Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 15: Akt III - Der Schacht: 5-3 -------------------------------------- 5-3: JIN Yuris Frage hatte Jin verunsichert. Hier, in der fragwürdigen Sicherheit von Dantes Zuhause, fühlte sich mit einem Mal noch verletzlicher als in den verschneiten Wäldern von Yakushima, wo die Welt ihre bleichen Knochen offenbarte. Weil das helfen kann, hatte Yuri gesagt, jener angebliche Zeitreisende, der ihn jetzt vorsichtig im Auge behielt, als befürchtete er, Jin könnte nachträglich in die Luft gehen. Helfen? Wie konnte es helfen, einen unschuldigen Menschen mit hinein zu ziehen in diesen Terror, der Jins Leben darstellte? Es würde vielmehr grauenhaft sein – nicht mehr allein für ihn, sondern auch für eine weitere geliebte Person, die er für sich selbst durch die Hölle schicken musste – und wofür? Nur für sein Ego? Um seinen Rachefeldzug mehr genießen zu können? Es wäre selbstsüchtig, weiter nichts. Er wollte darüber keine Diskussion mit Yuri beginnen, doch ihn anzuschweigen erschien ihm auch nicht richtig. Während er noch überlegte, was er sagen sollte, und Yuri sich gemütlich am Whisky gütlich tat, kehrte Dante plötzlich zurück und ließ die Haustür krachend hinter sich ins Schloss fallen. »So! Bin wieder da. Nehmt die Hände aus der Hose.« Er warf Yuri eine Reihe Gegenstände auf den Schoß, die immerhin so schwer waren, dass der Getroffene ein überraschtes »Autsch!« hervorstieß. »Hier, ich hoffe, du hast jetzt alles, was du haben wolltest, Nervensäge.« »Hast du ’ne Laune, Mann!«, beklagte sich Yuri und rieb sich den Oberschenkel, auf dem unter anderem ein paar Schlagringe aus blau glänzendem Metall gelandet waren. »Aber trotzdem: Danke.« Dante stapfte zweimal in seinem Wohnzimmer von einer Seite zur anderen wie ein nervöser Rockstar vor dem Auftritt. Gerade schien es in seinem Inneren zu brodeln wie im Sudkessel einer Brauerei. Jin, sensibilisiert durch die sorgfältige Ausbildung, die seine Mutter ihm hatte zuteil werden lassen, spürte den Fluss dunkler Energie, den der Teufelsjäger verströmte. Auch Yuri starrte Dante an, als rechnete er damit, dass dieser gleich auf sie beide losging. »Ich weiß einfach nicht, wo er sie hingeschleppt hat«, ächzte Dante schließlich. »Ich wünschte, das würde mich nicht so krank machen!« Ein Faustschlag gegen die Holzwand ließ das Gemäuer des Hauses bis zum Grund erbeben. Dann kam Dante abrupt wieder zur Ruhe. Seine Schultern sackten herab und er schüttelte den Kopf. »Ach, vergesst es. Ich hasse mich im Moment selber. Hatte mich nicht so schlecht im Griff, nicht, seit – … ach, vergesst es einfach.« Mit einer unruhigen Geste fuhr er sich durch den wilden silberweißen Haarschopf und zog dann langsam den Mantel aus. Jin ließ ihn nicht aus den Augen. »Du weißt immer noch nicht, wo es ist.« Es war eine Feststellung, die keiner Bestätigung bedurfte; Dantes Verhalten war leicht zu lesen. Dante wiederholte nur matt das Kopfschütteln. »Ich hab einen Plan von dem Ding, aber nicht die Koordinaten.« Jin schwieg einen Moment. Er wusste, dass er jetzt seine Hilfe anbieten musste und würde; Dante wartete darauf, war aber zu stolz, darum zu bitten. »Sag mir, was es überhaupt ist«, bat er in einem Ton, von dem er hoffte, dass er teilnahmsvoll und nicht so emotionslos klang wie in seinen eigenen Ohren. Prompt förderte Dante einen zerknitterten Faltplan zutage und warf ihn Jin auf den Schoß, wo er leise raschelnd landete. »Hier. Ich wär dir dankbar, wenn du was darüber rausfinden könntest.« Jin entfaltete das Papier behutsam. Es war abgenutzt, drohte im Griff seiner Finger Risse zu bekommen. GRITT-D674, las er und stutzte. Der Name. Dieser Name … Sein Blick trübte sich. Eine Erinnerung regte sich in ihm, der knappe Wortlaut einer Diskussion mit seinem Großvater Heihachi drang in sein Bewusstsein: Aber wenn die Leute Angst haben, da zu arbeiten, warum zwingst du sie dann dazu? Vielleicht sind dort wirklich … Monster. Seine eigene Stimme war damals noch so kindlich gewesen, ihr Klang so naiv, so dumm. Sein Blick glitt in die rechte untere Ecke des Plans. Dort stand es, winzig klein. Shardworks Corp. & Mishima Industries 2001. Als er den Kopf hob, begegnete er Dantes durchdringendem Blick. »Na, Kazama? Kannst du da mit deinen Connections was machen?« Es war offensichtlich, dass er versuchte, nicht ungeduldig zu wirken, doch Jin fühlte unverändert das Schwelen unter Dantes Fassade der Ruhe. Er nickte knapp. »Ja. Ich muss telefonieren. Es dauert nicht lange.« Ninas Nummer war die einzige, die der Speicher seines Handys enthielt. Alle anderen, die dort einmal gewesen waren – zu Zeiten seines High-School-Besuches oder seines Trainingsaufenthaltes in Australien –, hatte er gelöscht, da ihre Besitzer ihm nichts mehr bedeuteten. Rasch hatte er die Kurzwahl eingetippt und wartete auf das Freizeichen in der Leitung, während er mit halbem Ohr zuhörte, wie Yuri und Dante ein paar Worte über die wenigen Besitztümer austauschten, die die Polizei Yuri abgenommen und einbehalten hatte. Dante schien irgendein tiefes Misstrauen gegen die Schlagringe zu hegen und betrachtete sie mit einem seltsamen Glanz in den Augen, was Yuri veranlasste, die Waffen zusammen mit allen anderen Habseligkeiten in seinen Mantel zu schlagen und diesen an sich zu drücken. Sie waren eigenartig, diese Männer, die seine, Jins, unfreiwillige Gesellschaft geworden waren. Er wandte den Blick ab, als sich, nach unerwartet kurzer Wartezeit, Ninas kühle Stimme meldete. »Was kann ich für dich tun, Jin?« »Nina.« Er sprach ihren Namen ohne Zuneigung aus. »Ich brauche Informationen über GRITT-D674. Ein Projekt von MI und einem Kooperationspartner, das 2001 in Betrieb gegangen ist und kurz danach stillgelegt wurde.« »Ja, das sagt mir was«, ließ sie ihn ohne Umschweife wissen. Nina war ein Profi; niemals würde sie sentimental werden und etwa auf die Idee kommen, ihn nach seinem Befinden zu fragen. Gefühlsbekundungen unter ihnen waren trotz ihrer langjährigen Vertrautheit äußerst rar. »Die Daten liegen im Zentralspeicher. Ich übermittle sie dir, sobald ich dort bin.« »Ich brauche nichts Technisches. Ich will nur wissen, wo es jetzt ist.« »Wie du möchtest. Gib mir eine halbe Stunde.« »In Ordnung. Danke.« »Stets zu Diensten.« Sie beendeten das Gespräch. Jin ließ das Mobiltelefon in seine Hosentasche gleiten und wandte sich den beiden anderen zu, deren Ton merklich lauter und schärfer geworden war. »Das mit dem Mond kaufe ich nicht!«, versetzte Dante gerade mit düster zusammengezogenen Brauen, und Yuri blaffte zurück: »Alter, denkst du, ich kaufe das? Ich weiß nicht, wo er sie wirklich her hat!« »Darf ich euch unterbrechen?« Jin hatte leise und ruhig gesprochen, doch augenblicklich hatte er die Aufmerksamkeit beider Männer. »Und?«, bohrte Dante. »Meine Stellvertreterin kümmert sich darum. In einer halben Stunde können wir Trish suchen.« Er hatte sich bemüht, den Namen der Frau richtig auszusprechen, und erntete für diesen Erfolg nun ein halbgares Lächeln von Dantes Seite. »Na super. Ich schätze, das halte ich aus, ohne durchzudrehen.« Dante stand auf und sah zu Yuri herab. »Du brauchst noch ein Shirt, hm? Warte.« Jin sah zu, wie er in sein Schlafzimmer ging, und tauschte einen Blick mit Yuri. »Der Alte hat zumindest ein bisschen bessere Laune, was meinst du?«, grinste letzterer. »Ich glaube, ›In einer halben Stunde können wir Trish suchen‹ hat ihn wieder runtergeholt. Der spinnt echt. Der spinnt einfach komplett.« Jin nickte zu den Waffen in Yuris Schoß. »Was ist mit deinen Schlagringen?«, fragte er ohne großes Interesse. »Was gefällt ihm nicht an denen?« »Ach, oh … keine Ahnung«, wich Yuri aus, und Jin sah deutlich, dass er die Frage nicht mochte. »Er glaubt mir immer noch das Zeug mit der Zeitreise nicht.« Dante kehrte mit einem schwarzen Sweatshirt zurück. »Dein rotes hab ich in Seifenwasser geworfen, das war auch trocken noch eklig. Versuch mal das. Ist dir vielleicht ein Stück zu groß. Stammt noch aus meiner High-School-Zeit.« Sehr wahrscheinlich hatte das Kleidungsstück schon bessere Zeiten gesehen. Manche Nahtstellen waren ziemlich aufgeraut. Yuri fing das Shirt auf, zog es über und sah gleichmütig an sich herab. Es reichte ihm bis zum Schritt. »Ist okay, hab schon schlimmere Sachen angehabt.« »Soll ich Tee machen?«, fragte Dante großmütig, als wäre er bemüht, seine Rolle als guter Gastgeber weiter auszuspielen. Offensichtlich bekam er allmählich ein schlechtes Gewissen, weil er seine Gäste einsperrte. Jin begrüßte Dantes eigene Zweifel an dieser radikalen Maßnahme. Es würde nicht mehr lange dauern. »Ich hab besseren Tee als du«, behauptete Yuri und förderte den kleinen Baumwollbeutel zutage, den Dante ihm zurückgegeben hatte. Daraus fischte er einen noch kleineren hervor, der leise raschelte, als enthielte er trockene Pflanzenteile. Dante nahm das weiche Säckchen entgegen, schnupperte daran und befand: »Riecht wie Heu.« »Heu!« Yuri war entrüstet. »Das ist feinster Grüntee aus Dalian.« »Von mir aus. Ich setz ihn auf.« »Kannst du das denn?«, fragte Yuri skeptisch. »Was gibt’s da nicht zu können?« Jin ahnte, was passieren würde. Bei seinem Großvater hatte Jin grünen Tee als Matcha kennen gelernt – ein giftgrünes Pulver, das sich in kochendem Wasser auflöste, herb schmeckte und dabei half, den Geist zu fokussieren. Doch empfindliche, grüne Teeblätter durften auf keinen Fall in kochendes Wasser. Als Mensch der westlichen Hemisphäre war Dante naturgemäß ein Banause in Sachen Tee, und natürlich bewies er es. »Das kommt nicht hin mit den zwei Minuten«, sagte Yuri und tippte auf das Deckglas seiner unablässig tickenden, unheimlichen Taschenuhr, als Dante mit der Stahlkanne zurückkam. »Du kannst deinen Heuaufguss trinken oder es lassen«, gab Dante ungerührt zurück. Yuri seufzte, goss Tee in eine der Tassen und betrachtete verstimmt die Dampfschwaden, die davon aufstiegen. »Klar hast du meinen Qualitätstee mit viel zu heißem Wasser vergewaltigt. Hätte ich wissen müssen. Was kannst du eigentlich?« Sein Groll beeindruckte Dante nicht im Mindesten. »Ich finde ihn ganz in Ordnung. Schmeckt ein bisschen wie Ziegenstall ganz unten.« Während sie auf der Couch saßen und an bitterem überzogenem Tee nippten, dachte Jin weiter darüber nach, wie er vorgehen sollte. Er hatte keine Lust, hier in der seltsamsten Teegesellschaft seit Lewis Carrol weiter seine Zeit zu verschwenden, und er wusste nicht, ob er wirklich warten wollte, bis Dante die Füße hochlegte und ihn und Yuri freiwillig gehen ließ, weil er den Spaß an ihnen verloren hatte. Im schlimmsten Fall konnte er Nina darum bitten, ihn zu befreien. Einen Ansturm der Tekken Force hielt ein morscher Schuppen wie das Devil May Cry nicht aus. Als er neben sich zu Yuri sah, der so missgelaunt dreinschaute wie noch nie, verwarf er den Gedanken an einen Befreiungsschlag. Er brauchte Nina nicht. Das Problem würde sich von selbst lösen – weil Yuri genauso unbedingt seine Freiheit wiederhaben wollte wie er. Beruhigt trank er den schrecklichen Tee aus und wartete. »Du hast es wirklich verkackt!«, stellte Yuri schließlich kopfschüttelnd fest. Eine ganze Weile war es still zwischen ihnen gewesen, doch jetzt schien, wie Jin gehofft hatte, bei seinem Leidensgenossen wieder die Erkenntnis einzurasten, in was für einer absurden Situation sie sich befanden. »Du hast Aufputschmittel draus gemacht, Alter. Glückwunsch.« Yuri schob seine Teetasse so unsanft über den Tisch, dass sie klapperte. »Ich geh jetzt raus, mich bewegen.« Endlich, dachte Jin und hob den Kopf, als Yuri aufstand. »Du gehst nirgends hin«, erklärte Dante. »Halt mich auf.« Yuri ging zur Tür. Dante versuchte es noch einmal halbherzig: »Ich hab abgeschlossen.« »So?« Yuri unterzog diese Behauptung keinerlei Prüfung, sondern stellte sich einfach vor die Tür und hob den rechten Fuß, um dem Holz einen derben Tritt zu versetzen, der die Tür aus den Angeln schlug und sie krachend auf den Bürgersteig beförderte. »Heeey!«, rief Dante, doch zu Jins Erstaunen lachte er dabei laut, auch dann noch, als ein eiskalter Luftstrom hereinwehte. »Meine Tür mache nur ich kaputt!« Sein amüsierter Blick löste sich von Yuri und richtete sich auf Jin. »Willst du auch spielen gehen, Kazama? Na los.« Jin schaute zurück. Nun war sehr plötzlich das eingetreten, was er herbeigesehnt hatte. Und nun tat er etwas sehr Irrationales: Er griff in die Hosentasche und legte sein Mobiltelefon vor Dante auf den Tisch. »Es ist zugriffsgesichert, aber du kannst Anrufe annehmen.« Dante erkannte das Pfand als das, was es war. »Gut, ich sage deiner Freundin, dass es später wird.« »Sparring?« Yuri rief ihm dieses Wort schon entgegen, als im grauen Hinterhof abseits der Straße noch einige Meter zwischen ihnen lagen. Begrenzt wurde die asphaltierte Fläche von den zu jeder Seite dunkel aufragenden Häuserfassaden. Es war ein gänzlich leerer, schmuckloser Platz. »Willst du das wirklich?«, gab Jin zurück und ging weiter auf Yuri zu. Sein Herz schlug schnell und hart wie nach schwerer Arbeit; Dante hatte ihnen allen eine Überdosis Koffein verpasst. »Hast du ’ne bessere Idee? Hier ist nicht viel Platz zum Bewegen. Wollen wir lieber schreiend im Kreis rennen?« Das wäre der Situation angemessener, dachte Jin düster. Aber vielleicht war es wirklich besser, die Energie in geordneten Bahnen herauszulassen, anstatt sie – in seinem Fall – als Futter für Devil anzustauen. »Von mir aus. Sparring.« »Na los, fangt an!«, hallte prompt eine belustigte Stimme über den Hof. Dante hatte sich aus seinem Badezimmerfenster gelehnt, die muskulösen Arme über dem Sims gekreuzt. »Tobt euch aus, bevor ihr mein Büro zerlegt und behauptet, mein Tee wäre schuld. Soll ich richten?« »Halt die Klappe!«, schleuderte Yuri über die Schulter in seine Richtung. Dann positionierte er sich lässig und hob die Fäuste. Jin tat es ihm gleich. Er beobachtete Yuri; seine Haltung verriet bereits jetzt viel darüber, wie er einen Gegner angehen würde. Dante machte sich einen Spaß daraus, ihre Konzentration zu stören: »Ein Übungskampf ohne alles? Passt auf, dass ihr euch nicht wehtut. Kazama, deine Wundnaht hat nicht gerade ein Profi gemacht.« »Der labert echt zu viel«, brummte Yuri mit einem genervten Ausdruck, der die Schatten um seine Augen noch zu verstärken schien. »Ich bin vorsichtig«, erwiderte Jin ruhig. Er war es gewohnt, abgelenkt zu werden, das hatte durchaus zu seinem Training gehört. Inzwischen hatte er Yuris Lauerstellung entziffert und wusste, was er zu erwarten hatte: reinen Straßenkampf, keinen klaren Stil, eine Vielzahl von Elementen unterschiedlicher Kampfsportarten. Mixed martial arts. »Komm«, forderte er ihn auf. Auf diese Aufforderung hin ging Yuri ihn energisch an. Er überbrückte den großen Abstand zwischen ihnen mit zwei, drei Schritten, die eher wie flache Sätze aussahen, und sandte den ersten, geraden Hieb frontal geradeaus. Es war natürlich ein stark gebremster Schlag, doch als Jin Yuris Faust locker ablenkte, spürte er dennoch die rohe Gewalt, die dahinter steckte, nur im Zaum gehalten von eiserner Beherrschung. Mit jedem Angriff, den er abwehrte, zweifelte Jin weniger daran, dass Yuri mühelos Schädel und Knochen bis zur Unkenntlichkeit zerschmettern konnte. Hatte er nicht gesagt, er wäre auch so etwas wie ein Dämonenjäger? Ganz gleich, wie übertrieben das war: Mit den klingenbewehrten Schlagringen würde er ein sehr unangenehmer Gegner sein, nicht nur für Menschen. Und es war auch nicht so, als ließe Yuri sich schnell demoralisieren. Obgleich er nur die leere Luft traf und Jin ihn unausgesetzt parierte, indem er seine Fäuste sanft abfing, gab Yuri nicht nach, sondern ließ nur hin und wieder mit einem dreckigen Lachen beide Zahnreihen aufblitzen, ehe er sich wieder in einer anderen Strategie Jins unüberwindbarer Deckung entgegen warf. Schließlich gingen sie mit einer gewissen Befriedigung auseinander. Es war warm geworden unter dem Mantel, und Jin widerstand der Versuchung, ihn auszuziehen; hier draußen in winterlicher Kälte wäre das keine gute Idee, zumal er seine frische Verletzung nicht strapazieren wollte. Schlimm genug, dass er sich in dieser Verfassung überhaupt einer Art von Training widmete, nur um einer unangenehmen Situation zu entgehen. »Du bist ungeheuer stark«, sagte er zu Yuri, und es meinte es völlig ernst. »Und du bist mir technisch um Welten überlegen.« Yuri klang zwar ernüchtert, aber nicht enttäuscht. »Hattest du einen Meister?« »Meinen Vater, als ich klein war. Danach nicht mehr wirklich. Nur Grubenkämpfe.« Jin furchte die Stirn. »Kämpfe in Gruben?« »Ja. Nachts in Gruben. Man schlägt sich mit Monstern. Ich hab eine Weile davon gelebt.« Diese weitere unglaubliche Geschichte erklärte Yuris ungeschliffene Manöver, die raue, wild entschlossene Energie. »Ich glaube, du könntest sehr gut sein, wenn du einen Trainer hättest.« »Gib mir mal eine Kostprobe«, forderte Yuri. Jin rieb sich die bloßen Fingerknöchel. Sie waren warm, aber dennoch weiß von der umgebenden Kälte. Ihm gegenüber hielt Yuri die Fäuste zur Deckung erhoben und musterte ihn konzentriert. »Du gehörst jedenfalls nicht zu denen, die dauernd um ihren Gegner rumhopsen. Bist du ein Karateka?« »Ja.« Bis jetzt hatte Jin ganz fest gestanden, doch nun löste er die Stellung auf. Er war kein Kämpfer, der durch Geschwindigkeit punkten konnte; lieber platzierte er seine Treffer wohlkoordiniert und wirksam. Diese Präzision versetzte Yuri augenblicklich in eine nachteilige Position, zwang ihn zur Rückwärtsbewegung. Er parierte, aber minimal verzögert, und seine versuchten eigenen Attacken wurden zu mühsamem Konter. Noch ließ Jin zu, dass Yuri seine Fäuste wegschob, drängte ihn dabei jedoch weiter und weiter auf die Häuserwand zu, bis Yuri schließlich mit dem Rücken dagegen stieß und sich, als er keinen Ausweg mehr sah, blitzschnell unter einem von Jins Hieben hinwegduckte. Taumelnd fing er sich und betrachtete seinen Sparringpartner keuchend und hingerissen zugleich. »Scheiße, ich hatte keine Ahnung, dass du so gut bist.« Dante, der aus seinem Fenster alles aufmerksam beobachtet hatte, rief hinunter: »Jin hat angeblich Fäuste aus Eisen. Mit Nachweis!« »Stimmt das?« Yuri legte den Kopf schief. »Ja«, bestätigte Jin bereitwillig. »Ich habe … ein Turnier gewonnen.« DAS Turnier, hätte es heißen müssen. Er erzählte kurz davon – sehr kurz –, und Yuri hörte es sich an, ohne auch nur zu blinzeln. »Und ich hab mich schon gefragt, wie du so gut sein kannst, obwohl nicht dein Überleben von deinen Fähigkeiten abhängt.« »Du hast keine Ahnung«, schnaubte Jin. »Es hängt alles davon ab.« Sie betrachteten einander kurz unschlüssig, dann sah Jin zum Fenster. Dante war von seinem Aussichtsplatz verschwunden, doch das Fenster stand weiterhin offen. »Wollen wir wieder reingehen?«, fragte Yuri. »Mir wird kalt.« In dem Moment kehrte Dante ans Fenster zurück und beugte sich über das Sims. »Hey, Kazama, komm mal rein! Die Dame redet nicht mit mir. Will dich persönlich sprechen.« Yuri kommentierte das mit einem amüsierten Blick. »Also kann uns deine Assistentin weiterhelfen?« Abwarten, dachte Jin, ohne etwas zu erwidern. Irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass die Sache einfach werden würde. Nina konnte ihnen die Koordinaten nennen – aber gleichfalls nicht voraussehen, wer oder was sich ihnen dort in den Weg stellen würde. Ninas Stimme hatte die übliche Distanz und Unberührtheit inne, als sie ihm Breiten- und Längengrad jenes abgelegenen Ortes nannte, an dem GRITT-D674 buchstäblich zu Grabe getragen worden war. Riesige Kräne hätten das Erdreich tief aufgerissen, schilderte sie teilnahmslos, Bäume oder Sträucher gäbe es im Umkreis vieler Kilometer nicht mehr. »Komme ich auf öffentlichen Straßen dahin?«, erkundigte Jin sich knapp. »Weitgehend. Ich habe alles verschlüsselt an dein Handy geschickt, du kannst dir von deinem jetzigen Standpunkt aus eine Anfahrtsroute berechnen lassen.« »Danke.« »Jin …« Sie zögerte. Er hörte sie ausatmen. »… Es ist doch alles in Ordnung bei dir?« »Ja, natürlich.« Falls sie erwartete, dass er ihr jetzt erzählte, warum er all diese Informationen von ihr angefordert hatte, so würde er sie enttäuschen. Er wollte dies hier immer noch allein hinter sich bringen. Wobei, nein, allein vielleicht nicht, aber eigenverantwortlich. »Na dann«, gab Nina zurück und klang nun wieder ganz unbeteiligt. »Lass es mich wissen, wenn du noch was brauchst.« »Sicher.« Jin beendete die Verbindung und wandte sich den erwartungsvollen Gesichtern seiner neuen Verbündeten zu. »Es kann nur noch wenige Minuten dauern, bis –«, setzte er an, doch sein Handy unterbrach ihn mit einem affirmativen Signal, das ihm bedeutete, dass ein Satz Dateien eingegangen war. »Moment.« Geübt tippte er das zwanzigstellige Mishima-Kennwort ein, um die Daten entschlüsseln zu lassen; dann ließ er das eingebaute Navigationssystem eine Route berechnen. »Hier.« Er hielt das Telefon hoch, damit Dante und Yuri die Landkarte mit dem hervorgehobenen Anfahrtsweg sehen konnten. Prompt streckte Dante die Hand nach dem Handy aus, aber Jin entzog es geschickt seiner Reichweite. »Ich führe uns hin«, erklärte er. Dante nickte unwillig. »Von mir aus. Na los, hoch mit euren Hintern.« Schon war er dabei, seinen Mantel wieder anzuziehen. Bereit, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen, wollte Jin ihn soeben fragen, auf welche Art und Weise sie denn ans Ziel zu gelangen dächten, da durchbrach ein Geräusch die Stille, das sie an diesem Vormittag schon allzu oft vernommen hatten. Dantes Telefon. Sein Besitzer stieß ein obszönes Wort aus, das in den USA ebenso beliebt wie geächtet war und mit F begann, und ging zurück zu dem Gerät, um es sehr unsanft von der Gabel zu reißen. Sicher glaubte er, es wäre Trishs Entführer, und hatte nur deshalb abgenommen; doch seine Miene drückte augenblicklich Enttäuschung aus. »Nein!«, sagte er. Das »Doch!« vom anderen Ende der Leitung war bis in die andere Ecke des Raums zu hören. »Es sind Kinder im Spiel, Mann!« Dante gab ein ennerviertes Geräusch von sich, das darauf schließen ließ, wie mühsam er seinen Grimm hinunterschluckte. Seine freie Hand ballte sich gefährlich. Dann sagte er so beherrscht wie möglich: »Nicht jetzt, Fordham. Ich melde mich, sobald ich Zeit dafür habe.« Sein Gesprächspartner redete sofort weiter auf ihn ein. Nur Sekunden später, in denen er widerwillig zugehört hatte, klärte sich Dantes verbissene Miene überraschend schnell und wich einem Ausdruck ungläubiger Betroffenheit. »Dein Ernst?«, fragte er. »Ich warne dich. Wenn das nur eine Masche ist, um mich wieder mal dazu zu bringen, eure Drecksarbeit zu machen, dann beenden wir die ganze Geschichte.« Er ließ den Hörer wieder auf das Telefon fallen und sah seine Gäste finster an. »Die Rettungsaktion verzögert sich … mal wieder.« »Kinder?«, fragte Yuri. »Leider.« »Wo?« »In einem U-Bahnschacht.« Jin schüttelte im Geiste den Kopf. Wie kamen Kinder und Dämonen gleichzeitig in einen U-Bahnschacht? War er hier der Einzige, der sich das fragte? »Ich hoffe, du hast nicht nur eine große Klappe gehabt«, sagte Dante zu Yuri. »Ich werd’s dir zeigen, du arroganter alter Sack.« Seufzend nahm Jin wieder sein Handy in die Hand und klappte es auf. »Sag mir die Stelle, dann suche ich uns den kürzesten Weg«, bot er an und hielt, den Daumen über dem Touch-Display, geradewegs auf die Tür zu, bis Dante ihn jäh an der Schulter packte und zum Halten zwang. »Mal langsam, Prügelprinz. Dein Engagement in allen Ehren, aber du wirst uns leider nicht begleiten.« »Was?« Jin glaubte, er habe sich verhört. »Ich soll – …« »Da werden Dämonen sein. Du und dein gehörnter Kumpel werdet schön hier bleiben. Ich kann nicht auf dich aufpassen, wenn Gören und Teufel meine Aufmerksamkeit verlangen.« Schon ließ er Jin stehen, um sich Yuri zuzuwenden. »Kommst du jetzt endlich?« Im Vorbeigehen nahm er noch die Pistolenholster auf und das Schwert von der Wand. Jin stand wie angewurzelt. Er sollte also nicht mitkommen? Er war nicht Teil dieser großen gemeinsamen Aktion, die sie geplant hatten? War er überhaupt Teil von irgendetwas – hatte dieses ganze Gerede darüber, dass sie einander helfen würden, ihre Probleme zu lösen, überhaupt nichts zu bedeuten? »Das ist nicht richtig«, hörte er sich sagen und spürte Ärger in sich aufwallen. »Nicht fair, aber vernünftig«, gab Dante lakonisch zurück und bugsierte Yuri, der immer noch an einem seiner beiden Gürtel nestelte, durch die wieder eingehängte Haustür. »Hier hast du eine bessere Aufgabe.« »Und welche soll das bitte sein?«, fragte Jin grimmig. Es ärgerte ihn, dass seine Erziehung ihn selbst dann noch zu Höflichkeit verdammte, wenn es in ihm siedete. Dantes Antwort gab der kleinen, zischenden Flamme neuen Zunder. »Na, du bewachst das Telefon. Damit es nicht wegläuft.« »Was?« Jin war zu perplex zum Protestieren. Ein Schlag in die Magengrube hätte ihn nicht besser aus der Fassung bringen können. »Auf welche Art«, knurrte er leise, »gebe ich dir Grund dazu, dich ständig über mich lustig zu machen?« Tatsächlich wirkte Dante etwas verblüfft über den Vorwurf. Seine herablassende Miene wurde etwas weicher. »Pass auf«, erklärte er. »Ich mache das weder, weil ich dich ärgern will, noch weil ich einen Kontrollzwang habe oder mich für den Allergrößten halte. Ich mache das, weil ich sehe, dass du Mist bauen wirst.« Er deutete vielsagend auf seine Augen und dann auf Jin. »Ich weiß, ich bin kauzig, aber blöd bin ich nicht. Sei vernünftig.« Jin fühlte sich damit nicht versöhnt. Alles in ihm sträubte sich dagegen, den Zorn zu schlucken und einsichtig zu sein. »Ohne mich wüsstest du immer noch nicht, wo dein Feind sich versteckt!«, insistierte er. Er konnte sich nicht helfen; er fühlte sich zurückgewiesen wie ein lästiges Kind. Dante respektierte ihn noch immer nicht, das war nun klar. Diese Vermutung bestätigte der Teufelsjäger gleich darauf ein weiteres Mal, indem er Jin einen tadelnden Schulterblick zuwarf. »Diskutier nicht, Kazama. Wir beeilen uns.« Damit wandte er sich ab und ging weiter. Im selben Moment wurde Jin bewusst, wie sehr er es hasste, so behandelt zu werden. Als wäre er ein dummes Kind, das sich ständig in die Angelegenheiten Erwachsener einmischte. Oh, er hasste es. Das hier ging ihn sehr wohl etwas an! Warum behandelte Dante ihn nicht wie einen Gleichgestellten? Was hatte dieser zwielichtige Yuri ihm voraus? Jin fühlte seine Wut über diese Ungerechtigkeit wachsen, spürte seinen Puls immer schneller hämmern. Man durfte ihn nicht ärgern. Niemand durfte das. Gerade jetzt war keine Vernunft in ihm, kein Einsehen, er wollte nicht gefügig sein. Dante nahm sich eindeutig zu viel heraus. Als er knurrte, war es tief und kehlig. Seine Fäuste waren so verkrampft, dass seine Fingernägel sich in die Handballen gruben. Der Schmerz erreichte ihn schon nicht mehr. Undeutlich sah er vor sich, wie Dante, schon halb aus der Tür heraus, auf das Geräusch reagierte. Eine einzige, flüssige Bewegung, ein Ruck und ein dumpfer Aufprall. Jins Rücken lag an der Wand. Dantes Hand war auf seinen Halsansatz gepresst. Devil bäumte sich auf, wollte ihm seinen Hass entgegen brüllen – – und erbebte, als er geradewegs in Dantes Augen sah. Eiskalte Augen, unverwandt auf ihn gerichtet. Bodenlose Abgründe. Und dann sah Devil noch etwas anderes. Oder besser, jemand anderen. Jin keuchte auf. Schüttelte sich in Dantes Griff. Kalter Schweiß brach ihm aus. Unfähig, ein Wort hervorzubringen, starrte er Dante an, der jetzt wieder nur Dante war und nichts weiter. Er begegnete einem kühlen, herablassenden und ziemlich genervten Blick. Mehr nicht. Trotzdem hatte Devil sich so tief geduckt wie selten zuvor. Aller dämonische Zorn war schlagartig verraucht. Der mächtige Teufel, der in Jin lebte, hatte sich in den Staub geworfen. Wovor? Jin schluckte trocken. »Ich …« »Hast du dich wieder eingekriegt?« Dante ließ ihn los, als hätte er ihm nur ein Staubkorn vom Mantelaufschlag gewischt. »Reiß dich zusammen und stell nichts an. Ich weiß schon, warum ich dich hierlasse.« Und mit einem letzten warnenden Blick und einer unmissverständlichen Geste kehrte er Jin wieder den Rücken, um nun endgültig die ächzende Tür hinter sich zufallen zu lassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)