Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 7: Akt I - Arrest: 3-1 ------------------------------ 3-1: JIN Als er langsam wieder aus dem Dunkel auftauchte, pochte dumpfer Schmerz hinter seiner Stirn. Er war nicht stechend wie nach einem K.O.-Schlag, sondern nur ein druckvolles Pulsieren, maskiert durch das Gefühl des völligen Verlorenseins, das ihn nach jedem Tobsuchtanfall Devils erfüllte. Ebenso kennzeichnend war die extreme physische und geistige Erschöpfung. Diese Kreatur vereinnahmte sein ganzes Sein für diesen einen Moment, in dem es herrschte, verschlang alle vorhandene Energie. Wie so oft wusste Jin nach einem solchen Vorfall nicht, wo er sich befand und was zuletzt passiert war: Alle Erinnerungen an die Ereignisse, die stattgefunden hatten, bevor Devils Präsenz sein Bewusstsein in lichtlose Tiefen geschleudert hatte, waren unter dem zähen Schlamm fremder Gedankenfetzen verschüttet und erhoben sich nur langsam wieder an die Oberfläche. Licht drang durch seine halbgeöffneten Augenlider. Er hob sie vorsichtig, schärfte seinen Blick und sah eine mit Holz verkleidete Zimmerdecke. Mehrere Lampen glommen gelb von dort auf ihn hinunter, und ein dreiflügeliger Deckenventilator drehte sich langsam und geräuschlos. Jäh durchzuckte das Abbild der halbverwahrlosten Kirche sein Bewusstsein. Flackernde Kerzen und zertrümmertes Inventar … und der Mann mit einer Peitsche. Er spürte den Anflug von Unruhe wie einen Hagel aus Nadelstichen. Was hatte dieser Wahnsinnige getan? Hatte er wirklich – Jins Hände tasteten automatisch unter der milchkaffeefarbenen Decke, die über seinen ausgestreckten Körper gebreitet war, nach der Stichwunde. Sie war noch da. Devil hatte sie nicht, wie sonst, geheilt. Warum nicht? Er erfühlte einen gepolsterten Verband. Nichts tat weh; offensichtlich hatte man ihn ärztlich behandelt. Aber wer? In einer Klinik war er nicht, so viel war sicher. Aber wo sonst? Ein langsamer Rundumblick, leicht getrübt durch die Nachwirkungen seines noch schwachen Kreislaufs, verschaffte Jin Klarheit in dieser Frage. Er lag auf einem von zwei tannengrünen Sofas, zwischen denen ein niedriger Tisch stand, und konnte gegenüber der Eingangstür, die sich links von ihm befand und die er sofort wiedererkannte, den ausladenden Massivholzschreibtisch erkennen. Auf ihm lagen, halb übereinander, lose Zettelsammlungen, ein Stehbilderrahmen und ein aufgeschlagenes Buch. Neben der Tür vor dem großen Fenster stand ein Schlagzeug, hinter der Sitzecke ein Billardtisch mit einigen Kugeln darauf. An den Wänden sah er ein paar Poster, in den oberen Zimmerecken altmodische Lautsprecher, die zu einer Musikanlage hinter dem Schreibtisch gehörten. Auch einen reich bestückten Bücherschrank mit Glastüren entdeckte er an der Wand. Der gewisse Charme der antiquiert anmutenden Einrichtung wurde brutal zunichte gemacht durch eine alles beherrschende Unordnung: Papierseiten, Billardkugeln und ein Queue lagen auf dem Boden, einige Schubladen standen halb offen und neben der Tür standen – als warteten sie darauf, dass sie jemand mit hinaus nahm – mehrere leere Flaschen, deren früherer Inhalt höchstvermutlich stärker alkoholisch gewesen war als Jins Rasierwasser. Und was nicht zuletzt jeden Anflug von Heimeligkeit auf der Stelle zerstörte, waren die starren Fratzen dekapitierter Dämonen, abgeschlagene Köpfe mit stumpfen, blicklosen Augen, teilweise vertrocknet und mit Messern oder Schwertern an die Wand geschlagen als schaurige Dekoration. Ein Nachweis der Befähigung ihres Henkers. Da wusste Jin, dass er etwas Grundlegendes falsch gemacht hatte. Etwas, das ihn das Leben hätte kosten können. Jetzt, da das passiert war, was er um jeden Preis hatte vermeiden wollen. erkannte seinen Fehler. Ein Teil von mir ist ein Dämon. Und ich bin zu einem Dämonenjäger gegangen. Dante hätte ihn töten können. Töten sollen, wenn er seinen Beruf ernst nahm. Doch aus irgendeinem Grund hatte er das nicht. Klammes Unbehagen befiel Jin bei dem Gedanken, im Haus des Teufelsjägers zu sein. Auch wenn der Verrückte, der ihn in der Kapelle mit einer siebenschwänzigen Peitsche angegriffen und ihm ein Messer in die Seite gerammt hatte, sich jenseits aller Zurechnungsfähigkeit befand, hatten seine Äußerungen über Dante Jin tief beunruhigt. Sie bestätigten allzu sehr das Bild, das er sich bei ihrer ersten Begegnung selbst über Dantes Arroganz und Empathielosigkeit gemacht hatte. Und trotzdem … Warum war er noch am Leben? Warum war seine Wunde verbunden? Warum war er nicht tot, warum hatte niemand Devils blutfleckige Hörner abgesägt und in ein pietätloses Mobile verwandelt, zwischen all den anderen abgeschlachteten Kreaturen? Vorsichtig drehte Jin sich unter der Decke auf den Bauch und schob ein Bein über den Rand des Sofas. Er zuckte zusammen, als in der verbundenen Wunde Schmerz wie ein neuerlicher Stich aufflackerte. Das war nicht gut. Er konnte hier nicht weg, nicht so schnell. Hinter dem Pooltisch, etwa quer gegenüber, öffnete sich schwungvoll eine ebenfalls holzverkleidete Tür. Dante machte zwei große Schritte in den Raum und blieb stehen, als er sah, dass Jin bei Bewusstsein war. In der Hand hielt er eine Teekanne, um seine Hüften lag ein Gürtel mit prunkvoller Schnalle und zwei Lederhalftern, aus denen die glänzenden Griffe einer schwarzen und einer silbernen Pistole ragten. Jin war erstarrt. Unwillkürlich hatten sich seine Muskeln in Spannung versetzt, bereit, sein Leben zu verteidigen. Dante warf den auf ihn gerichteten Blick stoisch zurück. Seine Miene war ernst, aber nicht feindselig, und seine Arme hingen entspannt herab, als hätte er nicht vor, im nächsten Moment seine Pistolen zu ziehen und Jin eine Kugel in den Kopf zu jagen. Das hätte er in der Kirche tun können, dachte Jin mit zusammengebissenen Zähnen. Aber ich bin hier. Ich liege auf seiner Couch, und meine Wunde ist versorgt. Sekundenlang rührte er sich nicht. Er war gefangen in seiner Unschlüssigkeit, nicht wissend, was er tun oder sagen sollte. Kein Laut war zu hören. Keiner der beiden regte einen Muskel. Als Jin bereits glaubte, dieser absurde Moment würde für immer andauern, hob Dante wie in Zeitlupe den Arm mit der schwarzen Kanne hoch und fragte ruhig: »Tee?« »Du hattest Glück, dass er mit Stichwaffen nicht viel Übung hat. Wäre das Messer glatt zwischen zwei Rippen reingegangen, hätte es deine Lunge durchbohrt.« »Warum bin ich hier?« Jin bemerkte zu seinem Unmut, dass er den Saum der Decke gepackt und wie einen Schild erhoben hielt, während seine angespannten Arme noch immer leicht zitterten. Dante hingegen stand völlig unverkrampft in deeskalierender Haltung vor der Couch, als wäre alles völlig in Ordnung. Seine Antwort jedoch strafte diesen scheinbaren Frieden Lügen: »Du bist festgenommen.« »Festgenommen? Von wem?« »Von mir. U-Haft, bis ich rauskriege, was das für ein Vieh ist und was die Transformation auslöst.« Es war augenfällig, dass er mit dem ›Vieh‹ Devil meinte. Jin verabscheute den überheblichen Tonfall. »Dürfen Sie das? Mich einsperren?« »Natürlich nicht«, antwortete Dante ohne jeden Versuch, sich herauszureden. »Das ist Freiheitsberaubung.« Gemächlich setzte er sich auf das gegenüber liegende Sofa und stellte die Kanne sowie zwei Tassen auf den Tisch. »Tee?«, fragte er noch einmal. Jins anerzogene Höflichkeit rastete sofort ein, und er nickte mechanisch. Dante musterte ihn von der Seite, während er die dunkle, dampfende Flüssigkeit einschenkte. »Kann sein, dass du besseren gewohnt bist.« Jin nippte nur einmal an der Flüssigkeit, wie um einem ungeschriebenen Protokoll Genüge zu tun. Der Tee war tatsächlich unspektakulär, vermutlich ein englischer Frühstückstee, eine mittelmäßige Mischung aus Assam und Ceylon. Er stellte die Tasse wieder hin. »Ich will gehen.« »Vergiss es, du gehst nirgendwohin«, sagte Dante viel zu ruhig. »Finde dich damit ab, dass du eine Weile hier bleibst. Ich hoffe, du hast ’ne Zahnbürste dabei.« Jin spürte, wie seine Kiefermuskeln sich verkrampften. Es höflich zu versuchen war sinnlos. Worte prallten an diesem rohen Kerl einfach ab. »Ich werde gehen.« »Denke ich nicht.« Seelenruhig stellte Dante die Kanne wieder hin und zog die zweite Tasse in seine eigene Richtung. »Okay, pass auf. Ich bin nett zu allen, die nett zu mir sind, aber ich hasse es, wenn man mir auf die Ketten geht. Verstanden?« Sein Blick traf Jins. Wieder hatte Jin das Gefühl, dass etwas in ihm sich ganz winzig klein machte. Doch er zwang sich, nicht wegzuschauen. »Und mit wem habe ich die Ehre?« »Jin Kazama.« Er sagte es bereitwillig, zu seinem eigenen Erstaunen, und versuchte, es deutlich auszusprechen. Dante stand vom Sofa auf und ging zum Schreibtisch, um wahllos einen Zettel aus dem Papierhaufen zu ziehen und mit diesem und einem Stift zurückzukehren. »Hier, schreib’s auf.« Er warf beides über den Tisch auf Jins Decke. »Aber bitte in Buchstaben, nicht in Hieroglyphen.« Schweigend griff Jin nach dem Stift. Er notierte seinen Namen in westlicher Schreibweise und gab Dante den Zettel zurück, der damit zur Wand ging, einen der vielen leeren Nägel aus dem Holz zog und ihn, das Papier durchlöchernd, mit einem einzigen Fausthieb wieder einschlug. Jin unterdrückte ein Schaudern. »Die Wände sind hier aus Papier, weißt du. So … Dann erzähl mal. Diesmal höre ich dir zu. Was ist das für ein Teufel, der da in dir rumspukt?« Als Dante es sich wieder auf der anderen Couch gemütlich machte – halb im Liegen, als hätte er vor, einen mäßig unterhaltsamen Film zu verfolgen – und seinen Gast neugierig ansah, wuchs Jins Abneigung gegen ihn schlagartig so sehr, dass seine Vernunft von Trotz verdrängt wurde. Starrsinnig antwortete er: »Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich Ihnen diese sehr persönlichen Informationen wirklich anvertrauen sollte.« Die Schroffheit wirkte; sie schien Dante so sehr zu überraschen, dass er sich wieder gerade hinsetzte und Jin mit zusammengezogenen Brauen ansah. »Ich sehe nicht so vertrauenerweckend aus wie ein Seelenklempner, was? Gut, dann reden wir zuerst über mich. Woher weißt du von mir? Woher hattest du das Passwort?« »Kontakte«, antwortete Jin ausweichend. »Soso. Und was haben diese Kontakte dir über mich erzählt?« Jin zögerte. Sie hatten eine Menge erzählt. Darunter sehr viel Lächerliches, etwa, dass Dante sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen konnte, so schnell, dass er Feuer fing, oder dass er alle Regentropfen in seinem Umkreis mit dem Schwert zerteilen könnte, bevor sie den Boden berührten, oder dass er aus der Stratosphäre zur Erde stürzen könnte wie ein Komet, ohne einen Kratzer abzubekommen. »Sie sagten, dass ich … vorsichtig sein soll«, antwortete Jin. Er war auf der Hut. Dante stieß ein leises Lachen aus. »Wahrscheinlich untertreibst du damit ein bisschen. Ich sehe ja, dass du Angst vor mir hast.« Er lächelte; überlegen, aber immerhin nicht herablassend. Jin schwieg. Er konnte nicht wirklich widersprechen; etwas in ihm fürchtete Dante, und er war sich nicht sicher, ob das nur Devil war. »Wer hat dich mit dem Messer angegriffen?«, wechselte Dante das Thema. »Ich nehme an, dass das der Grund war, wieso du ausgetickt bist.« »Ich …«, begann Jin automatisch, unterbrach sich und begann den Satz neu: »Ein Mann war in der Kirche.« Er beschrieb ihn: die helle braune Jacke und die blonden, an den Schläfen grauen Haare. »Er hatte eine Peitsche«, schloss er. Als das Wort Peitsche fiel, sah Dante auf, und in seinen Augen flackerte es auffällig. Doch kurz darauf ließ er sich wieder zurücksinken und fragte in ziemlich beiläufigem Ton: »Peitsche? Interessant. Wie sah die aus?« »Sie hatte sieben Riemen, mit Dornen an den Enden. Er hat … mich angegriffen. Dass er ein Messer hatte, habe ich nicht gesehen …« »Natürlich nicht. Wer mit einem Messer richtig umgehen kann, wird nie vor deiner Nase damit rumfuchteln.« »Sie kennen ihn«, folgerte Jin. Es war keine große psychologische Leistung, das festzustellen. Dante nickte widerstrebend. »Ja. Das ist der Typ, der …« Nun hielt auch er kurz inne, als sträubte sich etwas in ihm dagegen, den Satz zu beenden. »… meine Partnerin entführt hat. Und ich weiß nicht, wie oder wohin.« Jin nahm diese Information mit einem gewissen Entzücken zur Kenntnis, für das er sich fast schämte. Dante hatte also eine Partnerin, und sie befand sich in der Gewalt desselben Mannes, der Devil Jin aufgeweckt hatte? Dies veränderte die Situation. Vielleicht zu seinen Gunsten. »Er hat mir gesagt, ich müsse auf der Hut vor Ihnen sein.« »Und dann sticht er dir ein Messer in die Seite. Vor wem musst du wohl eher auf der Hut sein?« Dantes Ton war ätzend. »Glaubst du dem Spinner?« »Ich weiß überhaupt nicht, was ich glauben soll«, gab Jin scharf zurück. »Er hat gesagt, Sie würden nichts anderes tun als Teufel zu töten. Hat er gelogen oder nicht?« Dante antwortete nicht sofort. Er sah nachdenklich beiseite, und Jin beobachtete das Zucken seiner schwarzen Pupille inmitten der eisklaren Iris. »Manche Leute sollten besser die Klappe halten«, sagte Dante schließlich. »Mit manchem hat er Recht, aber der Gefährliche ist wohl eindeutig er, nicht ich, oder?« »Und warum?«, fragte Jin. »Was ist passiert, dass er sich so verhält?« »Er hat … was verloren.« Dante schien dem Kern dieser Wahrheit ausweichen zu wollen, wie jemand, der sich unter einem Hindernis hinwegduckt statt es zu überspringen. »Etwas ziemlich Wichtiges.« »Und er gibt Ihnen die Schuld daran?« »Dazu gibt’s keinen Anlass.« »Was will er dann von Ihnen?« »Ich weiß es nicht.« »Sie lügen«, sagte Jin unverblümt. Dante sah ihn einen Moment verständnislos an. Dann schien ihm aufzufallen, dass das stimmte. »Ich hab eine ungefähre Ahnung, was er will«, räumte er ein. »Aber das können Sie mir nicht sagen.« »Dazu bist du nicht hier, oder? Sagen wir einfach, es ist ein böser Plan, der nie klappen wird. Bei so was bin ich raus.« Sie verfielen in Schwiegen. Es behagte Jin nicht, aber er tat nichts dagegen. Zurzeit bereitete seine Wunde ihm keine Schmerzen, doch quer über seiner Brust, wo die Peitsche ihn getroffen hatte, sah es anders aus. »Komm mit«, sagte Dante plötzlich, stellte die Tasse so brutal auf den Tisch, dass der Inhalt beinahe überschwappte, und stand auf. Jin wollte ihm folgen, aber jäh aufflammende Pein ließ ihn zusammenfahren und das Gesicht verziehen. Er hatte nicht verletzlich wirken wollen, doch in dieser Hinsicht hatte er versagt: Schon wieder beobachtete der Dämonenjäger ihn ganz genau. Jin schaute an sich herab auf seine Brust, über der das helle Hemd in blutigen Fetzen hing, und zog den Stoff beiseite. Oberhalb des sauberen Verbandes leuchteten wie die Spuren eines Pflugs die roten Striemen, die der Aufschlag der Geißel in die Haut gerissen hatte. Auch sie waren nicht geheilt. »Ich hatte den Typen zwar gesagt, sie sollen alle deine Wunden behandeln, aber offenbar bin ich heute der Einzige, der seine Arbeit macht«, brummte Dante, bückte sich nach einer niedrigen Schublade zur Linken und schien etwas ratlos darin zu wühlen. Jin fühlte sich äußerst unwohl. Sein Blick wanderte zu den beiden leeren Flaschen neben der Tür, »Haben Sie nicht etwas Hochprozentiges zur Hand?« »Klar«, antwortete Dante, offenbar ungerührt darüber, als Gelegenheitstrinker enttarnt worden zu sein. »Ich hab hier irgendwo hundertprozentigen Alkohol.« Einen absurden Moment lang fragte sich Jin, ob Dante diesen wohl auch trank. Bei diesem Mann hätte es ihn nicht einmal gewundert. »Und wofür …?« »Um meine Waffen wieder sauber zu kriegen, wenn sie voller Dreck, Blut und Dämonenschleim sind. Mag sein, dass ich liederlich bin, aber meine Ausrüstung halte ich in Ordnung. Ah, da bist du ja.« Dante kehrte mit einer unetikettierten Flasche zurück und kippte eine kleine Menge des scharf riechenden Inhalts auf ein Baumwolltuch, das immerhin sauber aussah. »Das wird brennen. Ich hoffe doch, das Bisschen Schmerz löst nicht deinen Devil Trigger aus.« »Meinen was?«, murmelte Jin halb abwesend, der sich auf die Überwindung, Dante so dicht herankommen zu lassen, konzentrieren musste. »Ach, ich meine deinen gehörnten Kumpel.« Unerwartet behutsam tupfte Dante das Desinfektionsmittel auf die blutverkrusteten Furchen. Es tat so weh, dass Jin scharf Atem holte und die Zähne zusammenbiss. Devil reagierte nicht. Offenbar leckte er noch immer seine eigenen Wunden. »Jetzt nicht anfassen. Zieh was drüber. Du hast doch ein Hemd zum Wechseln?« Jin kämpfte den beißenden Schmerz nieder, nickte und griff nach seinem Reiserucksack. Bei Devil musste man ohnehin auf Nummer sicher gehen: Jin hatte eingeplant, dass das Monstrum, das in ihm wohnte, diverse Kleidungsstücke zerstören würde. Während er sich umzog, ging Dante in den Raum nebenan, wo sich offenbar die Küche befand, und hielt am ausgestreckten Arm einen Apfel durch die Tür. »Willst du einen?« »Nein.« »Isst und trinkst du überhaupt was, oder lebst du nur von Luft und Licht?« »Ich möchte nicht«, wiederholte Jin und zog das zerfetzte Hemd über den Kopf. »Wenn in dir ein Dämon lebt, musst du einen hohen Energieumsatz haben.« »Sie scheinen es ja zu wissen.« Dante lachte leise. Er war deutlich entspannter als bei ihrer ersten Begegnung, was man von Jin nicht behaupten konnte. »Wenn du fertig bist, nimm deinen Mantel und komm hoch. Hier in den Flur und links.« Dann war er verschwunden, und seine schweren Schritte wurden auf einer Treppe immer leiser. Nach oben?, dachte Jin müde. Eigentlich wollte er im Moment nichts lieber als schlafen – doch er fühlte sich in Dantes Behausung ganz und gar nicht sicher. Im kleinen Flur, der parallel zum Büro verlief, fand Jin zwei Türen vor: Eine, halb offen stehend, führte geradezu weiter in die kleine Küche, ein paar Meter weiter rechts befand sich eine geschlossene, hinter der Jin das Badezimmer vermutete. Am Ende des Flures, rechts neben dieser Tür, führte eine leicht angerostete Metalltreppe nach oben ins Dunkel. Jin folgte ihr aufwärts, vorsichtig, um seinen angeschlagenen Körper nicht unnötig zu belasten. Oben befand sich wieder ein schmaler Flur, und an seinem Ende stieß Jin auf eine schwere Luke über seinem Kopf, die sich mit einiger Kraft nach oben aufdrücken ließ. Oben empfingen ihn kalte, klare Luft und jene Art von gelb durchlichteter Dunkelheit, die in größeren Städten des Nachts den Anblick der Sterne zerstörte. Dante saß am Rand des Daches, den noch jungfräulichen Apfel in einer Hand, und starrte auf die Straße hinunter, während ein schwacher Wind hier und da an einer seiner silbernen Strähnen zupfte, gespenstisch weiß im Halbdunkel. Obwohl er nur ein schwarzes T-Shirt trug, schien er nicht zu frieren. Jin sah seinen eigenen Atem in der Luft kondensieren. Frost kündigte sich an. Wortlos trat er zu Dante und setzte sich neben ihn, in einem Abstand, den eine weitere Person hätte füllen können. »Manche meiner Quellen sagen, Sie seien verrückt.« Er musste diese Bemerkung loswerden; die Zweifel waren einfach nicht länger zu ertragen. Dante zuckte die Schultern. »Denken manche.« »Dass Sie, wenn Sie keine Dämonen mehr finden, anfangen würden, Menschen zu töten.« »Das sind ja schlaue Typen. Ich hab noch nie einen Auftrag angenommen, der irgendwas mit Menschen zu tun hatte. Beruflich interessieren Menschen mich überhaupt nicht. Es sei denn, sie wollen Dämonen zu irgendwas benutzen. Das ist nie was Gutes.« »Und was werden Sie tun, wenn es keine Teufel mehr gibt?«, bohrte Jin. »Dann kaufe ich mir ein Häuschen im Grünen und züchte Bienen.« Jin starrte ihn an, und Dante brach in amüsiertes Lachen aus. »Nein, streich das. Ich weiß, dass eine Menge über mich erzählt wird«, räumte er dann ein. »Manches ist wahr, aber anderes … naja.« Er warf seinen Apfel in die Luft, fing ihn mit dem Ellenbogen auf und ließ ihn über den Unterarm in seine Hand rollen, um dann herzhaft hinein zu beißen. »Da«, sagte er und nickte in Richtung Straße, immer noch gemächlich an dem Stück kauend. Ein Safttropfen lief ihm über das Kinn. »Siehst du das?« Jin beugte sich vor und blickte auf den leeren Asphalt, wo unter einer Straßenlaterne zwei Mülltonnen standen. Eine davon bewegte sich verdächtig. Ein dunkler Schatten kroch dort im Licht herum, seltsam unbeholfen wie ein verkrüppelter Hund. Das Wesen robbte um die Tonne herum, wobei es, wie Jin erst jetzt bemerkte, leise Geräusche von sich gab, die wie das Brabbeln eines Kindes klangen. Dann, ganz plötzlich, schnellte aus dem vermeintlichen Kopf des Schattens eine Art Arm mit zwei Klauen vor, eine Fangmaske wie die einer räuberischen Insektenlarve, und harpunierte ein aufquietschendes Etwas, das noch kurz im Griff des Monsters zappelte und dann mit einem unappetitlichen saugenden Schlürfen verschlungen wurde. Jin, so leidensfähig er auch war, fühlte einen Schauer über seinen Rücken kriechen. »War das etwa …« Die Worte fehlten ihm. »… ein …?« »Jap.« »Aber … Sie laufen mitten auf der Straße herum?« »Früher seltener. In letzter Zeit werden sie immer vorwitziger.« Obwohl Jin gewusst hatte, worauf Dante Jagd machte, verwirrte ihn jetzt dessen Gleichgültigkeit gegenüber dieser abstoßenden, nichtirdischen Kreatur, die dort unten durch den Schatten kroch und Ratten erbeutete. »Ich … ich habe so was noch nie gesehen.« »Asien ist, was Dämonen betrifft, sehr sauber«, ließ Dante ihn wissen. »Die USA dagegen sind das reinste Drecksloch. Nirgends findet man so viel Höllenbrut wie hier. Wir haben die meisten Verbrechen, die meisten Waffen, die meisten Irren, die meisten Morde. Teufel finden das geil.« Wie um dieser Bemerkung mehr Ausdruck zu verleihen, biss er noch einmal von seinem Apfel ab und wischt sich mit dem Handrücken das Kinn ab. »Sie sind Kulturfolger. Tummeln sich da, wo es besonders viele schlechte Menschen gibt. Aber genauso lieben sie einsame, verlassene Orte, an denen mal schlechte Menschen gelebt haben. Deshalb sind es immer leere oder verwahrloste Gebäude, in denen es spukt.« Er machte eine Kopfbewegung nach unten. »Ah, da ist unser Freund wieder.« Tatsächlich war die erbärmliche Gestalt des kleinen, vierbeinigen Teufels nun wieder zu sehen, wie sie die Mülltonne schnüffelnd und keckernd umrundete. Dante nahm den halb aufgegessen Apfel in die rechte Hand, holte weit aus und warf die Frucht im langen Bogen hinunter nach dem Dämon. Dieser wurde mit einem schmatzenden Geräusch präzise im Genick getroffen. Der Apfel zerplatzte spritzend, der raue Aufschrei des Geschöpfs endete abrupt und wich dem wild strampelnden Geräusch seiner Krallen, die plötzlich keinen Halt mehr auf dem Boden zu finden schienen. Ein, zwei jämmerliche Hüpfer, dann brach der Dämon tot zusammen. »Wow«, kommentierte Dante, sichtlich erstaunt über sich selbst. »Ich bin wohl der Einzige, der je einen Teufel mit einem Stück Obst erlegt hat.« Unter ihnen auf der Straße löste sich der leblose Körper langsam in schwarze Asche auf. Ein dunkles, mit dem Wind davon fliegendes Häufchen, wo eben noch eine lebende Kreatur gewesen war. Jin betrachtete es leidenschaftslos. Minutenlang saßen sie nebeneinander und starrten in die Leere der unbelebten Nacht. Jin ertappte sich dabei, wie er nach weiteren kriechenden Schatten Ausschau hielt, doch außer dem schwachen Luftzug, der über die Stadt hinweg wehte, tat sich nichts. Schließlich begann Jin trotz seines Mantels zu frösteln. Sein Körper war erschöpft, hatte im Laufe dieses Abends zweifelsfrei die Grenzen seiner Belastbarkeit erreicht. Zögernd fragte er: »Muss ich wirklich hier bleiben?« »Ja«, antwortete Dante ohne Umschweife. »Auf die Leute hier lasse ich dich nicht los. Jedenfalls nicht so bald.« Es hatte keinen Sinn zu widersprechen. Bereits jetzt konnte Jin den Ton, den Dante anschlug, sehr gut einschätzen. Aufzubegehren würde nicht helfen, kein Diskutieren, kein Zornausbruch, erst recht keine Gewalt. Dante war ihm überlegen, zumindest jetzt, da Jin verletzt und nicht sehr wehrhaft war. Doch dass er fliehen musste, stand außer Frage. Dante würde ihm nicht helfen. Er war kein bösartiger Mensch, doch womöglich lebte er tatsächlich in seiner eigenen Welt, einer Welt, in der er als dunkler Rächer unterwegs war und alles Dämonische abschlachtete. In Dantes Kopf schienen sich dunkle Räder zu drehen. Er war voller Gram, bis zum Hals erfüllt von einem Groll, den eine Art großspuriger Humor kaschieren sollte; jedoch konnten weder seine Arroganz noch seine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit Jin darüber hinwegtäuschen, dass dieser Mann ganz und gar nicht emotionslos an die Teufelsjagd heranging. Ganz im Gegenteil: Er hasste die Ausgeburten der Hölle mit einer Leidenschaft, die ihn nicht nur völlig kaltblütig ihnen gegenüber machte, sondern ihm auch noch eine grimmige Freude daran bereitete, sie hinzumetzeln. Dante hatte Spaß am Töten. Und das war es, was Jin ihn zutiefst verabscheuen ließ. Kurze Zeit später stiegen sie wieder vom Dach herunter und kehrten in den Büroraum zurück. Mit dessen unordentlichem und uneinladendem Anblick hatte Jin sich noch kein Stück angefreundet. Auf den ersten Blick erschien der Raum wenigstens sauber – doch es war eine rein oberflächliche Sauberkeit, die ihn davon abhielt, allzu sehr in die Ecken zu schauen. Dantes Vorstellungen von Ordnung und Hygiene entsprachen offensichtlich denen eines frischgebackenen College-Studenten, der gerade von zu Hause ausgezogen ist und noch nicht begriffen hat, dass seine Mutter ihm nicht mehr hinterherräumt. Noch immer verspürte Jin wenig Lust, ihm von Devil und seiner Vorgeschichte zu erzählen. Obwohl ihm vor Antritt der Reise klar gewesen war, dass er gezwungen sein würde, intime Details seiner Lebensgeschichte preiszugeben und darüber hinaus auch noch seine größten Ängste offenzulegen, so war es jetzt doch etwas ganz anderes; Jin scheute davor zurück, Dante gegenüber überhaupt das Wort Angst zu gebrauchen oder Gefühle im Allgemeinen zum Mittelpunkt eines Gesprächs zu machen. Aber dieses Ding in ihm, Devil, lebte nun einmal davon, dass Jin empfindsam war und mitunter zu emotionalen Reaktionen neigte, die von der japanischen Gesellschaft nicht toleriert wurden. Stets versuchte er deshalb, seine soziale Maske zu tragen, wie es von ihm erwartet wurde, doch Devil war nun einmal sein wunder Punkt. Und Dante – so viel war sicher – kannte so etwas wie emotionale Zurückhaltung nicht. Er zeigte und sagte das, was er dachte. Dieses Verhalten lief Jins Erziehung zuwider. »Setz dich«, forderte Dante ihn auf. Steif ließ Jin sich auf dem tannengrünen Sessel nieder, möglichst ohne etwas anzufassen. Dante hingegen warf sich lässig auf die Couch und streckte sich gemütlich darauf aus. Er behielt sogar die Stiefel an. Die Szene hatte etwas Bizarres: Jin fühlte sich wie bei seinem ersten und letzten Besuch bei einem Psychologen, im Begriff, sich auf ein analytisches Gespräch einzulassen – nur dass Dante derjenige war, der auf einem Sofa lag, und Jin, sein Patient, daneben saß. »Fang noch mal von vorne an«, forderte Dante ihn auf. »Bin ganz Ohr.« »Mein Vater ist Schuld an allem«, wiederholte Jin unwillig. »Es … passierte etwas mit ihm, als sein Vater …« Seufzend unterbrach er sich. Es war sachlich falsch, mit Kazuya anzufangen. Also setzte er noch einmal an: »Nein, es ist viel einfacher. Unsere Blutlinie … die der Mishimas … ist verflucht. Fast jeder von uns hat … offenbar … einen Teil nichtmenschliches Erbgut in sich. Ein Stück eines Dämons. Unsere Wissenschaftler nennen es Teufelsgen.« »Wow«, kommentierte Dante. Immerhin lag er immer noch still und tat nichts Anderes nebenher, also schien seine Aufmerksamkeit tatsächlich Jin zu gelten – es sei denn, er würde einschlafen. Jin rechnete fast damit. »In mir und meinem Vater lebt eine Art … dämonisches Alter Ego. Dieses Wesen nennen wir Devil.« Dante sah ihn vom Sofa aus schief an. »Dein Ernst? Was anderes als Devil ist euch nicht eingefallen? Die Kreativsten seid ihr nicht, oder?« »Lassen Sie mich ausreden«, verlangte Jin. »Er hat mir nicht gesagt, wie er heißt. Und ist es nicht ganz egal, wie ich ihn nenne?« »Ja, am Ende schon. Sprich weiter.« Mit dem mühsamen Versuch, die Überheblichkeit des Anderen zu ignorieren, fuhr Jin fort: »Früher hat mich Devil nie ganz überwältigt. Ihn konnte ihn kontrollieren, ihn … benutzen, wenn ich wütend war oder Angst hatte. Aber seit ich meinen Urgroßvater töten musste, der von einer Art … bösem Geist besessen war, spielt Devil verrückt. Er überwältigt mich im Schlaf oder wenn ich in Extremsituationen gerate, er zerstört und mordet mit meinem Körper … und wenn ich wieder zu mir komme, dann weiß ich nicht, was er für … Gräuel hinterlassen hat.« Sein Blick ruhte auf dem Ventilator, wanderte mit jeder Drehung im Uhrzeigersinn, Kreis um Kreis. »Ich will, dass das aufhört.« »Soso.« Dante schaute nachdenklich ins Nirgendwo des Raumes. »Und weißt du, was er eigentlich will? Das Übliche? Weltherrschaft und so?« »Wahrscheinlich, aber … Ich glaube, im Moment sucht er etwas.« »Und was?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er meinen Körper dafür benutzt und jedes Mal … Schlimmes anrichtet.« »Hmm. Also, was deinen letzten Amoklauf betrifft, kann ich dich beruhigen. Verletzt hast du keinen, unser Irrer scheint sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht zu haben. Du hast nur eine uralte, hässliche Kirche zerlegt.« »Das ist immer noch zu viel.« »Wie oft hast du die Anfälle? In etwa.« »Es wechselt.« Jin verzog das Gesicht. Hatte Dante wirklich Anfälle gesagt? Kranke bekamen Anfälle. Devil war keine Krankheit. Er verübte Angriffe aufs Jins Körper und Geist – er war ein Folterer. »Dante, belügen Sie mich nicht. Ich muss es wissen. Verschwende ich hier nur meine Zeit, oder können Sie mir wirklich helfen?« Die Beantwortung dieser Frage schien auch Dante nicht leicht zu fallen, denn zunächst war in seinen Zügen keinerlei Regung zu lesen. Schließlich antwortete er: »Ich bin nicht sicher. Aber versuchen kann ich es. Ich weiß nur noch nicht, wie. Was hast du dir vorgestellt?« »Nun, dass wir … irgendwie … Devil von mir abspalten und ihn vernichten. Ich weiß, dass das möglich ist … Jedenfalls war er nicht immer da.« »Interessant. Wann tauchte er auf?« »Meine Mutter wollte verhindern, dass er von mir Besitz ergreift, und hat mich auf einer abgelegenen Insel mitten im Wald aufgezogen. Doch als sie ge…« Wie immer dauerte es einen Moment, bis er das Wort herausbekam. »…tötet wurde, konnte ich ihr nicht helfen …« Es war unerwartet schwer, darüber zu sprechen. Er hatte es sich einfacher vorgestellt, hatte sich die Sätze zurechtgelegt, um sie abgeklärt herunterzuspulen, wie es immer von ihm erwartet worden war. Doch auch jetzt, nach so vielen Jahren, funktionierte es ebenso wenig wie früher, als die Wunde noch ganz frisch gewesen war. Tapfer sprach er weiter: »Ich ging zu meinem Großvater, wie sie mir aufgetragen hatte, denn ihm gehörte das Mishima-Imperium, er konnte mir jede Art von Perspektive bieten. Als ich … irgendwann erfuhr, dass ich nur sein Lockvogel für das Monster war, das meine Mutter getötet hatte … wollte er auch mich töten.« Dante furchte die Stirn. »Der auch? War nicht eben noch dein Vater der Böse?« »Beide sind böse«, knurrte Jin, obwohl es ihm lächerlich erschien, ein so simpel konnotiertes Wort wie böse zu gebrauchen, um jenen überpräsenten Wesenszug in Heihachis und Kazuyas Charakter zu benennen. »Jeder aus dieser Blutlinie ist böse.« Ich auch, fügte er in Gedanken hinzu. Und ich will nicht so werden wie sie. »Also, als dein Opa dich töten wollte, bist du zum ersten Mal transformiert, sehe ich das richtig?«, hakte Dante nach, um die Erzählung wieder aufzunehmen. »Ja.« »Konntest du das Vieh da beherrschen?« »Ja. Ich meine, ich … habe ständig seinen Hass gespürt und ihn nur schwer steuern können. Aber ich war bei Bewusstsein. Es war immer noch ich, der meinen Körper lenkte. Heute ist es, als ob Devil mich niederschlägt und dann das Steuer übernimmt.« »Hm. Und wie holt man dich zurück, wenn das passiert?« »Ich denke, ihn bewusstlos zu machen scheint die sicherste Methode zu sein.« Plötzlich kam Jin ein Gedanke. Er hatte eines vergessen. »Ich muss Ihnen etwas zeigen«, murmelte er und griff nach seinem linken Hemdsärmel. »Ich trage sein Zeichen.« Und er zog den Stoff über dem rabenschwarzen Brandmal beiseite, das nichts anderes war als die scharf abgesetzte Narbe von Devils Feuer, geformt wie zwei ineinander greifende, gespaltene Sensenklingen. In Dantes Augen war nichts zu lesen, keine Überraschung, aber auch kein Wiedererkennen. Er packte Jins Arm und zog ihn näher zu sich, um das bizarre Zeichen mit zusammengezogenen Brauen zu betrachten. »Hmm … Ich hoffe, du gestattest mir die Bemerkung, dass das irgendwie cool aussieht. Nein, im Ernst … Wenn du dein eigenes Klamottenlabel hättest … Das könntest du als Logo benutzen.« Unwillig entriss ihm Jin seinen Arm. Er hatte auf einen hilfreicheren Beitrag gehofft als eine Nutzungsempfehlung, aber offensichtlich musste Dante einfach alles ins Lächerliche ziehen, das er nicht erklären konnte. »Ich glaube, wir haben uns für heute genug unterhalten«, sagte er kühl. Warum habe ich diesem Kerl überhaupt irgendwas anvertraut? Es fühlte sich an, als hätte er sich komplett entkleidet und wäre ausgelacht worden. Während er Dante auf dem Sofa den Rücken zudrehte, fühlte er seine Kiefer mahlen. Er sollte lieber überlegen, wie er hier wieder herauskam. Dante sagte lediglich: »Wie du willst. Sicher bist du müde. Wenn du noch irgendwas brauchst, ruf mich einfach.« Jin wollte soeben etwas unwirsch erwidern, dass er gar nichts bräuchte, als das schrille, scheppernde Klingeln des uralten Telefons auf dem Schreibtisch ihm zuvorkam. Das Geräusch war wirklich unangenehm, doch Dante drehte nur den Kopf nach der Herkunft des Lärms und betrachtete sein Telefon gelangweilt. Nach dreimaligem Schrillen verstummte das Gerät, und erst jetzt stand Dante gemächlich auf. »Schon wieder die Cops, was haben die denn heute?« Er nahm den Hörer ab, wählte eine dreistellige Nummer ein und sagte: »Devil May Cry. Was ist denn noch?« Die Antwort ertönte so laut, dass Jin sie durch den Hörer bis zur Sitzecke hören konnte; vermutlich war dies dem Alter des Apparats geschuldet. »Dante!«, bellte jemand am anderen Ende. »Kann es sein, dass du wieder mal nur die Hälfte von deinem Job gemacht hast und stattdessen schon wieder Pizza kaust und –« »Ich brems dich mal, Fordham. Wo juckt’s dich wieder?« »Bitte?! Du hast Ding aus der Kirche entkommen lassen!« Dieser Vorwurf veranlasste Dante, einen Blick zu Jin hinüber zu werfen, als hätte er sich zwischenzeitlich aus dem Staub machen können. Jin sah stoisch beiseite. »Das Ding aus der Kirche hockt auf meiner Couch und schmollt«, stellte Dante fest. »Dann ist es nicht das richtige Ding!« »Natürlich ist es das richtige Ding. Du warst doch dabei, als dein Sani es genäht hat.« »Nennen Sie mich nicht Ding«, sagte Jin ruhig und drohend. Beherrschung war eine seiner Tugenden, doch sie hatte ihre Grenzen. Zu seiner maßlosen Verblüffung hob Dante nur die Hand – eine Geste wie zu einem enervierenden Störenfried – und zischte: »Schhh, ich telefoniere. – Was war das gerade, Chief?« »Ich sagte, komm wieder her und hol auch das andere Ding, wenn es denn ein anderes Ding ist!«, belferte es wieder aus dem Hörer, sodass Dante diesen am gestreckten Arm von seinem Ohr fernhielt und belustigt den Kopf schüttelte. »Ja, ist notiert, Steingesicht. Bin auf dem Weg. Fangt nicht ohne mich an.« Er legte auf, und in diesem Moment verschwand sein Lächeln und seine Miene wurde so todernst, dass Jin sich fragte, was plötzlich passiert sein mochte. »So, du bist also nicht alleine«, stellte Dante in höchst unangenehmem Ton fest. »Bei so was verstehe ich keinen Spaß. Pack aus. Wie viele sind da noch?« Jin gefiel es gar nicht, in einen falschen Verdacht geraten zu sein. Wer wusste schon, wozu Dante fähig war? »Ich bin allein«, erklärte er sofort. »Wenn du allein wärst, würden die nicht behaupten, du wärst wieder da. Wer ist der andere Kerl? Lügen bringt nichts.« »Ich lüge nicht«, erwiderte Jin wahrheitsgemäß, sah Dante direkt in die Augen – obwohl das nicht angenehm war – und versuchte, seine Stimme fest und aufrichtig klingen zu lassen. Dante sah beiseite; es war zu sehen, wie er über diese Aussage nachdachte. »Hast du dann vielleicht irgendwas angelockt? Was ist mit deinem komischen Vater?« »Er kann es nicht sein. Er … hat sich längst ganz mit Devil vereint, er nutzt seine Kräfte, hört auf seine bösen Instinkte – er ist selbst zu Devil geworden. Ich habe ihn nicht mehr gesehen seitdem, aber er … folgt mir nicht.« Davon war er fest überzeugt. »Mein Vater und mein Großvater haben mit sich selbst zu tun.« Dante stieß ein ärgerliches Geräusch aus. »Dann werde ich das wohl umpusten müssen, was auch immer es ist.« Er griff nach seinem Mantel. »Du bleibst hier. Und gewisse Dinge solltest du nicht anfassen, wenn du verstehst, was ich meine.« Mit diesen Worten und einem Augenzwinkern nahm er das riesige Schwert von der Wand – das Schwert, das Jin für einen Dekorationsgegenstand gehalten hatte, untauglich für den tatsächlichen Kampf, allein für die Ästhetik geschmiedet … Diesen Totschläger gebrauchte der Dämonenjäger tatsächlich als Waffe? Jin fragte sich, was die Klinge wiegen mochte. »Bis nachher«, verabschiedete Dante sich knapp, durchquerte das Zimmer und die portalartige Tür, die sich unerwartet leise hinter ihm schloss. Jin hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und abgezogen wurde. Er hat mich eingesperrt, dachte er wütend. Er behandelt mich wie ein Kind. Irgendwie musste er von diesem demütigenden Ort entkommen. Jetzt, wo Dante sein Refugium verlassen hatte, würde Jin schon einen Weg hinaus finden. Grimmig machte er sich daran, die Wohnung zu inspizieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)