Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 6: Ouvertüre: 2-3 ------------------------- 2-3: YURI Unter dem missbilligenden Blick des Polizisten, der ihn musterte wie ein verwahrlostes Tier, wurde Yuri langsam, aber sicher wütend. Seit der andere, zurückhaltendere Polizist leise aus dem Raum verschwunden war, hatte Anthony Green seinen Gefangenen nicht aus den Augen gelassen. »Glaubt ihr wirklich, ihr könnt mich hier festhalten?«, fragte Yuri. Green hob unbeeindruckt die Schultern. »Ich denke schon.« »Ich bin kein Verbrecher.« Im Gegenteil, dachte er missmutig. »Wer hat was von Verbrechen gesagt? Warten wir ab, bis das Thiopenthal wirkt.« Green lächelte ihn triumphierend an. Yuri wünschte, er hätte auch nur die geringste Ahnung, was ihm vorgeworfen wurde. Wer oder was war die SWR? Er fühlte seine Abneigung wachsen. In diesem Moment ging mit einem Quietschen, das genauso kalt klang, wie die Luft sich anfühlte, die Tür auf, und eine junge Frau, deren blondes Haar zu einem strengen Dutt geknotet war, trat ein. Auf ihrer Nase saß eine starke Brille, und auf dem Plastikschildchen, das in Brusthöhe auf ihrem weißen Kittel befestigt war, stand Dr. Phoebe Lockwood. »Was haben wir denn hier?«, fragte sie so unbeteiligt, als hätte ihr jemand ein verdrecktes, weinendes Kind vor die Tür gestellt. »Einen Gastarbeiter aus Kasachstan?« Green lachte auf. »Werden immer raffinierter, nicht wahr? Aber das werden wir schon nach und nach aus ihm rauskitzeln. Die erste Dosis, bitte.« »Autorisieren Sie mir das bloß korrekt. Ich darf mit dem Zeug nicht rumspielen.« »Ich unterschreibe alles, was Sie wollen, Phoebe.« Yuri wusste, dass er hier mit Überzeugungskraft nicht punkten konnte, auch nicht bei der Frau. Wenn ich in meinem Körper von 1913 stecke, dann sehe ich gerade aus wie ein zerschossener Psycho. Super. Noch einmal versuchte er, seine Hände aus den Handschellen zu winden. Mit den Fesselmethoden aus seiner eigenen Zeit hatte er kaum noch Probleme, er war des Öfteren gejagt und eingefangen worden und war inzwischen einigermaßen geübt darin, aus prekären Situationen zu entkommen. Doch diese engen, kalten Dinger hier waren unangenehm widerstandsfähig. »Wie Sie meinen.« Die Ärztin öffnete mit feingliedrigen, manikürten Fingern ein schwarzes Täschchen und entnahm ihr diverse kleine Verpackungen, dann ein Fläschchen mit Schraubverschluss und wasserklarem Inhalt. Abschätzend glitt ihr Blick über Yuri, der zähneknirschend immer ungeduldiger an den Handschellen zu zerren begann. »Hmm … Schätzen wir mal das Körpergewicht …« Yuri starrte sie unverwandt an. Ihm war jetzt kalt am ganzen Körper. Dieser ganze Raum schien Wärme aufzusaugen. »Ich kann Ihnen nichts anderes sagen!«, machte er seiner wachsenden Verzweiflung Luft. »Nichts! Ich komme von 1915, ich – ich bin kein Terrorist!« »… Mehr als hundertfünfzig Pfund werden das nicht sein …« Seinem Protest keinerlei Beachtung schenkend steckte sie die Nadel auf die Ampulle und zog in aller Ruhe die Spritze auf. Yuri verstand diese Welt immer weniger. Was hatten diese Leute mit ihm vor? Er kannte Folter, er war bereits mehrfach wie ein Monster gejagt worden, und jedes Mal erfüllte die Aussicht darauf ihn aufs Neue mit Angst, obgleich er mit seiner verborgenen Stärke nichts zu befürchten hatte, nicht wirklich … Doch die dunklen Erinnerungen ließen sich, einmal wachgerüttelt, nur sehr schwer wieder in die Ketten der Vernunft legen. Ein letztes Mal versuchte er es noch. »Ich bin …«, sagte er betont ruhig und unterdrückte das Zittern seiner Stimme, »… kein Spion. Ich wurde 1889 geboren …« »Verarsch mich nicht!«, bellte Green dazwischen, und seine Faust schlug dröhnend auf dem Metalltisch auf. »Die Nummer kaufe ich nicht, Mann, kapierst du das nicht?« »Seht doch in meinen Papieren nach!« Der rettende Einfall war Yuri ganz spontan gekommen, und jetzt fühlte er sich augenblicklich sehr viel sicherer. Das Gefühl verstärkte sich noch, als die Ärztin neben ihm mit verblüfftem Blick die gefüllte Spritze sinken ließ. »Ach, wir haben Papiere?« Greens Brauen sanken so tief herab, dass seine Augen nur noch schmale Schlitze waren. »Die Mühe macht ihr euch also noch?« Er stand auf, ging um den Tisch herum und schlug grob Yuris Mantel über der Hüfte zurück, um in die abgewetzte Gürteltasche greifen zu können. Yuri ließ ihn gewähren. Viel gab es dort ja nicht zu holen. Green zog einen kleinen Baumwollbeutel heraus und warf ihn auf den Tisch, dann wühlte er weiter, fand ein paar Münzen aus England – zwei Pennies, zehn Schilling und ein Pfund Sterling –, und förderte schließlich das kleine Ledermäppchen zutage, das nichts enthielt außer einem knittrigen gefalteten Papier. Er gluckste amüsiert. »Ist das ein Reisepass? Welche Sprache ist das? Ah – so, von 1913? Und was für ein Behördenstempel soll das bitte sein?« »Manchurei, China«, antwortete Yuri wahrheitsgemäß. Er hoffte inständig, den starrsinnigen Polizisten endlich überzeugt zu haben. »Kann ich jetzt bitte befreit werden?« Anthony Green kehrte an seinen Platz zurück und setzte sich ihm wieder gegenüber, mit demselben undurchsichtigen Lächeln und immer noch Yuris Papiere in den Händen hin und her drehend. »Eine beeindruckende Fälschung. Gut gemacht, wirklich. Nur leider weiß jeder, dass man vor dem ersten Weltkrieg auch mit einem chinesischen Pass nicht ohne Probleme ins böhmische Tschechien einreisen konnte.« Triumphierend tippte er auf einen der Einreisestempel auf der Rückseite. Scheiße, dachte Yuri. Er hatte an so vieles nicht gedacht. Warum war das alles nur so anstrengend? Er hatte nicht vorgehabt, so viele Karten auf den Tisch zu legen, doch es schien, als käme er hier nicht so ohne Weiteres heraus. »Ich war mit einer Spionin unterwegs. Margarete Gertrude Zelle.« Er hoffte, Margaretes Name würde in dieser Zeit irgendeinen Nachhall verursachen. Schließlich war sie schon damals eine Berühmtheit gewesen. Doch wieder war Greens Reaktion nicht wie erwartet. Er und Lockwood tauschten erst einen ungläubigen Blick, dann brachen sie synchron in lautes Gelächter aus. »Er meint Mata Hari!«, kicherte die Ärztin. Green schüttelte belustigt den Kopf. »Da hast du dir aber eine schöne Geschichte zusammengereimt, Freundchen. Aber wenn man Geschichten erfindet, sollte man darauf achten, dass sie nicht zu abgedroschen klingen, weißt du? Sonst enttarnt man sich schneller, als einem lieb ist.« Noch einmal lachte er vergnügt vor sich hin, dann wurde seine Miene schlagartig wieder ernst. »Doktor? Los jetzt, rein mit dem Zeug. Ich bin gespannt, was noch so aus dem rauskommt.« Als Yuri die gleichgültig dreinschauende Ärztin sich ihm nähern fühlte, entschied er, dass der Spaß vorbei war. Drohend sagte er: »Wenn ihr mich nicht in Ruhe lasst, werde ich ungemütlich.« Green zuckte nur die Schultern. »Na los, dann werd ungemütlich. Thiopenthal ist nicht das Einzige, das wir vorrätig haben, da sind noch andere kleine Wundermittelchen, die dich in ein Bündel labberige Reisnudeln verwandeln.« »Ich warne euch«, knurrte Yuri. Dieses respektlose Verhör würde er keine Minute länger über sich ergehen lassen. Der Polizist rollte die Augen. »Du hältst dich also für einen ganz harten Brocken. Smith?« Er nickte zur Tür, die sich hinter Yuri befand, und der schweigsame Kollege Greens betrat wieder den Raum. »Halt ihn mal fest.« Yuri hörte den Mann an sich herantreten. Er machte sich steif und lauerte. Na komm. Als Smith’ Finger seine Handgelenke berührten, stieß er sich mit den Fußspitzen hart vom Boden ab, sodass der Stuhl, auf dem er saß, polternd nach hinten überfiel. Yuri überschlug sich, landete auf den Füßen und duckte sich, als der plumpe Polizist nach vorne und beinahe auf ihn fiel. Im gleichen Moment sprang Green auf, als säße er in einem Schleudersitz, warf sich über den Tisch und auf Yuri, der in dem kleinen Verhörzimmer nicht ausweichen konnte. Noch immer waren seine Hände auf den Rücken gefesselt, und aus den Augenwinkeln sah er die Ärztin angewidert den Kopf schütteln und erneut das Fläschchen auspacken. Yuri trat Green etwas unbeholfen in den Bauch, was diesen gegen den Tisch prallen und auch dieses Möbelstück zu Boden reißen ließ, dann legten sich Smith’ Arme um seine Brust. Das Gewicht des anderen drückte Yuri nieder und er spürte, wie sich das Knie des Mannes in seine Lendenwirbelsäule bohrte. Der spitze Schmerz entlockte ihm einen kurzen Aufschrei, mehr aus Zorn denn Verzweiflung. Dann war auch noch flink wie ein Frettchen Dr. Lockwood neben ihm. Es folgten der Einstich in die Schulter und der schmerzhafte Druck, als sie ihm das Mittel so schnell wie möglich in den Muskel presste, dann ließen – zu Yuris Überraschung – alle gleichzeitig von ihm ab. »Weg von ihm«, befahl die schneidende Stimme der Frau, wenn auch keinerlei Aufregung darin zu hören war. »Einfach liegen lassen Der ist entschärft. Zwanzig Sekunden, dann setzen wir ihn wieder hin.« Yuri spürte, wie eine Welle von Schwindel und Übelkeit ihn von den Zehenspitzen bis zum Scheitel überrollte. Alle Kraft schien ihn plötzlich zu verlassen. Er blieb flach auf dem Bauch liegen, ein bitteres, verdorbenes Aroma auf der Zunge schmeckend. Vor seinen halbgeschlossenen Augen waberte der Raum bläulich und schattenhaft. Er hörte Green ächzen und sich aufrappeln. Zwei Arme packten ihn, zogen seine schlaffe Gestalt hoch und hievten sie zurück auf den Stuhl, der nun wieder gerade stand. Yuri hatte das Gefühl, gleich erneut mit dem Sitzmöbel umzufallen, und lehnte sich schwer zur rechten Seite, bis er dort den Widerstand von Händen spürte. »Das war gute Teamarbeit.« »Und den Beweis für eine fundierte Nahkampfausbildung haben wir auch. So viel zu der Ausrede.« Nur langsam ließ das Kreiseln und Flattern hinter Yuris Stirn wieder nach. Der ekelhafte Geschmack blieb, und er bemühte sich nach Kräften, nicht daran zu würgen. Sein Nacken fühlte sich von verdunstender Feuchtigkeit kalt an. »So, mein japanischer Zeitreisender mit chinesischem Pass, russischem Namen und britischem Geld. Haben wir uns jetzt wieder eingekriegt und sind bereit, ein bisschen mehr zu erzählen?« Yuri sah Greens Hände, die sich vor ihm auf dem Tisch unruhig bewegten. Es schien unendlich lange zu dauern, bis seine Zunge reagierte, doch schließlich antwortete er schleppend: »Chkannich mehr erzälhn.« »Wir sind nicht die Bösen, weißt du. Das Thiopenthal wird dir keinen langfristigen Schaden zufügen. Mach uns die Sache nicht so schwer. Wer bist du wirklich?« »Ich …« Yuri musste plötzlich gegen so viel zähe Spucke im Mund ankämpfen, dass es kaum möglich war, zwischen den dicht aufeinander folgenden Schlucken noch Worte herauszubringen. »Hörauf, Mann … Chab die Welt gerettet. Zzzzzzwei…mal. Unch bin in der Zukumpft unkeiner weises.« Nicht dass er jemals scharf darauf gewesen wäre, berühmt zu sein. Aber jetzt hätte es ihm weiterhelfen können, verdammt. Green seufzte, aber darunter wirkte er noch immer belustigt. »Nein, tut mir Leid, ich hab deinen Namen noch nie gehört. Wie hast du denn die Welt gerettet?« »Na, chab den … diesn irrn …« Was?, brach ein erschütterter Gedanke sich Bahn. Was erzähl ich denn hier? Drogen … Muss mich konzentrieren …! »… nix, nix Wichties.« Er musste sich unbedingt zusammenreißen, seine Gedanken beieinanderhalten. Seine Muskeln mochten nur lahm reagieren, doch das durfte nicht bedeuten, dass auch sein Geist sich einlullen ließ von diesem Gefühl des sanften Schaukelns. »Wo hast du den Pass her?«, fuhr Green freundlich fort. Zu seinen Seiten standen noch immer Smith und Lockwood und starrten Yuri an wie ein Experiment in der Entwicklung. »Fengtian … Da wurder ausgeschdellt.« »Wann?« »Vor fas hundert Jahrn, hehe …« Er konnte einfach nicht die Klappe halten, das Medikament regte ihn unaufhaltsam zum Reden an. Er spürte das Verlangen, seine Lebensgeschichte vor diesen wildfremden Menschen auszubreiten, und rang mühsam um Beherrschung. Green indes verlor ein weiteres Mal die Geduld. »Lockwood, nächste Dosis. Das ist ja zum Kotzen hier, irgendwann wird ja wohl mal Feierabend sein mit der Lügerei!« »Sie wissen«, verwies die Ärztin emotionslos, während sie erneut die Ampulle aufzog, »dass das Zeug kein Wahrheitsserum ist, Green. Es zwingt den Verhörten nicht, die Wahrheit zu sagen, sondern macht ihn nur etwas gesprächiger.« Genau, dachte Yuri verwirrt und erinnerte sich, dass Margarete einmal darüber gesprochen hatte. Es gab keine Wahrheitsdrogen, es gab nur solche, die das Urteilsvermögen beeinträchtigten und die Hemmschwelle senkten. Dass er selbst einmal Opfer einer solchen Prozedur werden würde, wäre ihm damals nicht mal im Traum eingefallen. »Die Wahrheit müssen Sie unter all dem Unsinn, der aus ihm rauskommt, schon selbst freischaufeln«, sagte Lockwood. »Viel Spaß damit.« Und sie setzte die zweite Spritze an. Dieses Mal machte Yuri nur eine halbherzige Abwehrbewegung, als der Einstich kam. Ein zweites Mal das Gefühl des Zusammenfallens, ein zweites Mal das kurzzeitige Versinken in Schwärze, bis sein Geist sich zurück an die Oberfläche gerudert hatte; ein zweites Mal der Geschmack nach Verrottendem und das Aufkeimen von Übelkeit, das er mit einem gequälten Stöhnen quittierte. Dann, als er wieder sehen und seinen Körper wahrnehmen konnte, merkte er, dass ihm ein dünner Speichelfaden über das Kinn rann und auf sein Shirt tropfte. Hastig versuchte er, ihn aufzulecken, doch die angewiderten Blicke der Polizisten sagten ihm bereits, dass sie seine zunehmenden Kontrollausfälle sehr wohl zur Kenntnis nahmen. »So, Freundchen«, wandte Green sich in ungeduldigem und gar nicht mehr freundlichem Ton an Yuri, »du kriegst noch eine Chance. Was wolltest du ins Riverside Park schmuggeln, wenn du Tochowjiew aufgespürt hast? Drogen? Waffen? Los, raus damit!« »Ja, ja, klaaar«, antwortete Yuri leutselig und schlürfte an dem Speichelbächlein, das den Stoff über seiner Brust durchweichte. Seit dem zweiten Einstich hatte er keinerlei Gefühl mehr für das, was er sagte. »Meine Waffn, genau. Guckt ’n meine Innntaschn, da sinsie.« Er lächelte herablassend, fühlte sich ihnen plötzlich klar überlegen. Er hatte etwas, das sie nicht hatten. Ha! Green nickte Smith zu, und dieser machte sich ein ums andere Mal an Yuris Mantel zu schaffen, um nun die gut gefütterten Innenseiten zu befühlen. »Stimmt, da ist was«, stellte er unsicher fest. »Das sind …« Seine Finger glitten erst links in die Tasche, dann rechts. Was für Waffen hab ich da eigentlich drin?, dachte Yuri betäubt. Er hatte keine Ahnung. Es war zu lange her, dass er diesen Mantel getragen hatte. Diesen Mantel, den er gar nicht mehr haben sollte. Als Smith die Schlagringe aus den eingenähten Stoffhüllen zog, hörte Yuri die beiden anderen im Raum bestürzt aufkeuchen. Das Metall blinkte in der entseelten Beleuchtung wie frisch behauen, die zwei fingerlangen silbernen Messer am Rahmen beider Waffen fingen in ihren feinen Verzierungen alle Reflexe auf und warfen sie als diamantartige Lichtsterne an die sterilen Wände. Hübsch, dachte Yuri. Und dann: Die Nachtvogelklaue. Er erinnerte sich an sie. »Wo hast du die her?«, entfuhr es Green, dessen entgleiste Züge Entsetzen spiegelten. Plötzlich ließ Smith die Schlagringe fallen, als hätte er sich an ihnen verbrannt. Niemand bückte sich, um sie aufzuheben. »Roger hatsie vommmmond ghold«, hörte Yuri sich nuscheln. »Midseimmm Teleporder …« Diesmal kam keine der vorbekannten Reaktionen. Niemand schrie ihn an, keine Faust donnerte auf den Tisch. Alle drei waren vom beunruhigenden Anblick der Waffen wie gebannt. »Großer Gott, das wird mir zu viel«, ließ Green mit leicht schwankender Stimme verlauten. »Ich guck mir das nicht mehr an. Wer weiß, was das für ein Kerl ist.« Sein Gesicht war auf einmal ziemlich weiß. Er vermied es nun, Yuri direkt anzusehen. »Smith, wir übergeben ans FBI. Sperren Sie ihn in eine freie Zelle. Lockwood, Sie stellen ihn ruhig. Sicher ist sicher.« Die offensichtliche Angst der drei Personen, die ihn vor wenigen Minuten noch bedrängt und bedroht hatten, verwirrte und ermüdete Yuri gleichermaßen. Alles in seinem Kopf drehte sich. Er wollte nichts anderes mehr als weg von hier. Irgendwohin, wo es ruhig war … und dann schlafen … Hoffnungsvoll sah er zu dem kleinen Fenster auf, das viel zu weit weg und viel zu weit oben war. Er würde ganz sicher durchpassen … oder? Oder …? »Lasst mich gehen«, bat er. Er hatte genug, so sehr, dass es keine Worte dafür gab. »Du gehst nirgendwohin«, schnappte Green. »Aberch muss weg vonnier. Chmuss zurück in meine Zeit oder inne andre, vleich kannich meine Freunnin rettn. Könntir das denn nich’ kapiern?« Er konnte es jetzt nur noch mit der Wahrheit versuchen. Alle Antworten, die ihr ausweichen sollten, schlüpften durch seine zupackenden mentalen Fäuste wie glitschige Fische, und er bekam sie nicht zu fassen. »Ich kapiere nur, dass du irgendeine gequirlte Scheiße erzählst und gefährliche Waffen durch die Gegend trägst! Und von wem für wen, das kannst du morgen einer ganz anderen Sorte von Leuten erzählen! Die werden dir mit was Unangenehmerem als Thiopenthal zu Leibe rücken, das kann ich dir versprechen!« Yuris bleierne Müdigkeit verwandelte sich unter seinen gelähmten Gedanken immer mehr in dumpfe Aggression, die kein Ventil fand. Er wollte hier raus, aber er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er konnte sich nicht konzentrieren, keinen klaren Gedanken fassen. Das Gefühl der Hilflosigkeit und die Empfindung, dass alles, was er dachte, vor seinem Verstand davon schwamm, trieben ihn zur Verzweiflung. Das hier musste aufhören. Vor allem musste er endlich seine Hände aus diesen Handschellen herauskriegen. Sie hielten seine Arme in so unnatürlicher Position hinter dem Rücken zusammen, dass seine Schultern schmerzten. Außerdem spürte er das starke Verlangen, sich endlich das vollgesabberte Kinn abzuwischen. Also biss Yuri, in Ermangelung irgendeines Plans, einfach die Zähne zusammen und zerrte. Green, Smith und Lockwood sahen es – sahen dabei offenbar irgendwas, das er nicht sah – und erstarrten zu Salzsäulen. Wie einen Unfall beobachteten sie völlig unbeweglich, was sie nicht aufhalten konnten: nämlich, dass Yuri seine rohe, nunmehr unkontrollierte Kraft zusammenraffte und schließlich mit einem scharfen Ruck und einem Schmerzensschrei die kleine Kette zwischen den Metallreifen, die seine Hände zusammenhielten, sprengte. Ein Regen feiner Blutstropfen stob zu beiden Seiten, als er die Arme auseinanderriss und die Schellen an den blutigen Handgelenken plötzlich rotierend in der Luft hingen, das Verbindungsstück nutzlos herab baumelnd. Alle drei Polizisten gaben ihrem Instinkt nach und zogen die Köpfe ein. Mit einem Ächzen kam Yuri auf die Füße, taumelte kurz auf der Stelle und wandte sich sehnsuchtsvoll dem Fenster oben an der Wand zu, durch das er nichts als die Dunkelheit der Nacht sehen konnte. »Nicht!«, quietschte Green, duckte sich jedoch noch mehr hinter den Tisch. »Bleib hier!« »Geh schderbm, du Schhheißkerl«, knurrte Yuri zwischen Speicheltropfen. Nun, da er aufrecht stand, flutete erneut eine ekelerregende Übelkeit über ihn. »Ichau ab.« Noch immer floss alles hinter seiner Stirn durcheinander, war das, was er sagen wollte, nicht das, was er tatsächlich aussprach. Ein großer Schritt brachte ihn unter das Fenster. Es war gar nicht so weit oben, wie er gedacht hatte. Im gleichen Moment wagte Green eine beherzte Attacke. Er packte den Tisch und kippte ihn in Yuris Richtung, dann verpasste er dem Möbelstück mit beiden Händen einen derben Stoß direkt auf den Fliehenden zu. Yuri machte einen Satz, besser koordiniert als erwartet, landete bäuchlings auf dem Tisch und schnaufte, als seine Fußgelenke zwischen Tisch und Wand gerieten. Green und Smith stürzten auf ihn zu, aber Yuri schaffte es irgendwie, den Tisch wieder von sich ab- und auf sie zuzustoßen, sodass das sperrige Ding nun ihnen entgegen flog, während er mit einem waghalsigen Sprung halb durch das Fenster hechtete, das knapp über Kopfhöhe angebracht und nur angelehnt war. Keine Gitter – Gott sei Dank. Mit der flachen Hand stieß er es auf und wand sich hindurch. »Der springt wirklich!«, hörte er die Ärztin schrill kreischen. »Halten Sie ihn auf, Herrgott!« Nein, dachte Yuri wütend, jetzt hält mich überhaupt nichts mehr auf. Und seine noch immer in nutzlos baumelnden Handschellen steckenden Hände packten den Fensterrahmen und beförderten auch den Rest seines Körpers mit einem befreienden Schwung hindurch. Kopfüber fiel er plötzlich durch eiskalte Luft. Dort waren Lichter neben ihm, Baumkronen direkt unter ihm, und all das kam so erschreckend schnell näher, dass sein von der Droge aufgeweichtes Hirn die Eindrücke kaum verarbeiten konnte. Erst kurz über dem auf ihn zurasenden Erdboden – war es überhaupt Erdboden, oder war es Asphalt? – durchzuckte ihn der Gedanke, dass ihm jeden Augenblick ein tödlicher Aufprall bevorstand. Allein die vage Idee von diesem Bodenkontakt reichte aus, um ihn aufzurütteln. In plötzlicher, alles überwältigender Panik tat Yuri das, was er am besten konnte: Er wurde zu etwas Anderem. Tief und haltlos griff er in sein Innerstes, und dort wuchs eine grausige, schwarze Blume, aus deren Blüte ein Alptraum spross. Eine knappe Armlänge über dem geteerten Gebäudevorplatz fing sich Yuris wie ein abgeschossener Vogel stürzende Gestalt, entfaltete ein Paar lederne Schwingen und ging mit heftigem Flügelschlag in einen steilen Aufwärtsflug über. Nur eine Flügelspitze streifte kurz die graue Staubdecke, die die Abgase des Fuhrparks über allem ausgebreitet hatten. Yuri strebte in Richtung des finsteren Himmels und spürte den überirdischen Puls der Bestie, mit der er seine Seele verschmolzen hatte. Ein brennendes Trommeln am ganzen Körper. Dieses böse, göttliche Wesen vereinnahmte ihn, zerrte an seiner Ratio, und er rang mit ihm, wie er es immer tat, kämpfte um die Kontrolle über seinen Verstand und damit auch über den Körper, dem nun all die Kräfte der gebändigten Kreatur innewohnten. Diesmal war es so viel schwieriger. Das Thiopenthal hatte ihn physisch und psychisch ausgelaugt. Benebelt und zu keinem klaren Gedanken fähig, wusste Yuri unter der zähen, schwarzen Decke der geistigen Lähmung dennoch, dass er diese Verschmelzung so bald wie möglich beenden musste, weil seine Vernunft sie in diesem Zustand nicht lange ertragen konnte. Ein sicherer Platz …Er musste nur einen Ort erreichen, der weit weg von Polizisten und Ärzten und kaltem Licht war. Dunkel, einsam, still … Und dann, irgendwann, erspähte er den erhabenen, verwüsteten Koloss aus Stein unter sich, schwarz und unbeleuchtet zwischen so vielen gleich aussehenden, viereckigen Häuserblocks. Ein kleiner bewachsener Hinterhof ohne jedes Zeichen von Leben umarmte das Bauwerk. Der Großteil des Daches war ein gähnendes Loch, durch das Yuri ins Innere des aus Ziegeln gezimmerten Bauwerks sehen konnte, und er sah weitere Zerstörung dort, gesplitterte Bänke, Trümmer, am Boden liegende Kerzen … Und keine Menschenseele. Eine Kirche. Ja. Das war das, was er jetzt brauchte. Kirchen hatte er als Orte der Sicherheit, als Orte des Rückhalts in Erinnerung behalten. Der Dämon von Domremy hatte dort Schutz und Trost gefunden … Wann immer Yuri auf einer der einsamen Bänke gesessen hatte, war Blanca neben ihn getapst und hatte aufmunternd seine Hand geleckt, dieses unwirklich zutrauliche Wildtier, dessen nebelfeuchtes Fell nach Wald und dunkler Erde roch. Er musste in diese Kirche. Egal wie ramponiert sie war. Was mache ich hier?, dachte Yuri müde, als seine Füße lautlos auf dem noch intakten Teil des Daches aufsetzten. Ich habe mir doch etwas gewünscht, so wie die anderen … Warum bin ich in einer Welt gelandet, die mit meiner nichts mehr zu tun hat? Doch es half nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Erst mal musste er zur Ruhe kommen. Diesen elenden Rausch loswerden. Noch immer waren seine Bewegungen unkoordiniert, zitterte überall irgendein Muskel jenseits seiner Kontrolle, und sein rotes Shirt war über der Brust längst völlig durchweicht von der dünnflüssigen Suppe, die ihm schneller aus dem Mund drang, als er schlucken konnte. Ganz zu schweigen von der in seinem Bauch wütenden Übelkeit, die dem unangenehm vertrauten Gefühl von Reisekrankheit nur in Nuancen nachstand. Immer noch saugte Amon gierig an seiner Zurechnungsfähigkeit. Yuri konzentrierte sich, sammelte seine allmählich klarer werdenden Gedanken zu einem festen Bündel und schnürte mit diesem seine Seele von der des Dämons ab. Langsam ging das Gefühl der Schwärze, des Bösen zurück, das das leere Gefäß in ihm ausgefüllt hatte. Sein Geist reinigte sich vom zerstörerischen Willen des Monsters, das er damals, in einem der schwersten Kämpfe seines Lebens, unterworfen hatte. Seine Flügel verschwanden, die schwarzen Schuppen auf seiner Haut verblassten, und alles Material ordnete sich in Raum und Zeit wieder so an, dass der Spalt zwischen den Dimensionen sich schließen und alles so zurücklassen konnte, wie es zuvor gewesen war. Nun stand Yuri in ganz und gar menschlicher Gestalt auf dem Kirchendach, in sein nassgespucktes Shirt und das flatternde Trenchcoat gehüllt. Er fing an fürchterlich zu frieren. Er war wirklich so dämlich gewesen, mitten in einer Stadt zu fusionieren … Etliche Leute könnten ihn gesehen haben, und das bedeutete garantiert nichts Gutes. Dieses Zeug in der Spritze hatte ihn alle Vorsicht über Bord werfen lassen. Andererseits – welche Wahl hatte er denn gehabt? Sein Vertrauen in diese neue Welt, die ihn umgab, wahr gründlich erschüttert. Er musste jetzt unbedingt vorsichtig sein. Ziemlich sicher hing sein Leben davon ab. Vorsichtig ging er in die Knie und lugte über den Rand des riesigen Loches ins Innere der halbzerstörten Kapelle. Sie war der kleinen Kirche im Ardennendorf Domremy tatsächlich nicht unähnlich. Dennoch schien über dem verwüsteten Innenleben Unheil in der klammen Luft zu hängen, als wäre ein Monster aus den Sternen herab und mitten in diesen heiligen Ort gekracht wie ein entwürdigender Meteorit. Aber: Immerhin war es ruhig. Yuri ließ sich auf sein Hinterteil nieder, schwang die Beine über den zerbröckelten Rand des Lochs und ließ sich hinabfallen. Es war hoch, sehr hoch, und als er aufkam, hallte der ganze Komplex nach, selbst die Orgelrohre stimmten unter der Vibration, die sekundenlang anhielt, ein dröhnendes Summen an. Während Yuri sich vorsichtig aufrichtete, glitt sein Blick durch die Dunkelheit. »Hast du das gesehen?«, hörte er eine aufgeregte Frauenstimme von irgendwo draußen. »Was denn gesehen, Süße? Wo guckst du schon wieder hin, wenn doch ich das Ziel all deiner Blicke sein sollte?«, säuselte eine zweite Stimme, eindeutig männlich. »Nein, nimm die Pfoten weg! Da war ein Schatten mit Flügeln, er ist gerade in die Kirche runter gesprungen! Hast du das Rumsen nicht gehört?« »Ich bin der Meinung, dass hier nur eins rumsen sollte, und das – au!« »Schluss damit, ich hol die Bullen!« Oh nein, dachte Yuri. Nein, nein, nein … »Flieg besser weg«, sagte eine ruhige Stimme hinter ihm. Yuri fuhr herum. Dort stand, mit locker gekreuzten Armen, ein abgekämpft aussehender blonder Mann mittleren Alters im Halbdunkel unter einer Säule, den Blick unverwandt auf Yuri gerichtet. Verwirrt darüber, den Mann nicht eher bemerkt zu haben, stellte Yuri die dümmste Frage, an die in diesem Moment zu denken war: »Äh … wieso?« Der Andere machte eine vage Geste über die ramponierte Umgebung hinweg. »Vor kurzer Zeit hat hier ein Ungeheuer gewütet.« »Ach was. Und welches?« »Das würde ich auch gern wissen.« Die wässrigen Augen des Mannes fixierten ihn seltsam scharf. »Hey, guck mich nicht so an, als ob ich es gewesen wäre.« Yuri fühlte sich unbehaglich. Ihm war noch immer übel. »Es war jemand, der nicht von hier war«, erklärte der Fremde. »Die meisten Ungeheuer sind nicht von hier, oder?« »Ich habe gesehen, wie du auf dem Dach gelandet bist. Und ich bin nicht der Einzige.« Oh. Scheiße. »Ich …? Auf dem Dach?« Yuri fühlte unwillkommene Hitze in sich aufwallen. Er wusste, dass er immer noch nicht richtig denken und schon gar nicht gut lügen konnte. »Hey, weißt du …« Yuri hob die leeren Hände und versuchte ein entwaffnendes Lächeln. »… ich bin ein Mensch. Guck mich an. Da ist nix.« Er öffnete kurz seinen Mantel, was dem Anderen nichts Spannenderes offenbarte als einen dunklen Speichelfleck. »Lass dich besser mal untersuchen mit so … Halluzinationen …« Die Scheißdroge zirkulierte immer noch in seinem Blut. Es kam einfach nichts Sinnvolles aus seinem Mund. Nur blödes Zeug und Sabber. Der blonde Mann lächelte traurig. »Spielt auch keine Rolle.« Er wandte sich ab und ging zurück ins Dunkel, auf die zerstörte Ausgangstür zu. »Wir sehen uns sicher wieder.« Yuri sah ihm nach und spürte jäh eine beispiellose Frustration über sich hereinbrechen. Waren in dieser Zeit denn alle bekloppt? Doch es war ihm jetzt fast egal. Noch mal würde er sich jedenfalls nicht in diesen Raum sperren und misshandeln lassen. Nie wieder. Scheiß auf 2008 – wenn jemand kam, um ihn zu holen, dann würde er kämpfen. Mit allem, was er hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)