Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 38: Akt IX - Leben aus dem Tod: 13-2 -------------------------------------------- 13-2: JIN Jin spürte erneut diese unterschwellige Übelkeit sich in seiner Magengegend ausbreiten. Er wusste, dass nicht der Kaffee schuld daran war. Etwas in ihm reagierte auf Azazel und alles, was mit ihm zusammenhing, und begann sich in ihm rastlos hin und her zu wälzen. Die Anspannung kroch bis in seine Zehen- und Fingerspitzen, während er wie im Traum zuhörte, wie Roger das Geheimnis um Azazel und die Dschaizan-Tafel lüftete. »Ich habe diese Schrift an mich genommen«, begann der kleine Mönch, »weil man damit Azazel erwecken kann. Azazel ist, wie ihr vielleicht wisst, der Dämon der Sünde; er kann erst dann diese Welt betreten, wenn ein einzelner Mensch so viel Böses über die Welt gebracht hat, dass der Dämon nahezu unbesiegbar ist. Wird Azazel beschworen, wird er die Welt versklaven.« »So weit, so banal«, erwiderte Dante unbeeindruckt. »Sei nicht so geringschätzig! Ich sagte doch, du kannst es nicht mit ihm aufnehmen, obwohl du ein Halbblut bist! Das ist aber noch nicht alles. Yuri!« Yuri sah hoch. »Äh, ja?« »Warum sind alle bisherigen Versuche, mit dem Émigré-Manuskript einen Verstorbenen wieder zum Leben zu erwecken, so katastrophal gescheitert – obwohl das Buch das nötige Wissen enthält, um Leben aus dem Tod zu erschaffen?« Yuri sah aus wie ein Schüler, der unerwartet zu einem schwierigen Thema befragt wurde und nun angestrengt nach der Antwort suchte . »Moment – es braucht Bosheit dazu … und dafür muss man eine ganze Menge Morde begehen … zweihundert, oder so …« »Ja?« »… und die Rituale in der Anleitung sammeln diese Bosheit und kanalisieren sie …« »Weiter?« »… und damit ruft man die Seele des Toten von jenseits der Tore der Zeit und füllt sie in das Gefäß – also, den Körper … und schief gegangen ist es immer, weil … die Bosheit das Gefäß übernommen hat, wenn eigentlich Wille die Seele daran hätte binden sollen.« »Richtig.« Yuri sah Roger unverwandt an. »Es ist aber nicht immer deshalb schief gegangen.« »Nein«, erwiderte das Männlein. »Dieses eine Mal, auf das du anspielst, waren Wille und Bosheit im Gleichgewicht, sodass die richtige Seele ins Gefäß geführt und gebunden wurde. Dass es trotzdem nicht funktioniert hat, lag an einer Bagatelle. Das brauche ich dir nicht wieder und wieder zu erzählen, Yuri. Oder?« Jin beobachtete fasziniert den intensiven Blickwechsel zwischen den beiden alten Gefährten. Es war offensichtlich, was passiert war, obwohl Roger und Yuri es mit Absicht nicht beim Namen nannten: Sie selbst hatten das Wiedererweckungsritual durchgeführt … oder es zumindest versucht. Sie hatten die primäre Fehlerquelle eliminiert, welcher sämtliche vorherigen Versuche im Laufe der Geschichte anheim gefallen waren, und waren dennoch gescheitert. Yuri bestätigte diese Annahme, als er leise sagte: »Wir haben kein sabberndes, untotes Monster erschaffen.« Ein weiterer Moment drückender Stille verging. Dann sagte Dante ruhig: »Die Aussicht ist also, dass Sarris mit diesem Ritual aus seiner Tochter einen blutrünstigen Zombie macht.« »Ja«, seufzte Yuri. »Die Leiche als Gefäß für die Seele zu benutzen ist nicht richtig. Man muss stattdessen die Bosheit einsetzen, um einen völlig neuen Körper zu erschaffen. Nur dann funktioniert es. Theoretisch.« »Und um Bosheit zu sammeln, braucht man Menschenopfer.« »Ja.« »Viele.« »Verdammt viele! Am besten unverbrauchte Seelen, wie … Kinder.« »Verstehe.« Dante stützte das Kinn auf die Faust. »Und du und Roger, ihr habt das … wie gemacht?« Yuri zuckte zusammen. Er hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass dieser Umstand so schnell ans Licht kam. »Wir – wir haben natürlich niemanden ermordet. Das war auch nicht nötig. Ich bin Harmonixer, ich bin selber ein Gefäß, das sich ständig mit Bosheit füllt. Hier.« Er zog sein Amulett mit dem leuchtenden runden Stein aus seinem Kragen hervor. »Negative Energie der Monster, die ich töte. Seelenenergie. Davon hatten wir genug. Und trotzdem … Unser Gefäß war am Ende nicht … perfekt. Es hat der Belastung nicht standgehalten.« »Und hier«, setzte Roger sanft ein, »kommt Azazel ins Spiel. Azazel als Dämon der Sünde absorbiert Bosheit von überall, bis er davon stark genug geworden ist, um in unserer Welt jenseits des oneirischen Tores zu erscheinen. Dann – vom Verursacher dieses vielen Bösen heraufbeschworen, mithilfe der Dschaizan-Inschrift – kann aus ihm Bosheit gezapft werden, so viel und so kontrolliert, dass damit das Ritual der Wiedererweckung gelingen kann. Azazels reine Präsenz versorgt seinen Beschwörer mit genau der benötigten Menge Bosheit, sodass kein Ungleichgewicht mit Wille entstehen kann. Und dann … tja, dann hätte euer Widersacher als erster Mensch dieser Welt eine vollständige, korrekte und aller Natürlichkeit zuwider laufende Erweckung eines Toten durchgeführt.« Wieder Stille. Jin bemerkte, dass er den Atem angehalten hatte, und ließ ihn vorsichtig entweichen. Das also war Sarris’ großer Plan – das steckte hinter seinem beharrlichen Bemühen, an Azazels Kräfte heranzukommen. Die Frage dabei war … »Wenn Sarris Azazel auf unsere Welt holen und benutzen muss, um seine Tochter wiederzubeleben … Was hätte er von diesem Triumph, wenn Azazel danach die Menschheit versklavt?« Roger faltete die Hände hinter dem Rücken. »Das würde ich gerne von euch wissen. Ihr kennt diesen Mann besser als ich.« Jin öffnete den Mund und schloss ihn wieder, und Dante sah ihn argwöhnisch an: »Hör mal, Kazama, dass du das noch nicht erkannt hast, kauf ich nicht. Yuri würde ich glauben, dass er so schwer von Begriff ist, aber nicht dir.« »Und sogar ich hab’s gerafft«, schloss sich Yuri an. »Du willst es nur nicht wahrhaben.« Damit wandte er sich an Roger: »Sarris hat es auch auf Jin abgesehen. Wegen genau dieser Sache. Erst hat er Dante verfolgt, weil er glaubte, Dante könnte Azazel töten, wenn der Plan durch ist. Aber inzwischen weiß er, dass das nur jemand mit dem Teufelsgen tun kann – mit Azazels Saat. Bitte, das ist er. Jin hat das Teufelsgen.« Auf Yuris Erläuterung hin zog Roger die Stirn kraus; dann rutschte er vom Sessel und ging in seinem seltsam watschelnden Gang auf Jin zu, um dicht vor ihm stehen zu bleiben und ihn eingehend zu beäugen. Jin fühlte sich merkwürdig; gewöhnlich mochte er es gar nicht, derart kritisch inspiziert zu werden, doch der Blick des uralten Mönchs war dabei nicht hart, nicht stechend, nicht verurteilend – nur wach, aufmerksam und alles erfassend. Jin brauchte diesen leuchtenden Augen nicht auszuweichen. »Du bist von Azazel berührt? Bist du sicher?«, fragte Roger vorsichtig. »Ich bin sicher.« »Hast du … ein Mal?« »Ja. Devil hat es mir auf den Arm gebrannt.« Ohne auf die Aufforderung zu warten, streifte Jin den Mantel von der linken Schulter, öffnete das Hemd und legte seinen Oberarm frei, auf welchem scharf umrissen das schwarze Zeichen saß, das sein Schicksal bestimmt hatte. Roger betrachtete es nachdenklich. »Du bist also einer von nur zwei Menschen, die theoretisch in der Lage wären, Azazel zu vernichten. Die beiden Schwarzen Sterne … Wer ist der andere?« »Mein Vater«, murmelte Jin, während er sich wieder anzog. »Er hat es mir vererbt.« »So! Interessant. Aber dein Vater ist doch ganz sicher kein Kazama, eh?« Roger zog wissend die Brauen zusammen. »Er ist ein Mishima.« »Ah. Ich verstehe.« »Roger, hör auf, uns hinzuhalten!«, beschwerte sich Yuri. »Hast du die Abschrift der Dschaizan-Tafel? Wie können wir dafür sorgen, dass der Irre sie nicht kriegt?« »Indem ihr hierbleibt und sie beschützt, vielleicht?«, gab Roger staubtrocken zurück. »Also wirklich, was wollt ihr machen? Sie mitnehmen?« »Du musst doch zugeben, dass wir sie besser beschützen können als du! Selbst mit deinem Trugbild. Der Typ hat Ahnung von so was, er wird dich finden!« Roger brummte unglücklich. »Ich sehe ja ein, dass ihr die besseren Wächter für diese Schriften seid – da nun wieder jemand hinter ihnen her ist und sie benutzen will … Also gut, ich hole euch die Abschrift der Tafel … und das Émigré-Manuskript.« Mit gebeugtem Rücken wandte er sich von ihnen ab und durchmaß die Grotte mit schlurfenden Schritten, bis er vor einem quadratischen Umriss im Erdboden stand, den Jin erst jetzt beim Hinsehen als eine Falltür erkannte. »Ihr wartet hier auf mich, verstanden? Und Yuri …« »Ja?«, erwiderte Yuri, die Hände artig im Schoß, als könne er kein Wässerchen trüben. »… Kein Rumstöbern in meinen Möbeln nach Dingen, hast du gehört?« »Alles roger, Roger.« »Na schön. Etwas Geduld bitte.« Die Falltür öffnete sich mit lautem Quietschen, aber sie schien, als der alte Mönch sie anhob, nicht schwer zu sein. Sand und Staub rieselten von ihr herab, doch darunter war sie nur aus dünnem, modrigem Holz. Roger kroch durch die Luke und stieg murmelnd hinunter; sein fast kahler, brauner Kopf verschwand unter dem Fußboden. »So, das kann dauern!«, befand Yuri, sobald ihr Gastgeber nicht mehr zu sehen war, und sprang von der Couch. »Suchen wir uns was zum Zeitvertreib …« Er beugte sich über seine Ecke des Sofas und schob eine Hand in die Spalte zwischen Sitz- und Rückenpolster, vergeblich tastend. »… Nein, hier nicht. Jin, Dante, nehmt mal eure Ärsche hoch …« Jin gehorchte geistesabwesend und betrachtete die kalksteinernen Wände der Höhle. Das hier war kein bizarrer Traum: Roger Bacon hatte acht Jahrhunderte mit all ihren Katastrophen überlebt und sich hier, zwischen dem Fundament eines niedergebrannten Klosters und den Ruinen einer uralten vormenschlichen Kultur, ein Refugium geschaffen, hartnäckig wie ein lebendes Fossil. Seine kuriosen Erfindungen mussten ihm das Leben hier unten erträglich machen, aber wie, bei allen Göttern, überdauerte er? Einsam, isoliert vom Rest der Menschheit, am Leben gehalten durch die Folgen eines schwarzmagischen Experiments fristete er hier ein trostloses Dasein, bei dem all sein Wissen, seine Fähigkeiten und seine Intelligenz ihm wenig nützten. Was tat er hier den ganzen Tag, Jahr um Jahr, wartend auf … was? Jemanden, der ihn entdeckte? Dass das passierte, wusste er bestens zu verhindern. Hatte er wirklich diese lange Zeit nur auf Yuris Rückkehr gewartet? Hatte er sie vorhergesehen, mit irgendeinem Zauberspruch? Wie hatte er sich die Zeit vertrieben in all den untätigen Jahrzehnten des Wartens auf etwas, das vielleicht niemals passierte? Was tat ein umfassend und hoch gebildetes Universalgenie wie Roger Bacon, während … »… Aaaah, hab ich dich!«, triumphierte Yuri und zog aus der Polsterritze eine etwas abgegriffene, aber ziemlich zeitgenössisch aussehende Zeitschrift hervor. »Ich wusste es, die Shanghai Angels gibt es noch! Aber – meine Fresse, bei denen hat sich ganz schön was getan …!« »Lass mal sehen«, verlangte Dante und hatte das Magazin schneller in der Hand, als Yuri es an sich drücken konnte. Wie immer waren sämtliche physikalischen Gesetze seine Verbündeten. »Aha! Ein Abo. Ich dachte mir schon, dass dein Freund Roger zu diesen alten Säcken gehört.« Er blätterte ein wenig. »Naja. Ganz nett.« »Jetzt sei kein Arsch und gib es zurück!«, quengelte Yuri. »Wo genau ist der Unterschied zu den Ausgaben aus deiner Zeit?« »Ähm. Naja, damals waren die … nicht sooo groß. Zeig doch mal … Ja, so vielleicht. Aber das da –« »Wow, das hab ich auch noch nie gesehen …« »Tut das nicht weh?« »Keine Ahnung.« »Wie findest du die?« »Oh, hallo! Ja, das passt zu dir, was?« »So ausgefallen ist das nun auch nicht …« »Du versuchst gerade, einen wirklich zweifelhaften Geschmack zu verteidigen. Dünnes Eis.« »Sagt der Richtige.« Jin hörte ihrem Geschäker unfreiwillig zu, während er dem Sofa den Rücken zuwandte. Da hatte er die Antwort darauf, was einsame alte Genies bei Langeweile taten. Er sah sich genauer um. Etwas an der gegenüberliegenden Wand, wo all die absonderlichen Geräte standen, erregte seine Aufmerksamkeit. Es sah aus wie ein … Laufband, sehr in die dunkelste Ecke gedrückt, an den Seiten begrenzt von zwei großen hölzernen Rädern, deren Speichen staubbedeckt und teils gebrochen waren. Lange schwarze Drähte, daumendick, führten von dieser primitiven Energiequelle zu drei mannshoch aufragenden Ständern, schlangenhaft gewunden wie moderne Stehlampen und mit knospenartigen Verdickungen auf den Spitzen, die zur Erde gerichtet waren. Irgendwie vermutete Jin hinter diesen Objekten keine Lichtquellen; zwar sahen sie aus wie scharfe Laserstrahler, die sich auf einen gemeinsamen Punkt ausrichten ließen, doch ihr Zweck erschloss sich dem Betrachter nicht – jedenfalls nicht in dieser Umgebung. Yuri rief leise nach ihm. »Jin? Hey, willst du auch mal reingucken?« »Nein«, antwortete Jin geistesabwesend. Prompt fragte Dante: »Kriegt ihr Japaner wirklich Nasenbluten, wenn ihr nackte Brüste seht?« Die Antwort auf diese Frage erübrigte sich glücklicherweise, als Roger schnaufend aus der Falltür herausgeklettert kam und dabei einen kleinen Jutesack über der Schulter trug. Yuri warf das pornographische Magazin im Handumdrehen über die Schulter, und Jin erhaschte noch einen Blick darauf, wie Dante es schnappte und ebenso schnell wieder im Polster der Couch verschwinden ließ. Leider blieb das Manöver erfolglos. »Ihr Rotzlöffel!«, keifte Roger und warf sein Bündel von sich. »Kann ein armer alter Mann nicht mal seine Privatsphäre haben?« »Du hast hier mehr Privatsphäre, als gesund für dich ist«, gab Yuri frech zurück. »Jetzt zeig schon her, hast du alles gefunden?« »Pah, finden. Ich muss nicht suchen, wenn ich weiß, wo alles ist.« Das Säckchen hinter sich her schleifend, tapste Roger o-beinig zu der Gruppe. »Hier. Das hier kennst du.« Er griff in den Beutel, holte ein Bündel aus Lumpen heraus und entfaltete es beinahe feierlich. Was Jin in seinen Händen sehen konnte, war etwas Helles – etwas, das nicht wie ein Buch aussah. Ungeduldig streckte Yuri die Hand aus, doch Roger ignorierte die Geste; als Yuri dann versuchte, ihm den Schatz aus den Händen zu ziehen, gab der Mönch ihm einen Klaps auf die Finger. »Diesmal nicht, du Rüpel! Ich weiß, dass du drauf auspassen kannst, aber diese Zeit hier ist nicht deine.« Yuri schwieg verblüfft, und Roger drehte sich nach links um – zu Jin. »Ich denke, du solltest die Émigré-Schrift verwahren, Jin Kazama.« Wie in Trance nahm Jin den Kodex in beide Hände. Er war nicht eckig, sondern kunstvoll zurechtgeschnitten – zu einem menschlicher Schädel. Ein Schädel aus lateraler Sicht, flach. Die einzelnen das Hirn umgebenden Partien waren ebenso fein in das weiße Leder geprägt wie die Zähne, der Kiefer- und Wangenknochen, die einzelne Augenhöhle. Jin hatte den erschreckenden Eindruck, dass es wirklich Knochen war, über den seine Finger strichen; so fest und bleich war das Material, das den Buchdeckel bildete. Auf ihm stand, in griechischen Buchstaben, der Titel: Εμιγρε »Es ist nicht das Original, wie du vielleicht weißt«, erklärte Roger, »sondern eine Abschrift, die ich selbst für den Papst angefertigt habe, weil das alte Manuskript zerfiel. Während ich es studierte und seinen Inhalt anwendete, wurde ich zu dem, was ich jetzt bin … ein überdauerndes Wesen, zwar vor dem Tode geschützt, doch nicht vor dem Alter. Immer mehr zerfalle ich zu Staub und Asche, während ich nicht sterben kann. Deshalb … habe ich die Seiten, die diesen Ritus beschreiben, nicht mit in diese Kopie übertragen. Doch es spielt keine Rolle – dieses Dokument ist trotzdem das mächtigste und gefährlichste der Welt. Pass mir ja gut darauf auf!« Jin nickte langsam und starrte weiter den schrecklichen Einband an. Hiermit also waren bis zum Zweiten Weltkrieg die schlimmsten Verbrechen der Menschheit ermöglicht worden … Und nun hatte man es in seine Hände gelegt. Jin schwor sich, dieses Buch notfalls mit dem Leben zu verteidigen. Behutsam schob er es in die Innenseite seines Mantels und schloss den feinen Reißverschluss. »Und zu guter Letzt«, nahm Roger den Faden wieder auf, »habe ich hier die Seiten, die ich aus der Abschrift der Tafel von Dschaizan entfernt habe. Natürlich hätte ich es gleich sein lassen können, sie überhaupt zu übertragen, wie bei der Émigré-Schrift auch – aber im Vergleich mit der anderen Ausgabe, die später mit Harley Warren vom Erdboden verschwand, wäre das aufgefallen. Also erlaubte ich mir, die an Azazel adressierten Seiten später herauszutrennen. Hier sind sie.« Er fischte eine kleine Schriftrolle aus dem Jutesäckchen und reichte sie – nicht Yuri, der schon wieder beide Hände danach ausstreckte, sondern Dante, der unbeteiligt daneben stand. »Och Mann …« »Ich?«, fragte Dante und entfaltete träge seine Arme, um die Seiten entgegen zu nehmen. »Auch gut … Aber warum? Ich bin nicht der Richtige, um auf Wertvolles aufzupassen.« »Du kannst die Seiten noch weniger lesen als ein Mensch«, erwiderte Roger zufrieden. »Du kannst sie dir nicht mal allzu genau ansehen. Habe ich nicht Recht? Du bist ein Halbblut, und dein Hirn kann sich nicht entscheiden, ob es die ungeometrischen, aber harmlosen Runen sieht, die wir Menschen sehen, oder die Bedeutung dahinter … die ein Dämon lesen kann.« Er kicherte sein Ziegenkichern. »Ich stelle es mir nicht angenehm vor.« »Ich werde versuchen, nicht draufzukotzen«, versprach Dante großmütig und suchte nach einer geeigneten Tasche irgendwo in den Tiefen seines Dusters. »Moment mal, stopp«, ging Yuri auf einmal dazwischen. »Wartet. Wieso reden wir hier überhaupt darüber, die Seiten mitzunehmen und zu verstecken? Wir sollten sie gleich vernichten.« Er nickte nach dem blakenden Kandelaber. »Da! Lasst sie uns verbrennen. Dann haben wir’s hinter uns. Niemand wird Azazel beschwören – nicht heute, nicht morgen, nicht in hundert Jahren. Also?« Dante zuckte die Schultern und hielt ihm das Seitenbündel hin. Roger zögerte, unschlüssig. Yuri nickte, nahm die Rolle an sich und wollte sich damit entschlossen auf den Weg zu den Kerzen machen. Ehe er darüber nachdenken konnte, war Jin vor ihn getreten. »Nein. Warte.« Yuri stoppte, sah ihn fragend an. »Warum nicht?« »Tu es nicht jetzt schon. Vielleicht brauchen wir die Seiten noch.« »Und wofür?« Jin wusste es selbst nicht; er wusste nur, dass er diese Seiten auf keinen Fall brennen sehen wollte. Diese Hast war plötzlich über ihn gekommen und war ihm selbst unverständlich. »Wir wissen, dass Azazel so oder so in unsere Welt treten wird, mit oder ohne Einladung. Sarris hat das gesagt, und auch Zafina hat das gesagt – die Prophetin, die mich umbringen wollte, zum Wohle der Menschheit.« »Das hast du erzählt«, bestätigte Yuri widerwillig. »Du und dein Vater seid diejenigen, die das auslösen werden, wenn nicht einer von euch vorher stirbt.« »Ich muss mir überlegen«, sagte Jin fest, ihm direkt in die Augen sehend, »ob ich die Prophezeiung wahr werden lassen und warten will, bis Azazel von selbst erscheint, irgendwann … oder ob ich ihm zuvorkomme.« Yuri erwiderte seinen Blick verständnislos. »Sekunde mal, Jin. Was redest du da? Du erzählst die ganze Zeit allen, dass du deinen Vater töten willst. Das würde Azazels Erscheinen verhindern, oder? Schlägst du gerade ernsthaft vor, dass wir Azazel beschwören, damit du ihn herausfordern und vielleicht töten kannst? Sag mal: Hackt’s bei dir irgendwo?« Jin presste die Lippen zusammen. Er konnte es nicht leiden, wenn man so mit ihm sprach, doch bei Yuri tolerierte er es notgedrungen. Sein Einwand war ernst gemeint gewesen, und er war berechtigt. Devil war Azazels Saat. Jin war klar geworden, dass Azazels Vernichtung ihn mit großer Wahrscheinlichkeit von dem Teufelsgen befreien würde. Das war es, was er wollte. Diese Chance gab er nicht so einfach auf. Einen Moment lang starrten sie einander an, und Jin las in Yuris Gesicht, das wie ein offenes Buch vor ihm lag, die Erinnerungen an all den Horror, den er erlebt hatte – fast immer verursacht durch mächtige Schriften, die Verzweifelten, Fehlgeleiteten und Wahnsinnigen in die Hände gefallen waren. Yuri tat ihm leid, doch Jin konnte nicht aus seiner Haut. Er würde nicht zulassen, dass diese letzte Passage der Dschaizan-Abschrift vernichtet wurde. Es war Roger, der schließlich eingriff. »Yuri, Jin hat vielleicht Recht. Ich weiß, du warst damals schon dafür, auch die Émigré-Schrift zu verbrennen. Aber … wenn es so leicht wäre, hätte ich alle Schriften, die ich für potenziell gefährlich halte, selbst längst zerstören können. Wozu Seiten entfernen, wozu Bücher verstecken? Du weißt, warum wir das tun … Weil Geschriebenes Macht hat. Diese Texte existierten lange vor uns, wir wissen nicht, wer sie wirklich geschrieben hat und zu welchem Zweck solch furchtbares Wissen überliefert werden sollte. Und weil wir uns nicht anmaßen können, das zu wissen, sollten wir nicht so leichtfertig darüber entscheiden, welche Kenntnisse und Errungenschaften der Menschheit wir unwiederbringlich dem Vergessen überantworten.« Yuri senkte den Kopf. »Aber …«, protestierte er schwach. Jin zog die Seiten aus seinem erschlafften Griff und gab sie Dante zurück, der sie einsteckte mit dem Kommentar: »Bleiben wir also beim alten Plan.« »Wie ihr wollt«, gab Yuri sich geschlagen, zuckte die Achseln und wanderte ein paar Schritte in der Grotte auf und ab. »Dann sollten wir jetzt mal durchspielen, was eigentlich passieren würde, wenn Sarris mit seinem Plan durchkommt. Jetzt, da wir endlich wissen, was er wirklich vorhat.« »Lass uns das morgen machen«, lehnte Dante den Vorschlag ab. »Es ist nach Mitternacht. Wir haben unsere heutige Mission erfüllt, nämlich deinen Freund Roger gefunden und die Texte sichergestellt. Hat alles geklappt, schnell und gründlich, wir sind da mindestens mit Rang A durchmarschiert, wenn du mich fragst. Also lass uns morgen wiederkommen, wenn es hell ist und wir wieder munter sind. Okay?« Jin vermutete, dass Dante entweder müde war oder sich langweilte; wahrscheinlich letzteres. Hoffentlich würde er gut auf die Seiten Acht geben. Jin war mit Rogers Wahl, wer sie haben sollte, nicht sehr zufrieden, aber er selbst hatte seinen eigenen Verwahrungsauftrag zu erfüllen, und das war das Émigré-Dokument – das widerwärtigste Buch, das er je gesehen hatte. Hoffentlich würde Sarris es niemals, niemals finden. Daran mussten sie morgen arbeiten. Roger begleitete sie hinaus in die unverändert kalte, feuchte und windige Nacht. Wieder froren sie erbärmlich, als sie im Dunkeln die Strecke nach Aberystwyth zurücklegten, schweigend und ohne Umwege. Jin fühlte sich so matt, als wäre er den ganzen Tag gelaufen. Noch dazu sahen sie alle aus, als hätten sie sich eine Schlammschlacht geliefert (nicht nur Dante und Yuri, bei denen das zutraf), denn aus dem Loch wieder herauszuklettern hatte ihre Kleidung noch schmutziger werden lassen, als sie durch den Sturz in die Höhle bereits gewesen war. Das sah auch der Nachtportier des Hotels, als er ihnen mit seinem zwielichtigen Lächeln öffnete. »Willkommen zurück, meine Herren. Sie scheinen eine spannende Nacht hinter sich zu haben.« Er wies nach der Treppe und wünschte ihnen einen erholsamen Schlaf. Jin war sicher, dass sie als auffälliges Männertrio den Hotelbetreibern ohnehin nicht geheuer waren. Da den Dreien allerdings noch niemand Schwierigkeiten bereitet hatte (ganz im Gegenteil – nur hier waren sie aufgenommen worden), gab es keinen vernünftigen Grund, die Integrität dieser Einheimischen in Frage zu stellen. Womöglich bespitzelten sie sie … doch wenn schon. Zu holen gab es nichts, das Außenstehende interessierte. Jin schob die Émigré-Schrift vorsichtshalber unter sein Kopfkissen, ehe er sich schlafen legte. Zwar konnte er sich auf seine Instinkte und Reflexe auch im Schlaf verlassen, aber nach Rogers Mahnung war er nicht bereit, auch nur das kleinste Risiko einzugehen. Mit Yuri und Dante hatte er sich zum Frühstück verabredet, und dort würde sich zeigen, wie viele Gäste das Seaside wirklich beherbergte. Eine Zeitlang starrte Jin noch auf das Mondlicht, das grau durch die Vorhänge fiel. Darin erschienen die weißen Laken so fahl wie der Schädeleinband, der das abstoßende Buch zusammenhielt. Der nächsten Morgen kündigte einen weiteren nasswinterlichen Tag an. Jin trat vor die Tür seines Zimmers, sich noch einmal vergewissernd, dass das Émigré-Manuskript sicher in seiner Manteltasche lag, und hielt im Korridor Ausschau nach den anderen. Dante erschien nur zwei Minuten später und begrüßte ihn mit einer knappen Geste. Die Spitzen seines silberweißen Haars waren noch feucht. »Wo bleibt denn der kleine Spinner?« »Ich weiß nicht.« Jin sah sich um. »Ich klopfe mal bei ihm.« Es erschien ihm nicht unwahrscheinlich, dass Yuri noch schlief. Auf das Türklopfen meldete sich niemand. Auch nicht, nachdem Jin und Dante sich lauter und ausdauernder bemerkbar gemacht hatten. »Scheint nicht da zu sein«, stellte Dante fest. »Aber wo ist er dann?« Jin war ratlos. Yuri war wohl kaum so viel früher wach gewesen, dass er nicht mehr auf die Anderen warten konnte. Das passte nicht. Dante ließ seinen Blick über den Boden schweifen und fragte dann: »Was ist denn das da?« »Was?« »Das Stück Papier unter deiner Tür.« Erstaunt wandte sich Jin nach seiner Zimmertür um und sah, worauf Dante mit der Schuhspitze zeigte: Dort lugte tatsächlich eine weiße Ecke hervor. Beim Hinausgehen war Jin also glattweg über einen Zettel getreten, ohne ihn zu bemerken – so viel zu seinen Instinkten. Nachdenklich schloss er die Tür auf und hob das Papier auf. Es war zweimal gefaltet und enthielt tatsächlich eine Nachricht. Jin war sofort klar, dass es einen Moment dauern würde, sie zu verstehen: Yuri hatte auf Japanisch geschrieben, konservativ von oben nach unten und die Spalten von rechts nach links. Der kurze Text stand fast ausschließlich in Hiragana – glücklicherweise, denn wo Yuri mutig Kanji gesetzt hatte, waren es die alten, die seit der Schreibreform im Jahr 1945 nicht mehr in Gebrauch waren und die Jin nur bedingt lesen konnte. Überhaupt gab es zahllose Schreibfehler, doch das war nicht verwunderlich, wenn man wie Yuri multilingual aufgewachsen war und das Schriftsystem nicht tagtäglich verwendete. Im Wesentlichen teilte der Text Jin mit, dass Yuri in der Tat schon zu Roger aufgebrochen war, um mit ihm über Zeitreisen (wahrscheinlich hieß es das) zu sprechen. Er habe eine Idee, wie er zurück nach Hause käme, und zwar mithilfe von Rogers … irgendwas (Jin konnte diese Zeichenfolge bei aller Mühe nicht deuten, es standen auch keine Zusatzzeichen dabei). Erstaunlich war für Jin, dass Yuri für den Namen jin das korrekte Kanji geschrieben hatte, nämlich 仁; unterzeichnet hatte er mit seinem eigenen japanischen Rufnamen uru. Er war jetzt also weg, weil es etwas gab, das er unbedingt mit Roger besprechen wollte – vielleicht wirklich nur seine anstehende Heimreise ins Jahr 1915, vielleicht aber auch etwas, das er einfach nicht im Beisein der Anderen mit Roger diskutieren wollte. Jin beschloss, ihm nicht sofort zu folgen. Was auch immer Dante zu der Nachricht sagen mochte, sie würden Yuri in Ruhe lassen und erst, wie geplant, nach dem Frühstück zu Rogers Versteck aufbrechen. Manche Dinge musste man sich selbst überlassen. »Gehen wir frühstücken«, sagte Jin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)