Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 24: Akt IV - Balsam: 8-3 -------------------------------- 8-3: JIN Unschlüssig starrte Jin auf Yuri hinab, der sich von seiner Umwelt vollkommen abgekapselt hatte und in eine Stille verfallen war, die an seiner Lebendigkeit zweifeln ließ. Seine Brust hob sich kaum noch. Er fragte sich, ob es seine Schuld war. Er wusste, dass er sich zumindest bei Yuri äußerst missliebig gemacht hatte, und ob der offenen Feindseligkeit des Anderen überraschte es ihn, dass Yuri Dante offenbar freiwillig auf die Rettungsaktion begleitet hatte. War es dabei nur um Trish gegangen? Jin bedauerte diesen Verlauf, denn Yuris offen zur Schau gestellte Abneigung gegen Verrat machte ihm diesen sympathischer denn je. Gerade kehrte Trish mit den Blättern zurück, die Yuri sie zu holen gebeten hatte. Jin hörte, wie Dante in der Küche Wasser zum Kochen aufsetzte. »Es ist Traumkraut«, sagte sie. »Eine Pflanze aus Süd- und Mittelamerika, ein natürliches Psychopharmakum. Ureinwohner nutzen es zum Einleiten von Klarträumen – ihr wisst schon, Träume, in denen man weiß, dass man träumt, und ihren Inhalt beeinflussen kann. Es soll die Sinne klären und völlige innere Ruhe herbeiführen, ohne Müdigkeit zu verursachen.« Sie musterte Jin prüfend. »Denn das ist das Problem, richtig? Wenn du normale Beruhigungsmittel nimmst, betäubst du dich, nicht Devil. Dadurch hat er mehr Macht als vorher und alles wird noch schlimmer.« »Ja.« Jin starrte immer noch Yuri an. »Wie häufig ist diese Pflanze heute noch?« »Selten. Traumkraut ist schwer zu kultivieren, und der Export ist stark reglementiert.« »Also opfert er seinen Vorrat für mich.« »Sieht so aus.« »Obwohl er wütend ist?« »Das Gekläffe würde ich nicht überbewerten«, sagte Trish kühl. »Er ist emotional, das ist alles. Als du bewusstlos warst, hat er dich keine Sekunde aus den Augen gelassen.« Jin betrachtete die trockenen Blätter nachdenklich, dann Yuri, der wie ein Komapatient weiterschlief. »Woher weißt du so viel über das Zeug?«, wollte Dante von Trish wissen, als er das Wasser mitgebracht die Blätter damit aufgegossen hatte. »Weil ich es in São Paolo in einem Teehaus probiert und nicht vertragen habe.« Auf Dantes neugierigen Blick hin fügte sie hinzu: »Scheint, als würde es auf Dämonen wirken wie … K.O.-Tropfen.« Wahrscheinlich hatte Dante nun das Gefühl, etwas Elementares verpasst zu haben, und Jin dankte ihm, dass er nicht weiter fragte. Als der Tee fertig war, bekam er schon von dem stechend bitteren Geruch weiche Knie. Er zwang sich dennoch, ihn einzuatmen, und hielt die Nase dicht über die Tasse, sodass seine Wangen vom Dampf feucht wurden. Was er gesagt hatte, war nicht erfunden gewesen. In seinem Kopf hallte ein verderbtes Echo jener Stimme, von der er wusste, dass sie Azazel gehörte. Sie war wie die von Devil, aber tiefer, grollender, mächtiger. Er fühlte, wie diese Stimme seine Gedanken hin und her bewegte, um zwischen ihnen nach gewalttätigen Impulsen zu wühlen. Immer wieder flackerten die unverständlichen, bösartigen Worte in seinem Inneren auf. Jedes Mal zuckte Jin dabei innerlich zusammen. Instinktiv wusste er, wusste einfach, dass nun auch Dantes durchdringender Blick Devil nicht mehr niederringen würde; der Teufel hatte Sukkurs erhalten von etwas, das Äonen älter war als er, eine Urgewalt, die ihm aus der Ferne Kraft gab, und jeder Versuch, Devil einzuschüchtern, würde ihn jetzt nur noch provozieren. Dante lachte leise und deutete vage auf die Tasse. »So wie du aussiehst, sollten wir dir das Zeug nicht lieber gleich intravenös geben, hm?« Jin war nicht amüsiert, und wie immer machte er keinen Hehl daraus. »Du hast einen komischen Humor«, murmelte er in die Tasse. »Und du hast komische Haare.« »Gibt es sonst noch etwas, das du mir sagen willst?« »Ja. Deine Wunde braucht ’nen Check-up.« Dante deutete auf Jins verbundene Flanke. »Die von dem Messerstich. Ich bin ahnungslos bei so was, aber die Typen, die dich verarztet haben, sagten, du müsstest nach ein paar Tagen die Fäden ziehen lassen.« Jin seufzte, stellte die Tasse auf den Tisch und stand auf. »Das erledige ich sofort.« »Ich weiß leider nicht, wer so macht.« »Jeder Arzt kann das machen. Hast du einen, dem du vertraust?« Im selben Moment wurde Jin klar, wie dumm diese Frage klang, wenn man sie jemandem stellte, der seinen Wunden gewöhnlich beim Heilen zusehen konnte. »Schon gut, ich werde einen finden«, murmelte er und griff nach seinem Handy. »Nur muss ich irgendwie hin kommen.« Zur Antwort hielt Dante einen kleinen silbernen Zündschlüssel hoch. »Kannst du Motorrad fahren?« Jin war so erstaunt, dass es einige Sekunden dauerte, ehe er die Antwort fand. »Ja … Ja, kann ich.« »Gut. Hier.« Dante warf ihm den Schlüssel zu, und Jin fing ihn etwas ungeschickt. »Steht draußen.« »Ich weiß.« Ungläubig wog Jin den kleinen Gegenstand in der Hand. »Aber warum –« »Ich stehe zu meinem Wort, Kazama. Ich vertraue dir.« Er zögerte kurz, ehe er hinzufügte: »Tut mir leid, dass ich dich nicht so behandelt hab.« Jin schüttelte ratlos den Kopf. Du hättest mich doch einsperren sollen, dachte er, das hätte uns vieles erspart. »Du bist jünger als der da«, fuhr Dante mit einem Kopfnicken zu Yuri fort, »trotzdem würde ich dir einen Schnaps anbieten und dem einen Apfelsaft. Verstehst du?« »Nein.« »Dann anders: Ich respektiere dich und das, was du durchmachst. Und jetzt mach, dass du wegkommst, bevor ich weiter rede wie ein alter Mann.« Jin trank die Tasse mit einiger Überwindung ganz leer, ehe er aufbrach. Fädenziehen war nicht angenehm, und er wollte nicht austesten, wie viel davon Devil jetzt tolerieren würde. Dantes antiquiert aussehendes Motorrad, das jedem großen Rockstar gut gestanden hätte, war wie immer vor der Eingangstür am Straßenrand geparkt. Es unterschied sich sehr von dem modernen Modell, das Jin gewöhnt war – eine vollautomatische Sportmaschine, die per Knopfdruck gestartet wurde und sämtliche Statuswerte über Digitalanzeigen mitteilte –, doch mit etwas Geduld brachte Jin das Gefährt schließlich zum Starten. Es dauerte ein paar Biegungen, bis er sich mit der altmodischen Steuerung vertraut gemacht hatte, doch dann brachte ihn Dantes Fahrzeug schnell und sicher in die Innenstadt. Beim Fahren spürte er bereits die Wirkung des Traumkrauts, die sich verblüffend von der eines herkömmlichen Sedativs unterschied: Es machte weder die Lider schwer noch das Hirn träge, im Gegenteil; Jin spürte eine Klarheit im Kopf, die es leicht machte, jeden beliebigen Gedanken zu ergreifen und festzuhalten. Gleichzeitig war er so ruhig, so mühelos konzentriert, dass es ihm tatsächlich leicht fiel, Devil zurück zu halten. Unter Einwirkung der Droge konnte er all diese Dinge gleichzeitig tun, ohne dass es ihn geistig erschöpfte. Es war genau das, was er gebraucht hatte. Die Fäden zu ziehen war keine große Angelegenheit, und der vollbärtige Arzt machte auch keine daraus. Kommentarlos pinzettierte er die Enden der durchtrennten Naht und zupfte sie Stück für Stück aus der gut verheilten Haut. Jin hielt still und starrte aus dem Fenster des kleinen Behandlungszimmers auf die Straße, froh darüber, keine Fragen zur Herkunft der Verletzung beantworten zu müssen. »Behalten Sie das noch im Auge«, sagte der Arzt, als er sein Besteck beiseite legte, und deutete auf den kleinen Blutstropfen auf dem Tupfer. »Schonen Sie sich noch ein paar Tage. Dann sollte alles in Ordnung sein.« Zweifellos hatte er an Jins muskulöser Statur sofort erkannt, dass er Profisportler war. »Werde ich«, antwortete Jin bemüht. Als er auf dem Rückweg war, sein Gemüt noch immer durch die Leichtigkeit des Traumkrauts wie auf Watte gebettet, brach endlich auch die Sonne hinter der grauen Wand hervor, als hätte sie einen langen Kampf gewonnen. Ihre Strahlen berührten Jins bloße Unterarme, und als er kurz hinauf in die sich teilenden Wolken blickte, fühlte er unvermittelt etwas in sich keimen, das er zuletzt tief unter Apathie und Empfindungslosigkeit vergraben hatte: Hoffnung. Als er zurück war und die schwere massivhölzerne Doppeltür aufdrückte, saßen Dante und Trish über eine riesige Landkarte gebeugt, die, voll ausgebreitet, an allen Seiten über die Tischplatte hinausragte. Jin sah die zerklüftete Oberfläche einer Insel. Dante sah auf und begrüßte ihn mit den Worten: »Weißt du, wo Wales ist?« »Ja, natürlich«, antwortete Jin und sah sich nach Yuri um, der auf dem Sofa saß, die Füße gemütlich auf dem Tisch und eine Tasse seines Beruhigungstees in der Hand, und Jin nur einen beiläufigen Blick zuwarf. »Das ist ein Land in Großbritannien, neben England.« »Was hältst du davon, wenn wir uns da mal umsehen?« »In Wales? Wofür?« Yuri stellte die Tasse auf den Tisch. »Na, deinetwegen, Mann. Der Irre sucht die fehlenden Seiten, das ist wohl klar.« Ohne ihn anzusehen, ließ Jin sich auf der Couch gegenüber nieder. Er hatte schon so oft und lange auf ihr gesessen und dabei so viele seiner Probleme ausgebreitet, dass sie ihm schon wie seine persönliche Therapiecouch vorkam. »Aber was wissen wir überhaupt über das Buch? Wer hat es geschrieben?« »Das weiß niemand«, nahm Dante das Wort. »Da sind verschiedene Dämonologen aus der damaligen Zeit im Gespräch, unter anderem ein Gelehrter namens Roger Bacon. Und Hyuga hier behauptet, dass er ihn gekannt hat.« Jin überprüfte das in Gedanken und schüttelte langsam den Kopf. »Das ergibt zeitlich keinen Sinn.« »Hab ich ihm auch gesagt.« »Aber ich kenne ihn!«, behauptete Yuri. »Und du willst sagen, dass du weißt, wo er gelebt hat?«, fragte Jin spöttischer als beabsichtigt. »Sollen wir das glauben?« Yuri reckte das Kinn vor. »Roger wohnt in Aberystwyth.« »Aberwo?«, fragte Dante. »Eine Stadt in Wales. Dort stand das Kloster Nemeton. Davon gehört?« »Nein.« »Ihr wisst echt gar nichts! Wir müssen dahin. Roger hat die Seiten entfernt, also weiß er auch, wo sie sind. Wir müssen sie kriegen, bevor Sarris sie kriegt.« Dantes lahm angehobener Arm fegte ein paar Blätter vom Schreibtisch, die geräuschvoll zu Boden flatterten. »Leider ist das auf der anderen Seite der Erdkugel.« Jin setzte sich unruhig in Bewegung, durchquerte den Raum. Seine Gedanken gerieten in Bewegung. »Sarris hätte nach dem Kampf im Schacht davon ausgehen können, dass Trish ihn belügt, ein …« Kurz suchte er das richtige Wort. »… Bluff. Aber er hat geahnt, dass sie Recht hat. Das heißt, er muss eine Idee haben, wo die Seiten sind.« »Also reisen wir jetzt sofort auf Verdacht nach Wales – einmal um die halbe Welt?«, fragte Dante ungläubig. »Ich meine, ich bin an Bord, aber … wie?« »Wir haben doch die Knete dafür«, mutmaßte Yuri und sah Jin direkt in die Augen. »Oder?« Jin straffte sich. Das war es. Wenn er so das Vertrauen der Anderen zurückgewinnen konnte, war er zu allem bereit – sogar dazu, das verhasste Erbe der Mishimas anzutreten. »Natürlich. Überlasst das mir.« Dante musterte ihn prüfend. »Du bist noch nicht lange im Besitz von so viel Geld, stimmt’s?« »Wie kommst du darauf?« »Weil du es nicht gewohnt bist. Normalerweise wollen Reiche immer reich bleiben oder noch reicher werden. Immer, wenn sie was hergeben sollen, stehen sie erst eine Weile da und rechnen. Du aber nicht … Du sagst einfach: Ja, ich hab die Kohle. Und dabei siehst du aus, als ob dich das selber überrascht.« Er schmunzelte. Jin wandte sich unwillig ab. »Es ist wohl besser, wenn ich mich um die Organisation kümmere.« »Allerdings. Du könntest –« »Ich will keinen der … meiner Leute einweihen«, unterbrach Jin ihn sofort. »Jedenfalls … noch nicht.« »Ganz wie du meinst. Du bist der Mann mit der Kohle.« Jin schnaubte innerlich. Genauso, das wusste er, würden ihn bald sehr viele Menschen betrachten – als etwas, das er niemals, niemals hatte sein wollen. Der Mann mit der Kohle. Da die Organisation der Reise nun Priorität hatte, versuchten sie sich alle gemeinsam an einer sinnvollen Ablaufplanung. Jin und Yuri begutachteten das aramäische Henochbuch, um zu entscheiden, welchen Wert es für ihre Unternehmung haben mochte. Da Jin fest entschlossen war, alles über Azazel herauszufinden, forschte er eine Weile fruchtlos im Internet über die das Buch. Immer noch wollte er nicht Nina einweihen, obwohl es sicher klug wäre, sie auf Informationssuche zu schicken; doch ihm widerstrebte der Anschein von Verwundbarkeit, der damit einherging. Er wusste, dass Männer mit Macht sehr schnell unter der Erde verschwanden, wenn sie Schwäche zeigten, und diesen Fehler würde er nicht machen – egal, wie sehr er Nina vertraute. Yuri indes bestand darauf, das Henochbuch einfach mitzunehmen. »Roger kann das lesen«, behauptete er, als ginge er ernsthaft davon aus, in Wales einem hundert Jahre alten Mönch zu begegnen, der Aramäisch verstand. Während sie recherchierten, kümmerte Trish sich unaufgefordert um das Geschäft. Sie nahm Dantes Platz hinter dem Schreibtisch ein und übernahm das Telefon, wobei sie das »Devil May Cry« so zuckersüß in den Hörer trällerte, dass ihre Abweisung, wenn das Passwort nicht fiel, dem Anrufer vermutlich trotzdem noch den Tag versüßte. Längst war Jin eines unmissverständlich klar: Dante und Trish waren ein Paar. Ihre Beziehung mochte sowohl aromantisch als auch asexuell sein, aber dennoch war sie auf anderer Ebene so tief und vertraut, so wortlos und selbstverständlich, dass es Jin beinahe schmerzte, die vielen kleinen Gesten und flüchtigen intimen Blicke zwischen ihnen mitanzusehen. Seine eigene Sehnsucht nach Halt und Beistand durch eine andere Person erkämpfte sich bisweilen einen Weg an die Oberfläche seiner gut behüteten Gefühlswelt, und dann ging er fast in die Knie vor der Erkenntnis, dass er niemals Teil einer solchen Partnerschaft sein konnte. Am Abend nahm Trish einen Anruf entgegen, der nicht nach dem üblichen Gruß endete. Ihre Miene war ernst, während sie lauschte; Jin hörte mit halbem Ohr, wie sie in einen seriöseren Ton fiel, und sah vom Sofa aus zu, wie sie etwas auf einen der vielen herumliegenden Zettel notierte. »Passwort«, sagte sie, als sie aufgelegt hatte. »Eastport.« »Oh, gut«, antwortete Dante, eine Spur zu eilig von dem Henochbuch aufsehend. Er war die letzte halbe Stunde so still gewesen, dass Jin vermutete, er hatte nicht gelesen, sondern geschlafen. »Kommst du alleine klar?« »Nein, du musst mit.« »Wirklich?« »Ich kann nicht alleine zwei Ausgänge blockieren.« Trishs Logik war unfehlbar. »Ich lasse Jin nicht alleine hier. Nimm Yuri mit, der braucht frische Luft.« »Gar nicht«, behauptete Yuri aus seiner lümmelnden Position vom anderen Sofa aus. Dante sah ihn schräg an. »Ich weiß genau, dass du uns die ganze Zeit zuhörst und die Zeitung von gestern dich nicht die Bohne interessiert.« »Ach ja?« »Du hältst sie falsch rum.« Augenrollend warf Yuri die Lokalzeitung zur Seite. »Na schön! Was soll ich machen?« »Wir machen eine kleine Spritztour«, erklärte Trish und bewaffnete sich mit ihren beiden Pistolen. »Auf dem puffenden Fahrrad? Nö.« »Ich bin damit vorhin zum Arzt gefahren und zurück«, sagte Jin, nur um zu sehen, wie Yuri darauf reagierte. »Echt? Na dann.« Yuri sprang auf. »Wär doch gelacht.« Jin sah ihnen nach, als sie hinausgingen. »Du darfst dich richtig austoben …«, hörte er Trish noch überzeugend sagen, dann fiel die schwere Tür ins Schloss. Sobald das Geräusch verklungen war, schob Dante das Buch beiseite. »Gut, die Luft ist rein. Zeit für ein Männergespräch«, verkündete er. »Männergespräch?« »Naja, Trish zählt nicht, da ihre Reproduktionsorgane sich innen befinden, und Yuri disqualifiziert sich dauernd selbst, also bleiben nur wir als echte Männer übrig.« »Was hast du vor?«, seufzte Jin. Dante stützte beide Ellenbogen auf die Tischplatte. »Wir reisen zusammen nach Wales, wir Drei. Wir müssen einander vertrauen können.« »Oh, bitte. Nicht das wieder.« »Hör zu, ich rede nicht von unseren vielen kleinen persönlichen Angelegenheiten, sondern von Devil. Ich will wissen, wie weit du ihn im Griff hast. Was sich seit dem Ritual im Schacht verändert hat. Wie lange hat das Kraut gewirkt?« Jin horchte in sich hinein und fragte: »Haben wir noch was davon?« »Nur ein paar Blätter.« »Es wirkt noch, glaube ich.« »Gut. Du hast gesagt, du konntest dich früher mal ganz kontrolliert in Devil Jin verwandeln, also …« »Nein, Dante«, knurrte Jin ihn an, ehe der Teufelsjäger den Satz beenden konnte. »Verlang das nicht von mir. Wo auch immer du deine Experimente machen willst, er wird alles niederreißen, er wird Menschen töten …« »Nicht, wenn wir das einsetzen.« Jin sah hoch; Dante hielt eine faustgroße bläuliche Glaskugel in der Hand. Richtig, das war die Chemikalie, die Devil so große Schmerzen zugefügt hatte, dass er das Feld geräumt hatte. »Weihwasser.« »Sollte funktionieren. Niederstarren kann ich mir sparen, wenn Devil und Azazel jetzt in telepathischem Kontakt stehen, aber das tut immer noch weh.« Jin fühlte sich viel zu schwach für Experimente, viel zu verbraucht und zu mutlos. Er hatte momentan weder die körperliche noch die geistige Stärke, um das Verhältnis zwischen sich und Devil umzukehren und den Dämon in Schach zu halten. Widerwillig sagte er: »Wenn du darauf bestehst, werde ich es tun.« »Glaub mir, ich schlage das nicht vor, um dich zu ärgern.« Das anzuzweifeln wäre nicht fair, also sagte Jin nichts. Sein unschlüssiger Blick glitt über den Tisch zu dem Stuhl, über dessen Lehne Dantes schwarze Weste hing. »Ist die kugelsicher?«, wollte er wissen. Er vermutete Stahlplatten oder etwas Ähnliches unter dem Stoff. Dante folgte seinem Blick. »Gegen Weichkernkugeln, ja. Wieso? Denkst du, ich schieße auf dich?« Jin beachtete das spöttische Lächeln nicht. »Vielleicht solltest du.« Dante zuckte die Schultern. »Wir können testen, was Devil dazu sagt. Vielleicht ist es eine freundliche Methode, dich zurückzuverwandeln. Aber gegen Messerangriffe hilft die nicht, dass du’s weißt.« Er nahm die Weste vom Stuhl und warf sie Jin in die Arme. Die Weste war so schwer, dass Jin, der mit dem Gewicht nicht gerechnet hätte, fast in die Knie ging. »Was ist das? Blei?« »Kevlar. Die ist noch leicht. Alles, was schwerer ist und besser schützt, schränkt die Beweglichkeit ein, das hasse ich.« »Aber du brauchst sie nicht wirklich«, stellte Jin fest. »Nicht zum Überleben. Aber es ist angenehmer, beim Arbeiten nicht ständig durchlöchert oder zerfetzt zu werden. Ich hab sie gerne auf härteren Missionen an.« Etwas ungeschickt verschloss Jin die vier kleinen Schnallen über der Brust. »Du kannst sie auch über dem Mantel tragen. Es sei denn, du willst nicht, dass jemand sieht, dass du sie anhast.« »Das ist weniger auffällig. Wohin gehen wir?« »Dahin, wo ich mit Yuri war, in den stillgelegten U-Bahn-Tunnel. Da kriegst du nichts kaputt, und Kinder werden sich da heute auch nicht verirrt haben.« Jins Laune besserte sich nicht, als sie durch die trübe Dunkelheit zur alten U-Bahn-Station trotteten. Ihm wurde sofort klar, warum Dämonen diesen Ort mochten: Er war dunkel, feucht, über die Maßen schmutzig und stank nach allem, was die industrialisierte Welt überhaupt ausscheiden konnte. Einige Schritte tief im Tunnel, wo das Licht kaum noch hinreichte, stellte Dante sich Jin gegenüber. Er war jetzt schwer auszumachen, kaum mehr als eine diffus umrissene Gestalt. »Also. Was müssen wir tun, oder kannst du es ohne Hilfe?« »Es gibt kein Kommando«, antwortete Jin finster. »Es musste mir immer erst schlecht gehen. Mittlerweile bin ich so darauf fixiert, ihn zurückzuhalten, dass ich kaum daran denken kann, ihn einfach … loszulassen.« »Verstehe. Versuch es einfach. Und warn mich, wenn das Traumkraut zu wirken aufhört.« Jin atmete tief durch und konzentrierte sich. Ganz bewusst ließ er die dicke Mauer, die er stets krampfhaft aufrecht erhalten hatte, langsam sinken. Es fühlte sich so falsch an und lief so sehr allem zuwider, was er sich beigebracht hatte, dass die Überwindung dazu ihm einige mentale Anstrengung abverlangte. Doch es gelang. Behutsam öffnete er das Tor zu dem Kerker, in dem er die Bestie gefangen hielt, und spähte hinein. Devil war … nicht da. Keine Antwort kam von dort drinnen, auch dann nicht, als Jin mutiger wurde, gar versuchte, den Dämon mit aufwühlenden Gedanken zu provozieren. Nichts. Das Traumkraut wirkte gründlich. »Es … es geht nicht.« »Sicher?« Dante, lässig auf sein Schwert gestützt, beobachtete ihn aufmerksam. »Soll ich dich schlagen?«, bot er verschmitzt an. Das würde er wirklich tun, dachte Jin. »Konzentrier dich, Kazama. Wie vor einem Match. Erinnere dich an eine Situation, in der du deinem Großvater ausgeliefert warst.« Das war nicht besonders schwierig. Derlei Szenen hatten sich Jin unauslöschbar eingeprägt, das ganze Bild mit all den Gefühlen dazu. Heihachi, wie er seine Waffe auf Jin richtete, den bärtigen Mund zu einem kalten, gehässigen Lächeln verzogen; seine Haltung schrie Verrat! , seine Augen zeigten kein Bedauern darüber, seinen Enkel zu töten, den er vier Jahre lang ausgebildet hatte. Dieses Erlebnis hatte Devil ebenso getriggert wie das in Hon-Maru, als Jin in Ketten lag, während irgendeine benebelnde Droge in seinem Blut kreiste und das Gelächter Heihachis von allen Wänden widerzuhallen schien … Er riss die Augen auf, schaute an sich herab und sah die schwarzen Linien unter der Haut hervortreten wie pechgefüllte Adern. Ja, damals hatte er Devil kontrollieren können, hatte nur eine Art halbe Transformation zugelassen, ohne Hörner, ohne das widerwärtige dritte Auge … Er kontrollierte seine Atmung, starrte seine Hände an, die zwar die magischen Tätowierungen zeigten, aber nicht zu Krallen wurden, als er sie mit Bedacht schloss. Devil kämpfte nicht gegen ihn. Jin öffnete die Flügel, langsam. Dante sah ihn abwartend an. Seine Haltung war wachsam, aber nicht kampfbereit. »Und? Geht’s dir immer noch gut?« »Ja«, murmelte Jin. »Dieses Kraut … ist …« Doch plötzlich brachte Dante ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Jin sah ihn beunruhigt an und ließ seine Lippen das Wort Was? formen. Dante packte ihn sanft, aber bestimmt am Arm – ganz so, als wäre alles in Ordnung – und Jin wehrte sich diesmal nicht, weil Dante im selben Moment raunte: »Mitkommen.« Jin gehorchte und ließ sich in eine Nische an der Seite ziehen, die voll mit vergessenem Gerümpel stand. Tattoos und Federn hatten sich bereits fast vollständig in seinen Körper zurückgezogen, ohne dass er es wahrgenommen hätte; aber Devils Zustand interessierte Dante gar nicht. »Was ist los?« »Schhht.« Dante wandte sich um und drehte langsam den Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Unbehaglich folgte Jin seinem Blick. »Sag mir, was los ist!«, zischte er. »Jemand ist uns gefolgt.« Jins Mund wurde trocken. »Ich habe nichts geh–« »Hast du die Weste richtig an?« Dante hatte die Stimme zu einem scharfen Flüstern gesenkt und sich näher zu ihm gebeugt. »Ja … aber –« »Gut. Weil uns jemand im Visier hat.« Jin schloss den Mund wieder. »Bist du ein guter Schauspieler?« »Warum?« Unruhe befiel Jin. Er kannte das Gefühl eines drohenden Attentats, so oft hatte er es erlebt. Seine Haut prickelte. »Was soll ich spielen?« Eilig ließ er die Finger über die Verschlüsse der Weste gleiten. Sie war korrekt verschlossen. »Wie soll ich aussehen?« »Möglichst tot. Und zwar ab … jetzt.« Dante nickte an sich herab, und Jin bemerkte den kleinen roten Lichtpunkt, der ruhig auf seiner Brustmitte ruhte. Sein Blut gefror. Zwei kurze Geräusche durchschnitten die Luft, und beide klangen wie ein gespanntes und dann losgelassenes Schießgummi. Dass auf ihn tatsächlich geschossen worden war, wurde Jin erst klar, als der Schuss ihn tatsächlich traf. Der Schalldämpfer hatte das Krachen unterdrückt, und so kam der Schmerz aus heiterem Himmel und ließ Jin aufschreien. Es fühlte sich an wie ein harter Faustschlag mitten in die Rippen. Der Stoß ließ ihn taumeln und zu Boden gehen, und kurzzeitig glaubte er wirklich tot zu sein. Seine Lungen schienen keine Luft mehr zu enthalten und seine Muskeln keinerlei Kraft. Vor seinen Augen flimmerte es grau und hell wie ein Schneesturm. Der Schmerz pulsierte weiter, und Jin wusste, dass er nicht tot war – die Weste war kugelsicher, ihr Kevlarkern hatte die Ladung abgefangen. In diesem Moment brach die Stille. Zwei Schatten stürzten um die Ecke, und einer davon war groß, muskulös und bewaffnet. Etwas glänzte in seiner Hand, und ein langes Rohr ragte davon auf. Augenblicklich wurde Jin still. Rücklings lag er im stickigen, nassen Dunkel. Leise Schritte erklangen, doch sie hielten an und kamen nicht näher. Jin war sich auf seltsame Weise der Tatsache bewusst, dass Dante ebenso präzise getroffen worden war und keinen Meter entfernt lag. Ein helles Wispern erklang; die Stimme einer Frau. Sie klang bedauernd, aber gefasst. »Sollten wir nicht sichergehen?« Der Schütze, ein Mann, atmete geräuschvoll ein. »Ich habe sauber getroffen.« »Auch den Anderen?« Ein Seufzen. »Ja. Er atmet nicht. Beide nicht.« Die Schritte des Mannes, lang und schwer, setzten sich wieder in Bewegung und kamen näher, stapften an Jins Ohr vorbei. Er hörte, wie Dantes Schwert vom feuchten Boden aufgehoben wurde. »Sieh an. Wer läuft mit so was durch die Gegend?« »Leg es hin«, bat die Frau. Es klang irgendwie unglücklich. »Bitte.« »Etwas stimmt nicht.« Der Mann stapfte noch einmal um sie herum, und Jin hatte das Gefühl, seinen Atem keine Sekunde länger mehr so flach halten zu können. Auch wenn er es gelernt hatte, war es in einer solchen Situation nahezu unmöglich; zu viel Schmerz und zu viel Angst durchströmten seinen Körper. »Wieso wehrt sich der dunkle Stern in ihm nicht? Haben wir hier vielleicht zwei harmlose Passanten erwischt?« »Nein!«, zischte die Frau. »Solche Fehler passieren nicht. Das ist Jin Kazama. Und ich bin sicher, sein Begleiter ist ebenfalls ein Dämon.« Sie zögerte einen Moment, dann bat sie, mit hörbarem Unwillen: »Durchbohre sein Herz. Es ist das Beste.« Jin verkrampfte sich und glaubte, seine Muskeln würden zerspringen. Sein Herz? Das würde die Weste nicht aushalten. Seine Lungen brannten; jeden Moment wäre seine Selbstbeherrschung dahin, und er würde in Keuchen und Zittern ausbrechen. Sie mussten sehen, dass er schwitzte. Doch dann nahm er wahr, wie der Mann sich herunterbeugte – nicht zu Jin, sondern zu Dante direkt neben ihm – und hörte, oder glaubte zu hören, dass der Assassine Dante mit einem gut gezielten Kraftaufwand an der Schulter packte und auf den Rücken warf. Dann folgte das unverkennbare Geräusch, wenn eine scharfe Schneide in Stoff und Fleisch eindringt. Ein unbeschreibliches Geräusch. Dann schepperte die Schwertklinge wieder auf den Steinboden. »So«, sagte der Mann ruhig, und seine Schritte entfernten sich wieder. »Auftrag ausgeführt. Komm, gehen wir. Es musste sein.« Die Frau folgte ihm und sagte mit ehrlichem Kummer in der Stimme: »Es tut mir leid, dass das nötig war. Aber es ist zum Wohl der ganzen Welt.« Dann gingen sie fort. Schnell und leise verschwanden ihre Präsenzen aus dem Radius von Jins chi. Jin widerstand dem Drang zu atmen. Er blieb liegen, bis es völlig still war, und sein Herz pochte wie ein Schlagbohrer unter seinen schmerzenden Rippen. War Dante tot – und würde er es auch jeden Moment sein? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)