Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 45: Akt XI - Gottesschlächter: 15-3 ------------------------------------------- 15-3: JIN Eigentlich hatte er daran denken wollen, noch vor der Rückkehr ins Hotel Roger zu fragen, wie weit er mit der Übersetzung gekommen war. Diese Sache mit dem Buch Henoch und Azazels Gefangenschaft war wichtig für ihn. Leider war es unmöglich, in diesem leicht vergifteten Zustand den Weg zu Rogers Versteck zu finden, und Jin war vernünftig genug, es nicht zu versuchen. Zudem war es ihm auch ein wenig egal, wie er sich eingestehen musste: Er hatte Mühe, sich zu fokussieren, ließ seine Gedanken immer wieder davon driften und sich durch jeden Außenreiz ablenken von woran auch immer er gerade denken wollte. Zum Teufel mit dem größten Laster der Ersten Welt, und zum Teufel mit Gruppenzwang und Höflichkeit. Wodka war etwas absolut Unnötiges, auf das er verzichten konnte. Als er aufwachte, zeigte das schwach leuchtende Display seines Telefons ihm die Uhrzeit: sieben Minuten vor elf am Vormittag. Jin erinnerte sich, ins Bett gegangen zu sein, nur wie an einen Traum, aber offenbar hatte er jeden Handgriff so ordentlich und routiniert wie immer vorgenommen, denn nichts, das er vom Bett aus sehen konnte, lag am falschen Platz. Gut. Nicht gut. Als er sich über die Schulter auf die Seite rollte, durchzuckte seine Stirn ein harter, messerscharfer Schmerz, der sein ganzes Gesichtsfeld mit einem roten Blitz erfüllte und ihn zwang, die Augen zuzukneifen. Einen Moment später ließ die Pein wieder nach, doch an ihre Stelle trat ein dumpfes Pochen, das ihm mitteilte, dass eine falsche Bewegung sie wieder auf den Plan rufen würde. Jin hielt einen Moment still. Er war nicht betrunken gewesen, zwar beeinträchtigt, aber weit entfernt von einem Rausch, auf den er sich nie eingelassen hätte. Er prüfte, ob ihm noch irgendetwas Anderes wehtat: Nein, glücklicherweise nicht. Da er keine Wahl hatte, stand er auf. Die Kopfschmerzen bleiben, in wechselnder Intensität, aber alles Andere war normal, ihm war auch nicht übel, nicht einmal anders. Vielleicht also war es nicht der Wodka. Hoffentlich. Jin konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, einen Kater zu haben. Als er die Anderen auf dem Hotelflur traf – Dante war schon dort, Yuri brauchte ewig –, stellten sie fest, dass das Problem sie alle betraf. »Ich kann mich nicht erinnern, je so einen Schädel gehabt zu haben«, murrte Yuri, »und ich hab schon mal viel mehr getrunken.« »Bei mir sollte so was überhaupt nicht passieren.« Dante wirkte beinahe beleidigt darüber, von der Misere betroffen zu sein. »Rhys kann erzählen, was er will: Den Wodka hatte er nicht von einem Freund.« »Dann doch wieder zu ihm?«, fragte Jin, da es ihm die einzige logische Konsequenz zu sein schien. »Natürlich gehen wir zu ihm«, stimmte Yuri zu. »Und als erstes nageln wir sein Ohr an den Tresen.« Niemand nagelte Rhys’ Ohr an den Tresen. Der Wirt kam ihnen zerzaust und offenkundig ungeduscht aus dem Hinterraum des Black Raven entgegen, dessen Eingangstür sperrangelweit offenstand. »Oh, Josef und Maria«, klagte er, »das hab ich nun wirklich nicht verdient.« Er winkte die Drei schlaff heran, zu einem Tisch ganz nah am Tresen, dem einzigen, auf dem ein Tischtuch lag. »Ich bin einfach zu gutgläubig … Hier, bitte … Euch muss es genauso dreckig gehen wie mir.« Jin musste im Geiste zustimmen. Schon in diesem Zustand im grellen Morgenlicht hierher zu laufen war nichts gewesen, das er wiederholen wollte. »Ich vermute«, fuhr Rhys eine Spur zu eilig fort, »dass das eine Erstabfüllung war. Ihr wisst schon, das sind die schlimmsten. Mein Freund hat mir versichert, dass man von diesem polnischen Wodka keine Kopfschmerzen bekommt, aber –« Es war hohles Geschwätz. Jin hörte sich dem Wirt ins Wort fallen: »Halt einfach den Mund.« Sofort schloss Rhys selbigen. Dante und Yuri schauten Jin an, als entdeckten sie erst jetzt, dass er sprechen konnte. Jin nahm keine Notiz. »Was hast du uns gegeben und warum?« Rhys’ Schultern sanken herab. Er schürzte die Lippen, wandte den Blick von Jin ab. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wurde mir so gegeben, wie es war. Ich sollte genau diese Flasche nehmen.« »Und wer will das von dir?«, fragte Dante. »Setzt euch doch erst mal«, seufzte Rhys. »Ich werde alles erklären. Ich habe ein Friedensangebot für euch aus Pennys Räucherei um die Ecke. Makrele – wenn ihr möchtet.« Natürlich. Hier saßen sie, beschuldigten den Wirt, sie hintergangen zu haben, und statt mit der Sprache herauszurücken, bot Rhys ihnen Fisch an. Dante lachte leise – genau die richtige Reaktion, fand Jin. »Wenn die Makrele besser ist als der Wodka«, erklärte der Teufelsjäger, »dann essen wir sie sogar … sobald du bestätigt hast, dass du zu Sapientes Gladio gehörst und ihr genau wisst, dass Sarris euch ausgelotet hat. Was habt ihr mit ihm vor?« Rhys seufzte erneut. Sehr lang und laut. Dann bückte er sich hinter den Schanktisch, öffnete einen Kühlschrank und holte vier Bündel aus Brotpapier heraus, die er auf dem Tresen auszuwickeln begann. »Okay«, sagte er, auf die Makrele starrend, die er soeben befreite. »Ich hätte wissen müssen, dass ihr aufmerksamer seid, als ihr ausseht. Ja, ich gehöre dazu. Ja, es geht um Aidan. Aber dass ich euch vor ihm beschütze, ist nicht gelogen.« »Du weißt nicht mal, wo er ist.« »Ihr etwa?« »Was erwartet ihn, wenn ihr ihn kriegt?« Wieder ein Seufzen. Das nächste Bündel kam raschelnd an die Reihe. »Der Gottesschlächter war mit einem Artefakt verflucht worden, bevor er hierher zurückkam. Mit der Heiligen Mistel. Das ist ein –« »Wissen wir«, fiel ihm Yuri ins Wort. Rhys sah aus, als käme er einem Schweißausbruch immer näher. »Wir … müssen dieses Artefakt finden.« »Ach!«, rief Yuri aus. »Das passt ja zu euch! Das war schon immer die Methode, mit Mitgliedern umzugehen, die der Gesellschaft nicht mehr in den Kram passen. Wer sich nicht mehr an die Regeln hält oder einfach nur zu mächtig wird … Ulkig, dass sich bei Rasputin keiner getraut hat. Das hätte allen viel erspart.« Noch immer standen sie mitten im Raum, unweit der Tür; jetzt schlenderte Yuri als erstes an den betuchten Tisch und setzte sich. Jin schaute zu Dante, der deutete ein Schulterzucken an und folgte. Als alle saßen, schien der Wirt sich etwas zu entspannen. Er verteilte die ausgenommenen und geräucherten Fische auf vier Teller – sie dufteten nach Buchenrauch – und reichte sie über den Tresen. Seufzend. »Hier. Das wird uns munter machen, Fett und Proteine helfen gegen den Kater.« Jin hoffte, dass das stimmte. Als der Wirt sich zu ihnen setzte und nach einem der Teller griff, zog Yuri ihm diesen weg und schob ihm einen anderen hin. »Nur zur Sicherheit.« »Oh, kommt schon!«, stöhnte Rhys. »Herrgott, ich hab mich mit dem Wodka selbst angeschmiert, wie viel kriminelles Geschick traut ihr mir zu? Ich bin Wirt, sonst gar nichts. Kein Zauberer, kein Giftmischer, und ein guter Täuscher auch nicht … Ich bin Sapientes Gladio beigetreten, um hinter die großen Zahnräder der Welt zu sehen. Nicht alle ihre Wege verstehe ich, nicht alle gefallen mir. Aber mit Abtrünnigen kennt man keine Gnade … Dazu ist unser gesammeltes Wissen zu kostbar.« »Haben die damals auch schon gesagt.« Yuri schien nur leidlich versöhnt, als er seine Makrele zu entgräten begann. »Glaubt ihr, jemanden mit der Mistel zu verfluchen ist besser als ihn zu töten?« »Zumindest gibt es keinen Mordprozess«, sagte Rhys vorsichtig. »Aber ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mal, wie genau der Fluch wirkt.« Jin sah Yuri an und erwartete, dass dieser Rhys nun genauestens erklären würde, was der Fluch tat. Er zerfrisst deine Seele und verwandelt dich einen Zombie, oder so. Doch Yuri warf Rhys nur einen finsteren Seitenblick zu und pflückte mit den Fingern seinen Fisch auseinander, die rotbraunen Augen auf den Teller gerichtet. Einen Moment kauten sie still vor sich hin. Jin mochte es nicht besonders, mit den Händen zu essen, doch dankbarer Weise löste sich das weiße Fischfleisch so widerstandslos von seinem Grätenskelett, dass es genügte, die Fingerspitzen zu gebrauchen. Es schmeckte wirklich gut. Jin war nicht sicher, ob er es sich vielleicht nur einbildete, doch das plagende, dumpfe Pochen des Kopfschmerzes schien bereits ein wenig nachzulassen. Er ließ sich durch den Kopf gehen, was sie jüngst erfahren hatten: Der Geheimbund, den Yuri zu seiner Zeit bekämpft hatte, existierte noch – nein, wieder – und arbeitete mit denselben Mitteln wie damals; Sarris’ Mitgliedschaft erklärte die Leichtigkeit, mit der er Azazel, der Prophezeiung und dem Émigré-Dokument auf die Spur gekommen war. Erst jetzt hatten Jin, Dante und Yuri diesen Vorsprung aufgeholt. Jetzt hatten sie Sarris, und jetzt stellte sich die Frage, was sie mit ihm anfangen sollten. Naheliegend war, ihn der Instanz auszuliefern, die er für seine Absichten missbraucht hatte – doch Sapientes Gladio hatten Pläne für Sarris, mit denen nicht alle im Raum Anwesenden einverstanden waren. Dante nicht, und Yuri hatte durch den Exorzismus und die Verstümmelung seiner Seele ein so schweres Trauma davongetragen, dass er wohl nicht einmal einem Feind dieses Schicksal wünschte. Aber du hast es für dich in Erwägung gezogen, oder nicht, sagte die dunkle Stimme, die immer häufiger in Jins Kopf zu ihm sprach. Würdest du es immer noch tun? Wenn es auch DICH töten würde, dachte Jin, wer oder was auch immer du bist – dann jederzeit. Er schloss die Augen, konzentrierte sich einen Moment und sah dann wieder den halb aufgegessenen Fisch an. Plötzlich und sinnlos hatte er Mitleid mit dem Tier, das halb skelettiert auf dem Teller lag; ein irrationales Gefühl, eins von vielen, die ihn letzter Zeit in ungeeigneten Situationen überkamen. Viele schweigende Minuten später sagte Yuri unvermittelt: »Lasst es sein. Schließt ihn aus, was auch immer … aber macht nicht das mit ihm.« Rhys betrachtete Yuri einen Moment lang aus seinen geröteten Hundeaugen. Dann stand er auf und räumte die Teller zusammen. »Du verstehst nicht«, fuhr er resigniert fort. »Wenn ihr Aidan kennt, dann wisst ihr, dass uns nichts Anderes übrig bleibt. Ihn zu töten wirbelt Staub auf und verstößt gegen unseren Kodex –« Yuri schnaubte. »– und ihn auszuschließen würde ihn nicht aufhalten. Nichts würde ihn aufhalten. Er hat nichts zu verlieren, nichts im Leben hat mehr eine Bedeutung für ihn, seit seine Tochter tot ist.« »Ich weiß«, stimmte ihm Dante zu. »Ich kenne ihn ziemlich gut … Andernfalls hätte ich kein Problem damit, dass ihr ihm dieses Ding in die Brust rammt. Aber so, wie’s ist …« Wieder das übliche, gleichmütige Schulterzucken. Für Jin war es längst Dantes Markenzeichen geworden, diese desinteressierte Mir-doch-egal-Geste. »Wenn euch nichts Besseres einfällt, solltet ihr die Entscheidung des Bundes vielleicht akzeptieren«, sagte Rhys, nun eindringlicher. »Verdammt, ihr müsst doch nicht zusehen! Sagt mir einfach, wo er ist, und –« »Nein«, fiel ihm Yuri ins Wort. Rhys kreuzte die Arme vor der Brust. »Euer Ernst? Warum seid ihr nicht vernünftig?« Er sah Dante an, doch der schüttelte lässig den Kopf. »Ich war nie gut in Vernunft.« Er und Yuri schauten zu Jin. Allmählich wurde es Jin lästig, dass die Beiden immer, wenn sie sich in etwas einig waren, seine Meinung suchten – oder eher seine Bestätigung, dass er dasselbe dachte wie sie, dass er nicht etwa auf die Idee käme, ihnen nicht zuzustimmen. Warum war ihnen der Schulterschluss in diesen ethischen Fragen so wichtig? Jin pflegte ein anderes Ethos als sie; er schlug sich nicht aus irgendeinem sinnlosen Prinzip heraus auf die Seite der Milde und Nachsicht; sein Leben hatten andere Regeln dominiert, Regeln, aus denen er sich diejenigen herausgesucht hatte, die ihm sinnvoll erschienen. Eine davon war, Vernunft über Emotionen zu stellen. »Ich denke«, sagte er bestimmt, »dass es das einzig Richtige wäre. Die Maßnahme würde ihn sowohl aufhalten als auch von seiner Trauer erlösen.« »Diese Maßnahme würde alles in ihm zerstören, das trauern kann!«, fauchte Yuri in seine Richtung. Erwartungsgemäß. »Und was bedeutet er dir? Du kennst ihn nicht.« Jin wusste, dass seine kühle, leidenschaftslose Art Yuri zur Verzweiflung brachte, doch jetzt hatte er keinen Beistand für ihn übrig. »Ich kenne ihn aber«, erinnerte Dante. Seine blauen Augen funkelten Jin an, doch das wirkte immer weniger einschüchternd auf ihn. Etwas in Jin knurrte, provoziert durch die Geste. »Hört bitte auf, euch so anzusehen«, beeilte Rhys sich. »Das gefällt mir nicht. Tut mir den Gefallen und besprecht euch, ob ihr Aidan verteidigen wollt – sinnlos, wenn ihr mich fragt, aber wenn ihr euch mit dem Bund anlegen wollt, bitte. Erwartet dann aber keine Hilfe mehr von uns.« »Ihr habt mir noch nie geholfen«, murrte Yuri und stand auf. »Danke für den Fisch, aber von meiner Seite war’s das. Wir werden keine Freunde, Rhys.« Jin war dankbar für die Ablenkung. Mit einiger Mühe drückte er den grundlosen Zorn wieder zurück in die Tiefen, aus denen er aufgestiegen war. Kaum klüger als vorher, doch immerhin mit weniger Kopfschmerzen, verließen sie das Black Raven. Vor der Tür trennten sie sich grußlos und gingen jeder in eine andere Richtung davon. Jin fühlte schnell, dass es ihm gut tat, nicht ständig mit Dante und Yuri zusammen sein zu müssen. Seinem einzelgängerischen Naturell nachgebend, unternahm er eine Wanderung außerhalb der Ortschaften und genoss seine Freiheit. Er ging nicht Richtung Clarach, nicht zu Rogers Höhle, weil er erwartete, dort entweder Yuri oder Dante zu begegnen. Sollten sie eben dort sein – es änderte ja nichts, wenn sie die Übersetzung vor ihm hörten. Sicher brachte Dante Sarris wieder etwas zu essen mit, diesmal wahrscheinlich Fish & Chips oder ähnlich Minderwertiges, bei seinem Verständnis von Kulinarik. Für Jin stand fest, dass Sarris sein Mitleid nicht verdiente. Nicht nur, weil er ihn angelockt und ausgenutzt hatte wie so viele vor ihm, sondern auch, weil Sarris selbst kein Mitleid hatte. Mit seinen Anstrengungen, negative Energie für Azazels Befreiung bereitzustellen, hatte er in Kauf genommen, vielen Unschuldigen zu schaden, und sicher war Dante nicht immer rechtzeitig auf den Plan getreten, um hinter ihm aufzuräumen. Nein, Dante hatte sich Sarris nicht so entgegengestellt, wie es notwendig wäre; dazu war er zu bequem, zu initiativlos, zu gutmütig. Dante war nicht wirklich ein Rächer der Menschen: Das glaubte er zwar von sich, aber er tat nicht das, was nötig war. Und Yuri genauso. Leider. Sein Idealismus war zwar bewundernswert, hatte ihm seine Feinde aber nicht vom Hals geschafft. Selbst nach fast hundert Jahren waren Sapientes Gladio noch immer auf seiner Fährte. So viel dazu, dass er sie zerschlagen hatte. Nachdem Jin in den einen oder anderen Schauer geraten war (und ihn stoisch ertragen hatte), kehrte er um und folgte dem Küstenpfad durch ein Wäldchen zurück. Abermillionen von Fichtennadeln hielten den schlammigen Boden begehbar. Jin hörte keine Vögel; er hörte kein Rascheln in den Ginsterbüschen; über allem hing nur dieselbe gespenstische Stille wie über der Ebene bei Clarach, wo das Schloss des Sternengottes aus dem Meer gestiegen und mit seiner Nabelschnur zu den Neam-Ruinen das Fleisch der Erde aufgerissen hatte. »Jin?« Er blieb stehen. Die Stimme kam von hinten, und natürlich, er kannte sie. »Was machst du hier draußen?« Etwas kraxelte über die nahen Felsen, und natürlich war es Yuri, der wohl meinte, seinen lädierten Mantel bei Kletterpartien weiter strapazieren zu müssen. »Was machst du hier?«, gab Jin zurück, sich nach ihm umdrehend. Yuri sprang von dem Felsen vor ihm auf den Weg und schüttelte trockene Ginsterstacheln aus seinem Mantelsaum. »Nachdenken.« »Warst du bei Roger?« »Ja.« »Dann … hast du die Übersetzung?« »Einen Teil davon«, nickte Yuri. »Den interessanten Teil.« Jin fühlte sofort Beklommenheit in sich aufsteigen, eine Mischung aus Angst und Neugier. »Und? Was ist der interessante Teil?« Ungeduldig sah er zu, wie Yuri einen hellgrauen Umschlag aus der Hosentasche zog. »Wer hat Azazel eingesperrt?« »Ich sag dir gleich, dass die Stelle nicht sehr aufschlussreich ist. Aber da ich gehofft hab, dich zu treffen, und du es bestimmt hören willst … Oh Mann, vor achthundert Jahren war Rogers Schrift aber besser! … Also.« Yuri entfaltete den in engen Linien handbeschrifteten Zettel und las feierlich: »Fesselt Azazel Hände und Füße und stoßt ihn in die Dunkelheit … Und macht eine Öffnung in die Wüste, was in Dudael ist, und stoßt ihn dort hinein. Und legt auf ihn raue und kantige Steine, und bedeckt ihn mit Finsternis, und lasst ihn dort für immer fortbestehen, und bedeckt sein Gesicht, dass er das Licht nicht sehen darf.« Er endete, faltete den Zettel wieder zusammen und schob ihn unter Jins fragendem Blick wieder in die Tasche. Jin wiederholte im Kopf, was er gerade gehört hatte. »Aber das … hilft uns nicht«, stellte er fest. »Wo ist Dudael?« »Irgendwo in der Wüste, anscheinend.« »Was sagt Dante dazu?« »Keine Ahnung. Hab ihn nicht gesehen.« Sie betrachteten einander. »Immerhin, bisher hatten wir nur vermutet, dass Azazel irgendwo eingesperrt ist und Sarris ihn deshalb nicht beschwören konnte. Jetzt wissen wir’s genau.« »Deshalb das Chaos«, murmelte Jin. »Die Bosheit befreit ihn von seinen Ketten.« »Ja. Er zehrt davon, und wenn er genug Kraft hat … Ende der Welt, und so.« Frustriert wandte Jin sich ab und starrte auf den nadelbedeckten Boden. Alle bisherigen Mühen hatten sie nicht viel klüger gemacht, und für Yuri schienen Aussichten wie das Ende der Welt schon so etwas wie Routine zu sein – jedenfalls tat er so, und auch das ärgerte Jin. Doch auch Yuri beschäftigte etwas, über das Jin schon gar nicht mehr nachgedacht hatte, denn nun platzte er heraus: »Warum zum Teufel hast du gesagt, es wäre in Ordnung für dich, Sarris mit der Mistel zu verfluchen?« Der anklagende Ton prallte an Jin ab. »Weil es das ist«, antwortete er. »Warum? Ich hab ja kapiert, dass es dir nichts ausmachen würde, deine Seele zu verlieren, aber warum wünschst du das Anderen?« »Nenn mir eine Alternative, nur eine!«, fuhr Jin ihn an, härter als beabsichtigt. Yuris deutlich hörbare Enttäuschung war ihm unangenehm. Warum nur mussten Andere ihm immer ihre Erwartungen aufbürden? Weichherzigkeit half hier niemandem. Manchmal mussten Dinge eben getan werden – keiner wusste das besser als er. »Wir müssen ihn überzeugen.« Yuri senkte den Kopf. »Jemanden, der nicht an einen Dämon gebunden ist, will ich nicht hinrichten.« Jin verdrehte die Augen und stöhnte auf, eine ungewöhnlich deutliche Äußerung seiner Gefühle, die er sofort bereute. »Manche Menschen kannst du nicht überzeugen«, beharrte er. Das beste Beispiel war sein Großvater: Bei ihm war kein Dämon im Spiel – auch wenn er alles dafür tat, das zu ändern –, doch ein guter Mensch würde niemals aus ihm werden; Jin sah das in Heihachis Augen, wann immer sie sich begegneten. Falls in dem Mann jemals so etwas wie Güte gewesen war, dann war es lange gestorben. Genauso war es bei Kazuya. Und genauso war es bei Heihachis eigenem Vater. Manchmal fragte sich Jin, ob er selbst überhaupt noch gerecht und gut sein konnte, oder ob das nur eine Erinnerung an vergangene Zeiten mit seiner Mutter war, an die er sich klammerte. Schon jetzt war er nicht weniger hasserfüllt als die Mishimas. Es fehlte nicht mehr viel, und er wurde wie sie. »Du versuchst es nicht mal, oder?«, schnaubte Yuri und trat nach einem Fichtenzapfen. »Hast du jemals jemandem eine Chance gegeben?« »Zu viele.« »Merkst du eigentlich, wie verändert du bist, seit Sarris mit diesem Ritual an dir rumgespielt hat?« »Ja, allerdings«, grollte Jin. Sollte das ein Vorwurf sein? Es war Sarris’ Schuld, nicht seine. »Ich habe euch oft genug mitgeteilt, dass es mir seitdem nicht gut geht. Es ist, als hätte er eine Tür in mir aufgetreten, durch die noch irgendetwas Anderes mich besetzt außer Devil. Als wäre Devil nicht lästig genug!« Lästig war ein grobes Understatement, doch sein Ton sagte alles. Überhaupt gab er sich Yuri gegenüber sehr viel mehr seinen Empfindungen hin, zeigte sie ihm viel stärker als anderen Menschen seit langer Zeit. Yuri selbst hielt sich nie höflich zurück, und offensichtlich war Unhöflichkeit ansteckend. Yuri kreuzte die Arme vor der Brust. »Es wäre besser für dich, wenn du deine innere Bosheit bekämpfen könntest, wie ich.« »Ich schätze, vieles wäre besser, wenn ich ein bisschen mehr wie du wäre«, knurrte Jin. Er hatte es tatsächlich zugegeben: dass er glaubte, dass Devil für jemanden wie Yuri kein Problem war. Dass nur er, Jin, derjenige war, der den Anforderungen nicht genügte, der versagte, der nicht in der Lage war zu kämpfen. Wieder griff die Dunkelheit nach ihm. Fester als vorher. »Jin. Hey.« Yuri fasste behutsam nach seinem Arm. »Guck mich an.« Jin riss sich los. »Das nützt nichts!« Er verkrampfte sich, kämpfte, die Fäuste geballt. Yuri stand vor ihm, beobachtete ihn, verschränkte die Arme vor der Brust. »Und? Nützt das was?« »Du … kannst mich doch aufhalten, wenn ich …« »Ja«, antwortete Yuri unaufgeregt. »Sollte kein Problem für mich sein.« Das zu hören erleichterte Jin ein wenig. Sie waren weit weg von jeder Spur der Zivilisation; es konnte nicht viel passieren. Yuri würde Devil Jin bremsen, schließlich war er der Gottesschlächter, oder nicht … Der Moment dauerte unendlich lange, aber er ging vorüber. Als Jin irgendwann die Augen aufmachte, stand Yuri immer noch da und schaute ihn an, ernst, aber nicht alarmiert. »Besser?« Jin richtete sich auf und spürte Schweißtropfen seinen Rücken hinabrollen. »Es wird schlimmer«, murmelte er. »Scheint so. Aber im Moment wird es vor allem dunkel«, bemerkte Yuri mit einem Blick Richtung Himmel. »Die Tage sind hier länger, aber … Egal, was hältst du von Abendbrot?« Jin zögerte. »Vielleicht.« Bei Devils Putschversuchen war sein Magen stets das erste Organ, das sich selbst verpackte und so tat, als würde es nicht existieren. Seine Körpermitte fühlte sich an wie ein verriegelter Safe. »Hat Dante sich um Sarris gekümmert?« »Keine Ahnung, was Dante macht. Im Hotel war er nicht.« »Vielleicht jagt er Dämonen.« »Der jagt höchstens Pizza. Lass uns irgendwas mit viel Sojasoße jagen.« Jin willigte mit einem stummen Nicken ein. Bis sie wieder in der Stadt waren, würde er sich noch etwas stabilisieren können. Er fragte sich, ob Yuris Anwesenheit ihm über den Anfall hinweggeholfen hatte wie ein Placebo. Bei Dante hatte das nur am Anfang funktioniert, weil Devil vor Dante Angst hatte – oder eher vor Sparda, vermutlich –; seit dem Ritual wirkte Dantes Präsenz auf Devil – und Azazel? – eher aufstachelnd. Die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen lagen weiterhin im Dunkeln. Hoffentlich würde es nie nötig werden, sie zu prüfen. Viel später fanden sie sich nach einem kurzen ziel- und wortlosen Gang in nächtlicher Dunkelheit an der Seepromenade wieder. Das Seaside lag irgendwo unweit vor ihnen, eines der wie an einer Schnur aufgereihten Gebäude, ihre Fassaden von gelbem Licht bestrahlt. Links von ihnen schlugen die schwarzen Wellen aufgebracht und schäumend gegen das betonierte Gestade. Der Wind fegte aggressiver denn je über ihre Köpfe, zerrte und drückte ihre Körper in diese und jene Richtung, sodass es kaum möglich war, geradeaus zu gehen. Kein Mensch war zu sehen, keine Möwen wagten sich in die abendlichen Aufwinde. Jin lehnte sich gegen das Geländer und sah auf das Wasser. Weit reichte sein Blick nicht; alles lag in Finsternis. Schon rauschte die nächste Welle heran und überrollte die Befestigung, ihre Gischt peitschte an den Streben hoch und besprühte die Mäntel der beiden Männer mit Schaumflocken und dicken, nassen Tropfen. Jin fror, aber er wich nicht zurück. Diese salzige Urgewalt hatte etwas Ungezähmtes an sich, das er immer gemocht hatte. Weit entfernt gegenüber sah er die andere Seite der Bucht, gelbe Lichter wie eine Perlenkette. Yuri stieß ihn an. »Komm!«, rief er, um das Tosen zu übertönen, und zeigte zu dem langen Steg, der hinaus ins Dunkel führte. Holzplanken, ein steinerner Rand, eine kaum kniehohe Reling – alles andere als einladend bei dem Sturm. Sie stapften den Steg hinunter bis zum Ende, wo sie so gut wie nichts mehr sehen konnten. Nun war das tobende Wasser überall um sie herum, umzingelte sie, brüllte sie an. Jin gab sich dem Gefühl hin, die an- und abschwellende Wucht des Atlantiks könne die Unruhe in seinem Inneren betäuben. Das Meer war unsichtbar in der Schwärze jenseits der nassen Planken, doch es war laut, ein alles übertönender Lärm, der den Geist durchbrauste und reinigte. Eine Viertelstunde später waren sie zurück auf dem festen Ufer, mit Salzwasser bespritzt und so sehr durchgefroren, dass sie vor Frösteln kaum laufen konnten. Yuri sah nichtsdestotrotz seltsam zufrieden aus, und als sie einander wieder verstehen konnten, sagte er: »Ich kann mir kaum vorstellen, dass Alice und ich hier gegen ein Monster gekämpft haben. Damals war das nur ein Ufer aus Kies und die Stürme so schlimm, dass fast jeden Tag Kinder ertrunken sind.« »Alles Schöne in der Natur hat auch eine grausame Seite. Das ist kein Widerspruch, alles ist ein Ganzes aus zwei Teilen.« Das Meer führte diese Liste gnadenlos an. Jin beobachtete Yuris blasses Gesicht. »Wie … ich meine, womit hat Alice gekämpft?« Sich an die Beschreibungen erinnernd, stellte er sich die Frau zart vor, wie ein Porzellanpüppchen, delikat und ohne die Härte einer Kämpferin. »Bibel«, sagte Yuri. »Ah. Du meinst, sie hat Psalme rezitiert?« Jin stellte sich Psalme als das einzig Brauchbare an Bibeln vor. Die seitenlangen Genealogien waren es sicher nicht. Yuri lachte. »Oh nein, nein. Sie hat damit zugeschlagen.« »Bitte?« »Sie hat sie den Monstern über den Schädel gezogen. Bibeln können echt schwere Bücher sein.« Jin zog die Brauen zusammen, als vor seinem geistigen Auge das Mädchen mit einem Buch Dämonen zu verprügeln begann. Beinahe konnte er Dantes flapsige Bemerkung dazu hören. Offenbar war Alice genauso schräg gewesen wie Yuri; was für ein Paar sie wohl geworden wären, hätte das Schicksal nicht andere, grausame Pläne gehabt. »Du warst nicht in einem Waisenhaus, oder?«, fragte Yuri unvermittelt. Jin sah beiseite. »Ich war bei Heihachi.« Er würde ihn nicht seinen Großvater nennen, nie. »Hat er dich geschlagen?« »Nicht wirklich.« Doch, natürlich hatte er. Heihachi Mishima hatte Jin in Kampfkunst gedrillt, wie hätte er ihn nicht schlagen können, um ihn zu besserer Leistung zu zwingen? »Und du?« »Ähm. Naja, man hat mich blutbeschmiert im Wald gefunden, während meine Mutter zerstückelt in unserem Haus lag, also … Viele hatten schon irgendwie Angst vor mir.« Das war Antwort genug für Jin, mehr wollte er darüber nicht wissen. Er schloss wieder die Augen, und aus dem Schließen wurde ein Krampfen, und sekundenlang war alles dunkel, nicht nur das Meer jenseits des Lampenscheins. »Ich … muss dir sagen, dass … ich das nicht mehr lange aushalten werde.« Da, es war passiert. Er hatte eine Schwäche preisgegeben. Etwas, das er zuletzt als Kind getan hatte. »Es … wird jeden Tag stärker. Und ich bin … einfach müde.« Er verstummte, beschämt. »Ist in Ordnung. Ich kenn das.« »Ja, du«, brummte Jin, »deshalb kann ich es dir sagen, als Einzigem. Dante würde es nie verstehen. Er kennt keine … Angst.« Yuri hob überrascht die Brauen. »Glaubst du wirklich? … Glaubst du wirklich, dass Dante nicht weiß, was Angst ist?« »Woher sollte er es wissen? Oder es sich vorstellen können? Sag es ihm nicht, bitte. Ich hasse es, wenn er mich ansieht und für schwach hält.« »Du hasst es, wenn irgendjemand dich für schwach hält«, versetzte Yuri. »Wir waren doch alle so. Dante auch. Er war krank, nachdem er den Mörder seiner Mutter zur Hölle gejagt hat … also seelisch, meine ich. Er war einfach im Arsch.« Wohl kaum, dachte Jin und schnaubte abschätzig. »Doch, ich bin sicher. Ich hab schon oft solche Typen gesehen. Er muss Angst kennen. Und übrigens …« Yuris Blick schweifte ab, zurück zum Wasser. »… kennt niemand Angst besser als ich.« »Ja, ich weiß.« Jin hatte ihn nicht zwingen wollen, das zu wiederholen. Ein wenig bewunderte er, wie frei Yuri seine Empfindungen äußerte, aber es tat ihm auch leid. »Es kommt darauf an, wie man mit Angst umgeht.« »Ich bin nicht wie du.« »Nein, zum Glück.« »Du hast einen Gott getötet.« »Ich hab ein Monster getötet. Wie du. Du hast Toshin getötet, weil er deine Mutter geholt hat.« Jin erinnerte sich kaum noch an dieses Duell, das er in rotem Zorn gefochten hatte. Ogre, nachdem er von Heihachi gezehrt hatte. Diese stinkende, pilzüberwucherte Bestie mit verklebtem Fell und triefenden gelben Augen, die Salven von ölig glänzendem Speichel nach ihm spie, der in der Luft Feuer fing und heiße Schwälle nach sich zog, die noch im Flug die Haut versengten. Die klebrigen Klauen, der schuppige, wild schlagende Schwanz … Jin entsann sich nicht einmal, wie er das Leben dieser Kreatur beendet hatte. »Hat die Rache dir geholfen?« »Nein.« Es war die Wahrheit. »Dir?«. »Natürlich nicht. Es hilft nie. Das lernt man schnell, aber es hält einen nicht davon ab, es wieder zu tun.« Sie stapften weiter, gegen den Wind, noch immer mit dem Zähneklappern kämpfend. Jin war klar, dass Yuri sein Vertrauen suchte. Es war offensichtlich, dass sie Leidensgenossen waren, und ebenso offensichtlich, dass Yuri sein Vertrauen verdiente. Und dennoch … obwohl Jin ehrlicher zu ihm war als zu Dante, oder zu irgendjemandem in den letzten Jahren, konnte er in Yuris Nähe nicht unbedarft sein, konnte keinen intimen Freund in ihm sehen. Jins Wesen war so zwiegespalten wie nie zuvor: Ein kleiner, zarter Teil von ihm, der sich nach dem Ausbruch aus der Einsamkeit sehnte, wollte mit seinen neuen Gefährten zusammen bleiben, sich mit ihnen anfreunden und ihnen vertrauen. Sie waren die Einzigen, die wirklich wussten, wie es ihm ging, und auch die Einzigen, denen Devil Jin überhaupt nichts anhaben konnte. Dieser Teil von ihm wollte die Reise mit Yuri und Dante für immer fortsetzen. Der andere, größere Teil jedoch war vernünftig und rational. »Wir haben nicht mehr unendlich viel Zeit. Devil wird Azazel finden und befreien wollen, er wird Sarris’ Pläne vorantreiben, ich kann ihn immer weniger davon abhalten.« »Sag mir nicht, dass wir ein Zeitproblem haben. Ich traue mich schon gar nicht mehr, auf die Taschenuhr zu sehen. Sie zeigt schon nach acht Uhr an.« »Wo wir gerade von Zeit sprechen.« Jin sah wieder zum Meer, wo am Rande der Dunkelheit die weißen Schaumkronen aufblitzten. »Mir ist aufgefallen, dass Sarris’ Rechnung nicht funktioniert.« »Hä, Rechnung? Welche?« »Er hat Dante und mich angegriffen, weil er glaubte, unser Blut würde irgendeine Verbindung zu Azazel herstellen. Er hatte den Teil, den Roger übersetzt hat, schon vor uns gelesen. Blut als Band durch die Zeit – funktioniert das?« Yuri nickte langsam. »Ja … Er sagte, dass entweder Sparda oder Devil Azazel versiegelt haben müssten. Deshalb diese kleinen Monster, die euch gebissen haben. Er hatte irgendein anderes Ritual damit vor.« »Aber es passt nicht«, sagte Jin eindringlich. »Beide kommen nicht in Frage. Devil ist nicht Azazels Rivale, er ist so was wie sein Abkömmling, und er will ihn befreien. Wahrscheinlich existierte er zu dem Zeitpunkt von Azazels Gefangensetzung noch nicht einmal, sondern ist ein Fragment von ihm, das nicht an einen Ort gebunden ist. Dasselbe bei Sparda – er ist zu jung. Dante sagte, sein Vater hätte bei seiner Rebellion vor etwa zweitausend Jahren nicht nur Mundus verbannt, sondern auch andere mächtige Teufel mit hohen Rängen, aber im Buch Henoch sind viele Passagen deutlich früher datiert.« »Also saß Azazel schon in seinem Loch fest, als Sparda aufgeräumt hat.« Yuri schob die Hände wieder in die Taschen. »Euer Blut hätte Sarris nichts genützt. Die Frage ist dann natürlich –« »– wer Azazel eingesperrt hat«, endete Jin. »Wer war alt genug, mächtig genug, wer hatte Grund, ihn – …« Er brach ab, als ihm ein plötzlicher Anfall von Übelkeit die Kehle zuschnürte. Er presste die Hand auf den Mund, starrte auf den sandigen Stein unter seinen Füßen. Sein Herz pochte plötzlich schnell und hart wie ein Presslufthammer. Er hatte das Gefühl zu wissen, wer Azazel unterworfen hatte, wer ihn fernab von allem Licht in Ketten gelegt und lebendig in endlosem Sand verschüttet hatte, doch dieser Raum in seiner Erinnerung war leer; da war nichts, er wusste es nicht – aber … Devil wusste es. Und Devil brannte darauf, es ihm zu sagen. »Nein«, stieß Jin hervor, wandte sich ab, brachte mit hastigen Schritten Distanz zwischen sich und Yuri, um ihn nicht anzugreifen. Verdammt, vorhin hatte er es doch geschafft, Devils Drängen zu unterdrücken, vorhin im Wald – warum ging es jetzt nicht, warum war der Dämon in ihm plötzlich wieder so stark, als hätte ihn nichts und niemand jemals aufgehalten? Jin hatte nicht den Hauch einer Chance, und er wusste es. »Halt ihn auf!«, presste er hervor, ehe sein Sichtfeld jäh heller und schärfer wurde, als hätte sich Nacht in Tag verwandelt – und dann kam der Schmerz. Wie immer erstickte er jeden Keim des Widerstands in seinem hellen Lodern. Doch es war anders diesmal. Anders, weil etwas passierte, das sonst nicht geschah. Jin war nicht fort. Er wurde nicht gänzlich verbannt in die Untiefen der Ohnmacht, aus denen er später erwachen würde, ahnungslos, was der Teufel angerichtet hatte. Diesmal musste er – und das war sogar schlimmer – wie ein ferner Beobachter von außen zusehen, wie auf seinem eigenen Körper brennend schwarze Linien aus der Haut traten, wie schmerzhaft Hörner aus dem Schädel und Flügel aus den Schultern brachen. Er wollte es nicht sehen, aber er hatte keine Augen, die er schließen konnte; alles floss an seinem entsetzten Bewusstsein vorüber, das sich nirgendwohin abwenden konnte. Er sah Devil Jin die Flügel zusammenschlagen und sich hinauf in den Sturm katapultieren. Yuri stand unten, windzerzaust und die Fäuste sinnlos erhoben, den Himmel mit dem Blick absuchend. Da stieß Devil Jin auch schon wie ein Pfeil auf ihn nieder, warf ihn brutal zu Boden, begrub ihn unter sich. Er setzte eine Hand auf Yuris Brust – ein Gewicht wie ein Felsblock – und grinste auf ihn herab; ihre Gesichter waren kaum zwei Finger breit voneinander entfernt. Der schwarze Mantel, oder was davon übrig war, flatterte um seine feucht glänzenden Flanken. Yuri versuchte, Devil Jin von sich zu stoßen. Jin fühlte seine Gegenwehr, fühlte eine schwache Verbundenheit zu seinem eigenen Körper, den ein Anderer kontrollierte. Yuri hörte auf zu kämpfen und atmete mühsam gegen das Gewicht an. Sein Blick war trotzig. »Was willst du?« »Ich sollte diese Gelegenheit nutzen, um dich loszuwerden«, zischte Devil Jin. »Ach ja? Fällt aus.« Jin sah die Szene von allen Seiten gleichzeitig. Die Bilder glitten mal in die Nähe, mal in die Ferne. Er sah, dass der seltsame Stein um Yuris Hals – das Periapt – schwach von innen gloste. Es hatte noch immer dieselbe tiefrote Farbe. Devil Jin öffnete seine rechte Faust, und auf der Handfläche begann sich Energie zu ballen. Kleine Flammen, dunkelrot wie verfaulendes Blut, flackerten zwischen den Fingern und wuchsen langsam zu einem pulsierenden Ball aus Licht. Jin fühlte Angst, die nirgendwo hin konnte. Kein Körper, der darauf reagierte, nur nackte Panik, die ungehindert in den Kosmos strömte und ihn zu überwältigen drohte. Es tut mir leid!, dachte er hilflos. Ich kann nichts tun! Ich kann nicht durchdringen! Er versuchte es noch einmal, doch alle Versuche gingen ins Leere. Es fühlte sich an, als wäre sein Geist in ein riesiges, nasses Handtuch gewickelt. Es geht nicht! Dann durchfuhr ihn ein neuer Schauder, als Yuris Blick seinen traf. Er sah ihn. Irgendwie. Keine Sorge. So leicht mach ich’s ihm schon nicht. Was? Wir versuchen es zusammen. Halt dich bereit. Da begriff Jin, dass Yuri mit seinem Bewusstsein Dinge tun konnte, die Jin nicht beherrschte und nicht verstand. Es konnte keine echte Telepathie sein – es war bloß eine völlig andere Art, das chi einzusetzen, eine, für die normalen Menschen die Voraussetzung fehlte. In das wachsende, faulige Licht getaucht, begann der Stein rot zu pulsieren wie ein schlagendes Herz. Was soll ich tun? Ich geb dir ein Zeichen. Wirst du deine Fähigkeit einsetzen? Ja, klar. Aber ich muss was aussuchen, das fliegen kann und leicht zu halten ist … Moment noch. Beeil dich! Devil Jin, tief über Yuri gebeugt, fletschte die Zähne. Seine Augen funkelten widerwärtig, auch das dritte auf seiner Stirn war geöffnet und flammte rot. Die explosive Masse an Energie in seiner freien Hand tobte, wartete nur darauf, befreit zu werden und vernichtend einzuschlagen. »Stirb«, zischte der Dämon. Jetzt! Jin strengte sich an und kämpfte. Er wusste, dass er nicht körperlich etwas tat, es war allein sein Geist, der vorwärts drängte, der sich so sehr konzentrierte, dass alles Andere in die Ferne rückte. Er fühlte einen Ruck, einen Stoß – und dann sah er Devil Jin rückwärts fliegen, hart nach oben gestoßen, und mit heftigem Flügelschlagen die Balance zurückerobern. Eine zweite Kreatur folgte ihm: ein vogelähnliches Geschöpf mit drei Paar Flügeln in leuchtenden Farben, das ihm flatternd nachjagte. Auf ihn, Grano!, rief Yuri, als hätte er soeben einen Hahnenkampf eröffnet. Mitten in der Luft schlugen sie aufeinander wie zwei Kometen, während um sie herum die Winde peitschten. Jin sah wieder durch Devil Jins Augen. Verzweifelte an der Machtlosigkeit, auf seinen eigenen Körper einzuwirken. Die Fußkrallen des bunten Vogelwesens brachten ihm tiefe Wunden bei, doch auch er selbst teilte heftig aus, als wären die schwarzen Federn Messerklingen. Über allem schwebte Devils Zorn, erfüllte Jins ganzes Sein, ließ ihn mit den Klauen um sich schlagen. Jin sah die schwere, blau leuchtende Gliederkette um seine Hüfte, die nirgendwo hinführte – sie war die Verbindung zu Azazel, dessen Sehnen nach Freiheit auf diese Weise Form angenommen hatte. Devil Jins krallenbewehrte Faust schlug knapp am gefiederten Hals seines Gegners vorbei; der Vogeldämon schlug einen Haken und versetzte ihm einen Tritt in den Bauch, der sie weit auseinandertrieb und Jins Bewusstsein fast in rotem Schmerz erstickte. Devil Jin stieß sein bekanntes mehrstimmiges Geheul aus und gewann mit zwei kräftigen Flügelschlägen seine senkrechte Haltung zurück; dann streckte er drohend die Hand aus, und Jin wusste, was jetzt kam. Lass dich fallen!, dachte er flehentlich. Lass dich fallen! Grano zog die Flügel an und fiel, doch es war schon zu spät. Devil Jins telekinetische Kräfte – diejenigen, die ihm am meisten Energie raubten – ergriffen den Feind und schleuderten ihn nach rückwärts, hinaus über das Meer. Das gottähnliche Wesen überschlug sich zweimal und fing sich; die Wellen unter ihm peitschten hoch, spiegelten seinen Zorn und seine entfesselte Macht wieder. Devil Jin spürte es. Er zögerte. Erst glaubte Jin, darüber froh sein zu können. Dann aber entschied Devil Jin sich für das Schlimmstmögliche, das er tun konnte – und das Riskanteste. Er preschte erneut auf Grano los und packte ihn, und obwohl dessen ausschlagende Klauen ihm tief in die Flanken drangen, presste er eine Hand auf die Stirn des Vogelgottes. Jin wusste, was das bedeutete, doch er war machtlos. Oh, Scheiße, was ist das denn?! Aaaaahhhhh!! Innerhalb eines Wimpernschlags sog Devil Jin mit einer einzigen mächtigen Anstrengung Yuris ganze dämonische Energie aus ihm heraus. Entsetzt sah Jin, wie sich die bunten Vogelfedern auflösten und Yuri wieder zu Yuri wurde, der in Devil Jins Griff zappelte. Dreißig Meter hoch über dem offenen Meer. Devil Jin ließ ihn los. Yuri stürzte aus seiner Pranke, doch sofort reagierte er und umklammerte im Fall Devil Jins rechtes Bein. »Ooooh nein, du Scheißer, vergiss es!« Und indem er seinerseits noch einmal alle verbliebenen Kräfte zusammenraffte, zog er sich gegen Devil Jins Widerstand blitzschnell an diesem hoch und bekam mit einer Hand einen Flügel zu fassen. Der Teufel knurrte und trat nach ihm, doch Yuri ließ die Angriffe irgendwie ins Leere gehen, hartnäckig wie eine Zecke. Devil Jin strauchelte in der Luft. Jin spürte seine einsetzende Panik, als sie abzustürzen drohten. Ich hab keine Wahl, sagte Yuri verbissen. Jin sah seine Augen kampflustig funkeln. Tu es, antwortete Jin. Ihm war alles egal. Tu es. Ich vertraue dir. Nein, tust du nicht. Mit einem unflätigen Fluch schlug Yuri beide Arme um ihn, dann die Beine, presste dem Dämon dessen eigene Gliedmaßen an den Körper. Ein eiserner Griff, aus dem Devil Jins Wut ihn nicht befreien konnte. Kein normaler Mensch wäre dazu in der Lage, doch Yuri war kein normaler Mensch; er gab keinen Millimeter nach. Unfähig, mit den Flügeln zu schlagen, fiel Devil Jin vom Himmel. Jin fühlte ein wildes Entsetzen über Yuris Stärke. Was gerade geschah, war zu unglaublich. Schlagartig fiel ihm wieder ein, wie Yuri vor Sarris gestanden hatte, der gerade ausgeholt hatte, um seine Peitsche auf ihn niederkrachen zu lassen. Wie Yuri den erstarrten Sarris betrachtet hatte, den Blick zugleich müde und irgendwie entrückt. Über ihm schwebten die sieben Dornen wie giftige Schlangen, die ihn nur zu gerne gebissen hätten. Und dann der Schatten … Im Grunde war es gar kein Schatten, eher eine Art Spirit, ein zweites Sein, das da über Yuri schwebte, etwas Unheiliges mit schweren, gefiederten Flügeln, das eine unsägliche Kälte und Grausamkeit ausstrahlte. Licht schwappte in Wellen aus der Erscheinung hervor, ein dunkles, irgendwie gefräßiges Licht, das alles in seiner Umgebung zu schlucken versuchte. Jin erkannte, dass das Wesen nackt war, reduziert bis auf die Grundrisse seines Seins; alles Andere hatte Yuri ihm genommen, als er es nach einem monatelangen Kampf mit seinem Geist niedergeworfen hatte. Jin wusste all diese Dinge instinktiv, als er das groteske und zugleich engelsgleiche Geschöpf ansah. Seine Augen wollten sich nicht lösen. Dieses Etwas war dazu gemacht, viele Meilen unter dem Meer zu schlafen oder in ewigem Schnee verschüttet zu sein. Es war nichts, das auf der Welt sein sollte. Devil Jin brüllte vor Wut. Sie fielen als ein wild ringendes Knäuel, immer schneller durch die eiskalte Luft auf die aufgewühlte Masse des Meeres zu. Jin war starr vor Entsetzen. Er sah die Schaumkronen näher kommen, das Wasser grau wie Fels. Dann schlugen sie ein. Lärm, Schmerz, dann nur noch alles überwältigende Kälte. Devil floh, und ebenso floh Yuris übermenschliche Kraft. Sie blieben als die zwei Männer zurück, die sie waren, als die Wucht des Falls sie tief unter die Oberfläche des Atlantiks trieb. Jin sah kein Licht über sich. Er fühlte nur noch, wie er rückwärts tiefer sank, Yuris Arme noch immer fest um seine Brust geschlungen. Die Kälte hatte alles betäubt, war wie flüssiges Eis in ihr Blut geströmt. Sie konnten sich nicht bewegen. Jin fühlte nichts mehr bis auf eine ganz schwach warme Stelle zwischen seinen Schultern, dort, wo Yuris Periapt sich an ihn drückte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)