Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 29: Akt VI - Der Zug: 10-2 ---------------------------------- 10-2: YURI Birmingham empfing sie dunkel, kalt und nass. Yuri stolperte allen voran die Gangway hinunter und hinein in das Flughafengebäude, wo die Regentropfen laut an die großen Fensterfronten trommelten. Seine Knie waren noch ziemlich wabbelig; keine Frage, Jin und Dante hatten ihn mit irgendwas ausgeknockt, weil er seine Anfälligkeit für Seekrankheit erwähnt hatte. Hätte er mal die Klappe gehalten. Ihm hätte klar sein müssen, dass den beiden keine intelligentere Lösung einfiel, als ihm irgendwas in den Drink zu kippen. Arschlöcher. Aber egal, jetzt gab es Wichtigeres. Yuri schlängelte sich durch den bunten und lauten Menschenstrom in eine große Halle, wo mehrere schwarze Laufbänder ihre Runden drehten – er sah, dass auf ihnen Koffer vorbeirollten und wie die umstehenden Leute danach griffen und sie herunterzogen. Offenbar bekam man auf diese Weise sein aufgegebenes Gepäck zurück. Wow. Egal, das konnten Jin und Dante machen. Die ließen sich sowieso Zeit da hinten. Yuri suchte etwas anderes. Wenn der Irre aus der Kirche geplant hatte, sie hier auf seine Weise willkommen zu heißen, dann langte es nicht, irgendwo an der britischen Küste ein paar schwarzmagische Runen an die Klippen zu schmieren. Sarris hatte ein Grimoire benutzt, und das war eindeutig Neuland für ihn. Er hatte gewusst, dass sie wissen würden, dass er in Wales war, und ebenso, dass sie nicht in Cardiff, sondern in Birmingham landen würden – vielleicht, weil das von Dantes Wohnort aus die naheliegendste Verbindung war. Oder er hatte einfach geraten. Oder gleich beide Orte präpariert. Wie auch immer, scheißegal: Er hatte hier den Beschwörungszauber ausgelegt, der, sobald Jin sich diesem Ort näherte, aktiv wurde. Wenn man im Leben genug Hexenmeister bekämpft hatte, wusste man irgendwann, wie die tickten. Yuri schnaubte verächtlich, als er an den Terminals vorbei eilte. Gut, dass er rechtzeitig wieder zu sich gekommen war. Die beiden Anderen hatten keine Ahnung, leider. Hier brauchte es jemanden, der sich mit dem Scheiß auskannte. Leider war Birmingham ein wesentlich größerer Flughafen als der in Eastport; so viele Schilder, so viele Lichter, so viele Wege, so viel Reklame – so viel Kram, der einen ablenkte. Vor allem viel zu viele Menschen. Yuri blendete alles aus, was ihn durcheinander brachte, blieb mitten in der Halle stehen und konzentrierte sich. Er musste dorthin, wo die Flugzeuge landeten. Gut. Wo war das? Aha. Genau gegenüber sah er die riesige Fensterfront, eingenommen von bestuhlten Tischen kleiner Lokale, deren Gäste die Flugzeuge beobachteten, die mit blinkenden Lichtern an den Scheiben vorbeirollten. Im Dunkeln wirkten ihre riesenhaften, metallischen Gestalten bedrohlich, obwohl ihr Lärm das Innere des Flughafengebäudes kaum erreichte. Na toll, dachte Yuri, angestrengt auf die Scheibe starrend. Wie zur Hölle komme ich da raus? Sekunden später wusste er es. Ein sechsköpfiger Trupp des Bodenpersonals, versehen mit leuchtend orangefarbenen Warnwesten, schloss eine ebenfalls gläserne Tür auf und eilte im Laufschritt auf die Rollbahnen zu. Der Grund dafür war unschwer zu erkennen, wenn man ihnen mit dem Blick folgte: Auf einer der Bahnen lagen Trümmer von … etwas, das im Weg war. Yuri setzte sich wieder in Bewegung und starrte mit zusammengekniffenen Augen durch die Scheibe, während er darauf zuhielt. Jetzt konnte er sehen, dass das, was da im Weg lag, der Kopf einer Lampe war. Er maß bestimmt einen Meter im Durchmesser und hatte im Sturz Teile seiner gläsernen Abdeckung überall im Umkreis verteilt. Bestimmt hatte er zu der wegweisenden Beleuchtung der Landebahn gehört, doch der Abwehrzauber, der mit seinen Stürmen und Nebeln das Flugzeug in der Luft gehalten hatte, schien auch auf dem Flugplatz gewütet zu haben. Als Yuri merkte, dass er nichts mehr sah, weil sein Atem an der Scheibe beschlug, schickte er sich kurzerhand an, dem Aufräumkommando zu folgen. Die Glastür stand noch einen Spalt offen … »He, Halt, Stopp, Sie dürfen dort nicht – …« Er hörte es hinter sich verklingen, als er hinaus in den Regen joggte. Passte gut, dass er dunkel gekleidet war. Schnell hielt er auf den langen Schatten eines stehenden Flugzeugs zu; das beschäftigte Bodenpersonal hatte noch keine Notiz von ihm genommen. Von hier aus schlich er weiter in die Richtung, in der die Landebahn begann – dahinter war nur Wiese, zwei rote Lichter markierten den Anfang der asphaltierten Strecke. Während er auf den schwarzen Asphalt starrte und ihm das Regenwasser von der Nase tropfte, sah er bereits die ersten schwarzen Striche unter seinen Füßen. Sie waren schrecklich schwer zu erkennen. Hier hatte Sarris getestet, ob das Farbgemisch gelungen war. Mit Erfolg: Die Nässe hatte keine der breiten Linien, die wahllos hingeschmiert aussahen wie ein Graffiti, auch nur im Mindesten beeinträchtigt. Gut. Jetzt kam der schwerste Teil. Yuri sah noch einmal um sich. Er musste zum Startpunkt der Landebahn gelangen. Schnell. Entweder wurde er dabei von allen übersehen und lief Gefahr, von einem hereinkommenden Flugzeug plattgemacht zu werden (was er für unwahrscheinlich hielt bei all dem modernen Überwachungsschnickschnack), oder aber er blockierte den Flugverkehr für absehbare Zeit und erweckte in gewissen Ordnungshütern wieder einmal das Interesse, ihn zu schnappen und irgendwo einzusperren. Nun, darauf würde er sich bestimmt kein zweites Mal einlassen. Yuri duckte sich und rannte los, auf die beiden roten Lichter zu, die den Beginn der Landebahn markierten. Sie kamen durch den Regenschleier schnell näher. Hinter ihm rief irgendjemand etwas, aber das war durch den Lärm leicht zu ignorieren. Als der Asphalt endete, kam er schlitternd zum Stehen und ließ sich auf die Knie fallen. Direkt vor ihm waren die Runen – wie erwartet –, angeordnet in einem komplizierten Kreissystem mit mehreren Ringen und Speichen, die einen fünfzackigen Stern bildeten. Jedes Feld hatte seine eigene Bedeutung, aber welche, das entzog sich Yuris Verstand und war zum Glück auch völlig unwichtig: Er musste nur die Hauptlinien unterbrechen, damit der Bannkreis unwirksam wurde. Mit dem Ärmel rieb er das Regenwasser über die kohlschwarze Linie, von der er nur mutmaßen konnte, woraus sie bestand – aber dies konnte der Substanz nichts anhaben. War ja klar … Also anders. Er griff in die Innentaschen seines Mantels. Und zog sie leer wieder heraus. Ach, Kacke. Seine Waffen waren natürlich nicht da, sondern in Jins Reisetasche. Blut kam also leider nicht in Frage als Mittel der Wahl. Aber irgendetwas brauchte er, um die Linien zu unterbrechen … … Und dann sah er unmittelbar neben sich eine kleine Pfütze, die erste von mehreren in einer Reihe, in der das Licht einen Reflex schillernder Farben zurückwarf. Flugzeugtreibstoff. Yuri betrachtete die bunten Schlieren und beschloss dann, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Eine Viertelminute später war er vollauf zufrieden, und seine Finger stanken nach Kerosin. Nass wie ein Hund flitzte er zurück zum Gebäude – nicht zu der kleinen Glastür, denn dort waren eindeutig zu viele Leute; stattdessen umrundete er den Komplex bis zu einem der offiziellen Eingänge und schaffte es dort, relativ unauffällig durch mehrere Hallen zurück zu dem Terminal zu finden, an dem sie angekommen waren. Von wegen, die Security hätte ihn aufhalten wollen! »Sie dürfen da nicht hin« war etwas, das er schon viel zu oft gehört hatte. Umsonst. Auf diesem Ohr war Yuri taub – vor allem, wenn er etwas zu erledigen hatte. Also kehrte er einfach brav zurück und verhielt sich so, als hätte er nie etwas falsch gemacht. Das Sicherheitspersonal warf ihm strenge Blicke zu, als er vorüber trottete, hielt ihn aber nicht auf – wahrscheinlich, weil er nichts zerstört hatte (jedenfalls nichts für sie Bedeutsames), vielleicht auch, weil er auf Jin und Dante zuhielt, die wie seine wartenden Betreuer neben der Coffee-Shop-Theke standen. »Hey«, begrüßte ihn Dante, während Jin ihn nur forschend ansah. »Wo warst du?« »Ich hab aufgeräumt.« Yuri gesellte sich zu ihnen und nahm Jin einen der drei dampfenden Becher ab. Die dunkle Flüssigkeit roch nach Tee. Nach gutem, englischem Tee, wahrscheinlich von der Küste Ostindiens. Er nahm einen winzigen Schluck und verbrannte sich die Zunge. »Wie viel verstehst du eigentlich wirklich von solchen Sachen?« »Ähm – nur Theorie«, antwortete Yuri ernsthaft. »Ich kann nicht selber zaubern, bin zu …« … doof. »… unkonzentriert. Durch die Fusionssache. Geistig ausgelastet.« Dantes Lächeln gab ihm zu verstehen, dass er Yuris geistige Auslastung schon lange regelmäßig einplante. Jin nahm das Wort: »Es ist jetzt fünf Uhr siebzehn und unser Zug nach Wales fährt in gut zwanzig Minuten unten am Gleis ab. Die Fahrt nach Aberystwyth wird ungefähr drei Stunden dauern.« Wie als Rechtfertigung fügte er hinzu: »Der Zug ist langsam.« »Gibt’s keinen schnelleren?«, fragte Yuri. Er hatte mittlerweile den Eindruck gewonnen, dass im einundzwanzigsten Jahrhundert alles immer noch schneller, höher und weiter gehen konnte. »Das ist nicht ein Zug«, antwortete Jin, »es ist der Zug.« Nur ein einziger Zug nach Wales? Yuri sah in seinen Tee. Hier war die Zeit offenbar stehen geblieben. »Ich freu mich nicht besonders drauf, so lange im Zug zu hocken«, gestand er. »Das hast du schon erwähnt«, sagte Dante. »Was stimmt mit dir eigentlich nicht? Wird dir in Zügen auch schlecht?« »Nein«, beschied ihn Yuri säuerlich. »Nicht wenn ich in Fahrtrichtung sitze. Ich hab auch keine Angst, klar? Ich … mag Züge nur nicht.« Er hoffte sehr, dass Dante es dabei bewenden ließ. Über sein letztes Zugerlebnis wollte er nun wirklich nicht reden. Schnell nahm er einen weiteren großen Schluck Tee, der jetzt gerade so weit abgekühlt war, dass nicht seine ganze Mundhöhle taub wurde. Irgendwie kribbelte er trotzdem unangenehm – und dieser Nachgeschmack … »Leute, der Tee in eurer Zeit schmeckt ja schon ein bisschen komisch im Abgang, oder? … Oder?« Oh Gott. Die Beiden sahen ihn schon wieder so an. »Tees sind heutzutage fast alle aromatisiert«, sagte Dante freundlich. »Sag mal, wenn du Züge nicht magst, wäre es dir dann nicht lieber, wieder ein Nickerchen zu machen?« Yuri schnappte nach Luft. »Nein, Mann! Ich hab’s geahnt! Wehe, ihr kommt auf die Idee, mir wieder – ! … Ach, Scheiße …« Seine Knie gaben unter ihm nach. »… Ich hasse euch … argh.« Dieses Mal träumte er. Das wurde ihm sofort klar, als das Chaos, das stets das Überschreiten der Schwelle zwischen Wachheit und Traum begleitete, langsam in den Abgrund zurück floss, aus dem es jedes Mal empor stieg. Sehr schnell wusste er, wo er war. Er kannte diesen Ort so gut, als hätte er sein halbes Leben hier verbracht. Wie er hierher gekommen war, konnte er allerdings nicht erklären … Diesmal nicht. Es waren doch nur Drogen gewesen … Langsam setzte er sich in Bewegung. Durchquerte fast ehrfürchtig den Waggon, Reihe für Reihe der beidseitig angebrachten Sitzbänke hinter sich lassend. Der Zug. Warum? Warum der Zug? Er war schon einmal hierher zurückgekehrt, an diesen Ort, an dem Alice und er sich zum ersten Mal begegnet waren. Damals hatte er ihr – oder vielmehr seiner lebendigen Erinnerung an sie – gesagt, dass Roger und er versucht hatten, sie mit der Macht des Émigré-Manuskripts wieder zum Leben zu erwecken. Damals hatte er gewusst, dass sie hier auf ihn wartete, hatte es gespürt, wie er es jetzt spürte, hier in dieser so realen Illusion, in der er jeden Nagel in den Abteilwänden, jeden Kratzer auf den hölzernen Bänken genau erkennen konnte und in der seine Schritte und sein Atem die seltsame Ruhe füllten. Außer ihnen beiden war niemand hier. Nicht so, wie es in Wirklichkeit gewesen war. Als er Alice zum ersten Mal gesehen hatte – voller Entsetzen, die zarten kleinen Hände vor den Mund geschlagen, ihr gegenüber Kardinal Albert Simon, drauf und dran, sie zu entführen –, war ihm vor allem eines an ihr aufgefallen: Sie war so zerbrechlich. Er hatte sie in dem Wissen gerettet, dass der Hexenmeister, der ihr gegenüberstand und zuvor Alice’ gesamte Eskorte hingemetzelt hatte, aufgehalten werden musste – von ihm, denn die Stimme in seinem Kopf hatte darauf bestanden, hatte an seiner Psyche gezerrt wie eine Schraubzwinge. Rette sie. Und schon hatten sie unter dem Vollmond am Rand der Gleise gekauert, er und sie. Am Anfang einer Reise, die sein Leben verändern sollte. Sein Urteil, das Alice niedlich war, hatte er schnell revidiert. Sie war nicht niedlich, sie war stark und mutig und schwer vom Schicksal getroffen, wie er; sie war nur deshalb in diesem Zug gewesen, weil ihr Vater kurz zuvor ermordet worden war. Er erinnerte sich, wie sein vulgäres Auftreten sie anfangs eingeschüchtert hatte. Wie sie zusammengezuckt war, wenn er lachte. Wie grob er sie behandelt hatte, ohne ihr je irgendetwas Böses zu wollen. Instinktiv war er vor ihrer Reinheit in die Knie gegangen, nicht mehr fähig zuzulassen, dass irgendetwas, irgendjemand sie berührte. Sein Leben hatte sofort ihr gehört – und erst so viel später war ihm das klar geworden. Immer noch machte er einen Schritt nach dem anderen. Er wusste, wo sie saß und auf ihn wartete. Diesmal setzte er sich sofort neben sie. Schweigend nahm sie seine Hand in ihre, zart wie ein Vögelchen aus Porzellan, sodass er sich nicht traute, seine Finger ebenfalls um ihre zu schließen. Sie waren kühl. Er sah in ihr feines, helles Gesicht, umrahmt von weißblondem Haar, das wie Mondlicht aussah. Ihre ernsten, klugen Augen ruhten auf ihm mit derselben Unvoreingenommenheit wie damals. »Ich bin zurück«, sagte er etwas hilflos. »Das sehe ich«, erwiderte sie lächelnd. »Du kannst jederzeit hierher kommen.« »Aber ich … Ich sollte eigentlich …« Er stockte. »Ja, ich weiß. Du hast versprochen, zurückzukommen und nie wieder fortzugehen. Und trotzdem bist du jetzt nicht hier, um zu bleiben.« Es war kein Vorwurf. Sie war ihm nicht böse. »Ich weiß, ich wollte wiederkommen, wenn … ich alles erledigt habe.« Aber offensichtlich habe ich nicht alles erledigt … Immer noch nicht … Er wusste nicht, wie er sich erklären sollte. »Alice, ich – ich bin schon wieder auf einer anderen Reise … Ich weiß nicht, warum das alles kein Ende nimmt …« Sie lächelte immer noch. Ihr Daumen strich über seinen. »Wann es zu Ende ist, entscheidest du allein.« »Ja … Vielleicht … Aber ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll … wie ich mich entschieden habe.« Beklemmung setzte sich in seiner Brust fest. Es war ein nur zu vertrautes Gefühl, diese erstickende Ungewissheit. »Wenn ich in meine Zeit zurückgehe, dann … ist da immer noch der Fluch. Ich glaube, jetzt hab ich so eine Art … Aufschub, aber … wenn ich wieder da bin, wo ich hingehöre, wird er meine Seele …« Verschlingen war das Wort. »Alice, warum bin ich hier? In diesem Körper, von damals … Was ist der Sinn dahinter?« »Du hattest einen Wunsch frei«, sagte sie ruhig. »Weißt du noch, was du gesagt hast, als du hierherkamst? Deinen Wunsch?« »Ich hab gesagt, ich möchte zu dem Tag zurück, an dem wir uns begegnet sind … und die Reise mit dir noch mal beginnen.« »Ja.« »Dann würde ich alles richtig machen … Ich würde nicht zulassen, dass … dass du …« Die Sehnsucht nach ihr wurde so stark, so unerträglich, dass er sich abwenden musste. Sie war so nah bei ihm – und doch so weit weg. Obwohl sie seine Hand hielt, erreichte ihre Wärme ihn nicht. »Ich weiß«, sagte sie wieder. »Es muss einen Weg geben … Ich muss verhindern, dass die Dunkelheit in mir … dich …« Er schluckte, hart. »… dass du das Böse in mir auf dich nimmst, um mich zu retten … Ich bin es, der dich hätte beschützen müssen, nicht umgekehrt …« Dicht an seinem Ohr sagte sie sanft: »Deshalb bist du hier.« »Ich … Was?« Er sah ihr wieder in die Augen. Sie waren klar und offen. »Weil ich nicht weiß, wie ich dich retten kann? Deswegen?« Er presste die Lippen zusammen, immer noch gegen die Trauer anschluckend. »Was für einen Sinn hätte es, die Reise mit dir noch mal anzufangen, wenn ich dich wieder nicht retten kann? Alice, ich würde es nicht noch mal überstehen … d-dich zu verlieren …« Er wusste, dass es die Wahrheit war. Er war hier – in dieser Zeit, an diesem Ort –, um zu lernen, wie er sie retten konnte. Wie wäre es möglich gewesen? Wie hätte er verhindern können, dass sie der Dunkelheit zum Opfer fiel, dass der Pakt zwischen ihr und seiner eigenen Finsternis gültig wurde? Dass sie im Zug nicht mehr erwachte, als er bereits glaubte, sie hätten alles überstanden …? Sein Blick glitt zur Seite, zum Fenster rechts neben ihm. Dort sah er Dunkelheit, obwohl es hell war … hell, wie am Tage … oder war es nicht das Licht der Sonne, sondern … war es Alice, von der dieses Licht ausging …? Er fühlte sich plötzlich betäubt, wie nach dem Verhör bei der Polizei, seltsam leicht … Die Klarheit, die bis eben alles so greifbar gemacht hatte, löste sich in Dämmerung auf … Aber Alice war noch immer neben ihm. Ihre Hände lagen ineinander, und als sie seine Finger sanft drückte, öffnete sich eine Tür in ihm. Er sah es. Er sah Alice, wie sie den Friedhof betrat. Seinen Friedhof. Sie war nicht hier, weil sie es wollte; sie war hier, weil ihre Schuld sie hierher gerufen hatte. Es war Zeit, ihren Teil des Paktes zu bezahlen … Er hatte nichts von alldem mitbekommen. Sie hatte nichts gesagt. Er hatte es nicht gewusst, bis es zu spät war. Er war nicht bei ihr gewesen, als sie für ihn gestorben war. Sie hatte sich diesem Kampf allein gestellt. Sie war dem Tod gegenüber getreten, für ihn – ganz allein. Tapfer trat sie hinein in diesen Ring aus Schwärze, um für Yuris Seele zu bezahlen. Es würde passieren. Atmans Sense würde ihr Blut trinken, bis nichts mehr von ihr übrig war. Und er, Yuri, sah es … Diesmal musste er zusehen … Nein. Diesmal nicht. Diesmal. Nicht. Kein zweites Mal würde er das zulassen. Er musste zu ihr – musste ihr beistehen, musste für sie gegen den Tod kämpfen, irgendwie … Musste – ! Und da sah er sich selbst. Er war dort. Eine dunkle Gestalt, die in die Szene hinein schritt. Lässig trat er neben Alice, und der lange Mantel schlug gegen seine Kniekehlen, als er an ihrer Seite stehen blieb und die Fäuste hob. Da standen sie, zu zweit, ihnen gegenüber der Todesbote mit seiner Sense, die auf Alice gerichtet war. Ihre Blicke trafen sich – sie waren zusammen. Und diesen Kampf würden sie gewinnen. Yuri sah, wie er und Alice sich gemeinsam in den Kampf stürzten. Wie seine Faust die Sense in zwei Teile schlug. Auf dem kleinen Grabstein würde etwas anderes stehen – nicht mehr ›Ruhe in Frieden, Alice Elliot‹, sondern ›Ruhe in Frieden, Atman‹ … Genauso musste es geschehen … Yuri zitterte am ganzen Körper. Sein Herz klopfte schnell und hart, und seine Hände waren taub, sodass er Alice’ Berührung kaum noch spürte. Ein wildes Fieber hatte ihn gepackt. Er ahnte, wie er sie retten konnte. Niemand hatte leichter Zugang zu seinem Unterbewusstsein als er selbst. Er musste mit ihr zusammen dort sein. »Alice, ich – ich muss gehen …« »Ja, sicher.« Sie war überhaupt nicht überrascht. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, wie damals. »Ich weiß, dass wir es schaffen können! Ich muss nur – ich muss ausprobieren, wie ich es steuern kann –, dass ich mit jemand anderem zusammen auf dem Friedhof bin …« »Mhmm.« Dieser eine weiche Ton war so voller Güte, dass sein Herz schmerzte. »Wann kann ich zurück? Wann wird diese neue Reise vorbei sein? Ich bin in einem Zug nach Aberystwyth, mit zwei Typen – ich, ich komme wieder, aber ich muss das erst erledigen …« »Hab Geduld, Yuri. Hab Geduld. Ich bin bei dir. Das weißt du.« Ja, er wusste es. Ein Fragment ihrer Seele begleitete ihn, wohin auch immer er ging. »Alice, wie lange wird es noch dauern? Bis wir diesen Sarris aufgehalten haben, meine ich? Bis wir Jin geholfen haben?« Dann wusste er plötzlich, was er eigentlich fragen wollte. »Wann, Alice, können wir wieder weg aus Wales – wann werden wir wieder bei Dante zu Hause sein?« Alice öffnete ihre veilchenblauen Augen. Ihr Lächeln wirkte fragiler als eben noch, zerbrechlich, aber wissend. Weise. »Niemals«, sagte sie sanft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)