeder wissen musste, und mir damit absolut unähnlich.
 

Raphael war mein Freund. Zumindest war er das gewesen, bis er beschlossen hatte, die Widerspenstigste unter den Waffen zu zähmen. Mal ganz abgesehen davon, dass wir absolut gar nichts gemeinsam hatten, außer dass wir beide Meister waren. Doch während ich ein unbeholfener Spatz war, die Flügel kaum kräftig genug zum Fliegen, glich er einem stolzen, weißen Adler, der am Himmel solide Kreise zog und die Welt mit weisen Augen beobachtete.
 

Ich war meiner Schwester ähnlich. Genetisch. Irgendwie. Es musste so sein, immerhin waren wir miteinander verwandt, doch …
 

„Nein“, schlussfolgerte ich schließlich.
 

„Nicht mal deinem Zwilling?“
 

„Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der sich so sehr von mir unterscheidet, wie sie es tut."
 

Er stutzte kurz, dachte nach und nickte schließlich wie zur Bestätigung für sich selbst.
 

Da kam mir eine andere Sache in den Sinn.
 

Hast du schon mal gesehen, wie jemand stirbt? Hast du jemals in deinem Leben so viel Blut gesehen?
 

Etwas Bitteres stieg in mir hoch, als mir seine Worte von vorletzter Nacht einfielen.
 

Ich schon. Und ich habe keine Lust, nochmal über die Leiche eines Menschen stolpern zu müssen, der mir nahesteht!
 

Und irgendwie stieg in mir eine Ahnung auf, warum er nicht nach Frankreich zurückgekehrt war.
 

„Was ist?“ Abwartend sah Adrian mich an, als sich mein Schweigen in die Länge zog. Als könnte er spüren, dass mir etwas auf der Zunge brannte. „Frag.“
 

Ein Teil in mir wehrte sich dagegen. Ein kleiner Tropfen der Warnung, der versprach, dass ich, wenn ich unangenehme Fragen stellte, mich auch unangenehmen Fragen stellen musste. Doch er verdampfte ungehört in der Flamme der Neugierde.

„Jemand aus deinem Umfeld ist gestorben. Und du … warst dabei.“ Mein Partner wurde leichenblass. „Verrätst du mir, wer es war?“
 

Adrian saß kerzengerade, schluckte schwer. Alles an ihm verkrampfte sich. Ich konnte das tonnenschwere Gewicht förmlich sehen, das herabfiel und schwer auf seinen Schultern landete.
 

„Meine Mutter“, hauchte er nach einigen Augenblicken stimmlos. „Als ich elf war. Und vor ein paar Wochen … da haben sie … da haben sie dieser scheiß Stadt–“ Er brach ab. Ein Schauer überfiel uns beide.
 

Seine Augen wurden glasig, als sie meinen begegneten, doch er nahm mich nicht wahr, sah durch mich hindurch auf Bilder, die nicht im Hier und Jetzt waren, sondern in seinem Kopf. Schreckensvisionen, die vor seinem inneren Auge aufflackerten.

Blut und Zerstörung. Eine graue, kalte Stadt.
 

„Willst du wissen, was passiert ist?“ Da. Er war hier und dann war er wieder weg, gefangen im Strudel seiner Gedanken.
 

„Nur wenn du es mir erzählen möchtest.“
 

Er schüttelte nur leicht den Kopf, es war kaum eine Bewegung, und versank wieder ganz in sich. Bis eine einzelne Träne über seine bleiche Wange lief und ihn wieder in die Gegenwart holte. Verblüfft wischte er mit dem Handrücken darüber, starrte auf die Feuchtigkeit. Und sprang auf. Binnen Sekunden war er über das Sofa gesprungen, lief durch den Flur, knallte seine Tür laut zu.
 

Ein markerschütternder Schrei ließ die Wände erzittern.
 

„Adrian!“
 

Ich lief ihm hinterher, doch als ich vor seinem Zimmer ankam, klickte das Schloss und ich war ausgesperrt.
 

„Bitte … lass … lass mich kurz allein“, erklärte seine bebende Stimme auf der anderen Seite verhalten. Ganz anders als mein Hau ab
 

Zögernd umfasste ich die Klinke, wollte sie herunterdrücken, obwohl doch zu war. Als ich die Tür berührte, überfiel mich eine Flut der Trauer, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die mir den Boden unter den Füßen wegriss. Stumpf landete ich auf den Knien, die Fingerspitzen am beklebten Holz lauschte ich seinem erschütternden Schluchzen. Und weinte mit ihm, als wäre seine

Trauer meine Trauer.
 


 

~*~
 

Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange saß ich schon auf dem kalten Boden des Flures vor seiner Tür, die Beine an den Körper gezogen, der Kopf auf den Knien, bevor Adrian endlich aus dem Zimmer trat. Etwas in meinem Nacken knackte unangenehm, als ich zu ihm aufsah.
 

Seine mal braun mal grünen Augen waren geschwollen und rot. Bestimmt sah ich genauso verheult aus, doch er fragte nicht, warum auch ich geweint hatte. Stattdessen reichte er mir die Hand.
 

„Tut mir leid.“ Seine Stimme war belegt und kratzig. Dankbar ließ ich mich von ihm hochziehen.
 

Er war größer als ich. Sehr viel größer, wie mir erst jetzt auffiel, und breiter. Stärker. Eine Waffe eben.
 

Ich schniefte und wischte mir die restlichen Tränen aus dem Gesicht. Adrian lächelte leicht, doch seine Augen blieben getrübt.
 

„So“, sagte er gedehnt, als hätte er gerade nur eine Pause gemacht und würde nun seine Arbeit wieder aufnehmen. Es fehlte nur noch, dass er enthusiastisch in die Hände klatschte. „Jetzt, da ich dich mehr oder weniger erfolgreich vom Lernen abgelenkt habe – wollen wir ein bisschen in die Stadt gehen? Ich habe gehört, dass es hier einen Sonntagsmarkt gibt."
 

Adrian war wohl jemand, der nicht stillsitzen und die Verzweiflung über sich ergehen lassen konnte wie ich.
 

Ich stimmte zu und so schlenderten wir wenig später durch die volle Innenstadt. Erst nur nebeneinander, dann irgendwann hackte ich mich bei ihm unter, damit wir uns nicht in der Menge verloren. Sein Griff war fest, als er mich von Stand zu Stand, von Laden zu Laden schleifte, und stark. Sein Oberarm so viel breiter als meiner.
 

Ich vermied es, zu ihm aufzusehen. Denn immer, wenn ich in sein, nun wieder ungetrübtes, Gesicht schaute, stellte sich mir die Frage, ob sein Dasein als Waffe der Grund für den Tod der beiden Menschen in seinem Leben war. Ob er die Kraft und die Stärke, die ich mir immer gewünscht aber nie bekommen habe, genauso verachtete wie ich meine Schwäche.

Prügel


 

Kapitel 10: Prügel
 

Adrian
 

Da waren diese Flyer auf einer Ablage beim Schwarzen Brett: Sie zeigten Bäume und Sträucher und zwei Menschen in der Mitte, die zufrieden vor einem Zeltlager standen. Neben dem Stapel bunt bedruckter Blätter lag eine Einschreibeliste. Ein paar Namen standen schon drin. Ich kannte keinen von ihnen.
 

Ich fand die Idee gut. In dem Moment kam mir gar nicht in den Sinn, dass ich Valerie hätte fragen sollen. Sie hätte bestimmt Nein gesagt.
 

~*~
 

„Hi!“
 

Am Montagvormittag – ich war gerade auf dem Weg zur Mensa, als mich die Aushänge am Schwarzen Brett aufhielten – sprach mich eine unglaublich hübsche Person an. Ich erkannte sie als das Mädchen mit der Bobfrisur aus dem Einführungsseminar. Sie trug eine dieser stylishen Wollmützen, die jetzt jeder trug, obwohl es gar nicht kalt war, und eine runde Fensterglasbrille.
 

„Hi“, grüßte ich sie zurück und bekam dafür ein hinreißendes Lächeln.
 

„Hey, du warst am Freitag doch bei Doktor Steins Vorlesung, richtig?“ Ich nickte zustimmend und sie grinste wieder bis über beide Ohren. „Ich heiße Mona. Ich bin eine Meisterin. Und du bist eine Waffe, stimmt?“
 

„Ähm … ja.“ Fragend betrachtete ich Mona. Hibbelig wippte sie von der Sohle auf die Fußspitze, ihre schokobraunen Augen glitzerten vor Aufregung und Lebensbejahung.
 

Sie lud mich zum Mittagessen ein, also gingen wir zusammen zur Mensa. Im Takt ihrer fast hüpfenden Schritte schwenkte ihr perlenbestickter Rock hin und her.
 

Auf dem Weg zum Speisesaal fragte sie: „Was bist du denn für eine Waffe?“
 

„Messer“, antwortete ich knapp.
 

„Oh!“, freute sie sich. Ihre Stimme nahm dabei einen schrillen Ton an. „Das ist ja cool! Ich war schon immer besser im Nahkampf. Schießen und Zielen konnte ich nie gut, aber“, sie boxte einmal nach vorn in die Luft und zwinkerte mich von der Seite an, „dafür habe ich Kraft.“
 

Sie hielt an, um eine übertriebene Kampfpose einzunehmen und ein bisschen sah sie aus wie eine Cartoonfigur. Ich wusste nicht, ob ich bei ihrer Albernheit losprusten oder mich fremdschämen sollte.
 

Ein kurzes Lachen rutschte mir doch heraus – vielleicht auch nur aus Höflichkeit – woraufhin sie rot anlief. Es war eine zarte Röte nur auf ihren Wangen, nicht wie Valeries das ganze Gesicht umfassende Röte.
 

Mona war sehr niedlich und freundlich oder vielleicht inszenierte sie sich auch nur so, damit andere Leute sie mochten. Ich erkannte ihre Absicht jedoch schnell und stellte deshalb gleich klar: „Ich habe bereits einen Meister.“ Ihr breites Sonnenscheingrinsen bekam einen Knick. „Falls du darauf hinaus wolltest“ Oh, ich war mir ziemlich sicher, dass sie das tat.
 

„Schade“, seufzte sie und lächelte enttäuscht und das sah so reizend aus, dass ich mich direkt schlecht fühlte, sie abgewiesen zu haben.
 

„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich ein wenig kleinlaut.
 

„Ach was, schon gut.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Weißt du, ich finde einfach niemanden. Du bist ja auch erst neu und hast schon einen Partner. Und irgendwie ist jeder aus der Einführung schon vergeben. Oder blöd.“ Ein Augenblick bedrückendes Schweigen verging. Dann, plötzlich, wirbelte sie herum, in ihren dunklen Augen lag jetzt eine gewisse Verletzlichkeit. „Wie hast du das gemacht?“
 

Wir bogen um eine Ecke. Vor uns war die große Doppeltür der Mensa ausladend geöffnet, Stimmenwirrwarr schallte auf den Flur hinaus.
 

„Ich fürchte, ich kann dir da nicht helfen. Ich wurde meinem Partner zugeteilt.“
 

Mona stocke und blieb schließlich stehen. „Wie, zugeteilt?“
 

Ich hielt ebenfalls an und drehte mich zu ihr um. „Na ja, ich komme von außerhalb. Der Shinigami hat mich kontaktiert, weil er glaubt, dass ich für einen bestimmten Meister gut geeignet sei.“ Eine Halbwahrheit. Aufmunternd lächelte ich Mona an. „Also, keine Sorge. Solltest du wirklich niemanden finden, werden dir die Lehrer helfen.“
 

„Und du – du hattest gar kein Mitspracherecht?“, hackte sie immer noch erstaunt nach. „Ich meine, kanntest du den Meister vorher?“
 

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich kannte sie nicht. Klar hätte ich ablehnen können, aber“, ich zog ein wenig die Schultern nach oben und versuchte mein Lächeln zu wahren, „so ein Blind Date ist doch auch irgendwie spannend, oder nicht?“

Sie stimmte mir nur halbherzig zu. Ich ging weiter, bevor sie noch einmal nachhaken und das Gespräch in eine unangenehme Richtung lenken konnte.
 

Der Speisesaal war voll, aber nicht mit Menschen überrannt. Bereits beim Eintreten konnte ich Valerie an einem Tisch in einer der hinteren Ecken ausmachen. Kurz sah sie von ihrem Essen auf. Ihr Blick – und noch irgendwas Anderes, das ich nicht zuordnen konnte – traf mich und ein Schauer lief mir den Rücken herab. Dann schwenkten ihre Augen zu meiner Begleitung hinter mir und sofort konzentrierte sie sich wieder auf ihren Teller.
 

Obwohl ich ablehnte, bezahlte Mona trotzdem unsere beiden Mittagessen inklusive einem abgepackten Schokokuchen als Nachtisch. Ich führte sie in den abgelegenen Teil der Mensa, wo meine Meisterin an ihrem Tisch nun in eine schwere Lektüre vertieft war.
 

„Hey.“ Ich stellte mein Tablett neben ihr ab. „Wie geht‘s?“
 

Ein Brummen war die einzige Antwort, die ich bekam.
 

Langsam ließ ich mich auf den Stuhl neben ihr nieder. Steif setzte sich Mona uns gegenüber.
 

„Wie lief deine Prüfung?“, versuchte ich es noch einmal in der Hoffnung auf eine etwas ausführlichere Antwort.
 

„Na ja, so lala.“ Sie ließ das Buch sinken und streckte sich einmal. Erst jetzt schien sie Mona zu bemerken.
 

„Hallo“, begrüße Valerie sie freundlich, woraufhin die Brünette zusammenzuckte, als hätte man sie erschreckt.
 

Mona schwieg.
 

„Das ist Mona“, stellte ich sie vor, als auch nach einigen Augenblicken immer noch kein Wort aus ihr herauskam. „Sie ist auch neu.“
 

„Freut mich.“ Valerie bleib höflich, lächelte sogar. Mona hingegen sah aus, als würde sie sich jeden Moment übergeben müssen.
 

„Ist alles in Ordnung?“
 

„Ja … äh.“ Suchend sah mein Gegenüber sich um. Ihr Atem ging schwer, als sie einige Augenblicke unentschlossen auf ihren Teller starrte. „Ver-verzeihung. Ich“, hektisch packte sie nun ihre Sachen zusammen. „Ich glaube, ich muss mich woanders hinsetzen.“ Damit erhob sie sich wie vom Blitz getroffen und verabschiedete sich knapp.
 

Weg war sie. Als wäre sie davongerannt. Valerie blickte ihr nicht hinterher und schien – im Gegensatz zu mir – kein Bisschen überrascht zu sein.
 

„Was war das denn?“
 

Meine Meisterin zuckte nur mit den Schultern und sah nicht mal von ihrem Text auf. „Wer weiß.“
 

Das wirkte wenig überzeugend.
 

Ich reckte mich und sah mich in der Mensa um. Mona saß nun genau in der entgegengesetzten Ecke des Raumes mit dem Rücken zu uns und hörte einem eifrig erzählenden Mädchen zu. Als ich mich wieder sinken ließ, sah ich, dass Valerie erst in dieselbe Richtung, dann mir direkt in die Augen schaute.
 

Kurz wirkte sie, als wollte sie irgendwas sagen. Als würde sie abwägen, ob es sich lohnte, mich zu informieren. Dann ließ sie es doch bleiben und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Lehrbuch.
 

„Was für Prüfungen musst du denn noch schreiben?“, fragte ich schließlich nach einigen Momenten unangenehmen

Schweigens.
 

„Morgen noch Literaturgeschichte“, antwortete meine Meisterin ohne aufzusehen. „Aber das wird nicht so schlimm wie Physik heute, denke ich.“
 

„Heißt das, du hast am Wochenende Zeit?“
 

Sie hielt inne, ihre grünen Augen streiften mich kurz. „Ja?“ Kaltes Misstrauen lag in ihrer Stimme.
 

Ich schenkte ihr mein strahlendstes Lächeln und hoffte, dass sie mir in den nächsten Minuten nicht den Kopf abreißen wird.

„Gut“, verkündete ich und holte den Flyer, den ich vom Schwarzen Brett mitgenommen hatte, aus meiner Tasche. „Dann können wir ja was zusammen machen. Zum Beispiel“, auffordernd schob ich das Blatt zu ihr herüber, „Camping!“
 

Überraschung – vielleicht auch ein bisschen Schock – glitt über Valeries Gesicht. Erst wurde sie knallrot, dann kreidebleich. „Wir … Was?“
 

„Ich hab uns für einen Campingausflug in den Blue-Mountain-Nationalpark angemeldet.“ Ich versuchte selbstbewusst zu wirken. Ich war selbstbewusst, doch angesichts der nun steigenden Spannung meiner Meisterin wurde es zunehmend schwerer, dieses Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten.
 

„Du hast was?!“ Ihr entsetzter Aufschrei hallte durch die gesamte Mensa und zahlreiche Köpfe drehten sich zu uns um. Als Valerie die zusätzliche Aufmerksamkeit bemerkte, kramte sie hastig meine und ihre Sachen zusammen und zog mich vom Stuhl aus dem Speisesaal hinaus in eine abgeschiedene Ecke des Flures.
 

Wutentbrannt drehte sie sich zu mir um. „Du … hast … was?“, wiederholte sie mit einer düsteren Ruhe, die mir bis in die Knochen ging.
 

Nervös rieb ich mir den Nacken. Dahin war mein Selbstbewusstsein. „Ich … habe uns zum Camping dieses Wochenende angemeldet.“
 

Valerie tigerte kurz mit sich ringend auf und ab. „Was hast du dir dabei nur gedacht?!“, schimpfte sie wie eine Furie.
 

„Na ja, ich–“
 

„Hast du überhaupt nachgedacht?!“ Wild fuchtelte sie mit den Händen vor meinem Gesicht herum. „Nein, hast du nicht. Keine Sekunde hast du deinen Verstand benutzt. Trottel!“
 

„Das“, unterbrach ich sie mit erhobenem Zeigefinger, „stimmt nicht. Ich habe wohl darüber nachgedacht, wie wir Vertrauen und Teamgeist aufbauen können. Und Camping im Wald erschien mir da als eine gute Chance, diese Partnerschaft voranzubringen. Und außerdem“, von meiner Argumentation überzeugt stemmte ich die Hände in die Hüften und grinste sie an, „ist der Ausflug gratis. Es spricht also absolut nichts dagegen.“
 

Meine Meisterin sah mich noch entgeisterter an als zuvor und machte eine genauso unmissverständliche Geste. „Ich schlafwandle, Adrian. Das spricht dagegen. Du hast es doch selber gesehen.“ Die Ruhe in ihrer Stimme war erdrückend, ein Vorwurf, eine Faust, die sich tief in meinen Magen grub. „Ich stehe nachts auf und lege selbstverletzendes Verhalten an den Tag. Ich kann nirgendwo außerhalb schlafen.“
 

„Ich weiß, aber ich glaube, ich ha-“
 

Ein schrilles „Ha!“ unterbrach mich. Ich drehte mich um und aus dem Gang hinter mir kam ein hochgewachsenes Mädchen auf uns zu. Genauer gesagt auf Valerie.
 

„Schlafwandeln?“, fing die Fremde noch auf ihrem Weg an. Ihr Lächeln war diabolisch und ihre langen, schmalen Finger glitten geschmeidig über ihre hellbraune Löwenmähne. „Selbstverletzendes Verhalten?“ Jetzt war sie bei uns angekommen und beugte sich in überlegener Haltung über meine Meisterin, die in dem Moment so viel kleiner wirkte. Ich an ihrer Seite wurde völlig ignoriert.
 

„Tse tse tse“, machte die Braunhaarige hochnäsig. „Valerie, warum überrascht mich das bei dir nicht? Wir wissen ja alle, dass etwas mit dir nicht stimmt, aber das es so schlimm um dich steht…“ Sie richtete sich wieder auf und schüttelte ein paar Mal mit übertrieben gespielter Enttäuschung den Kopf.
 

Eine unheilvolle Stille brach herein. Wie zur Warnung stellten sich mir die Nackenhaare auf.
 

„Trägst du deswegen immer die Verbände? Damit niemand sieht, wie kaputt du eigentlich bist? Och Herzchen“, fuhr die Unbekannte fort. „Meinst du nicht, dass du in einer Anstalt besser aufgehoben wärst, hm?“
 

Valerie sah aus, als würde sie jeden Moment explodieren.
 

Sie sah nicht nur so aus. Sie tat es.
 

Miststück! Was bildest du dir ein?!“, brüllte meine Meisterin und stürzte sich auf das Mädchen. Ich wollte sie aufhalten, doch ihre schmalen, bandagierten Arme glitten mir durch die Finger wie feine Seide.
 

Ein dumpfer Aufprall gefolgt von Geschrei und wüsten Beleidigungen hallte an den Wänden entlang und lockte schaulustige Schüler aus ihrer Mittagspause. Binnen weniger Sekunden füllte sich der Flur mit Menschen.
 

„Eine Prügelei!“, rief jemand.
 

„Schnell! Holt einen Lehrer“, ein anderer.
 

Um die beiden Mädchen hatte sich ein breiter Kreis gebildet. Eine Wand von Köpfen blockierte mir die Sicht.
 

Im Augenwinkel sah ich Doktor Stein herbeitrotten, die Zigarette glimmte noch immer zwischen seinen Lippen. „Dacht' ich’s mir doch“, hörte ich ihn murmeln. Seine Augen schweiften vorwurfsvoll zu mir herüber. „Deine Meisterin schon wieder.“

„Sie hat nicht angefangen!“, stellte ich wütend klar, doch der Lehrer nahm nur einen Zug und blies ihn langsam Richtung Decke aus. „Wollen Sie sie nicht aufhalten?“
 

Nun trat er heran und betrachtete mich streng. „Nein. Hier gilt das Recht des Stärkeren. Die Absolventen der Shibusen stehen an der Spitze der Verteidigung der Welt. Wenn man nicht die Kraft hat, sich hier durchzusetzen, schafft man das auch nirgendwo anders.“
 

„Und deswegen lassen Sie ihre Schüler aufeinander losgehen?“
 

„Ja.“ Er wendete sich ab, zeigte mir quasi die kalte Schulter. „Wenn sie gewinnt, wird sie sich in ihrer Stärke bestätigt fühlen. Wenn sie verliert, weiß sie, woran sie noch arbeiten muss. Ich sehe darin keinen Nachteil.“
 

Sein Ton ließ keine Widerworte zu. Damit war die Diskussion beendet.
 

Doktor Stein ging erst dazwischen, als das andere Mädchen – offenbar auch eine Meisterin, zumindest zeigte sie keine Waffenform – weiter angriff, obwohl Valerie schon am Boden lag. Ich begleitete alle drei zum Krankenflügel, musste allerdings auf dem Flur warten. Später erfuhr ich, dass die Person – ihr Name war Heather – in dem Sanitätszimmer unter Androhung einer Suspendierung eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen musste, damit Valeries Zustand an der Schule nicht publik gemacht wurde.
 

Den Rest des Tages schloss meine Meisterin sich in ihrem Zimmer ein und machte keine Anstalten rauszukommen. Also kochte ich wieder, diesmal Reis mit Gemüse und Fisch. Als ich fertig war klopfte ich zögerlich an ihre Tür.
 

„Hey“, fragte ich. „Wollen wir zusammen essen?“
 

„Nein“, kam es gedämpft von der anderen Seite. „Ich muss lernen.“
 

Es war nicht so, als hätte ich etwas anderes als Ablehnung erwartet. Ehrlich gesagt hatte ich nicht mal damit gerechnet, dass sie überhaupt antwortete. „Ich stelle es dir wieder hin. Bitte iss etwas.“
 

Kurz raschelten ein paar Buchseiten, dann ganz leise: „Danke.“
 

Also stellte ich den Teller wieder vor ihre Tür auf den Boden, legte einen zweiten darüber und platzierte einen Löffel obendrauf. Doch diesmal setzte ich mich mit meinem eigenen Teller ihrem Zimmer gegenüber auf den Boden und wartete. Es dauerte nicht lange. Kurz hörte ich Schritte, dann Stille – als hätte sie gelauscht, ob ich auch wirklich weg war – dann ging die Tür nur einen Spalt breit auf und Valerie hockte sich nach unten zu ihrem Essen. Als sie mich bemerkte, hielt sie abrupt in der Bewegung inne und erdolchte mich mit ihrem Blick.
 

„Bitte lass uns-“, setzte ich an, doch meine Meisterin schnappte sich mit einer Hand den Teller und knallte mit der anderen die Tür zu. „Ach, komm schon!“ Auf allen vieren kroch ich über den Gang. „Lass uns drüber reden. Bitte.“
 

Wütend kam es von drinnen: „Hast du uns von dem Ausflug abgemeldet?“
 

„Nein, aber-“
 

„Dann tu das! Mehr gibt es nicht zu diskutieren.“
 

Ihre Sturheit schlug mir hart vor den Kopf. Als wäre ich buchstäblich gegen eine Wand gerannt, breitete sich ein pochender Schmerz hinter meiner Stirn aus. „Lass mich doch mal ausreden!“ Erst als ich es aussprach, merkte ich, wie unbeabsichtigt laut meine Stimme wurde, also erklärte ich in ruhigerem Ton: „Ich habe da vielleicht eine Idee.“
 

Ich wartete erneut auf eine Antwort, doch sie blieb aus. Also ging ich in mein Zimmer, holte das weinrote Säckchen, das mir die Verkäuferin in dem Modeschmuckladen mitgegeben hatte, und ging zurück in den Flur. Dort stand Valerie nun im Türrahmen ihres Zimmers, den Teller in der einen und ein mit Reis und Erbsen beladener Löffel in der anderen Hand. Skepsis lag in ihrem Gesicht.
 

„Was ist das?“, fragte Valerie, als ich ihr das Beutelchen entgegenhielt. Sie stellte ihren Teller auf ein Möbelstück in ihrem Zimmer, das wohl direkt neben ihrer Tür stand, und öffnete den Stoff.
 

„Für dich. Du könntest es nachts tragen und wenn du aufstehst, hör ich das Klingeln und kann dich wieder ins Bett bringen“, erklärte ich, während sie zögerlich das Fußkettchen herausnahm und begutachtete. Die goldenen Glöckchen daran gaben bei der Bewegung ein zartes Klingeln von sich.
 

So etwas wie Ehrfurcht huschte über ihr Gesicht. Mit großen Augen sah meine Meisterin zwischen mir und dem Schmuckstück hin und her. „Das Geräusch ist doch viel zu leise, um davon wachzuwerden.“
 

„Nein“, widersprach ich. „Ich schlafe nie fest. Und wenn ich meine Tür offen lasse, hör ich es. Versprochen.“
 

Die Skepsis wich kaum von ihr, doch ihr Blick wurde weicher. „Ich bin immer noch sauer auf dich, weißt du?“ Sie ließ die goldene Kette ein paar Mal durch die Finger gleiten. „Glaub ja nicht, ich wäre irgendein Mädchen, das du mit ein bisschen Schmuck besänftigen kannst.“
 

„Ich weiß.“ Vor allem wusste ich, dass ich damit direkt ins Schwarze getroffen hatte.
 

„Ich habe trotzdem keine Lust auf diesen Ausflug.“
 

Ich nickte nur.
 

Der rote Beutel samt Schmuck verschwand in ihrer Hosentasche. „Aber“, sie nahm wieder ihren Teller, trat in den Flur und schloss die Tür hinter sich, „ich kann ja morgen mal Abendessen machen.“ Damit schenkte sie mir ein leichtes Lächeln und lief zum Essen in die Küche.

Komplizierte Partnerschaft


 

Kapitel 11: Komplizierte Partnerschaft
 


 

Valerie
 

Noch nie in meinem Leben hatte mir jemand Schmuck geschenkt. Jetzt, als ich darüber nachdachte: Besaß ich überhaupt irgendwelchen Schmuck?
 

Die goldenen Glöckchen an der feinen Kette waren unglaublich klein, das Geräusch, das sie bei jeder Bewegung erzeugten, so zart, dass es kaum zu hören war. Davon aufzuwachen erschien mir unmöglich. Aber der Wille zählte. Und Adrians Wille hinter dieser Geste hatte ein lauwarmes Gefühl in meiner Brust ausgelöst, das mir zuflüsterte, ich solle das Kettchen anlegen.
 

An diesem Abend lernte ich noch eine ganze Weile. Ich hätte Maka nochmal bitten sollen, den Stoff erneut mit mir durchzugehen. Als ich irgendwann nach Mitternacht beschloss, Schluss zu machen, war die Wohnung still wie ein Friedhof. Ich trat in den Flur, ließ das Licht aus, um Adrian nicht zu wecken, auf den Weg in die Küche für ein letztes Glas Wasser.
 

Meine nackten Füße auf dem glatten Laminat trugen mich so leise durch den Raum, dass das helle Klingeln an meinem Bein umso deutlicher erschallte. Nun, natürlich nicht so deutlich wie die trampelnden Schritte und die aufschlagende Tür plötzlich hinter mir. Atemlos und mit vor Schreck geweiteten Augen kam mein Partner in die Küche, betrachtete erst mich, dann das Wasser in meiner Hand.
 

Wie zur Erleichterung seufzte er: „Alles okay?“
 

Ich nickte nur knapp und staunte. Staunte über das Kettchen; darüber, dass Adrian von dem Klingeln wach wurde; über den Schreck in seinem Gesicht und wie er verronnen war. Über ihn. Und einfach darüber, dass er hier war.
 


 

~*~
 

Ich hatte ein gutes Gefühl, als ich den Prüfungsraum verließ. Ich war eher fertig als viele andere – es mussten einige nachschreiben, wodurch ich mir nicht mehr all zu sehr wie ein Versager vorkam, der durch Literaturprüfungen fiel.
 

Auf dem Flur erwarteten mich Adrian, Soul und Maka. Letztere sprang direkt auf, als sie mich sah, und fragt aufgeregt nach dem Test.
 

„War gut“, versicherte ich ihr grinsend. „Erinner mich daran, dich bei der nächsten Gelegenheit auf eine Pizza einzuladen.“
 

„Wie wäre es mit heute Abend?“, schlug sie vor und hakte sich bei mir unter. „Nur wir beide. Und Soul kann sich mit Adrian beschäftigen.“
 

„Ich will nicht babysitten“, kam es mürrisch von der Sense.
 

Maka kicherte nur und zog mich in Richtung Ausgang. „Adrian ist ein ganzes Stück älter als du.“
 

Ich will nicht babysitten“, erwiderte Adrian daraufhin und imitierte dabei den Tonfall der anderen Waffe, klang dabei allerdings

überhaupt nicht wie Soul.
 

Gemütlich schlenderten wir durch die breiten Flure der Shibusen. Von ihrem Zenit lachte die Sonne durch die hohen Fenster. Die Hallen waren nahezu verlassen, wahrscheinlich genossen die meisten ihre Mittagspause draußen.
 

„Hey Soul“, rief Maka über ihre Schulter. „Lass uns mal nach Aufträgen schauen. Wir müssen diesen Monat noch ein paar machen, damit das Geld reicht.“
 

„Wir würden mit ein, zwei Jobs im Monat locker auskommen, wenn du nicht ständig Geld für neue Bücher ausgeben würdest.“

Empört wirbelte die Meisterin herum. „Das-“, kurz sah es so aus, als wollte sie eine Szene machen, doch dann hielt sie inne und meinte etwas kleinlaut: „Das war ein Sonderangebot.“
 

Die Sense ging schnaubend an uns vorbei und murmelte dabei etwas, was ich nicht genau verstand.
 

Maka tat das allerdings sehr genau, denn sie antwortete aufgebracht: „Dann baust du eben ein neues Bücherregal!“
 

Du baust ein neues Bücherregal.“
 

Ich kicherte kurz über ihren belanglosen Streit, während Adrian zu mir aufschloss und wir unseren Nachbarn zum Schwarzen Brett folgten. Sie zankten sich den ganzen Weg dahin, erst über Makas Büchersammlung, dann darüber, dass sie viel zu viel Geld für Essen ausgeben mussten, weil Soul immer alles anbrennen ließ und dann über das nächste Abendessen und wer dafür zuständig war.
 

Adrian und ich schwiegen, doch es war eine angenehme Ruhe zwischen uns.
 

Am Schwarzen Brett angekommen fiel mein Blick auf den Flyer, der einen Campingausflug in den Blue Mountains anpries, und auf die dazugehörige Namensliste. Auf der ich unter anderem meinen und Adrians Namen fand.
 

„Hey“, sprach ich die Waffe an und versuchte dabei irgendwie streng zu klingen, „melde uns wieder von diesem dämlichen Ausflug ab.“
 

Von der Seite schaute er ein wenig missmutig auf mich herab. Und ließ mich eiskalt abblitzen: „Nö.“
 

Brodelnde Wut stieg langsam in mir hoch, doch ich schluckte sie entschlossen runter und erklärte ruhig: „Ich kann da nicht hingehen und du weißt auch ganz genau warum.“
 

Nun drehte er sich vollständig zu mir um und ich hatte das Gefühl, dass er seine Körpergröße schamlos ausnutze. „Ich dachte, das wäre erledigt.“
 

„Das ist überhaupt nicht-
 

„Ich will nicht campen gehen!“, eine mir wohlbekannte Stimme unterbrach mich, „Camping ist kacke!“ Hinter Adrian tauchte erst Cordelia im Gang auf, dann Raphael.
 

„Camping ist toll“, widersprach Raphael ihr.
 

Na super, dachte ich mir mit einer bösen Vorahnung.
 

„Fahrt ihr dieses Wochenende auch in den Nationalpark?“, sprach Adrian meine Vermutung aus.
 

Raphael nickte zustimmend. „Ja. Ihr auch? Das ist ja super.“
 

Er und Adrian strahlten sich über beide Ohren an, während mir beinahe das Kotzen kam. Warum verstanden sich die beiden überhaupt so gut? Nach seiner letzten Begegnung mir Cordelia sollte Adrian ihnen doch wenigstens ein bisschen feindlich gesinnt sein. Oder nicht?
 

„Wie siehst du denn aus?“ In ihrer üblichen Manier mit hohen Schuhen und einer noch höheren Nase kam Cordelia auf mich zu und betrachtete mich argwöhnisch. „Hast du mal in den Spiegel geschaut?“ Sie nahm eine rote Haarsträhne von meiner Schulter, warf sie allerdings direkt wieder fort, als hätte sie etwas furchtbar Widerliches angefasst.
 

„Ja, das habe ich. Solltest du auch mal zur Abwechslung tun“, konterte ich bissig. Ich ließ mich nicht von ihr runtermachen. Nicht mehr.
 

„Hey. Benehmt euch“, kommandierte Raphael, als wären wir zwei knurrende Hunde.
 

Er wurde gnadenlos ignoriert.
 

„Weißt du, Val“, kurz zuckte ich zusammen bei der Kurzform meines Namens. So wurde ich schon lange nicht mehr genannt und es versetzte mir einen kleinen Stich, das jetzt aus ihrem Mund zu hören. „Eigentlich brauchen Raph und ich solchen Kram gar nicht. Diese niedlichen Ausflüge, die sich der Shinigami ausdenkt, sind ja doch eher was für Anfänger. Das haben wir überhaupt nicht mehr nötig. Weißt du“, schwungvoll warf Cordelia sich die langen, blonden Haar nach hinten und blitzte mich provokativ an, „Raph und ich werden zum nächsten Semester die Aufnahmeprüfung machen. Vorhin kam die Bestätigung. Doktor Stein meint, unsere Chancen stünden exzellent. Wir könnten jetzt schon bestehen, hat er gesagt, aber da ließ Shinigami nicht mit sich reden. Na ja“, sie machte eine abfällige Handbewegung über die Schulter, als wäre es keine große Sache, dass sie noch ein paar Monate in der NOT hocken mussten. „Und wie weit bist du, Valerie?“
 

Etwas Giftiges – giftiger als Zorn – kroch mir durch den Leib und ätzte in meiner Kehle.
 

„Willst du mich provozieren?“
 

„Ich weiß nicht.“ Abwesend, als hätte sie mich nicht gerade herausgefordert, begutachtete sie ihre dunkel lackierten Fingernägel. „Lässt du dich denn provozieren?“
 

Mein Blick fiel auf die Waffe neben mir. Vielleicht war es Trotz oder Starrsinn oder einfach das schiere Bedürfnis, mich zu beweisen, das mich dazu trieb, Adrian zu fragen: „Kannst du dich vollständig verwandeln?“
 

Blanke Unsicherheit überfiel sein Gesicht. „Keine Ahnung. Ich … ich hab das bis jetzt nur einmal versucht.“
 

„Dann versuchst du's jetzt ein zweites Mal.“
 

Auffordernd streckte ich ihm meine Hand entgegen. Im Augenwinkel sah ich, wie Raphael die Augen verdrehte und sich ein paar Schritte entfernte, während Cordelias schlanke Klinge in einem gleißenden Licht in seine Finger glitt. Sie war ein unglaublich schönes Messer. Die Spitze war schlank und ihr Griff war verziert mit grazilen Ranken.
 

Bildete ich mir das nur ein oder war die Klinge länger als das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte.
 

„Verwandel dich“, befahl ich.
 

Adrian glitt der Schreck durch den Körper. „Ich kann das nicht. Ich will mich nicht prügeln.“
 

„Verwandel dich“, wiederholte ich. „Jetzt.
 

Einen langen Augenblick zögerte er noch. Dann gab er nach. Ein heller, weißer Schein umgab ihn und meine Hand. Einen Moment später lag ein Messer darin, das … na ja.
 

Was sollte man dazu sagen? Der Griff war rau und aus grobem Holz, das Gewicht ungleichmäßig und die Klinge …
 

„Sag mal, willst du mich verarschen?“
 

Entsetzt starrte ich auf das Instrument in meiner Hand. Die Klinge war trüb, verblasst und stumpf.
 

„Ich hab dir gesagt, dass ich das nicht kann.“
 

Da lag ein gewisses Maß an Verletzlichkeit und Angst in seiner Stimme und kurz fühlte ich mich schlecht, ihn dazu gezwungen zu haben. Doch der Moment verging so schnell, wie er gekommen war.
 

Ich ging in eine Kampfposition. Raphael tat es mir gleich, doch er rührte sich nicht. Er machte nie den ersten Schritt. Manch einer mochte das als feige abtun, wenn er den wahren Grund dahinter nicht kannte, oder als sehr gerissen.
 

Mit schnellen Schritten sprintete ich auf meinen Gegner zu, täuschte einen Angriff von links an, um ihn von rechts zu treffen. Seit einer Rippenverletzung war seine Taille auf dieser Seite empfindlich. Im Augenwinkel sah ich einen der Lehrer heraneilen.

Der Schlag ging daneben. Ein weiterer wurde pariert. So ging das eine Weile, ohne das Raphael ernsthafte Anstalten machte, selber aktiv anzugreifen.
 

Ein genervtes Knurren kam von seiner Waffe. Cordelia wurde wütend. Sie hatte die schlechte Angewohnheit, in ihrer Wut die Bewegungen ihres Meisters zu lenken. Ein unangenehmes Gefühl für denjenigen und eigentlich hatte ich geglaubt, Raphael hätte sie in dieser Hinsicht gezähmt.
 

In einem unkontrollierten Impuls schoss sein bewaffneter, linker Arm nach vorn. Ich nutzte den Augenblick, in dem seine Seite ungedeckt war, und rammte Adrians stumpfe, nutzlose Klinge in die schmerzhafte Stelle. Ernsthaften Schaden konnte sie ja nicht anrichten.
 

So geschmeidig, wie es mir möglich war – ich war nicht sehr gut darin, aber ich gab mein Bestes – ließ ich meine Seelenwellen durch meinen Arm in meinen Partner gleiten. Hätte ich gewusst – eigentlich hätte ich damit rechnen müssen – was das mit mir machte, wäre ich vorsichtiger gewesen.
 

Hätte ich geahnt, was das mit Adrian machte, hätte ich es ganz gelassen und auf die Prügelei verzichtet.
 

In dem Moment, in dem unsere Seelenwellen aufeinander trafen riss etwas auf. Im wahrsten Sinne des Wortes: Innerhalb eines Augenblicks spürte ich, wie die Haut an meinen Armen aufriss. An Stellen, von denen ich wusste, dass sie bereits lange vernarbt waren.
 

Krachend schlug ich in Raphaels Seite. Der Stoß befeuerte den Schmerz, der sich nun durch meinen ganzen Oberkörper zog, und aus Reflex ließ ich die Waffe fallen. Mein Gegner taumelte stöhnend einige Schritte zurück, fing sich aber schnell wieder und lief erneut auf mich zu. Seine Bewegungen dabei waren stockend und ungelenkig.
 

„Verdammt, Cordelia, lass den Scheiß!“, fluchte Raphael laut auf.
 

Mit aller Kraft, die meine blutenden Arme aufbringe konnten, packte ich ihn, warf ihn mit einem Handgriff, den ich mal in irgendeinem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte, über meine Schulter und trat ihm das Messer aus der Hand.

Cordelia schlitterte meterweit über den polierten Boden. Als sie endlich zum Stehen kam, verwandelte sie sich und trampelte wütend zurück.
 

„Du bist so ein Schwächling!“, fauchte sie ihren Meister dann, doch da war ich schon außerhalb ihres Radius'.
 

Abseits an der Wand gelehnt saß Adrian. Heftig atmend und zitternd hielt er sich die Unterarme. Die dünnen Ärmel seines Oberteils waren mit seinem Blut rot gefärbt. Wie ein getretener Welpe sah er zu mir rauf.
 

„Kannst–“, ich brauchte einen tiefen Atemzug, um den Kloß in meinem Hals runter zu würgen und meine Stimmer wiederzufinden. „Kannst du aufstehen?“
 

Er nickte knapp und rappelte sich mühselig auf. Der Lehrer, der als Zeuge kam – es war nur ein junger Referendar, der wohl gerade den Schreck seines Lebens bekommen hatte – wies uns stotternd an, ins Krankenzimmer zu gehen. Soul und Maka, die die ganze Szene mit angesehen hatten, folgten uns schweigend.
 

Nygus stellte keine Fragen oder bedachte uns mit komischen Blicken. Sie versorgte lediglich unsere Wunden und drückte uns anschließend jeweils einen Schokoriegel in die Hand „zur Aufmunterung“, bevor sie sich an ihrem Schreibtisch in einer abgelegenen Ecke des Zimmers setzte.
 

Ich saß neben Adrian auf dem Krankenbett und brachte kein Wort heraus. Unsere Nachbarn standen uns gegenüber neben der Tür.
 

„Tut mir leid“, murmelte meine Partner. „Hab ja gesagt, dass ich das nicht kann.“
 

„Schon ok.“ Ich schüttelte den Kopf. Ich glaubte ihm die Entschuldigung nicht. Er sollte sich nicht entschuldigen müssen, schließlich hatte er nichts falsch gemacht.
 

„Ist das immer“, er deutete auf seine Arme, „so? Also … ich meine, ist das normal?“
 

„Nein. Ich denke nicht.“ Unschlüssig sah ich zu Maka. „Oder?“
 

Sie bedachte uns mit ernster Miene und wollte gerade den Mund aufmachen, da kam ihr Partner ihr zuvor: „Habt ihr ernsthaft geglaubt, dass ihr nach ein paar Tagen schon kämpfen könnt? Das ist ja lächerlich.“
 

„Soul. Bleib höflich.“ Maka stieß der Waffen ihren Ellenbogen leicht in die Seite, bevor sie sich wieder an uns wandte. „Aber er hat Recht. Solche Abwehrreaktionen sind am Anfang allerdings ganz normal. Zuallererst müsst ihr Vertrauen zueinander aufbauen und als Team euren Rhythmus finden. Das passiert nicht von heute auf morgen.“
 

Zustimmend nickte die Sense und kam mit kräftigen Schritten auf uns zu. Oder eher auf Adrian. „Und du“, bei jedem Wort boxte er ihm leicht auf die Brust, „musst. an dieser. uncoolen. Verwandlung. arbeiten.“ Mürrisch verschränkte er die Arme. „Die war ja grauenhaft.“
 

Peinlich berührt senkte Adrian den Kopf und rang mit den Händen. „Ich hab das vorher nur einmal gemacht.“
 

„Auch mit einem Meister?“
 

Adrian zögerte einen Moment. „Ja.“
 

Etwas in mir verkrampfte sich.
 

Soul fragte weiter: „Und wie war das?“
 

Alles an meinem Partner spannte sich an. „Na ja...“ Nervös krallten sich seine Finger in den Stoff seiner Hose. „Irgendwie anders. Leichter.“
 

Das verkrampfte Gefühl in mir verwandelte sich in Übelkeit. Warum war er hier, in Death City, wenn er da draußen jemanden hatte, mit dem er kompatibel war?
 

„Und warum bist du dann nicht mit dieser Person zusammen?“, sprach Soul meine Frage in einem heftigen Ton aus, der Adrian zusammenzucken ließ.
 

Maka zerrte ihn am Arm gepackt weg und zischte etwas, was ich nicht verstand.
 

„Das –“, alles an Adrian bebte vor Anspannung. „Das … geht nicht ... Sie ist tot.“
 

Ein schauriger Schrecken zog wie eine eiskalte Brise durch den Raum, gefolgt von zähem Schweigen. Sogar Nygus Stift, der bis gerade eben noch schabend über das Papier geflogen war, hielt inne.
 

„Soul“, durchbrach Maka die unangenehme Stille nach einigen Momenten, „wird heute Abend Lasagne machen.“ Ihre Waffe wirbelte herum, als hörte er das gerade zum ersten Mal. Doch jeglicher Protest wurde mit einem einzigen Blick seiner Meisterin erstickt. „Ihr seid gerne eingeladen.“ Damit packte sie ihren Partner am Ärmel und zog ihn nach draußen.
 

Trotz der geschlossenen Tür konnte man die Anfänge ihres Streites auf dem Flur hören.
 

„Das war ja super, wie du eine so empfindliche Wunde aufgerissen hast! Idiot!“
 

„Als wäre das Absicht gewesen!“
 

„Trotzdem hättest du noch so bohren sollen.“
 

„Maka, ganz ehrlich: Er hätte es mit jedem anderen Meister – “
 

Der Rest ging mit der Entfernung in einem unverständlichen Murmeln unter, bis nur noch Schweigen uns empfing.
 

„Du könntest es mit jedem anderen Meister einfacher haben“, vervollständigte ich Souls Satz.
 

Mein Blick heftete sich an meine Zehen und den Boden darunter. Die bebende Übelkeit in mir hatte nachgelassen und zurück blieb nur eine geschwollene Leere.
 

„Du erinnerst mich irgendwie an sie.“ Adrian schaute monotone Löcher in die Luft. Seine Fingerspitzen bebten leicht über dem dunklen Stoff der Schuluniform. „Ich glaube … Ich habe das Gefühl, etwas wieder gut machen zu müssen.“ Ein leises, bitteres Lachen verzog sein Gesicht und er schüttelte den Kopf. „Nein, vergiss das. Da gibt es nichts gut zu machen.“
 

Zögernd sah ich zu ihm auf. Er sah aus wie jemand, der schon so oft geweint hatte, dass er nun nicht mehr in Tränen ausbrechen konnte. Wie ein verbitterter alter Mann. Und das mit 17.
 

„Was ist passiert?“, wagte ich zu fragen, wünschte mir allerdings im selben Moment, ich hätte es nicht getan, als die beißende Kälte seiner Augen mich traf.
 

Ganz kurz sah es so aus, als wollte er es mir tatsächlich erzählen, doch da trat Nygus räuspernd von hinten heran.

„Dies ist nicht der Ort, um tragische Vergangenheiten aufzuarbeiten.“
 

Sie drückte mir zwei Blätter in die Hand: Freistellungen für den heutigen Nachmittagsunterricht. Damit schickte sie uns weg.

Ich gab Adrian seinen Zettel und stand langsam auf. Als ich schon an der Tür war, saß er immer noch auf der Kante des Bettes und starrte auf sein Blatt Papier.
 

„Jetzt komm schon“, drängelte ich.
 

„Ist es nicht schlecht, wenn wir den Unterricht verpassen?“
 

„Ach was.“ Ungeduldig nahm ich ihn bei der Hand und zog ihn aus dem Zimmer voll düsterer Atmosphäre. „Die paar Stunden sind leicht nachgeholt. Außerdem hat das Semester gerade erst angefangen.“
 

„Jemand der durch Prüfungen fällt, sollte so etwas nicht sagen.“
 

Böse blitze ich ihn über die Schulter an. Da grinste er doch glatt verschmitzt, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Aber er konnte gut so tun, als wäre alle in Ordnung, obwohl seine innere Unruhe seine Hand immer noch zittern ließ.
 

Deshalb ließ ich sie nicht los. Und Adrian machte keine Anstalten, mich abzuschütteln. Also liefen wir so, Hand in Hand, bis ich an der Haustür den Wohnungsschlüssel rauskramen musste.
 

Den ganzen Nachmittag verbrachten wir faul auf der Couch. Die Füße auf den tiefen Tisch gelegt tranken wir einen Tee nach den anderen und schauten alle Harry-Potter-Filme, die ich besaß.
 

Zwischen spannungsaufbauender Musik und dem Gekicher der Maulenden Myrte sprach Adrian plötzlich leise: „Irgendwann erzähl ich's dir. Wenn's nicht mehr ganz so schlimm ist.“
 

Verschlafen vom Film schaute ich müde zu ihm rauf „Was erzählen?“
 

Kurz sah er mich tiefgründig ab, dann winkte er allerdings ab: „Ach nix“, und wir beließen es dabei.
 

Irgendwann im dritten Teil klopfte es an der Tür und Maka trat herein. Gefolgt von Soul, der in einer sehr peinlichen Kochschürze, die garantiert nicht ihm gehörte, eine dampfende Auflaufform in unsere Küche trug.
 

Wir zogen das Sofa aus und aßen vor dem Fernseher, während die Filme liefen.
 

Irgendwann schlief ich ein. Ich bekam gar nicht mehr mit, wie Maka und Soul später am Abend gingen. Ich merkte nur das Ruckeln, als Adrian mich ins Bett trug, und die angenehme Wärme seines Körpers.

Straßenjunge


 

Kapitel 12: Straßenjunge
 

Adrian
 

Am darauffolgenden Tag geschah etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte.
 

Die Mittagspause verbrachten Valerie und ich mal wieder in der von Leuten überlaufenden Mensa an einem der hinteren Tische. Als wir uns gerade setzen wollten, trat Soul mit stampfenden Schrittes heran.
 

"Komm nach der Pause in den Garten mit den Bäumen hinter der Schule", ordnete er an.
 

"Aber ich habe heute Nachmittag noch Unterricht."
 

"Schwänz ihn", erwiderte er bloß und verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war.
 

"Ich kann doch nicht ständig den Unterricht schwänzen." Jetzt, wo ich nach so langer Zeit wieder zur Schule ging, wollte ich ungern etwas verpassen. Doch meine Meisterin löffelte nur unberührt ihre Kürbissuppe.
 

"Also, in manchen Fällen dürfen EAT-Schüler NOT-Schüler freistellen, um mit ihnen zu trainieren. Natürlich unter der Beobachtung Shinigamis."
 

Verblüfft sah ich sie an. "Du meinst, er will mit mir trainieren?"
 

"Gut möglich."
 

Und es kam tatsächlich so.
 

Nach dem Essen erwartete Soul mich am hinteren Schulausgang. Lässig nickte er mir zu, als er mich kommen sah. Neben ihm

stand ein hochgewachsenes, unglaublich hübsches Mädchen mit einem langen, schwarzen Pferdeschwanz. Soul sagte etwas zu

ihr, woraufhin sie leichtfüßig auf mich zukam und mir ihre Hand entgegen streckte.
 

"Hi!" Ein leichtes Lächeln zierte ihr helles Gesicht. "Ich bin Tsubaki, eine Freundin von Soul und Maka. Freut mich dich kennenzulernen."
 

Ihre Hand war ganz weich, als ich sie schüttelte. Augenblicklich schoss mir das Blut in die Wangen.
 

"H-hallo", stammelte ich verlegen.
 

Auf dem Weg durch das kleine Wäldchen fragte Soul:" Sollte BlackStar nicht eigentlich auch kommen?"
 

"Ach, na ja", seufzte Tsubaki. "Er war schon den ganzen Tag deprimiert, weil er heute Morgen zwei Liegestütze weniger geschafft hat als gestern. Er meinte, er wolle lieber ein extra Workout machen, anstatt mit einem Anfänger zu üben."
 

Der Weißhaarige brummte nur.
 

Die beiden liefen voraus. Zwischen den Bäumen um uns herum tauchten ab und zu Meister mit ihren Waffen auf, die

gegeneinander kämpften oder Angriffe in die Luft schlugen.
 

Auf einer kleinen ruhigen Lichtung blieben wir schließlich stehen.
 

"Und", fragte ich missmutig, "was machen wir jetzt?"
 

"Wir werden an dieser miesen Verwandlung arbeiten." Soul verschränkte streng die Arme. "Kannst du einzelne Körperteile verwandeln?"
 

"Nur den rechten Fuß und die Finger der rechten Hand."
 

"Du bist Rechtshänder, oder? Auch stumpf oder scharf?"
 

Ich nickte. "Scharf. Meistens", ergänzte ich.
 

"Zeig mal."
 

Erwartungsvoll sahen die beiden mich an. Irgendwie fühlte ich mich von ihren Blicken unter Druck gesetzt, versuchte aber mich nicht allzu sehr davon beeinflussen zu lassen.
 

Ich atmete einmal tief durch die Nase ein und konzentrierte mich auf die Energie meines Körpers. Ich schickte sie von meiner Körpermitte ausgehend durch meinen Arm in die Fingerspitzen. Gespannt traten Soul und Tsubaki näher. Ein weißes Licht umgab meine rechte Hand und schlanke, helle Klingen kamen zum Vorschein.
 

Gemäß dem Vorführeffekt waren sie natürlich: stumpf. Ich spürte die Schamesröte bis in beide Ohren. Tsubaki lächelte ein bisschen hilflos, während Soul mich lauthals auslachte.
 

"Mach dir nichts draus." Verständnisvoll klopfte das Mädchen mir auf die Schulter. "Eigentlich war das schon richtig gut. Die meisten Anfänger können sich gar nicht auf Kommando verwandeln, aber du hast das schon drauf. Das ist super, dann musst du nur noch an der Schärfe arbeiten."
 

Kurz überlegte ich, ob ich ihr sagen sollte, dass ich mich in New York bereits Dutzende Male mit scharfen Klingen gewehrt hatte, entschied mich aber dagegen.

Derweilen war Souls Gekicher verstummt.
 

"Dass du das schon kontrollieren kannst, ist praktisch", meinte er. "Jetzt musst du das nur noch üben. Verwandel Finger, Zehen, Hände und Füße so oft wie möglich. Auch auf der linken Seite."
 

"Wozu?", fragte ich. "Ich muss nicht selber kämpfen, das macht doch der Meister."
 

"Und was machst du, wenn dein Meister verletzt oder bewusstlos ist?" Sein Ton wurde eine Nuance dunkler, die Hände waren tief in seinen Hosentaschen vergraben. "Was, wenn dein Meister bewusstlos und dein rechter Arm verletzt ist? Dann sterbt ihr

beide, weil du nichts drauf hast."
 

Ein unangenehmer Schauer jagte durch meine Wirbelsäule.
 

"Aber", versuchte ich einzuwenden, "Shinigami würde es doch nie so weit kommen lassen. Ich meine, er würde es doch nie riskieren, dass seine Schüler sterben. Oder?"
 

"Tja." Soul grinste diabolisch und präsentierte dabei seine scharfen Haifischzähne. "Was glaubst du, warum es so schwer ist, in die EAT zu kommen?"
 

Kurz brach mir der kalte Schweiß aus und eine blutiges Bild blitzte vor meinem inneren Auge auf. Nur, dass diesmal nicht ihr toter Körper im Dreck von New York lag, sondern Valeries.
 

"Also ehrlich", durchbrach Tsubaki die düster aufkommende Atmosphäre. Rügend stupste sie Soul mit dem Ellenbogen in die Seite – mir fiel auf, dass sie ganz anders mit ihm umging als Maka – und wandte sich dann an mich: "Es ist wirklich ganz, ganz selten, dass Schüler bei einem Auftrag ernsthaft verletzt werden oder sogar sterben. Dafür gibt es viel zu viele Sicherheitsvorkehrungen. Aber darum brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen. Konzentrier' dich lieber erst mal auf deine Verwandlung.“
 

Die Sense nickte zustimmend. "Es ist so: Je mehr Körperteile du gleichzeitig verwandeln kannst, desto einfach fällt dir die vollständige Verwandlung. Das geht am besten, wenn du dich von außen nach innen arbeitest. Du fängst also mit fünf Fingern an, dann mit zehn, dann die Zehen, dann Finger und Zehen gleichzeitig. Dann eine Hand, dann beide und immer so weiter. Und irgendwann kannst du's. Ist reine Übung. So", er stemmte entschlossen die Hände in die Hüften. "Anderes Thema: Wie gut kannst du alleine kämpfen?"
 


 

~*~
 

Am späten Nachmittag erst kam ich mit diversen Blessuren nach Hause. Schwerfällig zog ich Jacke und Schuhe aus und

schleppte mich durch den Flur.
 

Valerie stand mit einer Tasse Tee an der Kücheninsel und blätterte durch ein Magazin.
 

"Was ist denn mit dir passiert?", fragte sie, als sie von den Seiten aufschaute und wahrscheinlich mein blaues Auge erblickte.
 

"Ich wurde verprügelt." Mit dem Gesicht voran ließ ich mich der Länge nach auf das Polster der Couch fallen.
 

"Schon wieder?"
 

"Mmh-hhm", brummte ich ins Kissen. "Von einem Mädchen. Einem sehr, sehr gutaussehenden noch dazu."
 

Valerie lachte kurz amüsiert. Bei diesem Klang war ich für einen kleinen Augenblick ein wenig froh, so fertig gemacht worden zu sein.
 

"Glaub mir, es gibt an dieser Schule eine ganze Menge hübscher Mädchen, die dich ohne große Mühen verprügeln können. Mich

eingeschlossen"
 

Mit einer Packung Tiefkühlerbsen trat sie an mich heran. Dankend nahm ich sie an.
 

"Wer war es denn?", fragte sie. "Ich dachte Soul wollte mit dir trainieren."
 

"Hat er auch. "Ich drehte mich auf den Rücken und drückte mir die kalte Verpackung auf das geschwollene Auge. "Das heißt, er stand daneben und hat dabei zugeguckt, wie Tsubaki mir haushoch überlegen war, und mich regelmäßig ausgelacht. Kennst

du sie?"
 

"Ich kenne vor allem ihren Meister. War er auch da?"
 

"Nein." Ich richtete mich auf, damit Valerie sich mit ihrem Getränk neben mich setzen konnte.
 

"Solltest du Tsubaki mal mit ihm zusammen begegnen, dann lass dir bloß nicht anmerken, dass du auf sie stehst. Sonst hat er dich ein Leben lang auf dem Kiecker. Und mich gleich mit."
 

"Ich steh nicht auf sie", stellte ich deutlich klar, konnte aber nicht verhindern, dass mir das Blut in die Wangen schoss. "Ich finde sie lediglich hübsch."
 

"Niemand würde es dir übel nehmen." Sie schlürfte an ihrem Tee. Ein fruchtiger Geruch stieg mir in die Nase. "Sie ist hinreißend. Jeder steht auf Tsubaki."
 

Fragend hob ich die unverletzte Augenbraue. "Jeder?"
 

"Jeder." Bestimmend nickte sie. "Allerdings traut sich kein Verehrer an Black*Star vorbei. Und sie hat in all der Zeit nie etwas dagegen unternommen."
 

"Ob sie ein Paar sind?"
 

"Tja, man munkelt, man munkelt." In einem Zug trank Valerie ihre Tasse leer und blitze mich über den Rand hinweg amüsiert an. "Sie ist wohl der Typ Frau, auf den du stehst, hm?"
 

Ich stutzte einen Moment. "Ich weiß gar nicht, auf welchen Typ Frau ich stehe."
 

"Hattest du nie eine Beziehung?"
 

"Nein." Ich war die letzten Jahre mehr damit beschäftigt gewesen, Ina und mich in New York durchzubekommen.
 

Ein Stich jagte durch mich hindurch bei dem Gedanken an sie. Kurz hatte ich das Gefühl, wieder in ein tiefes Loch zu stürzen, doch da fing Valeries Stimme mich auf: "Stehst du überhaupt auf Frauen?"
 

"Wer weiß." Ich zuckte nur mit den Schultern. "Ich hatte nie die Möglichkeit, es herauszufinden." Und um ehrlich zu sein, war es mir momentan auch egal.
 

"Also wärst du für einen Dreier mit mir und meinem imaginären Freund offen?" Verschmitzt grinste sie mich an.
 

"Für dich doch immer, Bro." Ich grinste zurück und boxte ihr freundschaftlich in den Oberarm.
 

In friedlicher Stimmung klang der Tag aus, mit Sandwiches zu Abendessen, albernen Späßen und Gesprächen über alles und jeden, nur nicht über die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Und zu ersten Mal seit langem schien etwas in mir zur Ruhe zu kommen, was zuvor stets in Alarmbereitschaft war.
 


 

~*~
 

Je näher der Campingausflug kam, desto nervöser wurde Valerie. Als wir am Freitag Ausrüstung kauften, zitterten die Schlafsäcke in ihren Händen an der Kasse.
 

In der Nacht auf Samstag schlafwandelte sie. Ich hörte die Glöckchen und brachte sie wieder ins Bett. Das minderte ihre Nervosität natürlich nicht im Geringsten und ehrlich gesagt wurde auch mir am darauffolgenden Morgen etwas bange.
 

"Na", war das Erste, was sie zu mir sagte. "Siehst du jetzt auch ein, dass es eine blöde Idee war?"
 

"Ich bin ein unbelehrbarer Straßenjunge", erwiderte ich frech in der Hoffnung, die drückende Stimmung auflockern zu können. "Ich sehe nie etwas ein."
 

"Pff", machte Valerie nur und kicherte. "Hier, den kannst du haben. Die Busfahrt wird bestimmt ein paar Stunden dauern."

Sie reichte mir ein kleines, silbernes Ding. Es war flach und rechteckig mit diversen runden Knöpfen und einem Bildschirm.
 

„Was ist das?“, fragte ich.
 

Verblüfft sah meine Meisterin mich an. „Jetzt erzähl mir nicht, dass du noch nie einen MP3-Player gesehen hast.“
 

„Gut, dann erzähl ich's dir eben nicht.“ Ich stutzte kurz und betrachtete die glatte Oberfläche des Geräts. „Aber ich glaube, du musst mir mal erklären, wie das funktioniert. Ist das nicht zum Musikhören?“ Ich hatte schon vorher Leute mit Kopfhörern auf der Straße rumlaufen gesehen, konnte mir selbst aber nie so etwas leisten. Mal ganz abgesehen davon, dass ich mich mit meinen dreckigen, ungewaschenen Klamotten in keinen Laden getraut hatte.
 

„Genau. Hier machst du ihn an.“ Sie drückte auf einen Knopf an der Seite, wodurch der Bildschirm aufleuchtete. „Und dort wählst du ein Lied aus der Playlist. Bestimmt hab ich irgendwo noch ein zweites paar Kopfhörer für dich, wenn nicht, dann können wir ja zusammen was hören.“
 

Ich drückte auf den größten runden Knopf in der Mitte und der Bildschirm veränderte sich. Es kam keine Musik raus – ich vermutete, dass das nur mit Kopfhörern funktionierte – doch über der Anzeige liefen die Worte Titanium – David Guetta.
 

„Wer ist David Guetta?“, fragte ich.
 

„Ein berühmter DJ.“ Valeries Blick stutzte amüsiert. „Sag mal, hast du dich die letzten Jahre im Untergrund verkrochen?“
 

„Na ja, im Grunde genommen schon.“ Ich zog nur lässig die Schultern hoch, als wäre es keine große Sache. „Es gibt in New York mindestens zwei kriminelle Gangs, die mich gerne sechs Fuß unter der Erde sehen wollen. Und ich hatte keine Lust, in einer dreckigen Gasse erschossen zu werden.“
 

„Oh.“ Ihre Augen wurden groß wie Unterteller. „Hast du was Schlimmes gemacht.“
 

„Ja“, antwortete ich ohne zu zögern. Ich war selbst überrascht, wie leicht mir diese Tatsache über die Lippen glitt.
 

Valeries Mund ging ein paar Mal auf und zu wie bei einem Fisch, dann schüttelte sie entschieden den Kopf.
 

„Nein, vergiss es“, sprach sie entschlossen. „Ich will es gar nicht wissen. Nicht die Spur. Es geht mich auch überhaupt nichts an.“
 

Kurz überlegte ich, dass es sie vielleicht doch etwas anging, da wir als Partner eigentlich keine Geheimnisse voreinander haben sollten. Doch da lief sie schon durch den Flur in ihr Zimmer. Und weil ich auch nicht großartig das Bedürfnis hatte, das Thema weiter auszubreiten, sprach ich sie auch nicht noch einmal darauf an.
 

Eine halbe Stunde später marschierten wir mit zwei Rucksäcken gefüllt mit Campingausrüstung, Klamotten und Proviant los zum Busbahnhof. Dort standen bereits Schüler, die dich zu mehreren kleinen Gruppen zusammen gefunden hatten.
 

Etwas abseits erkannte ich Tsubaki und Death the Kid, die zusammen mit einigen anderen in einer Runde standen. Letzterer kam sogleich auf uns zu.
 

„Hier.“ Er drückte jedem von uns ein Blatt Papier in die Hand. „Der Sitzplan. Bitte haltet euch dran. Ich werde euch zwar nicht begleiten, aber es ist dennoch besser für euch, in akkurater und symmetrischer Relation zu euren Körpermaßen zu sitzen.“ Damit zog er sich wieder zurück.
 

Beim Betrachten der detailliert gezeichneten Tabelle, die wohl die Anordnung der Sitze darstellte, und der geschwungenen Namen fiel mir auf, dass Mädchen und Jungen getrennt wurden.
 

Fragen sah ich zu Valerie herab.
 

„Ignorier den Plan“, meinte sie nur. „Keiner wird das kümmern. Er ist im Übrigen der Sohn des Shinigami“, fügte sie hinzu.
 

„Der Shinigami kann Kinder kriegen?“, rief ich deutlich zu laut vor Überraschung und zog so einige Blicke auf uns.
 

Rot vor Scham angesichts des Gekichers, das uns erreicht, zischte meine Meister einen ganzen Deut leiser: „Geht's noch? Natürlich kann er Kinder kriegen. Wenn du mich fragst, ist bei ihm allerdings etwas schiefgelaufen. Kid ist zwar sehr nett, hat aber auch einen kleinen Knall.“
 

„Inwiefern?“
 

„Hat dir dieser Sitzplan etwa nicht gereicht?“ Der Zettel verschwand unsauber gefaltet in einer ihrer hinteren Hosentaschen.
 

„Der Typ mit den blauen Haaren neben Tsubaki ist ihr Meister BlackStar. Der ist auch ein bisschen“, sie suchte einem Moment nach dem richtigen Wort., „schwierig.“
 

„Ich nehme an, dass ich das auch noch spüren werde?“
 

„Ja, spätestens, wenn sie – oh, sie kommen her! Versuch möglichst stolz und stark auszusehen und lass dich nicht von ihm klein reden.“
 

Sie dreht sich mit einem anmaßend zuckersüßen Lächeln um. Tsubaki begrüßte uns freundlich, während ihre Begleitung breitschultrig direkt auf mich zu stolzierte.
 

Argwöhnisch betrachtete er mich von Kopf bis Fuß und meinte schließlich: „Du bist ja 'ne halbe Portion!“
 

Irritiert hob ich die Augenbrauen. Er war deutlich kleiner und ich vermutete auch jünger als ich, trotzdem plusterte er sich vor

mir auf, als gehörte ihm die ganze Welt.
 

„Sind an dir überhaupt Muskeln dran?“, fuhr er fort. „Kein Wunder, dass Tsubaki es mit dir so einfach hatte.“
 

Er lachte laut und kräftig, als hätte er einen unglaublich lustigen Witz gerissen. Hinter ihm warf seine Partnerin mir entschuldigende Blicke zu.
 

„Vielleicht“, erwiderte ich ruhig, „liegt's auch einfach daran, dass deine Waffe so gut ist.“
 

Sein Lachen wurde noch eine Spur lauter. „Ja, da magst du recht haben.“
 

Einen Moment überlegte ich, ihm von meinen guten Sportwerten zu erzählen, ließ es dann aber doch bleiben. Auf einen Schwanzvergleich mit dem Drei-Käse-Hoch hatte ich schlichtweg keine Lust.
 

„Hey Black*Star“, sprach Valerie ihn an. „Warum seid ihr eigentlich hier?“ Mit einem frechen Blitzen in den grünen Augen betrachtete sie ihn. „Doch nicht etwa weil du wieder irgendwas verbockt hast und jetzt über's Wochenende Strafarbeit leisten musst. Oder?“
 

Black*Stars breites Grinsen bekam reinen Knick. Bedrohlich langsam ging er auf sie zu und baute sich vor ihr auf. Er war zwar kaum größer als sie – vielleicht waren das auch nur die hoch gegelten Haare – doch dafür war er um Einiges breiter.
 

Ein bedrohliches Kribbeln durchzog meinen linken Arm. Valeries Blick huschte kurz darüber. Ich ignoriert es und versteckte meine Hand hinter meinem Rücken.
 

„Ruf mich an, wenn du dich mit mir messen kannst“, brummte der andere Meister tief und zog mit einem „Komm Tsubaki“ ab. Die Waffe trottete leichtfüßig hinter ihm her.
 

„Sie spurt ihm ja ganz schön, findest du nicht?“, bemerkte ich.
 

„Fass dir erst mal an die eigene Nase.“ Valerie nickte in Richtung meines versteckten Armes. „Komm schon, zeig mal.“

Zögernd zog ich die linke Hand hervor – und staunte selber einen Augenblick. Fünf saubere, scharfe Klingen blitzten im Licht der Morgensonne.
 

Vorsichtig nahm meine Meisterin sie in ihre Hände und betrachtete sie andächtig.
 

„Nicht schlecht“, nickte sie zufrieden lächelnd. „Kannst du das mit der anderen auch?“
 

Ich reichte ihr die rechte Hand und in einem weißen Schein erschienen auch dort fünf schlanke Messer.
 

Sie nickte erneut. „Schön. Sehr schön.“
 

Aus der Gruppe ein paar Schritte weiter kamen anzügliche Pfiffe in unsere Richtung. Augenblicklich ließ Valerie mich rot anlaufend los.
 

„Sag's mir ins Gesicht, wenn du mir was zu sagen hast, Raphael!“, schrie sie wütend zu der Gruppen, in dessen Mitte Raphael stand, den sie wohl für die Pfiffe verantwortlich machte. Neben ihm kicherte seine Partnerin hinter vorgehaltener Hand. In ihrer üblichen Manier trug sie pinke, hohe Schuhe und irgendein Pelz-Feder-Ding als Jacke im gleichen schreienden Farbton.
 

„Warum“, fragte ich Valerie, „lässt Raphael seine Waffe so in den Wald fahren?“
 

„Tja.“ Sie zuckte ratlos mit den Schultern. „Bestimmt hat er ihr gesagt, dass sie sich umziehen soll und sie meinte daraufhin ,Fick dich, du bist nicht meine Mutter.'“
 

Ich kicherte kurz. „Du hast wohl ihre Wohnung verwanzt, hm?“
 

„Nein. Das hat sie mal zu mir gesagt, als ich sie auf ihren Kleidungsstil angesprochen habe.“
 

Auf das Winken eines runden Mannes im weißen Hemd – wahrscheinlich unser Fahrer – nahmen alle ihre Taschen und liefen zum Bus. Nachdem wir es dem Busfahrer überlassen hatten, das Gepäck tetrismäßig zu verstauen, suchten meine Meisterin und ich uns einen Platz in der Mitte des Fahrzeugs, während die Gruppe um Cordelia die Sitze der hinteren Reihe für sich beanspruchte. Kurz vor Fahrtantritt kam Raphael zu uns.
 

„Du musst mit mir Plätze tauschen“, sprach er Valerie an. „Die Madame muss sich mal bei dir über mich auskotzen.“
 

Valerie rollte nur mit den Augen. „Ich will nicht da hinter zu den Affen.“
 

„Glaubst du etwa, ich will bei denen Sitzen und mir ihr Gelaber anhören? Ich wurde gerade abkommandiert, also geh schon.“

Das Mädchen stöhnte genervt, stand dann aber doch auf und ging nach hinten. Raphael nahm ihren Platz neben mir ein.

„Sie muss sich bei ihr über dich auskotzen?“, wiederholte ich seine Worte und sah ihn dabei fragend an.
 

„Hmm“, nickte er. „Anscheinend funktioniert das bei Valerie und Cordelia so: Wenn die eine ein Problem oder irgendwas mit dem Partner hat, heult sie sich bei der anderen aus.“ Er kramte in seinem Rucksack nach etwas und zog schließlich eine Packung Chips heraus. „Cordelia meinte mal, dass sie sich schon sehr lange kennen, wahrscheinlich sind sie Sandkastenfreunde oder so. Und ich vermute auch, dass die beiden mal Partner waren, aber wenn man das Thema anspricht, stößt man bei ihnen aus Eis. Willst du?“
 

Er reichte mir die aufgerissene Tüte. Doch mir ging gerade etwas sehr viel Bedeutsameres durch den Kopf als Chips.
 

„Oder Schwestern.“ Valeries erster Partner war ihr Zwilling, eine sehr starke Waffe. Zweieiig heißt, sie mussten sich nicht zwangsläufig ähnlich sehen. Sie und Cordelia hatten zur gleichen Zeit an der Shibusen angefangen und stehen in ständiger Konkurrenz zueinander, scheinen sich regelrecht zu hassen, gehen aber trotzdem aufeinander zu, wenn sie Probleme haben. Als wären diese Streitigkeiten schon ewig Teil ihrer Beziehung.
 

„Wie alt ist Cordelia?“, fragte ich aufgeregt angesichts meiner Theorie. „Wann hat sie Geburtstag?“
 

Raphael stutzte kurz. „Sie wird Ende dieses Monats 17. Wieso?“
 

„Weißt du auch, wann Valerie Geburtstag hat und wie alt sie wird?“, hackte ich nach, seine Frage ignorierend.
 

„Keine Ahnung, hat sie nie gesagt. So gut kenn' ich sie auch wieder nicht, sie lässt ja kaum jemanden an sich heran. Was ist denn los?“
 

„Valerie hat eine Zwillingsschwester. Die beiden waren Partner, als sie an der Schule angefangen haben“, berichtete ich atemlos in der Hoffnung, dass es bei ihm auch klickte.
 

Raphael überlegte kurz, dann drehte er sich mit großen Augen zu mir um. Doch er schüttelte lediglich den Kopf.
 

„Ich glaube, da muss ich dir den Wind aus den Segel nehmen“, meinte er. „Cordelia ist Einzelkind. Das weiß ich ganz genau.“
 

Oh.
 

„Sicher?“, fragte ich nochmal vorsichtig und bekam ein Nicken als Antwort. „Oh.“ Enttäuscht ließ ich mich in de Rückenlehne des Sitzes fallen, als der Bus langsam Fahrt aufnahm.
 

„Du weißt nicht, wer ihre Schwester ist?“
 

Ich verneinte.
 

„Hmm. Ein Zwilling sogar.“ Er warf ein Chip in die Luft und fing es spielerisch mit dem Mund auf. „Solche Geheimnisse voreinander sollte ihr unbedingt klären. Sonst kommt ihr nie voran.“

Édénique


 

Kapitel 13: Édénique
 

Adrian
 

An unserem Zielort hatte es geregnet. Viel geregnet. Der Boden war ein einziger schlammiger Sumpf und es nieselte noch immer ein wenig. Der Busfahrer drehte ein paar Runden über das Gelände wohl in der Hoffnung, eine halbwegs trockene Stelle zu finden, an der er uns rauslassen konnte. Die gab es allerdings nicht und so hielt er schließlich auf dem glitschigen Untergrund an. Mit den Worten „Ich hoffe, ihr habt Gummistiefel eingepackt“ öffneten sich die Türen.
 

Kim Diehl, die mit ihrer Partnerin direkt vor uns gesessen hatte, war die erste an der Tür. Mit pinken Gummistiefeln an den Füßen sprang sie im hohen Bogen von der Treppe des Busses in den nassen Matsch. Dabei spritzte der Dreck bis an die Fenster.
 

„Oh mein Gott, das ist so widerlich“, seufzte ihre Waffe, während sie ihr folgte. An der Tür allerdings hielt Jacqueline inne und zum allgemeinen Erstaunen nahm Kim sie auf die Arme und trug sie durch die schlammige Landschaft.
 

Neben mir begann Raphael, sich seine Schuhe auszuziehen und die Hosenbeine hochzukrempeln. Hinter uns näherten sich klackernde Schritte.
 

„Ich werde dich ganz bestimmt nicht tragen“, motzte er, noch bevor Cordelia ganz ankommen konnte.
 

Mit ordentlich Schmackes schmiss sie ihm ihren Rucksack gegen die Brust und widersprach: „Das seh‘ ich anders.“
 

Einige der Jüngeren schauten nicht schlecht als die Blonde sich vor allen Augen verwandelte und in einem weißen Licht an Raphaels Hüfte verschwand. Erst jetzt fiel mir die lederne Messerscheide auf, die an seinem Gürtel befestigt war. Genervt rollte Raphael mit den Augen und drängte sich mit den zwei geschulterten Taschen durch den schmalen Gang.
 

Draußen versanken meine nackten Füße fast bis zum Knöchel im kalten Schlamm. Bis zum eigentlichen Zeltplatz waren es noch ein paar hundert Meter über durchgeweichten Waldweg.
 

„Dieses Geräusch ist widerlich“, kommentierte Valerie, die ebenfalls barfuß neben mir herlief, das Pitsch und Patsch, das mit jedem Schritt durch die Gruppe hallte.
 

Zum großen Leidwesen aller anderen hatte Black*Star am Ende des Trosses eine Schlammschlacht angefangen und versuchte nun, so viele Leute wie möglich mit reinzuziehen. Tsubaki bemühte sich, nachdem ihr Versuch, ihren Meister ruhig zu stellen, misslungen war, Abstand zwischen sich und das Chaos zu bringen. Ich kam dabei nicht umhin, mich zu fragen, wie die beiden trotz der offensichtlichen Unterschiede ein eingespieltes Team werden konnten.
 

„Ganz schön beschwerlicher Weg“, meinte sie zu uns und blickte herab auf ihre dreckigen Schuhe.
 

„Redest du von dem Wetter“, fragte Valerie und fiel in einen zynischen Ton, „oder von deinem kindischen Meister?“
 

Von der Seite warf Tsubaki ihr einen mahnenden Blick zu. „Er hat halt seinen Bewegungsdrang. Wie läuft’s eigentlich mit deiner Verwandlung?“ Sie wandte sich an mich.
 

Ihre hübschen, dunklen Augen musterten mich abwartend und ich zögerte kurz, ihr zu sagen, dass es trotz täglicher Übung keine nennenswerten Erfolge zu verbuchen gab.
 

Doch Valerie kam mir zuvor: „Er hat vorhin, als Black*Star mich angemacht hat, in einem Anflug von heldenhaftem Beschützerinstinkt die Krallen ausgefahren.“
 

Tsubaki lachte auf bei der Beschreibung und aus irgendeinem Grund war mir das Ganze nun peinlich. Schließlich war das weder willkürlich gewesen noch sonderlich kontrolliert. Und bestimmt nicht heldenhaft.
 

„Ach, wie nobel.“, meinte die Waffe nur und lächelte zufrieden vor sich hin.
 

Der Campingplatz war eine Lichtung umringt von hohen Eichen und Nadelbäumen. In einigen Metern Höhe über einer zentralen Feuerstelle war eine weiße Plane mit einem Loch für den Rauch gespannt, welche zusammen mit den Baumkronen wohl das meiste Regenwasser abgefangen hatte; sodass der Platz einigermaßen trocken geblieben war.
 

Etwas abseits standen drei Hütten dicht nebeneinander gestellt, die jeweils beschriftet waren mit „Küche“, „WC/Duschen“ und „Campleitung“.
 

„Wollen wir unser Zelt nah am Klo aufschlagen?“, schlug ich vor, doch meine Meisterin deutete in genau die entgegengesetzte Richtung.
 

„Nein, lass uns bitte möglichst viel Abstand zur Küche halten.“
 

Ich wollte protestieren, als die ersten bereits Plätze bei den Hütten für sich beanspruchten, doch da fiel mir ein: Mit Küche meinte sie Küchengeräte wie Messer und Scheren, von denen sie sich fernhalten wollte
 

Valerie war schon einige Meter vorausgelaufen. Ich schloss zu ihr auf und sprach in leisem Ton: „Du, ich glaube, die schließen die Küche nachts ab. Wegen den Tieren.“
 

„Ich will kein Risiko eingehen.“
 

„Hast du die Kette dabei?“
 

Sie nickte.
 

„Gut.“ Ich nickte ebenfalls, mehr zur Bestätigung für mich selbst, dass dieses Wochenende sicher lustig, abenteuerlich und uns weiterbringen wird. Ganz bestimmt. „Schau mal, da vorne sieht es nett aus.“ Ich deutete auf eine freie Grasfläche zwischen zwei Büschen vor uns.
 

Valeries gebrummtes „Mmh“ war Zustimmung genug.
 

Wir hatten uns für ein praktisches, großes Wurfzelt entschieden, sodass das Aufbauen keine großen Schwierigkeiten mit sich brachte. Ob und wie wir das Ding am Sonntag allerdings wieder zusammengebaut bekommen würden, stand in den Sternen.
 

Ich bot an, das Aufpumpen der Luftmatratzen zu übernehmen, doch meine Meisterin entgegnete nur, wenn ich anfinge, sie wie ein Mädchen zu behandeln, würde sie sich auch wie eines benehmen. Dabei deutete sie auf Cordelia, die nicht allzu weit entfernt neben einem Haufen aus Tuch, Planen und Stangen stand und ihrem Partner schweigend beim Arbeiten zusah. Also liehen wir uns von einer jungen, enthusiastischen Frau im Pfadfinderoutfit eine manuelle Luftpumpe aus und wechselten uns mit den Matratzen ab, was bereits nach kurzer Zeit in einem Wettbewerb ausartete, wer die meisten Züge schaffte, ehe ihm die Arme abfielen.
 

Nach knapp 20 Minuten lagen wir schnaufend im Zelt.
 

„Das Wurfzelt war eine gute Idee“, befand ich beim Anblick derer, die immer noch mit dem Aufbau zu kämpfen hatten.
 

„Jup“, stimmte Valerie mir zu. „Hey“, sie setzte sich auf. Dabei stieß ihr Kopf nicht mal an die Decke. „Lass uns die Matratzen drehen. Die passen bestimmt auch quer rein.“
 

„Wozu?“
 

„Ich will nicht am Ausgang schlafen.“ Sie scheuchte mich mit einer Handbewegung von den Luftbetten und aus dem Zelt und fügte deutlich leiser hinzu: „Wenn ich nachts aufstehe, wirst du eher wach, wenn ich über dich drüber klettern muss.“
 

Sie wuchtete und drehte die Matratzen und nach einigen Augenblicken lagen sie längs im Zelt.
 

Schwerfällig ließ sie sich wieder fallen. „Ich mach ein Nickerchen“, beschloss sie. „Weck mich bitte, wenn es was zu essen gibt.“ Langsam fielen ihr Lider zu.
 

Vorsichtig legte ich mich auf mein Bett an der Öffnung des Zeltes dazu und betrachtete meine Meisterin für ein paar Momente. Von Nahem erkannte ich eine Reihe blasser Sommersprossen auf ihrer Nase und Stirn und ein stecknadelgroßes Muttermal auf dem Schlüsselbein. Der fruchtige Geruch von Shampoo hing über ihr.
 

Ich fuhr erschrocken zurück, als plötzlich ihre Augen aufschlugen und mich direkt anfunkelten.
 

„Wehe dir, wenn du mich des Nachts begrapschst, Adrian.“
 

Mit Lichtgeschwindigkeit schoss mir das Blut in die Wangen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass wir ja ein Junge und ein Mädchen waren, die auf engsten Raum miteinander schlafen mussten.
 

Also nicht miteinander. Zusammen halt. Nebeneinander.
 

„Wüstling“, lachte Valerie mich aus, weil ich knallrot wohl ein ziemlich lachhaftes Bild abgab. „An was du wieder denkst?“

Liebevoll boxte ich ihr in den Oberarm. „Hey, wenn du deine Griffel bei dir lässt, lass ich meine bei mir.“
 

Ein kurzes, süßes Kichern kam von ihr, dann griff sie nach ihrer türkisfarbigen, kuscheligen Decke, die so groß war, dass drei Leute es darunter warm haben konnten, und verschwand fast gänzlich darin.
 

Ein Schauer von Müdigkeit überkam mich und ich wagte es, mich auch kurz zurückzulegen und den Geräuschen der Natur um uns herum zu lauschen. Das Rauschen von Wind in den Baumkronen und zwitschernder Vogelgesang mischte sich mit dem Rascheln der Zelte, Plappern der Schüler und den ruhigen Atemzügen meiner Meisterin. Kein Straßenlärm, keine grellen LED-Leuchten, keine fernen Polizeisirenen. Alles Vergangenheit. Hier und heute konnte ich es wagen, für fünf Minuten die Augen zu schließen und an nichts zu denken.
 


 

~*~
 

Licht lag wie eine samtige Decke über mir. Licht, ein erdiger Geruch und eine verschwommene, französische Stimme.
 

„Adrien! Allez!“
 

Da waren schnelle Schritte über Kies und Asphalt, ein Lachen, das mit dem Wind in den Kronen des Central Parks tanzte.
 

„Ici, c’est le paradis!“
 

Paradiesisch, ja. Aber zu welchem Preis?
 

Das Licht zog davon, riss das Lachen mit sich. Zurück blieben nur Herzrasen und Schnaufen, ein Keuchen durch dunkle Gassen und Angst.
 

„Adrien! Adrien!
 

Ein Schuss fiel. Ein zweiter.
 

„Adrian!“
 

Ein westamerikanischer Dialekt und das schrille Klingeln von Glöckchen rissen mich zurück in die Wirklichkeit. Schwer atmend starrte ich rauf zur Zeltdecke. Valeries schreckgeweitetes Gesicht blickte zurück. Zwischen ihren schlanken Fingern zitterte die goldene Fußkette.
 

„Oh Gott, na endlich“, seufzte sie schniefend.
 

„Was ist denn los?“ Schwerfällig rappelte ich mich auf. Mein Rücken fühlte sich an, als hätten Pferde ihn zertrampelt, und hinter meiner Stirn brummte ein pochender Schmerz. „Weinst du etwa?“, fragte ich, als ich die glitzernde Feuchtigkeit auf ihren Wangen bemerkte.
 

Blitzschnell drehte Valerie sich auf den Knien von mir weg. „Natürlich nicht.“ Mit dem Ärmel ihres Sweatshirts wischte sie sich grob über das Gesicht. „Du hast im Schlaf plötzlich angefangen zu zittern und warst ganz heiß, als hättest du einen Fieberanfall. Und du bist einfach nicht aufgewacht.“ Sie schniefte noch einmal und kramte in unseren Rucksäcken nach Taschentüchern.
 

„Entschuldige. Das hat dich sicher erschreckt.“ Ein Stückchen rückte ich näher heran und legte behutsam meine Fingerspitzen auf ihren Rücken. Warme, pulsierende Energie strömte von ihrer Wirbelsäule in meine Hand und augenblicklich fühlte ich mich wach und ausgeruht.
 

Langsam drehte Valerie sich wieder zu mir um. Ihre Augen und Wangen waren ein bisschen rot. Eine ihrer schlanken Hände legte sich auf meine Stirn, wahrscheinlich um zu schauen, ob ich wirklich Fieber hatte.
 

Natürlich hatte ich keines, ich war kerngesund. Das Leben auf der Straße hatte mein Immunsystem robust gemacht. Doch anstatt erfreut – oder zumindest erleichtert – darüber zu sein, verzog mein Gegenüber genervt das Gesicht. Und schlug mit derselben Handfläche hart gegen meine Stirn, sodass ich von der Wucht wieder ins Bett fiel.
 

„Wenn du so was mitten in der Nacht machst, schläfst du draußen!“, rief sie in ihrem üblichen gereizten Tonfall laut genug, damit alle anderen an ihrem Unmut teilhaben konnten.
 

Ich erkannte Raphaels Stimme, die von draußen provokant sprach: „Schon Ärger im Paradies?“
 

„Ich geb‘ dir gleich Ärger! Was ist das denn? Euer Zelt steht ja immer noch nicht.“ Entschlossen stampfte Valerie über den Platz zu Raphael und seiner Waffe, die sich jetzt doch an den Stangen und Tüchern versucht hatte. Offensichtlich erfolglos.
 

Wieder rauschte ein sanfter Wind durch die kräftigen Äste und verfärbten Blätter der Bäume und sang sein bekanntes Lied.
 

C’est le paradis!
 

Paradis, hm?
 

New York war alles andere als ein Paradies. Die Ungebundenheit, die Regellosigkeit, die Freiheit – das war traumhaft gewesen. Aber die Freiheit, gehen zu können wohin man wollte, brachte auch immer die Gefahr mit sich, dass man Orte entdeckte, die lieber unentdeckt geblieben wären.
 

Das einzig Paradiesische an New York war Ina. Sie hatte nie in die Stadt gepasst. Sie war ein Mädchen vom Land gewesen, das gerne über lange Feldwege spaziert und durch Weinreben gesprungen war. Zwischen den hohen Häuserfassaden der Innenstadt und in den unterirdischen Clubs war sie furchtbar verloren gewesen, im Central Park hatte sie sich wohl gefühlt.
 

Ich setzte mich im Schneidersitz in den Eingang unseres Nachtlagers und beobachtete Valerie von weitem. Sie war ein bisschen größer und kräftiger als Ina, was wohl von ihrem Training kam, aber genauso temperamentvoll. Ihre Haare hatten die gleiche Länge, aber ansonsten unterschieden sie sich gänzlich voneinander. Ina war brünett gewesen wie frischer Kuhmist – ihre Aussage –und nett zu jedem, der ihr über den Weg gelaufen war. Sie hatte gerne Feldbücher in der Stadtbücherei gelesen und davon geträumt, Biologie zu studieren und Botanikern zu werden – weil ich so dumm gewesen war und ihr gesagt hatte, in Amerika könnte man alles werden, wenn man nur fest daran glaubte. Sie war in New York nie zur Schule gegangen.
 

Da fiel mir ein: Ich wusste gar nicht, was Valerie gerne in ihrer Freizeit tat, wenn sie nicht lernte, trainierte oder zu Wochenendausflügen gezwungen wurde.
 

Von der Seite kamen Schritte näher. Neben dem Zelt stand Black*Star, der missmutig auf mich herab blickte. „Alter. Das“, er deutete mit einer kreisenden Fingerbewegung auf sein Gesicht, „solltest du lassen. Welcher Mann heult denn vor allen anderen?“
 

Verwirrt wischte ich mit der Hand über meine Wangen und betrachtete die Feuchtigkeit darauf. Hatte der Traum mich zum Weinen gebracht? Oder war es der Gedankenfluss gewesen, in den ich dann gestürzt war? Wahrscheinlich beides.
 

Ich schlug mir beide Hände vors Gesicht und ließ mich mit einem tiefen Seufzer nach hinten fallen. Ich hatte fast gar nicht bemerkt, was für ein emotionales Wrack ich in den letzten Wochen geworden war.
 

„Ach komm, so schlimm?“ Der Meister hockte sich hin und schaute durch die Öffnung ins Zelt.
 

„Nee, alles ok.“ Nichts war ok. Aber zumindest brannten manche Wunden nicht mehr wie Höllenfeuer, wenn man sie mal versehentlich streifte.
 

„Du hast großes Glück, dass wir Erfahrenen da sind, um euch Jungspunden zur Seite zu stehen. Falls du also einen großartigen Rat brauchst“, mit einem stolzen Grinsen deutete er mit dem Daumen auf sich, „ich bin dein Senpai.“
 

„Nein, danke“, wies ich ihn prompt ab. Da fiel mir doch etwas ein: „Halt, warte, eine Frage habe ich.“ Ich setzte mich wieder auf. „Was sind das für Spannungen zwischen dir und Valerie?“ Auch wenn mich ihre privaten Streitigkeiten nichts angingen, hatte ich das Bedürfnis, Bescheid wissen zu wollen, wen oder wer sie in Zukunft vielleicht mal zu einem Kampf herausfordern könnte.
 

„Sie hat Potenzial, keine Frage“, antwortete er. „Aber für meinen Geschmack ist sie etwas zu großkotzig, dafür dass sie kaum Erfolge vorlegen kann.“
 

Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. „Ich finde dich sehr viel großkotziger.“
 

„Hahaha, stimmt!“, lachte er laut, obwohl ich ihn beleidigt hatte. „Aber im Gegensatz zu Valerie hab‘ ich’s auch drauf. Während sie in der NOT rumhängt und nur ihren Boxsack vermöbelt, bekomm ich die richtig wichtigen Dinger von Shinigami!“
 

„Die du aber trotzdem nicht hinkriegst!“, kam es direkt von Tsubaki, die einige Meter weiter mit einem jungen Mädchen sprach und ihren Partner wohl gehört hatte. Eigentlich kein Wunder bei seiner Lautstärke.
 

„Ach komm schon, so übel sind wir gar nicht.“
 

„Ihr seid so unterschiedlich“, bemerkte ich und hatte recht: Tsubaki war so zart und ruhig, er dagegen … war es nicht. „Wie kann es sein, dass ihr so gut funktioniert?“
 

Back*Star schien kurz zu überlegen und meinte schließlich bedächtig: „Sie ist die einzige, die mich wirklich wertschätzt und so sieht, wie ich bin.“ Seine Nase fuhr stolz nach oben und auf seinem Gesicht erschien wieder dieses breite Grinsen. „Und sie gibt mir immer recht. Eine wirklich gute Waffe!“ Er lachte erneut, erhob sich und stolzierte davon.
 

Irgendwie überkam mich das Gefühl, dass Tsubaki mehr Sklavin als Partnerin war. Aber sie schien ja nicht unglücklich zu sein. Ich war also kein Stück schlauer als vorher.
 

Die Campleitung bestand aus einer sehr quirligen Frau im hellbraunen Outfit und aus einem groß gebauten Mann in derselben Aufmachung – nur dass bei ihm das blattgrüne Tuch um den Hals und die bunten Abzeichen auf der Brust irgendwie albern aussahen. Von ihnen wurden wir angewiesen, in kleinen Gruppen Feuerholz zu sammeln und danach das Abendessen selber zu machen. Irgendwie hatte ich mit etwas Spektakulärerem gerechnet, aber für einige waren die Anreise und das Aufbauen bereits abenteuerlich genug gewesen.
 

„Was macht ihr?“, fragte ich Valerie und ein jüngeres Mädchen, dessen Namen ich nicht kannte. Sie rührten bereits seit einigen Minuten in zwei großen Schüsseln einen hellbraunen Teig an.
 

„Stockbrot“, antworteten sie unisono.
 

„Was für Brot?“
 

„Stockbrot“, wiederholte meine Partnerin. „Jetzt erzähl mir nicht, dass du Stockbrot nicht kennst.“
 

„Ich war noch nie Campen“, erklärte ich.
 

Ungläubig sahen die beiden Mädchen mich an. „Klingt nach einer unerfüllten Kindheit“, meinte die Unbekannte, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit widmeten.
 

Stockbrot war, wie ich später herausfand, eine Teigware, die man auf einem Stock über offenem Feuer backte. Meine Bedenken bezüglich der Hygiene – man wickelte den Teig um einen richtigen, unbehandelten Stock vom Waldboden – verwarf ich, als ich den ersten Bissen probierte und mir dabei nur ein klein wenig die Zunge verbrannte.
 

So schmeckte also eine erfüllte Kindheit. Nicht schlecht.
 

Der Abend klang ruhig aus. Wir wurden angehalten, früh ins Bett zu gehen, da wohl am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang ein straffes Programm auf uns warten würde. Doch das hinderte Black*Star nicht daran, allen am Lagerfeuer eine Gruselgeschichte aufzubinden, die dem ein oder anderen den Nachtschlaf rauben würde.
 

Valerie schien das jedoch kalt zu lassen. Bereits wenige Minuten nachdem wir uns hingelegt hatten, erfüllten ihre ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge unser Zelt. Die friedvolle Stimmung, die ihre Ruhe ausstrahlte, lullte mich ein und schickte mich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
 

~*~
 

Vom Klingeln der Glöckchen und Rascheln des Schlafsackes wachte ich später in der Nacht auf. Valerie saß an meinem Fußende und machte sich gerade am Reißverschluss des Zeltes zu schaffen.
 

„Hey“, sprach ich sie an. „Bist du wach?“
 

„Ja“, flüsterte sie zurück. Sie streckte ihren Kopf ein wenig nach draußen und sah sich um.
 

„Was ist los?“, fragte ich sie und rappelte mich auf.
 

„Hörst du das nicht?“
 

„Was hören?“
 

„Dieses … Summen.“
 

Ich hielt einen Moment den Atem an und lauschte angestrengt. Doch da war nichts. „Nein.“
 

„Schau mal.“ Sie öffnete den Reißverschluss weiter sodass ich auch rausgucken konnte, und zeigte auf den Himmel. „Da.“

Südlich von unserem Camp erhellten grün und blau flackernde Lichtschweife die Nacht über den Bäumen.
 

„Nordlichter?“, staunte ich atemlos.
 

„Aber doch nicht hier.“
 

„Was ist das dann?“
 

Scheinwerfer von zwei Taschenlampen jagten über die Wiese. Ein paar Zelte weiter standen die vier EAT-Schüler und betrachteten ebenfalls das Schauspiel. Obwohl wir uns bedeckt hielten und jedes Geräusch vermieden, entdeckte Black*Star uns und kam mit gesenkter Lampe herüber.
 

„Hörst du das?“, fragte er Valerie. Er grinste breit – und irgendwie diabolisch – als sie zur Bestätigung nickte.
 

„Was ist das?“
 

„Hexengesänge.“
 

Er schnellte nach vorne und drückte ihr seine Handfläche auf den Mund, als meiner Meisterin ein erschrockener Laut entglitt.

„Schsch“, machte Black*Star mit einem Finger vor dem Gesicht. „Das darf eigentlich keiner wissen. Seit einigen Wochen sollen Hexen in diesem Wald ihre Riten abhalten. Wir haben den Auftrag vom Shinigami bekommen, ihr Lager aufzuspüren und Informationen über die Zeremonien zu sammeln.“ Er ließ Valerie los und schaute erwartungsvoll zu den schwebenden Lichtern am Himmel und dann wie zu uns, bevor er fragte: „Wollt ihr mitkommen?“
 


 

AN.: Ich hab keine Ahnung, wie /ob Stockbrot/Knüppelbrot/Knüppelkuchen in Amerika verbreitet ist.
 

Ich hoffe, ihr seid genauso gut reingerutscht wie ich ;)

Nächstes Kapitel 31.01.2020

Zerreißprobe


 

Kapitel 14: Zerreißprobe
 

Valerie
 


 

„Wollt ihr mitkommen?“
 

Erwartung lag in seiner Stimme und eine Herausforderung glitzerte in seinen Augen.
 

Traust du dich?
 

Als würde ich vor dir einknicken!
 

Hastig schnappte ich mir Pullover und Taschenlampe und stürzte nach draußen. Adrian sah kurz so aus, als wollte er dagegen protestieren, doch dann griff auch er nach seinen Stiefeln und stieg aus dem Zelt. Offenbar hatte er gelernt, dass seine Einwände bei mir kein Gehör fanden. Oder zumindest nur selten.
 

„Das ist viel zu gefährlich“, zischte dagegen Tsubaki und damit hatte sie Recht: Auf Hexenjagd durften nur Lehrer und Schüler mit ausreichender Qualifikation und einer Erlaubnis des Shinigamis gehen. Die bekam man aber nur, wenn es einen triftigen Grund gab.
 

Aber das war schließlich keine Jagd.
 

Jacqueline stimmte nickend zu und schaute zu Kim wohl in der Hoffnung, das Gleiche auch von ihr zu hören. Doch die meinte nur schulterzuckend: „Lasst sie doch, wir sollen ja nur beobachten. Und sie können sich ja verteidigen.“
 

„Können wir das?“, flüsterte Adrian unsicher.
 

„Also ich schon“, erwiderte ich. Black*Star war bereits vorausgeeilt. „Und du, Straßenjunge?“ Frech blitzte ich ihn von oben herab an. Es schien, als müsste er ein Seufzen unterdrücken.
 

Jacqueline und Tsubaki verwandelten sich unauffällig und ihre Meister liefen voran. Möglichst leise huschten wir über den Zeltplatz auf einen abgetretenen Waldweg Richtung Süden.
 

„Sollten sie uns entdecken, bleibt bei Black*Star. Lauft auf gar keinen Fall zurück zum Camp, wenn sie euch verfolgen“, wies Kim uns an und erst jetzt wurde mir die Tragweite unseres Handelns bewusst. Meines Handelns.
 

Wenn die Hexen uns entdeckten, mussten wir kämpfen oder abhauen. Wir kannten uns in der Gegend nicht aus. Adrian war nicht kampfbereit, zumindest nicht mit mir, und ich hatte keine Waffe oder etwas ähnliches mitgenommen. Selbst wenn wir eingespielt oder bewaffnet wären, gegen eine bösartige Hexe mit Zauberkräften kamen wir nicht an. Und da waren gleich mehrere im Wald.
 

Wenn wir entdeckt und von den anderen getrennt wurden, wären wir verloren.
 

Ein Hauch von Panik stieg in mir auf. Aber auf der anderen Seite hatten die EAT-Meister uns ohne große Diskussion mitgenommen, also konnte es gar nicht so gefährlich sein.
 

Na ja, obwohl … Kim und Black*Star waren nicht gerade dafür bekannt, wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen.
 

„Hey, Waffenjunge“, zischte Jacqueline.
 

„Ich heiße Adrian.“
 

„Du läufst zu laut.“ Rauch stieg leise zischelnd aus den runden Öffnungen ihres Metalls hervor. „Verwandle dich.“
 

Adrians Schritte gerieten in ein unregelmäßiges Stocken. Unter den abwartenden Blicken der anderen zögerte er einen langen

Moment. Dann verschwand sein Körper in einem milchigen Licht und ein grobes Messer erschien. Stumpf. Anstatt in meiner Hand zu landen, schwebte er einen kurzen Augenblick in der Luft, bevor er der Schwerkraft erlag. Schnell hielt ich meine Handfläche darunter und fing ihn auf, bevor er auf dem feuchten Waldboden landen konnte. Hoffentlich hatte das keiner mitbekommen.
 

Kim und Black*Star liefen voraus und gaben ein zügiges Tempo vor. Ich hielt mit und behielt mit einem Auge die Lichter am Himmel im Blick. Lautlos waberten sie vor den Sternen hin und her und wirkten dabei tatsächlich wie Nordlichter, sodass ahnungslose Außenstehende sie wohl leicht mit einem ungewöhnlichen Naturphänomen verwechseln konnten.
 

Aber wir waren schlauer. Das redete ich mir zumindest ein.
 

Mit einer erhobenen Hand bedeutete Black*Star uns anzuhalten. Zwischen den Bäumen vor uns glitten einige Lichtstrahlen hindurch und verrieten die Anwesenheit der Hexen. Das Summen wurde lauter, aber Wörter verstand ich nicht.
 

Gebückt und mit langsamen, leisen Schritten tasteten wir uns zu der belebten Lichtung vor, bis wir Einzelheiten erkennen konnten. Ein großes Lagerfeuer dominierte den Platz, über kleineren Feuerstellen auf dem Gelände verteilt brutzelte aufgespießtes Wild. Und auf glatt geschleiften Baumständen drum herum saßen –
 

„Kinder?“, flüsterte Adrian meinen Gedanken.
 

„Hexenkinder“, bestätigte Kim. „Das ist wohl eine Art Schulcamp. Sie trainieren das Jagen mit magischen Fähigkeiten an Waldtieren.“
 

„Woher kommen die Gesänge?“, fragte ich sie.
 

„Von den Flöten.“ Kim deutete auf eine Gruppe junger Frauen in farbigen Gewändern, die in ein langes Holzinstrument bliesen. „Die Musik und die Lichter sollen die Kinder beruhigen, damit sie die Angst vor ihren Kräften verlieren und das Jagen mit etwas Positivem verbinden.“
 

Eine ganze Weile blieben wir in unserer bedeckten Position und beobachteten schweigend das Treiben. Dann fragte Jacqueline leise: „Warst du auch in so einem Camp?“
 

„Ja“, bestätigte ihre Meisterin. „aber da war ich ein ganzes Stück älter. Die hier sind so … jung.“
 

Ich zählte 29 Hexenkinder – alles Mädchen – und fünf erwachsene Frauen.
 

„Warum sind da eigentlich keine Jungen?“, fragte ich flüsternd. „Warum sind die eigentlich noch nicht im Bett? Wissen sie, dass wir auch hier im Wald campieren?“
 

„Wenn Black*Star weiterhin da oben rumturnt, finden die das sicher heraus“, antwortete Jacqueline mit säuerlichem Unterton.
 

„Ich will mir nur einen besseren Überblick verschaffen“, erklärte der Meister, der gerade die ausladenden Äste einer hohen Eiche erklomm und, trotz seiner sonst sehr lauten Art, kaum ein Geräusch macht. Dabei beobachteten seine Augen aufmerksam den Himmel über uns.
 

Ich folgte seinem Blick. Und erschrak als vor den gewundenen Lichtern zwei dunkle Gestalten auf langen Besen auftauchten.

„Sie entdecken uns“, zischte Adrian panisch, doch er hatte Unrecht: Die beiden Frauen suchten zwar mit wachsamen Blicken den Waldboden ab, aber etwas Anderes erregte ihre Aufmerksamkeit.
 

Eine von ihnen deutete mit dem Finger nach unten einige Meter rechts von unserem Platz und als ich sah, was – oder besser wen – sie da entdeckt hatten, liefen Kim und ich gleichzeitig los.
 

„Da sind noch mehr!“, rief eine der Hexen über uns. Ihre Stimme ließ meinen Puls in die Höhe schießen.
 

Shitshitshit! Was zur Hölle machen die hier? Was zur Hölle machen wir hier?
 

Erschrocken sah Raphael uns an, als wir bei ihm ankamen. Obwohl er immer so gefasst und ruhig war, zitterte Cordelia in seiner rechten Hand.
 

Energisch zog Kim am Ärmel seines Shirts. „Komm!“, wollte sie rufen, doch eine Explosion hinter uns übertönte ihr Wort. Gewaltsam wurde ich von der Druckwelle von den Füßen gerissen, nur um im nächsten Moment wieder nach oben gezogen und davongeschleppt zu werden.
 

„Weg hier!“, rief Raphael, der mich am Ellenbogen gepackt hatte und zügig hinter sich her schleifte.
 

Fest umklammerten meine Finger Adrians Holzgriff. „Wir sollen bei den anderen bleiben. Sonst finden wir nicht mehr zurück.“

Schwer atmend hielt der Meister inne und sah sich um. Von Black*Star und Kim fehlte jede Spur. Stattdessen blitzte uns ein schmales, giftgrünes Augenpaar in der Dunkelheit an.
 

Eine hypnotische Stimme säuselte: „Hier geblieben, Lämmchen.“
 

Die Augen verschwanden in einem Augenblick und tauchten im nächsten wieder direkt über mir auch. Ein Schrei schnürte mir die Kehle zu, als der kräftige Körper der Hexe zu Boden fiel und mich unter sich begrub.
 

Ooh, du bist ja ganz ansehnlich. Ich mag deine roten Haare.“ Sie grinste diabolisch und präsentierte dabei eine glänzende Reihe spitzer Reißzähne. „Aber die meiner Liebhaberin sind schöner.“
 

Direkt über meiner Brust baumelte ein silberner Anhänger von einer dezenten Kette, die sie um ihren Hals trug: ein Puzzleteil, von dem ich wusste, dass es auf der Rückseite eine Gravur hatte, weil ich es schon dutzende Male woanders aus der Nähe gesehen hatte.
 

Ich umschloss den Anhänger mit meiner Faust und zog daran, bis die Kette nachgab. Gleichzeitig rammte ich der Hexe mein Knie in den Magen und schlug ihr Adrians Griff hart gegen die Schläfe. Von der Seite kam Raphael. Mit seinem gesamten Gewicht warf er sich gegen ihren Körper und stieß sie so von mir herunter.
 

Ich sah noch, wie sie leicht benommen hin und her taumelte, dann sprang ich auf und lief so schnell ich konnte. Meine Füße wichen zersplitterten Ästen, Sträuchern und Unebenheiten aus und ich sprang durchs Dickicht wie ein Kaninchen über ein Feld, Raphaels Rücken immer im Blick.
 

„Hinter dir!“, schallte Adrians Stimme in meinem Kopf, kurz bevor ich hart an der Schulter getroffen wurde. Diesmal wurde ich nicht niedergerissen, doch die Waffe glitt mir aus der Hand und an ihre Stelle traten Adrians zitternde Finger, die meinen Unterarm fest umklammert hielten. Seine andere Hand war mit fünf scharfen Klingen besetzt, mit denen er nach der Hexe schlug, als wären es Krallen. Er traf sie nicht, aber sie musste zumindest soweit zurückweichen, dass wir uns umdrehen und weglaufen konnten.
 

Adrian verwandelte sich wieder in die unbrauchbare Waffe. Der Griff pulsierte leicht im Takt seines rasenden Herzens, während seine aufgeregten Seelenwellen mich durchfluteten und meinen Puls beschleunigten. Seine Panik machte es mir kaum möglich, mich zu konzentrieren.
 

„Reiß dich zusammen“, zischte ich und wich einem Busch aus.
 

„Ich versuch’s ja!“
 

Probeweise schickte ich meine Seelenwellen durch meinen Partner hindurch. Nichts tat weh, nichts blutete. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie seine Klinge dunkel aufflackerte und da fiel mir ein, was ich vor einigen Wochen in einem Lehrbuch gelesen hatte: wie Meister dazu in der Lage waren, die Form ihrer Waffe zu bestimmen.
 

Cordelia konnte die Bewegungen ihres Partners lenken. Das sollte umgekehrt also genauso funktionieren.
 

Schnelle Schritte hinter uns verrieten, dass die Hexe uns dicht auf den Fersen war.
 

„Weglaufen bringt nichts“, meinte Cordelia. „Sonst verirren wir uns nur noch mehr. Und ins Camp können wir die Hexe nicht führen.“
 

Mit Schrecken erkannte ich, dass sie recht hatte. Als hätte das Schicksal uns gehört, liefen wir direkt auf eine hohe, glatte Felswand zu.
 

Gefasst sprach ich: „Adrian, du musst scharf werden. Jetzt.“
 

„Ich versuch’s ja“, wiederholte Adrian mit einem unüberhörbaren Zittern in der Stimme.
 

Wieder leitete ich meine Seelenwelle zu ihm, wieder bekam ich nur ein Flackern der Klinge.
 

Zu wenig.
 

Das hohe Kichern der Hexe übertönte die Geräusche des Waldes, als sie bei uns ankam und erkannte, dass wir mit dem Rücken zur Wand standen. Raphael und ich nickten uns kurz zu, dann gingen wir in Kampfposition und preschten zeitgleich nach vorne.
 

Mit jedem schnellen Schritt, den ich tat, bekam Adrian meine Seelenwellen, auf dass er sie gefälligst verstärkte, wie es eine Waffe nun mal tat.
 

Fast geriet ich ins Stolpern, als ich einen Blick nach unten riskierte: Die Waffe war scharf, spitz und schwarz wie die Nacht auf einem Friedhof. Auf der glänzenden Oberfläche der Klinge spiegelte sich Adrians verzerrtes Gesicht.
 

Da muss er jetzt durch, dachte ich und holte zum ersten Hieb aus. Gleichzeitig kam Raphael von der anderen Seite und zielte auf die Beine der Hexe. Sein Messer traf ins Leere, meines streifte ihren Oberarm und hinterließ eine blutende Wunde.
 

Die Klinge flackerte wieder auf. Ein Zischen kam von Adrian, während ein unangenehmer Schmerz meinen rechten Arm durchzuckte und an meinen Gelenken zerrte.
 

„Mach nicht schlapp, Straßenjunge“, fauchte ich ihn an und bereitete meinen nächsten Schlag vor.
 

„Valerie!“ Adrians ruf drang bis tief in meine Knochen. „Hör auf!“ Der Schmerz aus meinem Arm, der vorher nicht mehr als ein Ziehen war, fuhr in meine Wirbelsäule und lähmte meinen gesamten Körper.
 

Als mich nur die bloße Kraft in den Beinen davon abhielt zusammenzusacken, hielt die Hexe in ihrer Bewegung inne und richtete ihren Blick auf den Himmel. Die grünen Schleier hatten nun ein leuchtendes Orange angenommen. Ein Signal. Sie kommunizierten darüber.
 

„Glück für euch, Lämmchen“, zischelte sie breit grinsend, behielt uns noch einige Augenblicke im Auge und verschwand schließlich mit langsamen Schritten rückwärts in die Dunkelheit hinter ihr.
 

Einen stillen Moment lang sahen Raphael und ich uns an. Dann brach die nächste Welle über mich herein. Das Ziehen in meinem Rücken zwang mich stöhnend in die Knie.
 

„Mach sowas nie wieder!“, schrie Adrian mich an, nachdem er sich kurzerhand verwandelt hatte. Dabei nutzte er unseren Größenunterschied zu seinem Vorteil aus und blitzte mich wütend von oben herab an. „Hör auf, mich ständig zu so einem Scheiß zu zwingen! Ich kann schlichtweg noch nicht so gut kämpfen wie andere und das hab ich dir auch gesagt. Sicherlich hast du hohe Erwartungen an mich oder an dich oder an wen auch immer, aber ich kann es schlichtweg nicht. Akzeptier das.“
 

Der Schmerz war in dem Moment verflogen, in dem Adrian wieder die menschliche Gestalt angenommen hatten. Doch an seine Stelle trat nun ein furchtbar flaues Gefühl in meinem Magen.
 

„Wessen Idee war es denn zu kämpfen?“, presste ich hervor, stand wieder auf und schob mich an der Waffe vorbei.
 

Cordelia hatte nur die Arme vor der Brust verschränkt und schien sich keiner Schuld bewusst zu sein. „Wer sagt, dass ich euch gemeinte habe? Dass ihr das vermasselt, war doch von vorneherein klar. Mal ganz abgesehen davon, dass dein Partner uns alle mit dieser Hör-auf-mich-als-Waffe-zu-benutzen-Aktion umgebracht hätte, wäre die Hexe nicht abgezogen.“
 

Sie hatte Recht. Trotzdem überkam mich das Bedürfnis, ihr mit der blanken Faust ins Gesicht zu schlagen. Ich tat sogar schon die ersten Schritte auf dem Weg der Befriedigung, doch Adrian hielt mich am Kragen meines Pullovers fest.
 

„Und wie finden wir jetzt zurück?“, fragte er gefasst, doch ich spürte durch seinen Griff immer noch das Zittern. „Hat jemand eine Taschenlampe.“
 

„Ich hab mein Handy dabei.“ Raphael kramte in seiner Hosentasche, drückte kurz die Knöpfe auf seinem Handy und seufzte dann: „Akku leer. Weil ein bestimmter Jemand die ganze Busfahrt über darauf Musikhören musste.“
 

„Hey, aua!“, kam es von seiner Partnerin, als er ihren Oberarm boxte.
 

Laute Rufe schallten durch die Baumkronen: „Hey! Valerie!“ Es war Black*Star, der wohl ganz in der Nähe sein musste.
 

„Wir sind hier!“, antwortete ich.
 

„Wo denn?“
 

„Im Wald!“
 

„Tolle Ortsbeschreibung“, kommentierte Cordelia.
 

Ein Rascheln gefolgt vom Lichtkegel einer Taschenlampe nahm unsere Aufmerksamkeit ein. Kurz darauf kamen Jacqueline, Kim und Tsubaki aus dem Gebüsch.
 

„Alles okay bei euch?“, fragte Letztere besorgt und beäugte uns im weißen Licht. Bei Raphael blieb sie hängen. „Was hattet ihr hier draußen eigentlich zu suchen?“
 

„Da waren diese Geräusche, eine Art Summen. Und dann diese Lichter am Himmel. Ich wollte wissen, was das ist. Die da“, er deutete mit dem Finger auf Cordelia neben sich, „ist mitgekommen, weil sie an mir klebt wie eine Klette.“
 

„Bitte?!“, empörte sich die Waffe laut. „Irgendeiner muss doch auf deinen leichtsinnigen Hintern aufpassen, schließlich ist das mein Job!“ Wütend wandte sie sich zu mir. „Wieso wart ihr überhaupt draußen?“
 

Ich wollte gerade entgegnen, dass wir im Gegensatz zu ihnen Erlaubnis hatten, als Black*Star krachend mit einem blauen Knicklicht in der Hand aus einem Gebüsch stolperte.
 

„Dieses Ding bringt überhaupt gar nichts“, beschwerte er sich. Schwungvoll zeigte er mit dem blass leuchtenden Stab auf Raphael. „Was hattet ihr bei den Hexen zu suchen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, deutete er auf mich. „Warum bist du nicht bei mir geblieben? Das war verdammt gefährlich. Aber ihr jungen Dinger habt Glück, dass ich, der großartige Black*Star, die Situation voll im Griff hatte!“ Black*Star brach in tobendes Gelächter aus. Kim verdrehte unmissverständlich die blauen Augen.
 

„Wir müssen morgen früh das Camp räumen“, verkündete die Meisterin.
 

„Was?“, rief Adrian aus. „Warum das denn?“
 

„Das ist doch logisch“, keifte ich ihn an. „Wenn wir deren Aufenthaltsort wissen, müssen wir davon ausgehen, dass sie unseren auch kennen, was die ganzen Neulinge in Gefahr bringen würde. Vor allem, weil wir nur die aus der EAT dabei haben und keinen Lehrer.“
 

„Was heißt hier nur?!“, kam es von Black*Star aus dem Hintergrund. Doch er wurde ignoriert.
 

Wieder baute Adrian sich vor mir auf und knurrte böse: „Dann entschuldige bitte meine Unwissenheit und Unerfahrenheit, Meister. Das ist im Übrigen nicht die einzige Entschuldigung, die dir mal gut tun würde.“ Ein herausfordernder Ärger funkelte in seinen dunklen Augen.
 

Ich reckte das Kinn nach oben und hielt seinem Blick stand. „Wenn du mir irgendwas zu sagen hast, Waffe, dann sag es mir ins Gesicht.“
 

Dieser Idiot von einem Partner sah so aus, als wolle er mich jeden Augenblick anspringen und durch den Wald schleudern. Sollte der Schwächling es doch versuchen! So wie der auf den Stufen der Shibusen geschnaubt hatten, kriegte er mich wahrscheinlich nicht mal vom Boden hoch.
 

„Jetzt beruhigt euch mal wieder“, ging Kim dazwischen. „Wir haben mit der Leiterin des Hexencamps verhandelt. Sie ziehen sich zurück, wenn wir uns zurückziehen. Also ist alles in Ordnung.“
 

Der Ausdruck ließ mich schnauben. Das konnte man wohl kaum als in Ordnung bezeichnen.
 

„Falls ihr euch allerdings so dringend mit einer Hexe messen wollt“, fuhr sie fort und ließ ihr Fingerknöchel bedrohlich knacken.
 

„Lass den Blödsinn, Kim“, unterbrach ihre Waffe sie. „Komm, gehen wir zurück.“
 

Mit einer Taschenlampe ging Jacqueline voran durchs Dickicht und wir folgten ihr. Black*Star und Tsubaki bildeten das Schlusslicht. Die Sterne über uns verblassten langsam, das allererste Vogelgezwitscher begrüßte den Samstagmorgen und frühmorgendlicher Nebel zog seine Bahnen über den Waldboden. Adrian behielt auf dem gesamten Rückweg eine ordentliche Distanz zu mir, während ich immer wieder versuchte, seinen Blick einzufangen und mich dabei fragte, was heute so schrecklich

schiefgegangen war.
 

Kurz nach Sonnenaufgang wurden die Schüler planmäßig geweckt und über die Lage informiert. Als man als Grund für den Abbruch allerdings einen Bärenangriff nannte, war die anfängliche Enttäuschung Schrecken und Erleichterung gewichen, denn niemand wollte der Gefahr eines wilden Tieres ausgesetzt sein. Wie sie wohl auf die Hexen reagiert hätten?
 

Adrian beschloss, unser Zelt alleine abzubauen. Genauer gesagt hatte er mich abkommandiert. Also verbrachte ich den Morgen nach dem Frühstück größtenteils auf einer lackierten Holzbank, wo ich mit einer Wasserflasche gegen eine immer wieder aufkommende Übelkeit ankämpfte. Als wir gegen Mittag wieder in den Bus stiegen und die Heimreise antraten, war sie fast verschwunden.
 

Ich ließ Adrian am Fenster sitzen, auch wenn das wohl kaum eine Wiedergutmachung war. Kurz vor Fahrtantritt bat er mich allerdings darum, ihn wieder rauszulassen.
 

„Wo willst du hin?“, fragte ich ihn und klang dabei wie ein weinerliches Kind, das nicht verlassen werden wollte.
 

„Mich woanders hinsetzen“, antwortete er und verschwand im Gang.
 

Für einen kurzen Augenblick war ich sprachlos. Dann entglitt mir jegliche Luft zum Atmen.
 

Woandershin woandershin woandershin.
 

Seine Worte kratzten wie scharfe Klingen in meiner Brust und schnürten mir die Lunge zu. Mein Herz schien gleichzeitig zu rasen und stehen zu bleiben, während ich mit aller Macht gegen das Schluchzen in meiner Kehle ankämpfte, damit es nicht nach draußen gelang.
 

Er wird gehen, schallte es in meinem Kopf, doch es war nicht meine Stimme, sondern die meiner Schwester. Du hast es wieder vermasselt und er wird gehen. Versager.
 

Ich schob mich auf den freien Sitz am Fenster, legte den Kopf zwischen die Knie und konzentrierte mich auf den Boden. Gerade als die erste Träne über meine Wange lief, spürte ich die Wärme eines Anderen, der sich neben mich setzte. Hoffnungsvoll sah ich auf. Es war nur Black*Star.
 

„Na na“, machte er und strich mir herzlich über den Rücken. „Dass ihr Mädchen immer gleich weinen müsst.“
 

„Ich wein gar nicht“; beteuerte ich schniefend, während ich die Beine wieder anwinkelte und das Gesicht in die Oberschenkel vergrub.
 

„Natürlich nicht.“
 

Er kramte irgendwas Knisterndes hervor und hielt mir kurz darauf eine frisch geöffnete Tüte Gummibärchen entgegen. Ich sah nur kurz auf, um mir ein grünes herauszufischen, dann gab ich mich wieder meiner Misere hin.
 

„Weißt du“, sprach Black*Star nach wenigen Augenblicken. „Als Meister trägst du die Verantwortung.“
 

„Mhh“, brummte ich zurück.
 

„Das klingt nicht sehr einsichtig.“
 

„Doch. Ich sehe ein, dass ich einen Fehler gemacht habe und zu ungeduldig gewesen bin. Deshalb ist es allein meine Schuld, dass Adrian sich jemand anderen suchen wird.“
 

Die Realität laut auszusprechen machte sie noch endgültiger. Vielleicht tat sie auch nur so weh, weil ich es diesmal gewagt hatte, mir Hoffnungen zu machen.
 

„Meinst du?“ Black*Star kaute nachdenklich auf ein paar Gummibärchen herum. „Ich hatte den Eindruck, dass er einen Narren an dir gefressen hat.“
 

Ich wollte erwidern, dass das doch Quatsch sei und dass es schlichtweg keine Waffe für mich gab. Doch der Kloß in meinem

Hals ließ mich nur langsam den Kopf schütteln.

Puzzle


 

Kapitel 15: Puzzle
 


 

Adrian
 

Alles schien mir wehzutun. Obwohl ich heute praktisch gesehen einen Fortschritt gemacht hatte. Aber warum fühlte ich mich

dann so, als wäre ich von einem Lastwagen überfahren worden?
 

Stöhnend ließ ich mich neben Tsubaki in den Sitz fallen, nachdem diese ihren Meister sozusagen verscheucht hatte.
 

„Du hörst dich an, wie ein alter Mann“, meinte sie kichernd, doch ihr Blick ruhte nachdenklich auf mir. „Was ist passiert?“
 

Kurz überlegte ich, zu schweigen und die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen. Dann entschied ich mich doch dagegen. „Ich war scharf. Richtig messerscharf.“ Als ich sah, wie sich ein stolzes, kleines Lächeln auf ihren Lippen bildete, ergänzte ich: „Aber es war … furchtbar. Ich hab das nicht kontrolliert, sie war es. Sie war“, ich griff mit den Händen in die Luft, in der Hoffnung die richtigen Worte packen zu können, „in meinem Kopf.“
 

Tsubaki nickte, als wüsste sie wovon ich sprach. Aber irgendwie fühlte ich mich dennoch nicht verstanden.
 

Seufzend drückte ich den Kopf gegen die Nackenlehne des Bussitzes und schloss für einen Moment die Augen. Mein Schädel fühlte sich an, als würde er jeden Augenblick explodieren. „Bitte sag mir, dass das nicht normal ist.“
 

„Na ja.“ Die andere Waffe rutschte unsicher auf ihrem Sitz hin und her und ich befürchtete schon das Schlimmste. „Natürlich beeinflussen Partner sich auf eine bestimmte Art und Weise, allerdings… wie erklär ich das denn jetzt am besten?“ Überlegend kaute sie auf dem Nagel ihres Daumens herum und murmelte dabei vor sich hin.
 

„Also, es ist ja so“, begann sie von neuem. „Seelenwellen sind eine unglaublich mächtige Waffe. Aber die meisten Menschen sind nicht dazu in der Lage, ihre Macht nach außen zu tragen, weshalb sie Waffen wie uns als eine Art Ventil … oder Verstärker benutzen. Weißt du, wie ich das meine?“
 

„Nein“, antwortete ich direkt. Vielleicht würde das für mich mehr Sinn ergeben, wenn ich mir eines der Schulbücher, die ich diese Woche bekommen hatte, näher angesehen hätte.
 

„Hmm“, macht Tsubaki nachdenklich. „Stell dir vor, der Meister ist ein Musikinstrument und die Waffe ist der Lautsprecher. Alleine spielt ein Instrument nur eine kleine, leise Melodie, aber mit einem Verstärker wird sie groß und laut. Und genauso funktioniert das mit den Seelenwellen. Du verstärkst sie.“
 

Ich nickte zum Verständnis. „Sowas hab ich noch nie vorher gemacht. Ist das… schwer?“
 

Tsubaki stutzte kurz, dann lächelte sie sanft. „Nicht mit dem richtigen Partner.“ Für einen Moment schien das Gespräch beendet zu sein, dann fügte sie noch leise hinzu: „Miteinander reden hilft, weißt du?“
 

Ich musste einmal tief Luft holen, dann nickte ich und erwiderte: „Ja, aber ich kann da jetzt nicht hintergehen.“
 

„Wieso nicht?“
 

„Sie weint.“
 

„Tatsächlich?“ Tsubaki verrenkte sich, um sich auf dem Sitz zu drehen und über die Lehne nach hinten zu schauen. „Wie kommst du darauf? Ich seh‘ sie gar nicht.“
 

„Ich merk das. Irgendwie.“ Neugierig und mit offen stehendem Mund sah sie mich an. „Keine Ahnung wie ich das beschreiben soll. Können wir bitte aufhören, darüber zu reden?“
 

Für einen Moment schien sie sehr nachdenklich und auch ein wenig enttäuscht zu sein, dann verflog der Augenblick und sie fing an, in ihrem Rucksack zu kramen. Als sie das, was sie gesucht hatte, anscheinend nicht fand, drehte sie sich erneut um und rief wütend durch den Bus: „Black*Star, das waren meine Gummibärchen!“
 

„Wir sind Partner! Mein ist dein und dein ist mein“, rief Black*Star zurück, woraufhin seine Waffe aufsprang und ungeschickt über mich drüber in den Gang kletterte.
 

Der Busfahrer mahnte, dass man während der Fahrt nicht aufstehen sollte, doch man schenkte ihm kaum Beachtung. Wenige Sekunden später kam Tsubaki mit einer Handvoll bunter Gummibären zurück und meinte grummelnd: „Man kann vieles teilen, aber bei Süßigkeiten hört der Spaß auf.“
 

Ich ließ sie zu ihrem Sitz am Fenster durch und schnappte ihr dabei einen Bären weg, wofür ich böse angeblitzt wurde.

Schließlich meinte sie leise: „Sie weint wirklich.“ Nachdenklich musterte sie mich. „Woher wusstest du das?“
 

Kurz überlegte ich, doch dann stellte ich fest: Ich hatte keine Ahnung.
 

„Ich weiß nicht“, meinte ich schulterzuckend. „Ich … merk das einfach.“ Ihr Mund ging für einen Augenblick auf und zu wie bei einem Fisch. „Was? Ist das merkwürdig?“
 

„Mmh“, machte Tsubaki überlegend. „Nein, ich glaube nicht.“
 


 

~*~
 

Auf dem Weg nach Hause sprachen Valerie und ich kaum miteinander. Die Luft zwischen uns schien zum Schneiden dick zu sein. Auf meine Frage, ob wir heute noch etwas machen wollten, bekam ich nur ein stumpfes „Keine Ahnung.“
 

In der Wohnung angekommen, zog meine Meisterin sich sofort in ihr Zimmer zurück. Ich rechnete mit einem dramatischen Tür-zu-Knall, doch sie bewegte die Angeln ganz vorsichtig und schloss die Tür mit kaum einem Geräusch. Der Schlüssel blieb unbewegt draußen stecken.
 

Weil ich nichts Besseres mit mir anzufangen wusste, ließ ich mich rücklings aufs Bett fallen und durchlöcherte die weiße Decke mit meinem Blick. Irgendwas war schiefgelaufen.
 

Ob ich mich entschuldigen sollte? Immerhin hatte ich sie ziemlich übel angeschnauzt. Auf der anderen Seite sah ich diesmal meinen Fehler nicht ein. Schließlich hatte ich gar keinen gemacht.
 

Seufzend schwang ich mich wieder auf die Beine und lief ein paar Schritte durch den Raum. Hatte Valerie geweint, weil ich laut geworden war? Oder ärgerte sie sich nur über sich selbst? Dass ich mich im Bus weggesetzt hatte, hat vielleicht einen falschen Eindruck vermittelt. Kann gut sein, dass sie jetzt dachte, ich würde aus der Partnerschaft aussteigen wollen.
 

Na toll. Jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen. Aber entschuldigen würde ich mich trotzdem nicht.
 

Trotzig stand ich wieder auf, stopfte den Haustürschlüssel in meine Hosentasche und klopfte an die Nachbarstür.
 

Stille.
 

Ich klopfte noch einmal. Ein Rufen kam von drinnen: „Maka! Die Tür!“
 

„Mach selber auf, ich steh gerade am Herd!“
 

Schritte trampelten über den Flur auf der anderen Seite, dann ging die Tür auf und Soul stand in zerknitterten Jogginghosen darin.
 

„Seid ihr nicht in den Wald gefahren?“, fragte er verwundert.
 

„Ich glaub, ich hab meine Meisterin zum Weinen gebracht“, erwiderte ich nur. „Kann ich reinkommen?“
 

„Wir sind doch nicht der Kummerkasten“, schnaubte die Waffe genervt, trat dann aber beiseite, um mich hereinzulassen.
 

Am Ende des schmalen Flures tauchte Maka aus der Küche auf. „Was machst du denn hier?“ Ihr Blick betrachtete mich eingehend. Ich brachte kein Wort heraus. „Was ist passiert?“
 

In einem schnellen Zug leerte ich die Tasse, als ich mit meiner Erzählung fertig war. Der heiße Kaffee brannte mir in der Kehle, aber wenigsten spülte er den Klos in meinem Hals mit herunter.
 

„Da wird mir schon vom Zuhören schlecht“, kommentierte Soul mit verzogenem Gesicht und erntete dafür einen mahnenden Blick von seiner Meisterin.
 

Erwartungsvoll sah ich sie an. Kurz nippte Maka an ihrer eigenen Tasse und schien zu überlegen, doch dann meinte sie trocken:

„Ich hätte genauso gehandelt.“
 

„Was?“, rief ihre Waffe überrascht aus.
 

„Na überleg doch mal. Die Hexe hätte sie früher oder später eingeholt, wären sie weiter weggelaufen. Im schlimmsten Fall wären sie dann zu erschöpft gewesen, um ordentlich zu kämpfen, und hätten sich noch tiefer im Wald verlaufen. Raphael ist zwar stark, kann es alleine aber niemals mit einer Hexe aufnehmen. Hättest du ihn zurückgelassen und wärst weitergelaufen?“
 

Soul sah so aus, als wollte er noch etwas entgegen setzen, doch er blieb still.
 

„Die meisten Partner kämpfen allerdings erst ernsthaft, wenn sie schon eine Weile zusammen sind“, fuhr sie fort. „Außerdem bist du als Waffe noch ziemlich ungeübt.“
 

„Aber im Wald war ich scharf“, begehrte ich auf, als wäre das meine Errungenschaft gewesen.
 

„Und hast du dir gemerkt, wie du das gemacht hast?“
 

Ich schüttelte nur langsam den Kopf. „Ich glaube, ich war das gar nicht, sondern sie. Geht das?“
 

„Klar“, nickte Maka und erhob sich. „Deine Seele, die Waffenform, ist nichts anderes als dein menschlicher Körper. Andere können deine Bewegungen durch physische Kraft beeinflussen, wenn die stärker sind als du.“ Sie schnappte nach meiner Hand und zog mich mit Gewalt von der Couch. „Genauso kann deine Gestalt verändert werden. Ich könnte dir durch die Haare wuscheln oder dir ein blaues Auge verpassen.“
 

„Bitte nicht, das letzte Veilchen ist gerade erst verheilt.“
 

Sie kicherte leise über meinen Scherz. „Solche Veränderungen schränken dich allerdings in deiner Autonomie ein. Deshalb war dir das so unangenehm. Aber wie schon gesagt: Ich bin der Meinung, dass Valerie in der Situation die richtige Entscheidung getroffen hat.“
 

Soul schnaubte bei ihren Worten.
 

Einen Moment überlegte ich. „Ich soll mich also entschuldigen?“, war meine Schlussfolgerung.
 

„Ja“, bestimmte Maka.
 

„Nein“, warf Soul zeitgleich ein.
 

„Soul!“ Erstaunt sah die Meisterin ihre Waffe an.
 

Verärgert funkelte Soul zurück. „Vielleicht hat er sich im Ton vergriffen. Aber das macht Valerie auch ständig“, bemerkte er.

„Ich hab noch nie deine Bewegungen bestimmt und darüber kannst du froh sein. Du hast ja keine Ahnung, wie verdammt uncool es ist, wenn jemand derart an deiner Seele zerrt. Selbst wenn es die richtige Entscheidung war, dafür ist sie ihm was schuldig.“ Mit einer gewissen Endgültigkeit verschränkte er die Arme vor der Brust. „Wenn ihr etwas an dieser Partnerschaft liegt, soll sie sich auch darum bemühen.“
 

Fragend sah ich zwischen Soul und Maka hin und her. Irgendwie hatten sie beide Recht.
 

Schließlich seufzte die Meisterin tief. „Wir werden uns nicht in fremde Beziehungen einmischen. Adrian, ich begrüße es, dass du nach Rat suchst, aber solche Konflikte müsst ihr alleine lösen.“
 

Langsam nickte ich. Irgend kam ich mir nun wie ein kleiner Junge vor, der sich bei seinen Schulfreunden über seine strengen Eltern ausheulen musste.
 

„Okay“, sagte ich. „Ich geh dann besser. Danke, dass ihr euch die Zeit genommen habt.“
 

Maka lächelte freundliche und mit einem „Du kannst jederzeit vorbeikommen“, wurde ich verabschiedet.
 

Es war schon nach 17 Uhr, als ich wieder in Valeries Wohnung war. Sie war so still, dass ich schon die Befürchtung hatte, Valerie war gar nicht da.
 

Gerade als ich durch den Flur zu meinem Zimmer lief, ging ihre Tür auf.
 

„Hey“, grüßte sie mit heiser Stimme.
 

„Hey.“
 

Mehrerer Augenblicke lang standen wir uns einfach nur gegenüber und wussten nicht, was wir tun sollten. Dann trat Valerie vor, schloss die Arme um meinen Körper und umarmte mich fest.
 

Als ich behutsam meine Hand auf ihren Kopf legte, brach ein Schluchzen aus ihr heraus. „Bitte geh nicht.“
 

So etwas wie Genugtuung erfüllte mich und plötzlich war all der Ärger wie weggespült. Langsam strich ich über ihre roten Haare und schlang den anderen Arm um ihre Taille.
 

„Tut mir leid, wie ich mich verhalten habe“, weinte Valerie weiter.
 

„Ist schon okay“, beschwor ich sie.
 

„Nein, ist es nicht. Ich bin ein Idiot und das weiß ich auch.“
 

„Jeder ist irgendwann mal ein Idiot. Pass auf, wir brauchen Regeln“, schlug ich vor. Valerie sah völlig verheult zu mir rauf und nickte. „Gut. Keine Provokationen. Keine unnötigen Prügeleien mehr.“ Sie öffnete den Mund, wohl um zu protestieren, doch ich

legte meinen Finger auf ihre Lippen und unterbrach mit einem strengen „Nein“ jeden Einwand.
 

Doch das hielt sie natürlich nicht davon ab, etwas Dummes zu sagen: „Was ist mit nötigen Prügeleien?“
 

Mein Blick war Mahnung genug.
 

„Nur noch eine Sache, versprochen“, machte sie weiter. „Das muss nicht mal ´ne Prügelei werden. Komm mit.“ Sie schniefte einmal, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und lief dann in ihr Zimmer.
 

Ich ging ihr hinterher und zu meiner Überraschung war der Raum weniger unordentlich als ich vermutet hatte. Wenn man von dem Berg Klamotten auf dem Boden absah, der anscheinend zwischen Bett und Laminat hin und her wanderte.
 

„Schau mal.“ Valerie öffnete die Schublade an ihrem Nachttisch und zog eine Silberkette heraus. „Die gehört der Hexe. Sieh die mal den Anhänger an.“
 

Sie legte das dünne Puzzleteil in ihre Handfläche und dreht es herum. Auf der Rückseite waren in filigraner Schrift Initialen eingraviert.
 

„H. M.?", fragte ich.
 

„Heather Moon.“ Erwartungsvoll sah sie zu mir rauf. „Heather hat eine Kette mit exakt dem gleichen Anhänger. Die Hexe hat von einer Liebhaberin mit schönen Haaren geredet. Und ich weiß, dass Heather nicht hetero ist.“
 

Mir entglitt die Kinnlade, als der Groschen fiel. „Damit musst du zum Shinigami.“
 

„Nein.“
 

„Doch.“
 

„Nein!“, beharrte sie. „Heather und ihr Gefolgsleute schikanieren mich schon seit Jahren. Hiermit“, sie ließ den Anhänger demonstrativ vor meiner Nase baumeln, „hab ich endlich etwas gegen sie in der Hand.“
 

„Und wenn sich die Hexe die Kette zurückholen will?“, argumentierte ich. „Wenn du Heather eins auswischen willst, dann zieh sie doch mit ihrer Homosexualität auf.“
 

„Homophobie ist nicht cool, Adrian.“
 

Ich schnaubte genervt. Sie dachte mal wieder nur an sich und ihre Waghalsigkeit. „Und was willst du stattdessen tun?“
 

„Sie damit konfrontieren. Sie in eine Ecke drängen. Ihr klarmachen, dass dieses kleine Geheimnis nicht mehr ganz so geheim ist.“ Valerie wollte die Kette wieder weglegen, doch ich hielt sie mit meiner Hand auf ihrem Arm auf.
 

„Gib mir den Anhänger.“ Fragend sah sie mich an. „Ich will nicht, dass du einen Hexengegenstand bei dir trägst. Da könnte sonst was für ein Zauber drauf liegen.“
 

Eine ihrer feinen Augenbrauen hob sich missmutig. „Und weil du so eine großartige, erfahrene Waffe bist, bist du dafür natürlich besser geeignet. Schon klar.“ Sie schob das Schmuckstück zurück in den Schrank und knallte die Schublade zu.
 

An diesem Abend lag ich noch lange wach. Mein Wecker zeigte 00:23 an, als das leise Klingeln durch den Spalt meiner geöffneten Tür läutete.
 

Mit lautlosen Schritten lief Valerie durch die Wohnung. Das durch das Wohnzimmerfenster einfallende Mondlicht ließ ihre Haare wie einen fließenden Wasserfall über ihren Hinterkopf blutrot erstrahlen. Ich griff nach ihrer Schulter und drehte sie vorsichtig. Da sackte sie in sich zusammen. Ich hob sie hoch und sah in ihr völlig verschlafenes Gesicht.
 

„He, lass mich schlafen“, grummelte sie und kuschelte sich in meine Armbeuge.
 

Ich erwiderte darauf nichts, brachte sie nur in ihr Bett und legte mich wieder hin.
 

Noch zweimal stand Valerie in dieser Nacht auf. Erst als schon die ersten Sonnenstrahlen durch meine Gardinen schienen, fielen mir endgültig die Augen zu.
 


 

~*~
 

Wie Paukenschläge schallte unser gehetzter Atem von den hohen Mauern der engen Gasse wider. Schritte folgten uns wie ein unheilvolles Echo.
 

„Weiter“, schnaufte ich und zog Ina schneller hinter mir her. Ihre schmalen Beine hatten kaum die Kraft, um Schritt zu halten.
 

„Komm schon!“ Meine linke Hand umklammerte flehend ihren dünnen Unterarm, die rechte war geschmückt mit meinen eigenen Klingen.
 

Dann kam der Knall.
 

Baam!
 

Dann das Entsetzen.
 

BAAM!!
 

Augenblicklich wurde ich zurückgezogen, als das Mädchen zu Boden stürzte. „Ina!“, schrie ich auf, doch da war nicht Ina. Als ich mich umdrehte und auf den blutenden, erschossenen Körper sah, starrten mich nicht Inas grasgrüne Augen an sondern Valeries.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ähm ... hi.
Danke, dass du auf meine Geschichte Soulmate geklickt hast. Es freut mich, dass du dich dafür interessierst.
Updates kommen alle vier Wochen am letzten Tag des Monats. In der Klausurenzeit kann es zu Ausfällen kommen. Infos findet ihr hier. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein RIESEN Dankeschön an meinen Beta. Checkt mal seine Texte aus ;)

Das nächste Kapitel kommt am 30.11. Komplett anzeigen

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