Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 47: Akt XII: Aus den Tiefen - 16-2 ------------------------------------------ 16-2: YURI Ich bin noch nie so schnell gerannt, ohne was zu sehen, könnte Yuri später erzählen. Noch bevor sich die Höhlenkammern ganz mit dem heißen, beißenden Gemisch aus Wasserdampf und Rauch gefüllt hatten, waren sie geflüchtet, wie Füchse aus einem Bau, den ein Jäger ausräuchert. Yuri hatte Roger unter den Arm geklemmt wie einen Klappstuhl und war vorausgehechtet, blind, die freie Hand vorgestreckt. Wann immer seine Finger die Wand berührten, war sie tropfnass und heiß wie in einem japanischen Dampfbad. Irgendwie hatte erwartet, dass jemand hinfallen würde. Es fiel doch immer jemand hin bei einer überstürzten Flucht, oder? Doch Dante und Jin waren nicht fürs Hinfallen gemacht, und er selbst hatte Glück, und schlussendlich fanden sie sich alle ohne verstauchte Knöchel im Freien auf dem Grasland wieder. Dort zog der weiße Dunst bereits als gefräßige Nebelwand über die Ebene, die grau unter dem bezogenen Himmel lag. Yuri setzte Roger ab und sah zu Jin; allmählich konnte er dessen streng reduzierte Mimik besser lesen: Jin war aufgeregt, ängstlich und verwirrt. Dante stand wenig hilfreich in der Gegend und ließ seinen eisigen Blick sonstwohin schweifen, aber wenigstens hatte er es hingekriegt, im Abhauen sein Schwert wieder einzusammeln, das wie immer friedlich in Rogers Wohnzimmer an der Wand gelehnt hatte. Aus dem Boden unter ihren Füßen schwoll ein neuerliches Grollen an. Immer stärker übertönte es das Rauschen der nahen See und der windgepeitschen Kiefern auf der Anhöhe. Jin drehte sich hektisch Richtung Clarach, dann zum Höhleneingang, dann fuhr er wieder herum und fauchte: »Was ist das?« Das hätte Yuri auch gern gewusst. Sarris war nirgends zu entdecken. »Erfahren wir gleich«, sagte Dante, als kämen jeden Moment die Nachrichten im Radio. Sein Blick glitt zum Eingang, aus dem sie soeben geflohen waren, und Yuri sah, neben den stetig hervorquellenden schwarzen und weißen Wolken, ein Glühen darin heller werden. Etwas kam von unten herauf. Etwas, das Sarris mit den vierzehn Seiten durch das Portal geschleust hatte. Das Grollen wurde stärker, schrie in ihren Ohren, schrill und sirenenhaft, als brüllte die Erde selbst vor Schmerzen, als das Monster sie zu durchbrechen suchte. Yuri sah Roger zu seinen Füßen im Gras kauern und leise jammern. Er hörte nicht, was sein alter Freund da von sich gab, doch es war unschwer zu erraten: Rogers Höhle enthielt sein ganzes Leben, seine Schätze, seine Relikte, seine Erfindungen, sein Heim, und – Yuri fuhr zusammen, als Eiswasser wie aus einem ausgekippten Eimer über ihn strömte. Die Höhle enthielt den verdammten Teleporter. »Ooooh!« Yuri hörte über den Lärm hinweg den kleinen überraschten Ausruf Rogers, der behände wie ein Äffchen auf die Füße sprang. Im selben Moment spürte er die Wärme unter seinen Sohlen. Wir stehen ungünstig. Die Vier stoben auseinander, kurz bevor unter ihren Füßen die Erde schmolz. Tiere flohen aus ihren Behausungen. Als hätte der Rattenfänger von Hameln seine Flöte ausgepackt, öffneten sich Löcher und Ritzen im Erdreich, wo sie vorher nicht zu sehen gewesen waren, und spuckten Armeen panischer Kleinsäuger aus – Spitzmäuse, Wühlmäuse, Ratten, Maulwürfe, Bilche und anderes Getier, huschende graue Pelzknäuel jedweder Art, alles stürmte quietschend über die Ebene davon. Die Luft war warm. Eigentlich sollte es hier draußen schrecklich kalt sein, doch der Boden unter ihnen strahlte so viel Wärme ab, als wäre es ein lauer Frühlingstag. Die Erde kochte immer stärker. Wie die Anderen starrte Yuri angespannt auf den dunklen Fleck, wo Schlamm und Steine sich vor Hitze verflüssigten. Yuri rechnete mit etwas, das riesig war und brannte. Es gab genug Teufel, die riesig waren und brannten, und auf die Schnelle fielen ihm zehn oder zwölf ein, die in Frage kamen; doch das, was schließlich vor ihnen aus dem aufgeplatzten, magmaisierten Erdboden stieg, war keiner von diesen. Den schlanken, unerwartet ebenmäßg proportionierten Körper umgab ein blendendes Licht, das über ihm waberte und schwankte wie eine Art leuchtende Zeltplane. Yuri erkannte vier Beine und ein weißgraues, zotteliges Fell wie das eines dreckigen, abgemagerten Eisbären. Die Schritte selbst erschienen lautlos, doch ein dröhnender Basston, der durch die Erde fuhr, begleitete sie. Das Ding sah die Männer, hielt auf sie zu; es bewegte sich gemächlich, groß wie ein afrikanischer Elefant, senkte den Kopf, das eine Art ausladendes Geweih trug. Yuri kniff die Augen zusammen, weil er zwei Auswüchse, die nach vorne aus dem Nacken ragten, in dem Gleißen nicht richtig sehen konnte. Er schaute kurz zu den Anderen, nur um sich zu vergewissern, dass sie noch da waren (ja, waren sie), und sah wieder, die Augen mit der Hand abschirmend, geradeaus. »Es ist langsam«, stellte Dante neben ihm fest. Ein sachlicher Kommentar. Der Teufelsjäger hatte immer noch nichts in den Händen, eine steckte sogar in seiner Manteltasche. Jin auf Yuris anderer Seite war so angespannt, als würde er gleich explodieren. Er stand stocksteif, starrte das Ding an und atmete schwer. Yuri trug nach wie vor die Nachtvogelklaue. Wenn also keiner hier etwas unternehmen würde, war zumindest er bereit. Die schaurig-leuchtende Gestalt blieb stehen. Jetzt konnte Yuri sehen, was da aus ihr herauswuchs: Arme. Ja, da wuchsen Arme aus seinem Hals, verdammt. Das Vieh erinnerte entfernt an einen Hirschen, doch sein Nacken war lang und verdickt, und nun erkannte Yuri diesen als eine Art zweiten Torso, wie bei einem Zentauren. Die Greifarme ragten daraus hervor, weiß behangene Bärenpranken, nur schlanker, mit gelbstichigen Klauen daran. Das, was über dem Körper hing und so intensiv strahlte, war kein Dach, sondern hochgetragene Flügel aus leise knisterndem, weißem Feuer. »Endlich«, sagte das Ding. Mit diesem einen Wort sah Yuri die Öffnung im Gesicht, ein Spalt, der, als er aufging, zwei Reihen Zähne entblößte, die wie Glasscherben aussahen. Gott, was war das denn für ein Maul? Es hatte wie ein Punkt ausgesehen, schien sich jedoch endlos weit öffnen zu können. Schlimmer allerdings waren die vier großen runden Augen: Rautenförmig auf der Stirn angeordnet, waren sie eben noch – zumindest glaubte Yuri das – giftig grün gewesen, mit winziger Pupille; doch nun rollten sie wie wild in ihren Höhlen, was schauerlich genug aussah, und dabei wurden die Augen rot, die schwarzen Punkte wuchsen sanduhrartig in die Länge. Langsam reicht’s, dachte Yuri, und er spürte die enorme geistige Anstrengung, die dieser widernatürliche Anblick ihm abverlangte. Dämonen ließen Menschen wahnsinnig werden, und er spürte diesen Wahnsinn stärker an sich zerren, je abscheulicher das Monster war, dem er sich stellen musste. Dante war immun dagegen. Er grinste das Hirschding an, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, und bemerkte: »Ha, endlich mal ein Geweih! Macht deine Hackfresse um Längen dekorativer!« Nicht pöbeln, Dante, dachte Yuri, während er aus dem Augenwinkel immer noch Jin beobachtete, der einem Nervenzusammenbruch sichtlich näher kam. Das Vieh ist nur ein Ablenkungsmanöver, es soll uns beschäftigen, während Sarris sein Ritual an Jin wiederholt … Doch Sarris war nicht zu sehen, ebenso wenig ein Ziegenschädel oder Blut oder Pergamentseiten oder irgendwas. Der ekelerregende Hirsch, der die Drei weiterhin mit Wellen von schweißtreibender Hitze überflutete, zog drohend seine zwei Augenpaare zusammen, die nun wie riesige schwarze Käfer glänzten. Er schnaubte in Dantes Richtung und senkte den Kopf. Das Geweih, das Yuri bisher nur undeutlich gesehen hätte, präsentierte sich ihnen in voller Pracht, jede Hälfte so groß wie der Kuhfänger der Transsibirischen Eisenbahn. Die Stangen endeten in dunklen Spitzen und sahen aus wie abgestorbene Äste, an die sich schwarze Krusten wie Flechten klammerten. Aus ihnen quoll giftig-rotes, nach Schwefel stinkendes Sekret hervor, das von den Spitzen ins Gras tropfte und es dort in gelben Rauch aufgehen ließ. »Ein Vierzehn-Ender«, sagte Dante bewundernd. »Wird sich gut an meiner Wand machen.« Yuri war klar, das der Jäger den Dämon unbedingt auf sich fixieren wollte. Er sah zu Jin; dieser hatte sich noch immer kein Stück gerührt, aber es nahte der Moment, in dem er sich entweder abwenden und wegrennen – die normale menschliche Reaktion – oder seinen Schrecken überwinden und kämpfen würde. Nun, Jin war kein normaler Mensch. Der Hirsch röhrte wie ein Nebelhorn und stampfte mit einem gespaltenen Huf auf, dass die Erdklumpen aufflogen. So langsam seine Bewegungen auch aussahen, dahinter verbarg sich eine rohe, explosive Kraft. Er nahm Dante fest ins Visier, und dann – – dann schlug er einmal mit den Feuerflügeln. Er war nicht langsam. Als das säuresprühende Geweih zwischen sie schlug, war Yuri erstaunt über seine eigene Schnelligkeit. Er und Jin waren nicht Ziel des Angriffs, waren ihm aber nur um Haaresbreite entgangen. Verdammt, dieses Biest war in der Lage, sich mit Lichtgeschwindigkeit vorwärts zu katapultieren! Dante war natürlich schneller weggewesen als ein Insekt, das die Fliegenklatsche sieht. Der Vorstoß ging ins Leere – doch er blieb nicht unbeantwortet. Yuri und Jin kauerten im Gras wie gelähmt, noch unfähig, den Schrecken ganz zu verwinden, doch Dante kannte solche Bremsklötze nicht. Er preschte mit Rebellion an ihnen vorbei – ein unnatürliches Verhalten, das verstörend wirkte, fast so sehr wie der Dämon selbst. »Yuri, ist … ist das – …?«, presste Jin angestrengt zwischen den Zähnen hervor. »Nein.« Yuri kannte einige der höherrangigen Dämonen aus den vielen alten Büchern und Traktaten. »Nicht Azazel, auch nicht sein Geist.« Allmählich kehrte das Blut in seine Fingerspitzen und die Klarheit in seine Gedanken zurück; gut so, denn er hatte fest vor, sich auch ein Stück Hirschhaxe zu holen. Sie sahen zu, wie Dante in seinem Gegenangriff einen senkrechten Schnitt in die Flanke des Monsters hieb, was es sich brüllend aufbäumen ließ. Es hatte Dante genauso unterschätzt wie umgekehrt. Die tellergroßen Augen rollten in ihren Höhlen und durchliefen ein weiteres Farbspiel; dann, mit einem einzigen Flügelschlag, sauste das Biest fünfhundert Meter weit weg, fast bis zur Klippe, und drehte sich wieder um; dort lauerte es nun in seiner ganzen wutschnaubenden Widerwärtigkeit. Das Gras zwischen ihm und den Dreien rauchte und schwelte. Es würde ein anstrengender Kampf werden. Yuri sah zur Seite, und auf einmal war Dante wieder neben ihnen. Er warf ihnen einen auffordernden Blick zu und machte eine unmissverständliche Geste. »Hoch mit euch«, befahl er, nicht hektisch, aber eindringlich genug. »Ihr verpasst alles! Hyuga, häng nicht rum, mach mit. Da drüben ist Clarach.« Er nickte Richtung Anhöhe. »Wir sollten den Sack zumachen, bevor dem Höllenelch einfällt, was er da alles anstellen könnte. Plötzliche Freiheit bekommt denen nicht. Kazama? Du suchst Sarris. Der kann nicht weit weg sein, guckt sich die Show bestimmt von irgendwo an. Schnapp ihn dir, klar?« Jin, der den Befehlston bekanntermaßen hasste, kam steif auf die Füße. Immerhin sorgte sein Ärger dafür, dass er seine Furcht vergaß. Yuri erwartete irgendeine Art von Protest von ihm – etwas darüber, dass er nicht der Laufbursche sein würde, während Andere kämpften –, doch Jin beließ es bei einem harten, missbilligenden Blick, ehe er sich umwandte und loslief. Tatsächlich schien er eine vage Idee zu haben, wo Sarris sich in Sicherheit gebracht hatte, denn er schlug gezielt den Weg Richtung Promenade ein. Yuri, nun abwehrbereit wie Dante, sah sich nach Roger um und fand den kleinen Mann, der mit großen Augen erwartungsvoll zu ihm aufsah. Roger kannte seine Rolle. Sie tauschten einen Blick, und er hoppelte davon wie ein Häschen, blitzschnell im hohen Gras zwischen den Felsen verschwindend. »Mal ehrlich«, begann Dante, als sie alleine waren, wobei er das Schwert neben sich in den Boden rammte und zu dem Monster hinübersah, das in einiger Entfernung schnaubend und stampfend auf sie wartete, »was bitte ist das da?« Yuri hob die Brauen. »Das ist Furfur. He, ich hab doch einen Schlüssel Salomons in deinem Bücherregal gesehen. Liest du denn auch, oder ist der nur Dekoration?« »Meistens schlag ich da erst hinterher nach«, entgegnete Dante achselzuckend. »Und, hast du noch steife Gelenke oder kann’s losgehen?« »Von mir aus immer.« Trotzig hob Yuri die Fäuste, und die Nachtvogelklauen leuchteten kampflustig auf. »Aber ich glaub, der will zuerst ’ne Runde Fangen spielen.« »Kann er kriegen.« »Wir beide?« »Doppelt hält besser.« Und dann rannten sie los und nebeneinander her auf das Monstrum zu. Yuri wetzte die Klingen seiner Waffe gegeneinander, bis sie Funken sprühten, und Dante warf das Schwert wieder über die Schulter, wo es in die Magnetschlösser einrastete, und zog lässig seine Pistolen aus den Halftern. Furfur sah sie kommen. Das Russisch Roulette seiner ekelhaften Augen ging wieder los. Diesmal glommen sie löwenzahngelb, und rote Adern schwollen darin an. Er war bereit. Jeder Kampf gegen einen hochrangigen Teufel erfordert eine bestimmte Strategie. Furfur machte keine Ausnahme. Ihn zu verletzen war an sich keine hohe Kunst – der Dämon hatte keinen Schild, keinen Panzer, der seine Flanken schützte –, doch es zu tun bereitete einige Probleme. Das Vieh war zu schnell. Offenbar vereinte das gleißende Flügelpaar Gleitschirm und Raketenantrieb: Es befähigte den Körper nicht nur zu den riesigen, flachen Sprüngen, sondern auch zu Drehungen, denen einfach unmöglich zu folgen war. Furfurs vier Augen schienen unabhängig voneinander sehen zu können, denn er behielt sowohl Dante als auch ständig Yuri im Blick. Gleich zu Beginn hatten sie versucht, ihn von beiden Seiten gleichzeitig anzugreifen, doch das genügte nicht; sie konnten keinen Kreis um ihn schließen, er brach stets zwischen ihnen aus und fuhr herum, sodass sie selbst Mühe hatten, rechtzeitig beiseite zu hechten. Das Gelände bot hier keine Begrenzungen, das Grasland erstreckte sich baumlos bis zu den Klippen. Yuri fragte sich, ob es damit vielleicht getan wäre: Wenn sie den Hirsch in den Atlantik stießen, würde das Meer womöglich sein weißes Feuer ersticken und die Sache beenden; doch irgendwie fürchtete er, dass diese einfach aussehende Lösung einen Haken hatte. Clarach war noch nicht in Sicht. Es lag hinter der Anhöhe, und bisher hatten Yuri und Dante es mit kühnen Attacken verstanden, Furfur daran zu hindern, diese Richtung zufällig einzuschlagen. Tatsache war jedoch, dass sie ihre Technik ändern mussten, wenn sie diese Angelegenheit hier schnell beenden wollten. Gerade hatte Furfur erneut das Geweih gesenkt und war auf Yuri zugeprescht – ein Schlag mit den Lichtsegeln, und die scharfen Äste befanden sich dort, wo Yuri eben noch gewesen war. Tatsächlich lebte er nur deshalb noch, weil er die rotierenden Augen und schlagenden Hufe des Hirschen nie aus den Augen ließ, kündigten sie doch stets seine Vorstöße an und schenkten ihm damit die rettende Sekunde. Ich muss nur rankommen, dachte Yuri fieberhaft, als er sich aus dem gelb verödeten Gras hochstieß und dabei mit den Klingen Erdbrocken aus dem Boden riss. Die Augen sind so dicht beieinander, an der Stelle ist der Schädel dünn … Ein Treffer genau in die Mitte, und ich kann ihm das Gehirn verquirlen. Nett. Und Eischnee draus machen. Wirklich nett. Dante hatte offenkundig längst denselben Gedanken gehabt, denn auch er zielte fast immer auf den Kopf; doch die Augenpartie war nun mal der Bereich, der Angriffe am allerehsten kommen sah. Als Yuri zum gefühlt hundertsten Mal losrannte, um sich mit Dante auf gleiche Höhe zu Furfur zu bringen, protestierten seine Lungen brennend gegen die unausgesetzte Überforderung. Ausruhen ging nicht – war keine Option – das Ding kriegte ihn, wenn er nur zur falschen Zeit blinzelte. Im Gegensatz dazu war Dantes Eifer noch ungetrübt. Sein teuflisches Erbe machte ihn fähig, endlose Anstrengungen auszuhalten. Er sprang und rannte immer noch wie ein Fohlen, stieß mit dem Schwert hierhin und dorthin, erwischte dabei ziemlich regelmäßig den zerzausten Körper, wenn Furfur sich herumwarf, und verpasste dem Hinterteil zusehends einen neuen Haarschnitt. Dennoch: Während er anfangs noch den Eindruck erweckt hatte, den Spaß seines Lebens zu haben, war seine Begeisterung über das fordernde Duell (Yuri konnte man nicht als Teampartner zählen, er war nur derjenige, der ständig aus dem Weg springen musste) rasch abgeklungen. Furfur hatte hier zu viel Raum, keine Begrenzung schränkte seine Bewegungsfreiheit ein. Auf diese Weise wich er leicht jedem Angriff aus. Sie kriegten ihn einfach nicht. Es war nicht so, als hätte Yuri nicht schon über Fusion nachgedacht. Sie war das Mittel der Wahl, wenn der menschliche Körper an seine Grenzen stieß. Doch bisher hatte ein gewisser Stolz ihn davon abgehalten, weil auch Dante offenbar nicht daran dachte, seinen Devil Trigger einzusetzen. Yuri erreichte seine Position, und er und Dante tauschten einen Blick. Wieder bildeten sie ein Dreieck mit dem lauernden Teufel, wieder würden sie auf ihn zuspringen, und wieder würde er weg sein und stattdessen mit seinem Geweih auf ihre Ärsche zielen. Bevorzugt auf Yuris. Doch diesmal ließ Dante sein Schwert auf dem Rücken. Auch die Pistolen blieben drinnen (er hatte die Damen schnell wieder weggesteckt, als Furfur das Dauerfeuer mit seinem Geweih in eine Salve von Querschlägern verwandelt hatte), und es kam auch kein Signal zum Lospreschen. »Was?«, rief Yuri über die Distanz hinweg, Furfur aus dem Augenwinkel beobachtend. Dante kam ein paar Schritte näher. »Lass mich was versuchen«, sagte er noch im Gehen. »Was versuchen?« Yuri schielte weiter nach Furfur, doch der wartete gierig und flammenumwabert dort, wo er war – wahrscheinlich erhoffte er sich etwas Abwechslung, doch wehe, wenn ihm die Auszeit zu lang wurde … Sie brauchten schnell einen Plan. »Bisher klappt’s nicht richtig, ich brauch einen Moment Zeit dafür«, fuhr Dante seelenruhig fort. »Kannst du ihn ablenken?« Ablenken? »Wie? Ich bin doch schon dauernd seine Zielscheibe!« »Stimmt.« Dante nahm wieder das Schwert zur Hand, die Bewegung so beiläufig wie ein Griff in die Taschentuchpackung. »Aber er darf mich nicht ansehen.« »Dein Ernst?«, stöhnte Yuri. »Wieso fus– … triggern wir nicht, dann können wir von oben –« »Ist dir nicht aufgefallen, dass meine Kugeln geschmolzen sind, als sie diesen leuchtenden Wedeln zu nahe gekommen sind? Du kannst gerne losfliegen und mitten in die –« »Nein, Mann, natürlich nicht!« Yuri knirschte mit den Zähnen. Er war der Erschöpfung nahe, nur deshalb sehnte er gerade seine dämonischen Kräfte herbei. Doch tatsächlich wusste er nicht, ob seine geistige Energie jetzt noch ausreichte, um einen längeren Kampf in Fusion durchzuhalten. Falls sich eben doch kein schneller Sieg abzeichnete. »Also, würdest du freundlicherweise kurz den Köder spielen? Das Ding ist zu schnell für uns auf offener Wiese, aber ich kann es lahmlegen, wenn es mich nicht ansieht.« Dann veränderte sich Dantes herablassender Blick, wurde ernster und eine Spur weicher. »Ehrlich, spar deine Fusionskräfte. Ich fürchte, die wirst du noch brauchen.« Yuri ergab sich. Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Du spinnst echt. Ich hoffe, dass dein Scheiß funktioniert, sonst bin ich nämlich tot.« Damit sprintete er los. Dantes leise gelachtes »Blödsinn« hörte er nur noch mit einem Ohr. Er hielt direkt auf Furfur zu, der ihn sofort mit giftgrünen, echsenartigen Augen ins Visier nahm. Das schwarze Loch, das sein Mund war, öffnete und schloss sich ein paar Mal, die beiden aus dem Torso ragenden Greifarme streckten ihre Klauenfinger. Würde toll werden, direkt in diese Umarmung zu rennen. Yuri beschleunigte; Furfur spannte sich, allmählich verwirrt über diesen sinnlosen Solo-Frontalangriff, doch noch immer zuckten zwei der abgrundartigen Pupillen hin und her zu Dante, der unbehelligt an Ort und Stelle stehen geblieben war, auf Rebellion gestützt. Na gut, dachte Yuri, als die Hitze immer näher kam. Ein Versuch schadet nicht. Wenn ihn ein Schlag auf den Schädel nicht ablenkt, dann weiß ich auch nicht, was. Er streckte die Klingen vor und holte aus, um Furfur im Sprung die Faust auf die Stirn zu schmettern. Furfur sah es, jetzt vollends überrumpelt, und konnte nicht anders: Alle vier Augen richteten sich auf den Angreifer. Dann senkte er sein Geweih – und stieß vorwärts. Ich bin tot, dachte Yuri, doch im nächsten Moment hielt die Welt plötzlich an. Zumindest dachte er das. Denn als der Wimpernschlag vorüber war, war alles … anders. Yuri war nicht tot, und Furfur war nicht länger im Begriff, ihn aufzuspießen, sondern lag im Gras. Jedenfalls kurz. Dann schnellte er hoch, flügelschlagend und vor Wut brüllend. Sein Hals blutete; ein tiefer Schnitt klaffte im Fell knapp über der Kehle, und rote Klumpen quollen daraus hervor. Yuri wich zurück und stieß gegen Dante, der wie ein Baum hinter ihm stand. »Oh, wow –« Dante schubste ihn mit einer Hand wieder in die Senkrechte und sagte fast entschuldigend: »Ich hab das schon mal besser hingekriegt.« »Was hast du gemacht?« »Die Zeit angehalten. Aber nur kurz … Der Skill ist ganz schön eingerostet. Ich mach das einfach nie.« Furfur stieß ein lärmendes Husten und Schnauben aus und verteilte sein nach Schwefel stinkendes Blut, das bei Berührung mit der Luft eine gummiartige Konsistenz anzunehmen begann, überall im Gras. Die Verletzung verwandelte seine vormals lautlosen Atemzüge in ein zähes Röcheln. Wütend senkte er wieder sein tropfendes Geweih. Seine Augen waren wieder schwarz, die Maulspalte stand offen. Seine Siegessicherheit war erschüttert: Die beiden Menschen, bis eben noch seine Spielzeuge in dieser neuen, herrlichen Welt ohne Wände, hatten ihn verwundet. Beim nächsten Treffer würde sich diese Verunsicherung in Angst verwandeln. Und Angst machte Dämonen zu den allergrausamsten Feinden. »Kannst du das noch mal machen?«, raunte Yuri, ohne sich zu Dante umzudrehen. »Nicht sofort. Das frisst ’ne Menge dämonischer Energie.« »Dann lassen wir’s und hauen einfach drauf?« »Klingt vernünftig.« »Du rechts, ich links.« »Von mir aus. Los.« Und noch einmal versuchten sie ihre alte Strategie. Diesmal trat Furfur sofort den Rückzug an, ohne Gegenangriff. Wenn er auch blutete und ächzte, seine glühenden Flügel waren intakt, und er war keine Millisekunde langsamer als zuvor. Wieder kappte Dante mit weit ausholendem Schwerthieb ein ordentliches Stück Yeti-Fell aus der Kruppe, sodass eine faustgroße kahle, leicht blutende Stelle entstand. Die nackte Haut war teerschwarz. Yuri erreichte mit den Nachtvogelklauen gerade noch das struppige Fellbündel von Schwanz und säbelte ihn halb ab. »Los, noch mal!«, befahl Dante. Yuri keuchte und gehorchte. Sein Herz hämmerte wie eine Nähmaschine. Erneut rannten sie auf die Flanken des Dämons zu, doch Furfur ließ sie gar nicht erst herankommen. Er schoss davon, als er sie kommen sah, und Yuri lief ins Leere, sah sich angestrengt nach ihm um. Mittlerweile war er so erschöpft, dass er trotz des warmen Schweißes zu frieren begann. Er hätte gleich zu Anfang fusionieren sollen. War doch klar, dass Dante die Kräfte eines Menschen nicht einschätzen konnte. Der Jäger daselbst starrte ebenfalls auf die blutige Schneise, die Furfur hinter sich hergezogen hatte. Immerhin, wenn das Ding weiter so blutete – und die Spur wurde rasch breiter, wie es aussah –, dann … »Pass auf, Hyuga!« Plötzlich waren Licht und Hitze direkt hinter Yuri. Er fuhr herum und sah nur noch, wie Furfur, turmhoch über ihm aufragend, das gähnende Loch in seinem Gesicht öffnete. Nicht nur öffnete; seine unsichtbaren Kiefer klappten auf, und dann hakte er sie aus wie eine Eierschlange. Mit einem Mal war der Spalt so riesig, dass ein Nilpferd hindurchgepasst hätte. Nur dass kein Nilpferd da war. Yuri riss den Arm hoch, als Furfur im Begriff war, das Maul über ihn zu stülpen. Die Klingen schlitzten in weitem Bogen irgendetwas auf, aber trotzdem schloss sich plötzlich Dunkelheit um ihn, eine feuchte, heiße, nach tiefstem Erdboden riechende Dunkelheit. Er will mich wirklich fressen, dachte Yuri fasziniert. Das war eindeutig ein Verzweiflungsangriff, um den extremen Energieverlust durch die Wunde auszugleichen. Die Spielzeit war unterbrochen, jetzt wurde erst mal gegessen. Schlagartig fielen ihm die Glasscherbenzähne wieder ein. Er holte wieder aus – diesmal fuhr sein Knöchel an der wabbeligen Innenwand der Maulhöhle vorbei, was ihn schaudern ließ – und schnitt sich seinen Weg ins Freie. Elastisch wie die Haut auch war, sie schloss sich nicht schnell genug um Yuri, ehe dieser unter den hängenden, bluttriefenden Hautlappen hinweggetaucht war. Jetzt hatte er wirklich gleich keine Power mehr. In null komma nichts war auch Dante da und zog Furfur Rebellion über den Schädel – oder versuchte es, denn das Biest schoss röhrend davon, lediglich einen weiteren flachen Schnitt zwischen Kopf und Hals davontragend. Yuri ließ sich rückwärts auf den Hintern fallen. Scheiße, er brauchte wirklich eine Pause. Hinter ihm ertönte ein keckernder Laut, eine Mischung aus Husten und mitleidigem Lachen. »Ihr seid wirklich das schlechteste Team, das ich je gesehen habe!«, krächzte Roger, und Yuri verrenkte sich den Hals nach ihm. Ernsthaft, da kam Roger angehoppelt, mit seinem Hut und Gehstock, als wäre er gerade im Theater gewesen. »Roger! Was zum –« »Nanu!«, rief Dante aus, doch er schaute glatt über Roger hinweg. »Ist der schon zurück von seinem Auftrag?« Yuri folgte seinem Blick und sah … Jin. »Ich dachte, das wäre eine gute Idee, da ihr so katastrophal am Scheitern seid«, erklärte Roger und rückte seinen Hut zurecht. Jin kam aus Richtung Aberytwyth über die Ebene gestürmt, als käme er zur Rettung aller unschuldig Verurteilten. Seinen Mantel trug er nicht, nur sein schwarzes Hemd, doch das war nicht der einzige Anhalt dafür, dass er vorhatte, in den Kampf einzugreifen: Seine Fäuste wären schon aus Kilometern Entfernung sichtbar gewesen, denn sie standen buchstäblich in Flammen. »Oh«, sagte Dante, einigermaßen perplex. Yuri bestaunte mit zusammengekniffenen Augen die flammenden Handschuhe, während Jin heranpreschte. Er erinnerte sich an den Namen, bevor Dante ihn aussprach. »Er hat Ifrit.« Der Teufelsjäger wirkte ehrlich erstaunt. »Er rennt damit rum.« »Du hast ihm die Dinger doch gegeben«, erinnerte Yuri. »Neunzig Prozent von mir haben damit gerechnet, dass er sich die Finger verbrennt.« »Manchmal bist du schon ein Arschloch, oder?« Dante schaute zu Yuri, dann wieder zu Jin, der mit seinen federnden Schritten die Anhöhe hinter sich ließ. Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Jin ist wirklich nicht normal.« »Überraschung, Alter.« Ein Blick Richtung Küste sagte Yuri, dass Furfur, genau wie er, den Moment zur Erholung genutzt hatte. Die zerfetzte Gesichts- und Halspartie heilte immerhin so schnell, dass man dabei zusehen konnte. Sicher – Furfur war ranghoch, er musste extrem regenerativ sein. Toll. Mit einem tiefen Atemzug stemmte Yuri sich vom Boden hoch. Seine Knie zitterten noch ein bisschen. Jin geriet in Rufweite; er behielt den Dämon im Blick, der ihn grollend aus sicherer Entfernung anstarrte und nicht erfreut war über den neuen Spieler auf dem Feld. Yuri sah Jin jetzt besser: Es sah aus, als würden sogar seine Fersen beim Rennen Flammen schlagen. Dante indes schien willens, Jin in den Schlachtplan einzubinden, denn er gab ihm ein Zeichen. Offenbar war seine anfängliche Meinung, dass Jin aus Kämpfen fernzuhalten sei, allein durch die Tatsache, dass dieser Ifrit gebändigt hatte, gründlich revidiert worden. Jin erreichte sie und kam mit einem tiefen Luftholen zum Stehen. Seine schwarzen Haarsträhnen klebten ihm an Stirn und Schläfen, und bei jedem seiner deutlichen Atemzüge sah Yuri, wie sich unter dem Hemd die Muskeln wölbten. Seine Augen hatten einen merkwürdigen Glanz, etwas von innen Glühendes, äußerst Waches. »Wie ist der Plan?«, fragte er. »Ziemlich einfach«, antwortete Dante und deutete auf Furfurs weißleuchtende Gestalt. »Ich rechts, Yuri links, du hinten.« Falls sie geglaubt hatten, dass Furfur ihren Angriff stoisch abwarten würde, dann hatten sie sich getäuscht. Der Höllenhirsch war in Bewegung, noch ehe sie sich irgendwie positionieren konnten. Er wollte nicht länger mit ihnen Katz-und-Maus spielen, hatte sein eigenes Spiel satt, seit er Dantes Schwert und Yuris Schlagklingen geschmeckt hatte. Jetzt wollte er kurzen Prozess mit ihnen machen. Mit einem kräftigen Flügelstoß griff er Yuri an, peitschte sein Geweih nach ihm. Yuri ließ sich fallen – zu viel mehr hatte er auch keine Kraft – und geriet unter die Hufe, was ihnen letztlich Beiden nicht gut tat: Ehe Yuri einen der Vorderläufe mit den Klingen ganz abtrennen konnte, rammte Furfur ihm die Hinterhufe in die Leber und sprang davon. Yuri war schwindelig vor Schmerzen, und das Blut, das ihm auf Gesicht und Brust getropft war, roch fürchterlich. Es half nichts, er musste wieder hoch. Auch wenn er ewig zu brauchen schien. Währenddessen legte sich das Vieh mit Dante an, kassierte aber nur einen frischen Schwerthieb mitten zwischen die greifenden Affenarme. Sofort stürzte es wieder davon. Wenn sie nur seine Flügel zerstören könnten … oder ihn in eine Art Begrenzung locken, wo er nicht einfach hakenschlagend in jede beliebige Richtung abhauen konnte … Als Furfur in seiner blinden Wut glaubte, auch noch bei Jin austeilen zu können, war er komplett an der falschen Adresse. Jin ließ den Angriff auf sich zukommen und wich ihm so spielend leicht aus, als könne er in die Zukunft sehen. Ständig sah er dem Biest in die Augen; anders als die Anderen hatte er auf den ersten Blick erkannt, wo Furfurs Schwachstelle war. Richtig, sein präzises analytisches Denken war gedrillt durch jahrelange Quälerei, die sein Großvater Training genannt hatte. Furfurs krustiges Geweih berührte Jin nicht, aber als er selbst eine Lücke entdeckte und sofort nutzte, saß der Treffer. Yuri kannte Ifrit. Er hatte ihn als Fusionsseele besessen, damals. Der glühende Schuppenpanzer über Jins Faust zertrümmerte die Hälfte des Hirschschädels und setzte das Geweih lodernd in Brand. Furfur bäumte sich auf und schrie, schrie so laut, dass die Erde bebte und Yuri beinahe selbst zu schreien anfangen wollte, so hilflos war er gegen die plötzliche Gewalt des Lärms. Der Schrei endete abrupt, als Rebellion wie ein Bumerang geflogen kam und mit einem ekligen Rrrratsch die zottige Kehle durchtrennte. Jetzt war es vorbei. Zumindest hatte Yuri das geglaubt. Furfur drehte sich und floh. Er stob davon, blutend, brüllend, Hals über Kopf, genau Richtung Clarach. Yuri sah, wie Dante sein Schwert wieder auffing und dem Dämon nachjagte. Jin folgte ihm, kaum langsamer. Sein eiserner Körper kannte keine Ermüdung. Doch sie würden es niemals schaffen. Yuri rannte dem dämonischen Tross etwa zweihundert Meter nach, dann hielt er an und stützte die Hände auf die Knie. Seine Muskeln zitterten wieder, und das flaue Gefühl in seinem Magen war kein gutes Zeichen. Trotzdem hatte er jetzt keine Wahl. Furfur würde in Clarach hineinkrachen wie ein Felsbrocken in einen Ameisenhaufen, und wenn sie noch irgendjemanden dort retten wollten, dann musste Yuri zu Hilfe kommen und sich weiter erschöpfen. Na gut. Mit einem tiefen Atemholen richtete er sich wieder auf, doch in diesem Moment krächzte es hinter ihm: »Yuri!« Er drehte sich um. Roger schloss hoppelnd zu ihm auf, ein kleines Flacon schwenkend. »Hier! Es ist der letzte Rest! Genaugenommen weiß ich nicht mal, ob er noch gut ist …« Yuri kannte die gelbliche, ölige Flüssigkeit in dem kleinen Fläschchen und nahm es erstaunt entgegen. »Wie? Mein Traumkraut ist so gut wie alle, aber du hast noch ’ne ganze Flasche Dope?« »Nimm es einfach!«, beharrte Roger. »Ich habe es geholt, weil ich dachte, Jin bräuchte es möglicherweise, wenn er Ifrit unterwerfen will, aber … er wollte es nicht.« Arroganter Schnösel, dachte Yuri halbherzig, jedoch dankbar, dass Jin seine Kräfte korrekt eingeschätzt hatte. Mit den Zähnen zog er den winzigen Korken aus dem Flacon und kippte den Inhalt wie einen Kurzen hinunter. Das Konzentrat klebte im Mund, wie er es gewohnt war, und hing mit seinem unangenehmen Aroma wie von schlechtem Weißwein in seinem Rachen fest; er schluckte gegen den schalen, bitteren Geschmack an, der ihn beinahe würgen ließ. Dann endlich schoss Hitze aus seiner Mitte durch seine Glieder bis hinauf in sein Hirn. Dort entzündete sie den Funken neu, ließ seinen Verstand wieder einrasten, machte ihn klar, ließ ihn mit jedem Herzschlag die Nähe der dämonischen Seelen spüren, die in ihm lebten. Er drehte sich um und ließ Roger stehen. Der Aufschrei seiner überanstrengten Muskeln verebbte, als er Amon freiließ. Sein Lieblingsteufel blühte auf wie dorniges Unkraut, öffnete die kräftigen Schwingen und stieß sich vom Boden ab, Furfurs Leuchten im Fokus seines rot pulsierenden Sichtfeldes. Gerade stürzte der sterbende Hirsch feuerpeitschend in das Küstendorf hinein. Die ersten beiden Häuser brachen, ihre Dächer knickten ein, ihre Türen purzelten einfach aus den Rahmen. Qualmwolken schwollen an, als das brennende Geweih weitere Wände zum Einsturz brachte und Dächer entzündete. Yuri hatte bereits mehrmals Orte abbrennen und ihre Bewohner sterben gesehen. Es jagte ihm einen Stachel ins Herz, Clarach in Flammen aufgehen zu sehen, fachte seinen Zorn auf das Monster weiter an; dann aber wurde ihm klar, dass niemand floh. Die Häuser schienen leer zu sein, keine Menschen stürzten schreiend daraus hervor. Wo waren die Bewohner? Er hob den gehörnten Kopf, schaute Richtung Horizont und entdeckte sie. Die Gruppe befand sich einige hundert Meter weit weg auf der Flucht, hier und da stolpernd, fallend und sich wieder aufrappelnd, doch weit genug abseits von Furfurs Inferno. Zwei schwarz gekleidete Gestalten eskortierten die Menschen, eine als Führung vorne an der Spitze, eine hinten und die Langsamsten antreibend. Von hier oben waren die Beiden unschwer zu erkennen: Ihre eleganten, taillierten Kurzmäntel flatterten, ihre Schritte waren grazil und doch energisch. Hätt man sich denken können, dass sie auftauchen, dachte Yuri. Er sah, wie die Hintere der Beiden sich von der Gruppe löste und kehrt machte, zurück Richtung Clarach. Sie beschleunigte, rannte ausgreifend direkt auf den rasenden Dämon zu. Inmitten des Dorfes überzog Furfur alles mit Flammen und Asche und schüttete sein heißes, schwefliges Blut in die Gärten aus. Der Dämon würde sterben, ja, aber er hatte fest vor, dabei so viel Schaden anzurichten wie möglich. Eine Schneise aus Trümmern riss er mitten durch den Ort, zerstampfte die Häuser, setzte alles in Brand. Yuri legte die Flügel an und ließ sich hinabstürzen. Jetzt sah er unter sich Jin, am weitesten entfernt, aber mit gleichbleibend ausgreifenden Sprüngen im Anmarsch, während seine Fäuste und Fersen rotes Feuer spuckten. Näher dran war Dante. Er hatte inzwischen sehr wohl getriggert: Seine rotgekleidete Gestalt war überlagert von einer funkelnden Dunkelheit, er rannte viel zu schnell für einen Menschen und strömte dabei Macht aus wie Furfur Angst. Yuri war wütend. Die ganze Zeit über hatten sie sich zu dumm angestellt, den Dämon zu erledigen, und nun richtete er das Dorf zugrunde. Jetzt endlich hatten sie die Stärke, das Monster geradezu unter ihren Sohlen zu zertreten, doch jetzt war es zu spät. Yuri hasste sich dafür. Er ging noch tiefer. Es war Zeit, Furfur den Garaus zu machen. Der Hirsch schmetterte sein Geweih in ein weiteres reetgedecktes Dach. Seine Augen waren weit, rot und pupillenlos, das ekelhafte Maul offen wie ein gähnendes Loch. Die rudernden Arme rissen Mauern ein und Zäune nieder. Es genügte ihm nicht, einfach nur alles zu entflammen und niederzutrampeln. Inzwischen hatten seine Wunden zu heilen begonnen, sogar die zerschlitzte Kehle hatte aufgehört, alles mit Gummischleim vollzubluten. Doch der Schaden war angerichtet: Er würde keine weitere Attacke von Dante, Yuri oder Jin überleben. Yuri setzte in dem Moment auf, als auch Dante Furfur einholte. Der Dämon sah sie beide und bäumte sich auf, um mit den Flammenflügeln zu schlagen; doch diesmal, inmitten von Trümmerteilen, konnte er sich nicht frei bewegen. Er stieß vor und mitten in Dantes massive Schwertklinge. Seine Flanke klaffte auf. Dantes Devil Trigger verlosch, seine dämonische Energie war für den Moment zu Ende. Auch Yuri, auf einem schwelenden Dachfürst kauernd, sammelte sich und streifte Amon von sich ab. Er brauchte die Kontrolle, unbedingt, und die Fusion hatte bereits einen Großteil seiner physischen Kraft wiederhergestellt, den er nutzen konnte. »Links!«, rief Dante. »Ich weiß!« Diesmal würde es funktionieren. Furfur sah sie gleichzeitig auf ihn zuspringen. Kaum zwei Sekunden lang fand er sich eingekeilt. Sekunden, die ausreichten. Yuri schlug zu, stieß die Nachtvogelklauen tief in den rußverdreckten Pelz. Auf der anderen Seite versenkte Dante Rebellion seitlich im Brustkasten des Ungetüms. Sie hatten ihn. Yuri empfand ein ungewohnt heftiges Gefühl von Triumph, als Furfur unter ihnen erschauderte. Blut quoll zwischen seinen verkrampften Fingern hervor, lief über die Schlagringe und in das Fell. Er wollte die Messer herausziehen – – und es ging nicht. Oh. Gummi … Über seinem Kopf schlugen die segelartigen Flügel zusammen, der heiße Luftstoß versengte ihm fast das Haar. Von Furfurs anderer Seite erklang ein unwilliges Knurren, das auf Dantes identische Situation schließen ließ. Dann ging die Reise los. Phantastisch. Sie hatten ihre Klingen in Furfur gesteckt, und da steckten sie nun. Der Dämon donnerte mit ihnen über die Ebene, hinauf zu den Klippen, und Yuri umklammerte seine Schlagringe noch fester, falls das möglich war – denn jetzt abzuspringen oder gar abzufallen war sicher keine gute Idee. Mühsam presste er die Sohlen gegen die harte Flanke. Sie war glitschig von Blut, das zu allem Überfluss auch noch an ihm zu kleben begann. Der Fahrtwind brauste ihm um die Ohren. Aus Furfurs Brustkasten drang ein tiefes, dröhnendes Lachen. »Sohn von Sparda, Gottesschlächter … Ihr werdet mit mir sterben.« Diesmal kam keine markige Retour von Dante. Sie erreichten die Klippen. Yuri sah das offene Meer jenseits der schroff abfallenden Felskante glitzern. »Selten wurde unserer Welt ein größerer Dienst erwiesen«, grollte das stinkende Biest selbstzufrieden. »Ich opfere mich für das höhere Ziel. Mein Körper wird den ganzen Ozean in Säure verwandeln.« Na, wenn das nicht rosige Aussichten waren! Dante auf der anderen Seite riss noch einmal an seinem Schwert, und Yuri fühlte den Körper unter sich rucken. Furfur schwankte und fing sich. Dante wiederholte das Manöver; Rebellion blieb stecken, als wäre das Fleisch aus Kunstharz, doch der Dämon geriet erneut ins Taumeln, diesmal stärker. Er drehte sich in ein paar Sprüngen auf der Stelle – Yuri hatte das Gefühl, ihm würde gleich schlecht werden – und stoppte, die Yuri-Seite zum Festland gekehrt, die Dante-Seite zum Klippenrand. Heilige Scheiße, wenn er jetzt bloß nicht das Gleichgewicht verlor und abstürzte! Wasser in Säure verwandeln? Als könnten Menschen allein nicht schon genug Umweltkatastrophen verursachen! Furfur versuchte, sich dem Meer zuzuwenden. Dante kämpfte dagegen an wie Don Quixote gegen die Windmühlen. Keine Chance. Furfur rammte die Hufe ins Gras und fing sich. Yuri fühlte die heißen Flügel wieder näherkommen … … Aber dann, plötzlich, war Jin da. Er kam die Anhöhe hinaufgestürmt, ohne sichtbare Mühe, die Augen kalt und schimmernd. Falls Yuri je daran gezweifelt hatte, dass Jin Toshin mit bloßen Händen erschlagen hatte, so glaubte er es jetzt ganz sicher. Ganz egal, ob Jin ein Teufelsgen oder Teufelsblut hatte, er war absolut fähig, einen Teufel zu töten. Mit einem geschmeidigen Sprung griff er Furfur frontal an, die Faust mit dem flammenden Handschuh absolut präzise auf ihr Ziel gerichtet. Mit einem schrecklichen glitschigen Krachen traf Ifrit auf Furfurs Augenpartie und durchbrach den Schädel. Blut und Knochensplitter explodierten, als hätte jemand in einem Kürbis eine Dynamitstange gezündet. Der tierische Schrei aus der Kehle des Teufels schwoll an, verlor sich jenseits der hörbaren Frequenz. Dann entwich dem Körper alle Spannung. Furfur wabbelte seitwärts wie ein Sack Schmalz, ehe seine Beine endlich einknickten. Sein Körper sank zusammen – fiel auf die Seite. Wummmms. Er fiel nicht von der Klippe. Doch sein letzter Flügelschlag erwischte Dante und fegte diesen an seiner Statt über den steil abfallenden Rand. Dantes überraschter Aufschrei verlor sich rasch im tobenden Wind. Indes ragte Rebellions Klinge blutüberströmt direkt neben Yuri aus dem sich schwarz verfärbenden Körper und fiel, als das Fleisch zu Asche wurde, mit einem weichen Aufschlag längs ins Gras. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)