Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 44: Akt XI - Gottesschlächter: 15-2 ------------------------------------------- 15-2: DANTE Sarris saß auf der Erde, an einen der rußschwarzen Pfeiler des Torbogens gelehnt, als Dante den unangenehmen Weg zum Eingang der Ruinen zum zweiten Mal hinter sich gebracht hatte. »Gut, du bist noch da.« »Hast du etwas Anderes erwartet, Dante? Wohin sollte ich gehen?« »Du hast keine Angst hier unten, oder?« »Du ahnst nicht, mit was für Schrecken ich auf meiner Suche schon in Berührung gekommen bin. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Glaub nicht, ich hätte nicht alles darüber gelesen, was die Émigré-Schrift tun kann und schon getan hat.« Er sah ziemlich erledigt aus, bei näherer Betrachtung. Sein schütteres Haar klebte matt und wirr an der Haut, seine Lider waren noch schwerer, die Augen dunkle Spalten. Die Hände hielt er im Schoß gefaltet, als hätte man ihn beim Beten überrascht. Eher unwahrscheinlich. Dante durchschritt das finstere Tor und setzte sich neben ihn – in gerade genug Abstand, dass ihre Ellenbogen sich nicht berührten. Dann zog er die braune Papiertüte unter dem Arm hervor, sehr vorsichtig, um dem Inhalt ja keine Gewalt anzutun. »Was ist das?«, fragte Sarris sofort misstrauisch. »Apple Pie.« Dante nahm die beiden liebevoll eingewickelten Kuchenstücke behutsam heraus, eins nach dem anderen. »Da ist ein Café an der Promenade, New York Style, das Honeycup. Hier, eins für dich. Keine Kuchengabeln, sorry.« Sarris nahm sein Stück mit mildem Erstaunen entgegen und zog das Papier beiseite. Das Café hatte Apple Pie als seine Spezialität ausgegeben; jedes Stück war mit Zuckerguss bestrichen und mit Nussstückchen dekoriert. Dante wartete nicht, bis Sarris mit Starren fertig war, sondern brach eine Ecke von seinem Stück ab und steckte es in den Mund. Es war, wie erwartet, sehr süß und schmeckte nach mehr. »Und … warum?«, fragte Sarris endlich. »Als kleine Entschädigung dafür, dass wir dich hier unten eingelocht haben.« »Das ist doch kaum eine Stunde her.« »Süßes hebt die Stimmung, heißt es. Und Eis haben sie im Februar nicht.« Nächster Bissen. Die kleine Leckerei verschwand viel zu schnell, aber egal. Sie war nur ein Lockerungsmittel. Vielleicht wäre Whisky genauso gut gewesen. »Ich verstehe«, sagte Sarris. »Du willst also Antworten.« »Nach all den Jahren, die wir uns kennen, verdiene ich die irgendwie, finde ich.« Sein alter Bekannter zuckte die Schultern. »Sag, was du wissen willst.« »Wie bist du in mein Zimmer gekommen? Als Einstieg zum Warmwerden.« »Das war nicht schwierig. Der Bruder eines Freundes ist Nachtportier im Seaside.« »Was für ein Zufall. Also hast du auch dafür gesorgt, dass wir ausgerechnet da landen.« »Oh nein, nein.« Sarris leckte sich die Finger ab. »Das war reines Glück. Es stimmt, dass in Aberystwyth gerade eine kulturwissenschaftliche Tagung stattfindet und die Unterkünfte knapp sind. Wenn ihr woanders abgewiesen worden seid, dann vielleicht, weil ihr zu sehr wie Verbrecher ausseht.« »Ich finde nicht, dass ich wie ein Verbrecher aussehe«, sagte Dante und kaute genussvoll das letzte Stück seines Kuchens. »Ihr seht nicht einzeln wie Verbrecher aus, aber zusammen. Ihr seht … seltsam aus, so zu dritt. Touristen der verdächtigen Art.« »Ich frage besser nicht, was genau das heißen soll. Nächste Frage.« Dante knüllte das zuckrige Papier zu einer Kugel zusammen und schubste es ins Dunkel. »Wie kommt es, dass du überall Freunde hast?« Wieder lachte Sarris. »Das fragst du dich bestimmt schon länger.« »Skull & Bones?« »Oh Herr, dafür bin ich zu alt.« »Was dann?« »Sapientes Gladio.« Dante ließ diesen Namen kurz nachhallen. Die Weisen des Schwertes? Sarris’ anschließendes Schweigen ließ darauf schließen, dass er vermutete, Dante hätte diese Worte schon einmal gehört. »Sagt mir leider gar nichts.« »Interessant. Dann hat der Gottesschlächter euch nichts davon erzählt.« »Wovon? Was macht die Truppe?« Verdammt, Yuri hatte also noch immer nicht alles ausgepackt. Dante würde sich beherrschen müssen, ihn nicht am Kragen zu packen und durchzuschütteln, wenn sie sich wiedersahen. »Sapientes Gladio waren ursprünglich eine gewöhnliche Geheimgesellschaft, wie es Mitte des neunzehnten Jahrhunderts viele gab«, antwortete Sarris bereitwillig. »Sie versuchten, das verbotene Wissen der Welt zusammenzutragen. Auch Alchimie, Geisterkunde, Dämonologie. Schwarzmagie.« »Verstehe. Ganz dein Ding.« »Für mich war es ein Zusammentreffen mit Gleichgesinnten. Sie weihten mich nach und nach in all ihr Wissen ein, während ich kleine … Lernaufgaben erledigte.« »Zum Beispiel?« »Spionageaufträge hier, kleine Hexereien da.« »Und ich hab mich immer gewundert, wieso du mehr Kundschaft hast als ich. Wahrscheinlich hast du manches von dem verursacht, was ich später wegräumen musste.« »Gelegentlich«, antwortete Sarris mit offenem Lächeln. »Und was haben die Typen mit Yuri zu tun?« »Er hat Sapientes Gladio 1915 zerschlagen. Sie wurden damals von Rasputin geführt. Du weißt schon – dem Rasputin.« Dante starrte auf die Stelle im Dunkeln, in die das Kuchenpapier gerollt war. Diese Geschichte wurde immer abstruser. »Und warum hat Yuri das gemacht? Einfach, weil der Typ böse war?« Das war ganz sicher nicht alles. Yuri scheute nicht davor zurück, Schurken in den Arsch zu treten, aber er war nicht selbstlos genug, sich zum Beschützer der Romanovs oder wessen auch immer aufzuschwingen. »Unsinn«, sagte Sarris ernst. »Rache. Sie haben ihn verflucht.« Anders als Dante legte er sein klebriges Papier gefaltet neben sich. »Mit der Heiligen Mistel. Es war nur einer von vielen selbstauferlegten Aufträgen des Bundes, den Dämon vom Domremy zu vernichten. Es hat funktioniert. Aber er hatte noch genug Zeit, zurückzuschlagen.« Das hatte Yuri zweifellos getan. Mit aller Brutalität. »Sie haben auch seinen Freund Roger Bacon entführt, um ihn zu ködern. Das waren keine netten Leute, damals, nachdem Rasputin die Begründer besiegt und aus der Gesellschaft verbannt hatte, um diese für seine dunklen Zwecke zu nutzen. Die Herrschaft über Europa … Wovon träumen solche Männer eigentlich nachts?« Will ich nicht wissen, dachte Dante. »Womit hat Yuri es geschafft, die sauer zu machen? Warum ihn ausschalten?« »Weil er der Gottesschlächter war. Er hat denjenigen erledigt, den sie eigentlich verfluchen wollten, also war es eine Art … Strafe. Sie haben ihn jahrelang gesucht, nachdem der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, bis sie ihn in einem Dorf in Frankreich fanden, das er mit seinen Dämonenkräften vor der feindlichen Übernahme bewahrte.« »Ziemlich hartnäckig. Muss sich jeder mit Dämonenkräften vor euch fürchten?« »Nein, Dante. Was in den Siebziger Jahren aus der Asche von Sapientes Gladio wiederauferstanden ist – die Gesellschaft, der ich mich angeschlossen habe –, ist friedlich. Wir streben nicht nach der Weltherrschaft. Wir sammeln nur Wissen.« »So? Du gehst aber nicht gerade verantwortungsvoll mit diesem Wissen um.« »Ich weiß. Seit Selenas Tod haben sich Dinge geändert. Vorher war ich ein Anderer, ich … du weißt ja, wie ich war.« Dante horchte auf. Der resignierte, fast reumütige Tonfall war in Sarris’ Stimme zurückgekehrt. Natürlich erinnerte er sich an den ernsten, vorsichtigen und rechtschaffenen Mann, dem er vor acht Jahren in der kleinen Kirche in Hallow Hills zum ersten Mal begegnet war. Kannte sich sehr gut aus mit Teufeln. Setzte keine Gewalt gegen sie ein, sondern stellte Fallen, studierte sie in ihrem Umfeld. Dante hatte dafür keine Geduld – und auch kein Verständnis. Er wollte sie nicht näher kennen, diese grausamen, emotionslosen Geschöpfe, die er von Geburt an über sein Leben bestimmen ließ. Hör auf, sie zu beobachten. Die Brut hat dir nichts zu sagen. – Weißt du das genau? – Wie nur irgendwas. Dämonen waren keine Menschen, keine Tiere, keine friedlichen Erdenbewohner, erst recht keine mit Moral. Sie konnten nur Leid zufügen, sonst nichts. Leg dir eine Waffe zu, hatte Dante Sarris geraten. Und mal deine Runen drauf, vielleicht hilft’s. – Ist schon in Arbeit. Ich kenne einen Spezialisten, der fertigt sie für mich. Tja, nun war klar, woher er diesen Spezialisten von damals kannte. Ich bin kein Typ für Schusswaffen oder Schwerter, weißt du. Steht mir auch nicht. Da musste Dante zustimmen. Was dann? Ein Streitkolben, eine Armbrust wie in Vampirfilmen, oder was? Eigentlich eine ganz nette Vorstellung. Eine Peitsche. Dante hatte aufgelacht. Wie Indiana Jones? – Nein, wie die Geißel Gottes. Ah. Schon klar. Kannst du damit umgehen? – Ich lerne es schon noch. Dante hatte nicht gezögert. Ich kann’s dir beibringen. Gibt keine Waffe, die ich nicht führen kann. Liegt mir im Blut. Zeig sie mir mal, wenn sie fertig ist, dann hol ich dir alles raus, was drin ist. »Ich habe mich an alle Regeln gehalten«, sagte Sarris bitter, »und mir sogar meine eigenen geschaffen, so wie du. Meinen Moralkodex. Als Selena starb, habe ich alle Regeln aufgegeben. Wozu sind sie noch gut? Es gibt nur noch eins, das ich tun muss, und du weißt, was das ist.« »Kannst du wirklich nicht ohne sie leben? Nie?« »Nein, Dante.« Wasser tropfte stetig in der Finsternis. Geometrische Formen schwebten leuchtend auf und ab. »Wissen Sapientes Gladio, was du hier machst?« »Nicht wirklich. Ich habe zwar alles Wissen, das ich brauche, von anderen Mitgliedern, aber noch werden sie das Puzzle nicht zusammengesetzt haben. Trotzdem ist es nur eine Frage der Zeit.« »Und was machen sie dann mit dir?« Dante stellte sich ein dunkles Tribunal vor, in einer Grotte wie dieser hier, mit schwarz verhüllten Gestalten, die im Halbkreis um ein ehrwürdiges Richterpult herumstanden und Rechtsverse auf Latein herunterbeteten. Sarris zuckte die Schultern. »Mich aus ihren Reihen verbannen, schätze ich. Aber was soll’s. Ich habe mir schon alles von ihnen genommen, was ich brauche. Wenn ich erst Selena wiederhabe –« »Das Ritual wird nicht funktionieren, das weißt du«, unterbrach Dante ihn ohne Schärfe. Dieser Mann war einst so was wie ein Freund gewesen. »Yuri und Roger Bacon haben es versucht und sind gescheitert.« »Sie hatten Azazel nicht.« »Azazel verspeist dich mitsamt deiner lächerlichen Peitsche.« »Nicht, wenn Jin ihn tötet.« »Jin wird sich niemals zu deinem Werkzeug machen lassen. Er hat längst geschnallt, was für ihn dabei rauskommt.« Sarris schüttelte den Kopf. »Unterschätze seine Verzweiflung nicht, Dante. Du hast meine unterschätzt – mach nicht denselben Fehler noch mal. Jin hat nur ein Interesse, und das ist, den Teufel in ihm zu töten. Azazel ist sehr wahrscheinlich der Schlüssel dazu. Jin weiß das. Und er ist nicht der moralische Leuchtturm, für den du ihn hältst. Hast du je von den Mishimas gehört? Sie sind eine uralte Blutlinie von Kriegern, heute Großmogule der Rüstungsindustrie. Sie sind verdorben – gierig, machthungrig, grausam und skrupellos.« »Ja, Jin hatte über seinen Vater und Großvater einiges zu sagen.« »Er hasst sie, aber er ist ihr Erbe. Kazama hin oder her, er kann genauso dreckig kämpfen wie sie. Er wird alles tun, um den Dämon loszuwerden, und wenn er dafür Unschuldige opfern muss, dann tut er auch das. Glaub mir, Dante. Ich würde ihm nur helfen. Ihm und Selena.« »Du würdest vor allem dir helfen.« Dante stand auf und schüttelte etwas schimmernden Staub vom Revers seines Mantels. Irgendwie war der Apfelkuchen zu zuckrig gewesen und fühlte sich jetzt unangenehm im Magen an. Dass Sarris schlecht über Jin sprach, ging Dante gegen den Strich, obwohl er nicht wusste, warum eigentlich. Er selbst fand Jin auch nicht über die Maßen sympathisch – zu kalt und zu versteift –, aber er war doch kein Schurke, oder? Jin versuchte immer alles richtig zu machen. Er dachte nicht nur an sich. Doch der Zweifel blieb. Sarris schaute zu Dante auf, seine grauen Augen hart wie die Felsen, die hinter Clarach ins Meer ragten. »Danke für den Apple Pie, nette Geste von dir. Ich mochte immer dein faires Verhalten. So wollte ich auch sein. Aber manchmal muss man Altes zurücklassen und neue Ziele suchen. Du musstest das auch.« Dante lehnte sich gegen den Pfeiler. »Irrtum, alter Freund. Ich mache immer noch das, was ich immer gemacht habe.« »Willst du mir erzählen, dass du nicht depressiv geworden bist, nachdem du Mundus besiegt hattest? Den Mörder deiner Mutter?« Rede nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst, lag es Dante auf der Zunge. Er sagte es nicht laut, starrte nur auf Sarris hinunter, der den Blick nicht abwandte. »Du hattest kein Ziel mehr im Leben, nichts, das du verfolgen konntest, nicht wahr? Leere, die dir den Lebenswillen geraubt hat. Das war offensichtlich. Deine Freunde sind nicht blind. Alleine nachts mit Whisky auf der Couch zu sitzen war nicht mal für dich normal. Tut mir leid, wenn ich das wieder raufhole, ich werde dich nicht drängen, es zuzugeben.« »Glaub ruhig, was du willst«, entgegnete Dante ablehnend. »Wir sind nicht hier, um über mich zu reden.« Er hatte endlos viel Zeit auf seiner Couch verbracht – das war wohl der Grund dafür, dass sie heute nicht mehr besonders bequem war. Stundenlang auf die Wand gestarrt. Er kannte jede Maserung der Holztäfelung hinter dem Schreibtisch. Den Ventilator beobachtet, wie er völlig sinnlos seine Runden drehte. Hatte seine Freunde vernachlässigt, seine Aufträge schleifen lassen, sich um nichts mehr gekümmert. Wozu? Welchen Unterschied machte es, ob er vor die Tür ging und einem weiteren Teufel den Kopf abschlug oder auf seinem Sofa lag und sich fragte, wovon er die Stromrechnung bezahlen sollte? »Und wie geht es dir jetzt?«, fragte Sarris unvermittelt. »Hm?« »Das hätte ich dich damals fragen sollen.« »Oh, bitte.« Dante schüttelte den Kopf und stieß sich von dem Pfeiler ab. »Lassen wir das. Ich nehme an, dein Wissen über das alles hier –« Er machte eine Geste von einer Seite der Höhle zur anderen. »– hast du auch von diesem Geheimbund.« »Exakt.« »Gut, dann kann ich mir Yuri nachher vornehmen und ihm aufs Brot schmieren, wem wir den ganzen Mist zu verdanken haben.« »Vorsichtig«, sagte Sarris sanft. »Sapientes Gladio sind sehr, sehr wehrhaft, das kannst du dir sicher denken.« »Also kann ich von Glück reden, dass ich nicht auf eurer Abschussliste stehe?« Sarris stand auf, etwas ungelenk, und rieb sich die Hosenbeine ab. »Ich glaube, du wärst genauso schwer zu töten wie der Gottesschlächter. Und da die Heilige Mistel als verschollen gilt, hätten wir nichts, um dir auch nur einen Kratzer beibringen zu können. Du brauchst kein Glück, Dante. Das hast du nie gebraucht.« Unerwartet spürte Dante Sarris’ tätschelnde Hand am Oberarm, die sich nach dieser freundschaftlichen Berührung sofort zurückzog. »Danke. Das meine ich ernst.« Dante konnte und wollte sich für nichts bedanken. Mit einem schweren Atemzug setzte er sich in Bewegung. »Mach’s dir gemütlich.« »Werde ich. Pass auf, dass ihr morgen früh im Seaside keine Nägel in eurem Porridge findet. Von hier unten kann ich euch nicht beschützen.« Sarris lachte. »Also ist das doch eine Gangster-Absteige?« »Oh ja. Ja.« Dante bildete sich ein, das leise, traurige Lachen noch bis zur Falltür zu hören. »Roger kümmert sich drum.« »Oh, gut.« Sie waren auf dem Weg zum Black Raven – endlich –, um Rhys auf den Sack zu gehen. Er hatte den Fehler gemacht, sie freundlich zu unterstützen; nun würde er das Gejammer über die verfahrene Situation in seiner Kneipe ertragen müssen. Jin nickte. »Er kann Aramäisch lesen, aber es ist mühsam für ihn. Deine Kopie ist sehr eng gedruckt, also haben wir die vermutlich interessanten Seiten in einem Copyshop vergrößert.« Jin hatte sich ins Englische richtig eingelebt. Wörter wie ›interessant‹ gingen ihm glatt über die Zunge. Dante wusste, dass es ziemlich unfair von ihm gewesen war, Jins Sprachkenntnisse zu kritisieren; die meisten Japaner verstanden verdammt noch mal kein einziges Wort. »Und im Copyshop hat sich niemand gewundert?« Dante drehte sich nach Yuri um, der ihnen hinterher trottete, weil die Straße zu schmal war, beide Hände in den Taschen seines leidlich genähten Mantels. In Ermangelung von weiterer Wechselwäsche trug er ein schwarzes Shirt von Jin – sie hatten die gleiche Größe, auch wenn Yuri weniger muskulös war – mit einem blassblauen Flammenmuster am unteren Saum, das unter dem Revers hervorlugte. Gut, dass Jin ihm kein Hemd gegeben hatte, fand Dante. Jins Hemden standen leider nur Jin. Besagter sah auch jetzt geschniegelt aus wie immer. »Nein«, antwortete er, »warum? Das hier ist eine Universitätsstadt, hier beschäftigen sich Leute mit so etwas..« »Vergesse ich immer. Ist so ein Nest hier.« In besserer Laune hätte Dante es eine charmante Kleinstadt genannt. Sie bogen um die letzte Ecke, und das schwarze Schild mit dem goldenen Löwen kam in Sicht. Erneut fiel Dante der hellblaue Pickup auf, der an der Straßenseite vor sich hin rostete. Wofür Rhys den wohl brauchte, wenn er direkt neben der Brauerei wohnte? Er sah an dem Doppelstock-Haus hinauf – es war wirklich nicht gerade hübsch anzusehen –, und entdeckte, dass im oberen Stockwerk noch Licht hinter den Fenster brannte. Hoffentlich war Rhys überhaupt schon unten, um sie einzulassen. Sie waren ziemlich pünktlich. »Was erhoffen wir uns noch mal hiervon?«, fragte Jin. »Was Yuri sich erhofft, weiß ich nicht. Ich denke, wir sollten unbedingt runterkommen von diesem Misthaufen, auf den wir geklettert sind, und uns überlegen, wie es weitergeht. Sarris sitzt in den Ruinen fest, schön und gut. Hat Roger wirklich diese Tesla-Spule aufgetrieben? Wenn nicht: Wie feuern wir den Teleporter an? Indem wir eine Starkstromleitung anzapfen? Keine Ahnung.« »Was passiert, wenn Yuris Uhr abläuft?« Dante hob die Schultern. »Roger drückt sich nicht sehr klar aus, was das betrifft.« »Glaubst du, dass er dann …« Jin furchte die Stirn. »… hier gefangen ist?« »Kann sein.« Nicht, dass ihn diese Frage nicht auch schon beschäftigt hatte. »Wer ist gefangen?«, fragte Yuri lahm von hinten. »Redet ihr über Sarris?« »Nichts«, seufzte Jin, drückte die Tür der Kneipe auf und ließ die beiden Anderen vor ihm eintreten. Der Schankraum war völlig leer. Frische dunkelrote Decken lagen auf den Tischen, auf ihnen Bierdeckel, die den roten Drachen zeigten. Nirgendwo ein einziger Fleck. Rhys kam aus seinem Raum hinter dem Vorhang hervor. Er trug eine graue Weste und hatte eine andere Perle in seinen Bart geflochten. »Nanu? Es ist Punkt sechs, so pünktliche Kundschaft hatte ich noch nie. Prynhawn da, sucht euch was aus, ihr habt die Wahl.« Er wies auf die vielen freien Tische. Gut, dass er nicht gefragt hatte, warum sie schon am Nachmittag mit dem Trinken anfangen wollten. Sie setzten sich um einen der kleineren Tische, und dann starrten sie auf das Tischtuch. »Cider?«, fragte Rhys anstellig. »Keinen Apfelsaft«, stellte Dante klar. »Oh. Es ist was Ernstes, oder?« »Nein«, sagte Jin. »Ja«, sagte Yuri. »Verstehe. Was auch immer ihr gesucht habt, ihr habt es nicht gefunden. Jetzt seid ihr hier, um eure Probleme in billigem Whisky zu ertränken.« Er zwinkerte ihnen zu. Dante lächelte schief. »In Whisky wird gar nichts ertränkt, schon gar nicht in billigem.« »Wenn das so ist: Ich bin Wirt«, erklärte Rhys, als wäre das nicht hinlänglich bekannt. »Falls ich zuhören soll: Das kann ich gut. Ist Teil meines Berufs.« Dante wusste, dass Yuri keine Probleme damit hatte, Rat zu suchen, dass aber Jin ihre gemeinsame Geschichte mit absolut niemandem teilen wollte. Für ihn war das Ganze zu persönlich. Rhys drehte ein paar Flaschen in seinem Regal zurecht, sodass die Etiketten nach vorn zeigten, dann drückte er irgendwo einen Knopf, und aus den Lautsprechern in den Ecken begann Musik zu spielen. Altes Zeug von Johnny Cash. Yuri hörte fasziniert zu – selbst diese Musik war neu und modern für ihn –, und Dante sagte: »Erinnere mich daran, dass ich dir mal richtige Rockmusik zeige, wenn wir wieder bei mir sind. Wirst du mögen.« Impliziert darin war, ganz bewusst, eine Art Angebot: Wenn das hier schiefging – wenn sie Yuri nicht in seine Zeit zurückschicken konnten –, dann war Dante bereit, ihm irgendwie auf die Füße zu helfen. Er hatte selbst erst kürzlich über diese Option nachgedacht. Mit Yuri ließ sich irgendwas anfangen, sollte er wirklich im Jahr 2008 gestrandet sein. Dante würde ihn nur so lange bei sich behalten wie nötig, aber er würde ihn in die Spur schicken. Das hatte der Kerl verdammt noch mal verdient, nach allem, was er durchgemacht hatte. Yuris braunrote Augen blickten über Dantes Scheitel hinweg ins Nichts. »Wir werden nicht wieder bei dir sein«, sagte er, ein wenig abwesend. »Frag nicht, ich weiß es.« Er stützte das Kinn auf die Faust. »Dante.« Jin richtete seinen gewohnt nichtssagenden Blick auf ihn. »Was hast du eigentlich gemacht, nachdem wir Sarris eingesperrt hatten?« »Ich war im Café drüben«, antwortete Dante wahrheitsgemäß. »Du warst bei ihm, als wir im Copyshop waren, oder?« »Ja, danach.« Er hatte seine Erkenntnisse erst später teilen wollen, aber Jin musste ihn natürlich jetzt dazu drängen. Diesen misstrauischen schwarzen Augen entging kaum etwas. »Ich kenne ihn seit acht Jahren. Wir haben geplaudert.« »Worüber?« »Unter anderem über Yuri.« Dantes Blick wanderte zu dem Genannten, der beim Klang seines Namens aus der Trance auftauchte. »Über mich?« »Sapientes Gladio, klingelt da was?« Yuri verzog das Gesicht. »Was ist mit denen?« »Überraschung, es gibt sie wieder. Sarris ist Mitglied. Deshalb weiß er so viel, deshalb hatte er uns so viel voraus. Deshalb wusste er über den Gottesschlächter bescheid.« Yuri lehnte sich zurück und streckte sich demonstrativ. »Na gut. Was soll’s.« »Du kennst die Typen«, insistierte Dante. »Du weißt, was wir sonst noch von Sarris erwarten können, wenn wir ihn in die Ecke drängen. Welches Kaninchen er als nächstes aus dem Hut zieht.« »Da gibt’s nichts aus dem Hut zu ziehen. Er kann nichts tun, solange wir ihn haben. Aber wenn wir wollen, dass er aufhört …« Und jetzt setzte er sich wieder gerade hin und legte die Hände auf den Tisch. »… müssen wir ihn wahrscheinlich töten.« Über Jins Gesicht flackerte kurz ein Ausdruck von Bestürzung; für Dante jedoch kam die Feststellung nicht überraschend. »Ich bin kein großer Freund davon, Menschen zu töten«, erklärte er. »Ich auch nicht.« »Aber du hast es schon getan.« »Ja. Genau wie du. Wenn ein Seelenpakt im Spiel war.« An der Theke klirrte etwas leise. Rhys hatte Gläser auf ein Tablett gesetzt und stellte jetzt eine breite Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit dazu. Sie trug kein Etikett. Geübt balancierte er die Fracht an ihren Tisch und begann, sie abzuladen. »Ihr seid die interessantesten Kunden seit zwanzig Jahren, wisst ihr. Kaum jemand interessiert sich für Aberystwyths dunkle Geschichte, für das Kloster Nemeton oder für den Gottesschlächter. Ich teile jetzt diese verdammt alte Flasche mit euch, und dafür freue ich mich über Erkenntnisse eurer Nachforschungen. Auch wenn es nur kleine sind.« Dante sah, dass der Wirt sich selbst ein Glas mitgebracht hatte. Jetzt zog er sich einen Stuhl heran, was Yuri dazu bewegte, ihm Platz am Tisch zu machen. »Wie kamst du zu deinem Ruf als Märchenonkel, Rhys?« Yuri war der Einzige, der diesen komischen R-Laut richtig produzieren konnte. Rhys nahm die Flasche in Angriff, drehte an dem angelaufenen Metalldeckel herum. »Ach, das kam einfach. Ich hab Interesse daran, wie ihr.« Dante lächelte milde in seine Richtung. Er kaufte das nicht mehr; nicht nach dem erleuchtenden Gespräch mit Sarris vorhin, bei dem er etwas serviert bekommen hatte, das er nie bestellt hatte. Ich hab viele Freunde hier. Nun, falls der Waliser plante, sie mit diesem überjährten Klaren dort etwas redseliger zu stimmen, so würde er damit auf Granit beißen. Rhys gewann den Kampf mit dem Deckel und rieb sich die Hände an der khakifarbenen Hose ab. »So, dann sehen wir uns mal dieses Schätzchen an. Ein polnischer Wodka, ein Freund in Krakau hat ihn mir zum fünfzigsten geschenkt.« »Und ausgerechnet wir dürfen ihn trinken?« Sogar Yuri stimmte diese Großzügigkeit misstrauisch. »Eine gute Geschichte ist ihn wert«, erwiderte der Wirt fröhlich und begann, die Gläser zu befüllen. Dante schaute zu, wie die wasserhelle Flüssigkeit in die Gefäße schwappte und ihren typisch stechenden Geruch ausströmte. Mit Wodka hatte er nicht viel am Hut, aber einer guten Herausforderung ging er nie aus dem Weg. Jin schaute so unglücklich wie immer, wenn er mit Schnaps konfrontiert wurde. Irgendwie putzig. Wahrscheinlich sagte er sich, dass all die Opfer sich irgendwann auszahlen würden. Yuri beäugte sein Glas wie den Heiligen Gral. »Als wir damals in Prag gestrandet sind, hab ich mich auch von einer der Einheimischen bequatschen lassen. Die hat mir schon vorher Angst gemacht, hatte einen Busen wie ein Eckschrank, soooo – und dann fragt sie mich, ob ich Wodka trinke, und ich Idiot sag auch noch Ja. Oh Mann, Wodka … mit eingelegten Gurken …« Er verzog das Gesicht, als bereute er die Erfahrung ernsthaft. Rhys schob ihnen mit amüsiertem Ausdruck je eins der Gläser zu, doch unter diesem Vergnügen bemerkte Dante eine gewisse Wachsamkeit. Mit einer lässigen Geste bedankte er sich bei dem Wirt. »Na, dann eröffne ihn mal.« »Iechyd da!«, sagte Rhys feierlich und leerte sein Glas, beinahe demonstrativ, als wollte er ihnen beweisen, dass der Wodka nicht vergiftet war. »Ah!«, meinte er. »Schön deftig!« Dann klingelte hinter seiner Theke das Telefon. Er hob entschuldigend die Hände. »Bedient euch selbst, ich bin gleich wieder bei euch.« Und er ließ die Flasche auf dem Tisch stehen und eilte zum Tresen. Jin und Yuri sahen Dante an. »Wir sind ungestört«, stellte Yuri fest. »Also, gibt’s von dir auch eine Geschichte … ’ne Whisky-Geschichte?« Dante lachte auf. Es gab die Whisky-Geschichte. »Chief Fordham und ich«, begann er, »waren uns von Anfang an nicht grün. Er macht keinen schlechten Job, aber mir traut er nur bis zum nächsten Türnagel. Ihr kennt mein Abkommen mit den Cops – das ich nicht mag, das mir aber eine Menge finanziellen Ärger erspart. Als Fordham mich zum ersten Mal angefordert hat, hatte ein Nest von Shadows die Party eines reichen Typen gecrasht. Er hat irgendwas aus dem Keller geholt, das da seit Urzeiten rumlag, die Viecher wurden aufgeschreckt, Party im Eimer. Wir standen also in diesem schicken, alten, völlig leeren Bierkeller. Fordham total verunsichert, gespannt wie eine Sprungfeder, bereit hochzugehen. Grunzt mich an, ich solle ihm jetzt zeigen, was ich für die Polizei wert bin. Ich hab ihn gefragt, was er gerne sehen möchte, ob er einen Wunsch hat, wie ich die Monster töten soll. Da ist er explodiert. Hat auf eine offene Flasche Scotch gezeigt und geblafft, wenn ich albern sein wollte, könnte ich ja mit der einen Hand kämpfen und in der anderen ein Glas Whisky halten.« »Und du hast es gemacht«, stellte Yuri zufrieden fest. Er mochte anscheinend diese Art von Geschichten. »Hab keinen Tropfen verschüttet. Wäre doch schade.« »Was sind Shadows?« »Die nerven. Man muss sie unter Dauerfeuer halten. Muss sie mit Blei durchsieben und ständig in Bewegung bleiben.« Er beendete die Erzählung, indem er Jin ansah. »Kazama, du bist dran.« Er und Yuri lachten beide, als Jin in milder Irritation seine buschigen Augenbrauen hob. »Ich habe nichts zu erzählen.« »Sicher?« Jin schüttelte den Kopf. »Trink schon«, ermunterte ihn Yuri, der sein Glas gerade geleert hatte. »Bevor er noch kalt wird.« Seelenruhig schenkte er sich nach. »Meine Jugend ist uninteressant für euch«, wehrte Jin ab, als die Blicke weiterhin auf ihm ruhten. »Ihr wisst, dass meine Mutter mit mir auf Yakushima mitten im Wald lebte.« Dante legte zwei Finger um das kalte Schnapsglas, überwand sich und trank den Inhalt in einem Zug aus. Er spürte, wie die scharfe Flüssigkeit durch seine Kehle strömte und eine brennende Spur bis in den Magen zog. Dann ein unaufdringlicher Geschmack nach … Mandeln? Jedenfalls nicht so schlecht wie erwartet. »Wo bist du zur Schule gegangen?«, fragte er Jin. »In Kagoshima. Bis … Müssen wir darüber reden? … Später, als ich bei meinem Großvater wohnte, ging ich auf die von ihm gesponsorte Privatschule, die Mishima Polytechnical Highschool.« »Schulen in Japan sollen grausam zu Kindern sein.« »Diese ist es auch. Eine typische Reichenschule, nur Jugendliche aus vornehmen Familien.« »Keine Freunde dort?« »Dante«, sagte Jin beinahe säuerlich, »mein altes Leben war mir weggenommen worden. Meine Mutter fort, mein Zuhause zerstört. Ich hatte nichts außer dem Lernen. Also lernte ich. Ich war Einzelgänger, und Heihachi drillte mich im Karate-Stil der Mishimas. Den ich nicht mehr anwende«, fügte er mit Nachdruck hinzu. »Mich schinden war alles, was ich konnte. Für alles Andere war ich zu … leer. Ich hab nie viel gelesen, war nie kreativ. Ich wollte mich immer nur … fühlen, um mir klarzumachen, dass ich noch lebte.« Dazu war Muskelkater allemal gut. Dante wusste das selbst; es war ihm fast etwas unangenehm, dass Jin so offen über sich gesprochen hatte. Jin schaute verkrampft in sein Wodka-Glas, dann nahm er es hoch und trank das Zeug. Nur ein leichtes, fast unsichtbares Schaudern begleitete den Moment danach. Kein Kommentar. Guter Junge. »Im Kleiderschrank für den CEO der Zaibatsu«, fuhr Jin unvermittelt fort, unverhohlene Verbitterung in der Stimme, »gibt es eine Kaiserrüstung.« Sein Blick wurde noch finsterer. »Eine Kaiserrüstung.« Dante grinste ihn an. »Und du hast sie nicht schon mal vor dem Spiegel anprobiert? Komm, gib’s zu.« »Das ist nicht lustig«, presste Jin zwischen den Zähnen hervor. »Das ist … krank.« »Bin voll deiner Meinung.« Yuri hatte sich gerade zum dritten Mal an der sich langsam leerenden Flasche bedient. Hoffentlich kannte er seine Grenzen. »Was ist mit deiner Kindheit?«, fragte ihn Dante. »Da gibt’s doch bestimmt einiges zu erzählen.« Yuri schnaubte. »Ich bin Waise, seit ich zehn bin. Wie stellst du dir chinesische Waisenhäuser in meiner Zeit vor? Dreckiges Wasser, schlechtes Essen und … ach, lassen wir das.« Auch er kippte sein Glas hinter, ohne eine Miene zu verziehen. Dann schaute er Dante herausfordernd an. »Lass mich raten, du warst wahrscheinlich schon als Krümel der Beschützer aller Schwachen, huh?« Dante goss sich den zweiten Wodka über die Zunge und dachte nach. »Vielleicht. Wisst ihr, es gibt an jeder Schule den einen Burschen, der die Schwächeren drangsaliert, ihnen das Futtergeld klaut und ihre Schuhe aus dem Fenster schmeißt, solche Sachen. Wir hatten auch so einen. Ich hab ihm mal aus Versehen die Schulter gebrochen.« Um nicht selbstzufrieden auszusehen, nahm er schnell den nächsten Kurzen. Oh ja, das war die Zeit gewesen, in der er endlich wieder angefangen hatte, er selbst zu sein, nachdem der Rest seiner Familie verreckt oder verschwunden war. »Wo bist du aufgewachsen?«, fragte Jin ihn ernsthaft. »Westküste, oder? Du sprichst wie die Leute von dort.« Dante maskierte seinen Argwohn mit einem entspannten Lächeln. »Stimmt.« »Warum lebst du jetzt woanders?« »Brauchte damals ’nen Tapetenwechsel.« Mehr sagte er nicht. Sicher, er könnte jetzt erwähnen, dass ihn, nachdem er brav und undramatisch seinen Highschool-Abschluss gemacht hatte, sein Erbe eingeholt hatte. Einmal quer durch die Staaten. Geschäft angefangen. Ärger gleich am ersten Tag. Danke, Bruder. Laut sagte er: »Ich wollte nie Stress mit Menschen, ich wollte Stress mit Teufeln. Und als ich gerade mein schickes kleines Gewerbe eröffnen wollte, das ihr kennt, passierten ein paar unangenehme Dinge …« Ja. Diese unangenehmen Dinge waren Vergil. Vergil war passiert. Dante verstand Jins und Yuris Angst, selbst als Dämon zu enden, sehr gut – viel besser, als er je zugeben würde. Weil er gesehen hatte, was mit Vergil passiert war. »Und deine Mutter …«, begann Jin. »Oh, nein nein nein. Schlechtes Thema. Weißt du nicht, dass Trinken sentimental macht?« Jin schloss den Mund. Dann goss er sich einen weiteren Wodka ein, kippte ihn und knirschte mit den Zähnen vor Abscheu. Tapferer Bursche. »Toshin schlug mich einfach nieder«, sagte er bitter, »und als ich aufwachte, war sie tot.« »Na, sei doch froh. Ich saß in einem Schrank und konnte zugucken.« Dante schaute zu Yuri. »Und du?« »Ich lag die ganze Nacht in ihrem Blut«, antwortete Yuri und schraubte eilig die Flasche auf. »Wow, das kann ich nicht toppen. Cheers.« Rhys kehrte zu ihnen zurück und bedachte den Füllstand der Flasche mit einem prüfenden Blick. »Da muss man sich ja beeilen, noch was abzukriegen.« Er schenkte sich nach. »Also, nun zu euch. Ich wollte nicht lauschen, aber ein bisschen von eurem Gespräch hab ich gehört.« Lügner, dachte Dante und lächelte. Und ein schlechter noch dazu. »Seid ihr alle Drei Dämonenjäger?« Rhys schaute sie der Reihe nach an. »Was sucht ihr hier in Aberystwyth? Das Monster von Clarach, war das die Wahrheit?« »Nein«, sagte Jin mit eherner Miene. »Die Geschichte ist länger, aber wir können sie nicht vor dir ausbreiten. Versteh das bitte.« »Oh, natürlich. Sicher.« Rhys hob entschuldigend die Hände. »Ihr wisst, ich bin nur daran interessiert, was an den alten Geschichten dieses Ortes dran ist. Habt ihr denn den früheren Standort des Klosters gefunden – oder ist das auch geheim?« Er lächelte vorsichtig. »Wir haben alles gefunden«, bestätigte ihm Dante und fuhr fort, ihn herausfordernd anzulächeln. Allmählich entwickelte dieses Lächeln seine einschüchternde Wirkung, das konnte er an der Miene des Wirtes ablesen. »Alles, was wir finden wollten. Aber wenn wir mit dir darüber reden sollen, musst du den Anfang machen. Was hast du mit einem Mann namens Aidan Sarris zu tun?« Die Stille wäre gut dazu geeignet gewesen, von außen unterbrochen zu werden, etwa durch einen eintretenden Gast, oder eine Bombe, die durchs Fenster fliegt. Doch nichts geschah. Draußen vor den Fenstern hatte es wieder zu regnen begonnen. Dante faszinierte der englische Regen: Er fiel so weich, so lautlos, dass es aussah, als siebe jemand Puderzucker über einen Kuchen. Dieser Regen platschte nicht, er rieselte. Federleicht schwebten die Tröpfchen dicht an dicht zu Boden. Nicht wie Fremdkörper. Nicht wie Eindringlinge. Sie waren einfach etwas, das zur Luft dazugehörte. Im Hintergrund sang Johnny Cash: »You can run ooon for a long time, run ooon for a long time …« Dante wandte sich vom Fenster ab und heftete seinen Blick wieder auf Rhys. »… Sooner ’r later, God’ll cut you down …« Der Wirt hustete einmal kräftig, dann griff er wieder nach seinem Glas. »Okay, reden wir darüber. Ich bin nicht euer Feind. Diesen Part übernehmen schon Andere.« »Du hast mir also nicht das Buch gestohlen, was?« »Welches Buch?« Rhys blinzelte. Dante musterte den bärtigen Mann mit den schiefergrauen Augen. »Eine Kopie des Buches von Henoch. Hat angeblich der Nachtportier sich geholt.« Tatsächlich war das Buch nicht gestohlen worden, sondern die hochwichtigen Dschaizan-Seiten; das Buch war vermutlich nur fotografiert worden, zweifellos die Stelle, die auch Roger als die entscheidende identifiziert hatte. Sarris kannte bereits den Inhalt über Azazel, kannte den Grund, warum er ihn nicht beschwören könnte. Wenn Rhys etwas mit dieser heimlichen Aktion zu tun hatte, würde er sich vielleicht verraten, wenn er über diese Ungereimtheit stolperte. Der Wirt legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. »Sehe ich aus wie ein Nachtportier? Außerdem weiß ich nicht mal, wo ihr schlaft.« Er schenkte sich einen weiteren Kurzen ein. Rhys war ein mutiger Trinker, alle Achtung. »Und wozu hast du eine Kopie des Henochbuches? Meines Wissens hat das nichts mit dem Kloster oder dem Gottesschlächter zu tun.« Dante beschloss, ihm diese Antwort schuldig zu bleiben. »Wir schlafen im Seaside«, sagte er stattdessen, und wie erwartet huschte über das wettergegerbte Gesicht ein amüsierter Ausdruck. »Ach Gott, auch das noch. Wie seid ihr da gelandet?« »Wissen wir nicht. Ideen?« »Die waschen da Geld. Sicher werdet ihr in Cash bezahlen müssen.« Rhys gluckste. »Aber na gut. Die Zimmermädchen sind diskret, die werden euch in Ruhe lassen. Dass Gäste beklaut werden, ist mir komplett neu … Passt nicht zu denen. Die wollen keinen Ärger mit ihren oft, hm, schwierigen Kunden.« Zu diesem Schluss war Dante ebenfalls gekommen, als er nach dem Gespräch mit Sarris erneut über diese überraschende Frechheit nachgedacht hatte. Ein Hotel, das Kriminellen Unterschlupf bot, legte sich wohl kaum mit diesen an. So wenig Dante auch darüber hinwegkam, selbst derjenige zu sein, in dessen Räume unverfroren eingedrungen worden war (so oft passierte das nicht) – er war wohl kaum der gefährlichste Gast, der je im Seaside aus- und eingegangen war. Da gab es Leute, deren Hand deutlich schneller am Griff der Waffe ankam, wenn es um ihre Privatsphäre ging. Rhys versuchte indes nicht länger, sich aus der Affäre zu ziehen, sondern räumte ein: »Ich wusste, dass ihr kommen würdet. Aber mit dem Diebstahl deines Buches habe ich nichts zu tun, das müsst ihr mir glauben. Ich bin kein Freund von Aidan Sarris.« »Aber du kennst ihn.« Dante strich mit zwei Fingern über sein Schnapsglas, dann nahm er es und trank es aus. Immerhin befand sich darin erst der vierte Wodka, und er wurde auch nicht leckerer dadurch, dass man ihn abstehen ließ. Rhys nickte ergeben. »Zumindest weiß ich, wer er ist.« Schnell schob er hinterher: »Zwing mich bitte nicht, euch alles zu erklären. Wichtig ist erst mal, dass ich euch helfe.« Er schob sein Glas von sich. Schotten dicht. Drei hatte er mitgenommen – nicht übel. Er rieb sich über die gerötete Stirn und fuhr fort: »Wir suchen den Gottesschlächter, seit wir erfahren haben, dass er hierher zurückgekommen sein soll. Wir haben ihn nie gefunden, aber das Monster von Clarach muss eine Verbindung zu ihm haben.« »Warum wollt ihr ihn denn unbedingt finden?«, fragte Yuri und überspielte seine Anspannung trotz steigendem Alkoholpegel ganz gut. Rhys seufzte. »Das ist … kompliziert.« »Du meinst, es ist geheim«, folgerte Dante, »und es heißt, dass ihr nichts Nettes mit ihm vorhabt.« Er konnte sehen, dass auch Yuri den Wirt jetzt ziemlich unwirsch ansah, und sogar Jin hatte seinen halb bemitleidenden, halb verächtlichen Blick aufgesetzt, den vermutlich nur Jin beherrschte. Die Beiden verabscheuten es noch mehr als Dante, wenn man sie anlog. Rhys, der das offenbar bemerkte, schüttelte mehr als deutlich den Kopf, wobei eine lose weiße Strähne ihm ins Gesicht peitschte. »Nein, nein, nein. Mit dem Gottesschlächter haben wir gar nichts vor. Wir müssen ihn nur finden.« Er wischte sich über die Nase. Der Wodka wirkte immer besser. Wie nett: Anscheinend hatte Rhys sich wirklich selbst ins Bein gesägt bei dem Versuch, seine Gäste gesprächig zu stimmen. Schniefend räumte er ein: »Der Gottesschlächter hat etwas, das wir brauchen. Er muss es haben, weil es sonst keiner hat.« Völlig unpassend kam Dante der Gedanke, dass Gottesschlächter ein toller Bandname wäre. Yuri könnte eine Death-Metal-Band so nennen, eine von denen, an deren unleserlichem Schriftzug man schon erkannte, welche Art von Musik sie machte. »Und was wäre das?«, fragte er, unerfreut darüber, dem Wirt alles aus der Nase ziehen zu müssen. Unvermittelt fing Rhys plötzlich an zu kichern. Er sah Dante an und zwinkerte ihm zu, als hätten sie eine gemeinsame Abmachung. »Ich glaube, das wisst ihr schon«, gluckste er. »Ihr wollt mir nur nicht sagen, was ihr gefunden habt.« Seine Penetranz nervte langsam. Gut, das musste man ihm lassen: Noch war er nicht geschlagen. »Jetzt hör mal zu. Wir …« Dante brach ab und hielt inne. Etwas stimmte nicht. Auf der Tischplatte vor ihm schienen sich plötzlich kaum sichtbare, kleine Wirbel zu drehen, immer dort, wo er gerade hinsah. Als sein Blick zur Wand zuckte, um zu entdecken, dass sie ebenfalls kleine Wirbel formte, schien es, als folge das Bild seiner Kopfbewegung merklich verzögert. Das … nein, konnte nicht sein. Nicht nach vier Wodka, verdammt. Er konnte zehn trinken und es passierte nichts – und das hatte nichts mit Toleranz zu tun. Um Dante betrunken zu machen, brauchte es eine deutlich höhere Dosis oder gleich eine stärkere Substanz. Er schaute Rhys an; Rhys schaute zurück, sein vergnügtes Schmunzeln hatte einem ratlosen Ausdruck Platz gemacht. »Alles im Lot bei dir?« Die Stimme des Wirts klang schon leicht undeutlich. Neben Dante starrte Jin nicht minder fasziniert auf seine Hand. Seine Miene war friedlich, interessiert, keineswegs beunruhigt. »Ich … sollte aufhören«, stellte er fest, legte seine Hand wieder hin und beobachtete den Tisch, auf dem ein paar Tropfen Wodka verschüttet worden und ineinander geflossen waren. Eindeutig, bei Jin wirkte auch irgendwas. Dante kannte Jin nur in zwei Gemütszuständen: wütend oder apathisch. Jetzt wirkte er eher … verträumt, ungewohnt zufrieden mit sich und der Welt. Vielleicht war er gar nicht so versteinert … Vielleicht musste man einfach nur hin und wieder Alkohol in ihn hineintun. Rhys schluckte unbehaglich, ein lautes Schlucken, das in der Stille klang, als würde ein Stein in einen Brunnen fallen. »Oh, Leute, das hab ich nicht kommen sehen … Und ich hab erst eine Dreiviertelstunde geöffnet … Den Abend kann ich vergessen … Muss das Schild raushängen …« »Rhys«, wandte Yuri sich an ihn, diesmal sichtlich um die Aussprache bemüht, als strebe seine Zunge ebenfalls ein Eigenleben an, »echt mal, was hast du … uns da …?« »Keine Ahnung? Das war schon so …« Der Wirt hob entschuldigend beide Hände, schob mit dem Hinterteil den Stuhl zurück und stand unelegant auf. »Wir … wir sollten das lassen, jetzt gleich.« Er nahm die etikettlose Flasche (indem er mit dem ganzen Arm über den Tisch wischte, ehe er sie packen konnte), schaffte es bis hinter die Theke und kippte dort den Inhalt ins Spülbecken. Dante hielt das für einen konsequenten Schritt, konnte sich aber keinen Reim darauf machen: Hatte Rhys sie nun zum Reden bringen wollen oder nicht? Nicht, dass es funktioniert hätte. »Hört mal«, rief Rhys von seiner Theke aus und machte Handbewegungen, die ein Abwinken sein sollten und wie Fliegen Verscheuchen aussahen. »Wir reden morgen darüber … wenn wir alle … also, wenn das vorbei ist.« Er tupfte sich die rote Stirn mit einem Spültuch ab. »Kommt einfach morgen früh her, wenn ihr reden wollt … Ich werde da sein.« Dante achtete auf das leichte Kreiseln in seinem Kopf. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass sie nach dieser seltsamen Unterredung noch einmal das Vertrauen des Wirts suchen würden, und vermutlich wusste er das. Er ließ sie trotzdem gehen. Entweder war sein Urteilsvermögen eingeschränkt, oder … »Also ich hab mir den Saufabend länger vorgestellt«, seufzte Yuri, »aber ich kenn meine Grenzen … Ich weiß nicht, was das da in der Flasche war, aber’s knallt.« Er schielte zur Theke. »Glaubst du wirklich, dass wir morgen wiederkommen?« »Ich hoffe es für euch, ehrlich gesagt«, murmelte Rhys, schwer auf den Schanktisch gelehnt. »Denn ich helfe euch, aber Andere helfen euch nicht.« Dante entschied, dass er davon genug gehört hatte. Rhys’ Geheimnistuerei half ihnen kein Stück. Es zeichnete sich sowieso ab, zu welcher Partei er gehörte – und was die wollte, lag trotzdem im Dunkeln. »Ich bin weg«, meldete Dante, stand auf und kehrte dem Tresen den Rücken. »Vielleicht bis morgen, vielleicht nicht.« Zufrieden stellte er fest, dass trotz der visuellen Einschränkungen seine Koordination kaum gestört war und er vernünftig einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Er drehte sich um und sah, wie Jin, gerade aufgestanden, den Tisch losließ, kurz innehielt und dann nickte. »Schon gut«, sagte er zu Yuri, der bereit war, ihn an der Schulter zu packen. Sicher: Mit etwas mehr Schnaps intus hätten sie jetzt sicher ein Problem gehabt. Dante wartete, bis die Beiden zu ihm aufgeschlossen hatten, dann schleppten sie sich hinaus in den feinen Salzstreuerregen. Johnny Cash sang, leiser werdend: »… ain’t no graaave can hold my body down …« Auf einmal war Dante furchtbar müde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)