Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 49: Akt XIII - Der verbotene Ort: 17-1 ---------------------------------------------- 17-1: JIN Jins verschütteter Verstand erhob sich aus der Dunkelheit. Er wusste nicht, wo er war. Dieser Ort fühlte sich unwirklich, falsch an. Diffuse Dunkelheit umgab ihn, Schatten umglitten ihn wie ein dunkler Schleier, in dem er sich verheddert hatte. Nicht einmal sein Körper fühlte sich real an. Er sah an sich hinunter, konnte alles sehen – das halb aufgerissene, schweißfeuchte Hemd, die schlammverkrusteten Schuhe, in die sich die Nässe hinaufgezogen hatte – alles war, wie es sein sollte. Und fühlte sich doch nicht so an. Er wusste, wann er sich zuletzt so gefühlt hatte: in seinem Traum. Erst in dem, den ihm Azazel gezeigt hatte, dann in dem, in dem er sich selbst und Yuri hatte sterben sehen. Vielleicht wäre es ein und derselbe Traum gewesen, am Ende. Vielleicht ging hier alles zu Ende. Jäh teilte sich die Finsternis. Jin sah, wie sich Schemen aus dem Grau erhoben, niedrige, reglose Umrisse. Und dann wusste er, wo er war. Noch ehe die Grabsteine in einem Licht, für das es keine Quelle gab, vollständig sichtbar wurden, spürte Jin Yuris Präsenz auf sich herabsinken. Er war an einem Ort, an den er nicht gehörte; er war in eine Privatsphäre eingedrungen, das schlimmste Verbrechen einem Anderen gegenüber; er sah das Innerste, Böseste und Verletzlichste eines Menschen zugleich. Seine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen. Er gehörte hier nicht hin. Und doch war er hier – auf dem Friedhof, wo Yuri die Seelen seiner erschlagenen Feinde begrub, damit sie ihn nicht hinunter in die Hölle zogen. Als er die stummen, gespenstischen Reihen der Gräber umwanderte, entdeckte er in der Ferne einen kleineren, sich deutlich abhebenden Stein und ging auf ihn zu. Auf den übrigen glommen unleserliche Runen, sie trugen Spuren von Verwitterung und sogar Krallenspuren an den Kanten; doch dieser kleine Grabstein war unversehrt, hell, oben gerundet, fast freundlich in seiner stillen Erscheinung. Auf ihm stand: Ruhe in Frieden, Alice Elliot. Jin spürte eine tiefe Trauer von sich Besitz ergreifen. Sie wallte von unten herauf und vereinnahmte ihn so sehr, dass er beide Hände vor die Augen schlug, die sich so schnell mit Tränen füllten, dass schon das erste Blinzeln sie zum Überlaufen brachte. Alice lag hier begraben, weil Yuri selbst ihren Tod verursacht hatte. Wann immer er den Weg zu seiner Reinigung antrat, musste er an ihrem Grab vorübergehen, diesem Zeugnis seines Versagens, sie zu beschützen. Zu schützen vor seiner eigenen dunklen Macht. Jin nahm sich zusammen und schob das fremde Gefühl von sich. Zu weinen war nicht üblich für ihn. Es war passiert, weil diese Erkenntnis ihn unvorbereitet getroffen hatte, doch der Moment war schnell vorüber. Er selbst wusste schon lange nicht mehr, was Liebe war; er hatte sie jetzt nur gefühlt, weil dies hier nicht sein Erleben war. Oder … nicht nur seines. Er ließ den Hemdärmel die unwillkommene Nässe aufnehmen und setzte seinen Weg fort. Im Vorbeigehen berührte er den kleinen Stein behutsam, und er war warm unter seinen Fingerspitzen. Vor ihm tauchte ein neues ursprungsloses Licht auf. Ein Licht, das ein Rondell aus verschlossenen Türen beschien. Dunkel und bedrohlich umkreisten sie den Raum, aus dem es keinen Weg hinaus zu geben schien. In der Mitte – im Zentrum des sonderbaren Lichtscheins – ragte ein Baum auf. Er schälte sich nur langsam aus dem Nichts, doch je näher Jin kam, desto klarer wurde seine Form, die zerfurchte Rinde, das Fehlen einer Astkrone. Der Stamm war riesig, in der Basis breit wie ein Mammutbaum, und eine senkrechte Mulde schien ihn fast in zwei Hälften zu teilen. Jin hörte ein leises, verzerrtes Lachen aus dieser Mulde. Ein Lachen, das irrsinnig klang, jedoch seltsam vertraut war, weil er die Stimme dahinter kannte. Tapfer beschleunigte er seinen Schritt, sodass die abgewandte Seite des Baumes in Sicht kam – und dort war Yuri. Er lehnte rücklings am Stamm, mitten in der Furche, die Arme nach hinten gestreckt, als wollte er den Baum rückwärts umarmen. Sein Kopf war vornüber gebeugt, und seine Schultern bebten unter dem gequälten, verstörenden Lachen. Vorsichtig sprach Jin ihn an: »Yuri?« Er überlegte, wann er ihn zuletzt bei seinem Namen genannt hatte. Vielleicht noch nie. Yuri hob den Kopf. Er schien nicht allzu überrascht, Jin zu sehen. »Oh, da bist du ja! Was sagst du hierzu? Was sagst du dazu, dass du hier bist?« Seine Augen glitzerten. Wie in Trance ging Jin weiter auf den Baum zu. »Du hast … meine Seele an deine …« »Ja!«, sagte Yuri voll irrsinniger Begeisterung und klammerte sich weiter an die zerfurchte Rinde hinter seinem Rücken. »Ja! Es ist das erste Mal, dass ich das ohne fremde Hilfe geschafft habe! Und das ist der Weg, auf dem ich Alice retten werde. Indem ich sie und mich hierher bringe. Wenn der Gott des Todes kommt, um sie zu holen … dann werde ich ihm in die Eier treten.« Er kicherte. »Das werde ich machen.« »Yuri …« »Ja, ich hab deine Seele hierhergeholt, gern geschehen, fühl dich wie zu Hause.« Erneut brach Yuri in Gelächter aus, das jedoch schnell müde verebbte. »Tut mir Leid, Jin … Du ahnst nicht, was für ein Durchbruch das für mich ist.« »Yuri, Alice ist tot«, sagte Jin hart. »Wir haben andere Probleme, jetzt in diesem Moment!« »Sie wird erst an dem Tag tot sein, an dem ich nicht zurückkehre. Und ich werde zurückgehen. Ich werde sie holen.« »Yuri«, wiederholte Jin ungeduldig und fasste ihn an der Schulter. Erst da sah er, dass Yuris Arm sich nicht von dem Stamm lösen ließ. Verblüfft folgte er den gestreckten Fingern mit dem Blick und sah, was dort war: Ketten. Mehrere blau glänzende Eisenketten fesselten Yuri an den Baum, liefen über seine Mitte und um seine Handgelenke. »… Aber … Was …« Yuri lachte unglücklich. »Oh, ja … Die kennst du, oder?« Natürlich kannte Jin diese Ketten. Sie waren ihm beschrieben worden, aber er hatte sie auch selbst gesehen – als er Devil Jin gesehen hatte, als unsichtbarer, ohnmächtiger Zuschauer. Es waren die Ketten, die Devil Jin seit seinem ersten Amoklauf immer trug. Jene unwirklichen Fesseln, die ins Nichts führten, als hielten sie den Dämon an einem unbekannten Ort im Jenseits fest. »Aber – warum trägst du sie? Was soll das bedeuten?« Zorn wallte in Jin auf. Zorn darüber, noch immer keine Kontrolle zu haben, keine Antworten zu finden. Er saß hier offenbar fest, in Yuris persönlicher Hölle, und ausgerechnet Yuri konnte ihn nicht führen. Wer, zum Teufel, sollte es sonst tun? Yuri hob den Kopf. »Guck mal nach oben«, sagte er ernst. Jin folgte seinem Blick. Ihn schauderte, als er sah, was den Schatten über Yuri warf, was dort über ihnen aus dem Stamm wuchs – nicht etwa nackte Äste, wie er angenommen hatte, sondern – und er glaubte, dass es sich erst jetzt klar für seine Augen herauskristallisierte – ein Körper. Yuris Körper, ein zweiter. Schattenumwabert ragte die Gestalt aus dem Stamm, bis zum Nabel im Holz versunken, stumm und völlig reglos. Dieser Mensch war Yuris Ebenbild, doch seine Augen waren geschlossen, die Lippen farblos, das Haar hing herab, von einem kaum fühlbaren Atem sacht bewegt. Er schlief. »Was ist das?«, hörte Jin sich tonlos fragen. »Keine Ahnung.« Doch Yuri log, denn er fügte vorsichtig hinzu: »Ich glaube, das hier ist … mein … Seelenbaum.« Unverwandt starrte er nach oben, ins Gesicht seines schlafenden zweiten Ichs. »Er ist hier, seit ich mit der Mistel verflucht wurde.« Jin wollte es nicht ansehen. Er wollte nichts von dem hier ansehen. In seinen Muskeln fühlte er immer wieder feine Erschütterungen, als zupfte etwas an seinen Nervenenden – Bewegungen, die jemand anders für ihn ausführte. Mit trockener Kehle fragte er: »Du bist mit Devil fusioniert, nicht wahr?« »Ja«, sagte Yuri matt. »Aber du … kontrollierst ihn nicht.« »Nein.« Schwach bewegte Yuri die Schultern, chancenlos gegen den Halt der protestierend knirschenden Ketten. »Jedes Monster, mit dem ich fusionieren will, muss ich zuerst unterwerfen. Geht aber nicht, wie du siehst. Ich bin der Letzte, der hier irgendwas kontrollieren kann.« »Aber dann müssen wir irgendwas tun! Wo bin ich währenddessen?« »Du liegst irgendwo nutzlos in der Gegend. Dein Körper, meine ich. Du bist weggetreten, so wie ich immer, wenn ich hier bin.« »Dann lass mich gehen!« »Ich kann nicht«, sagte Yuri nachdrücklich. »Devil klebt nicht nur an deinem Körper, er klebt auch an deinem Geist! Ihr seid nicht trennbar, nicht so. Ich bin ja nicht mit dir fusioniert, und trotzdem bist du derjenige, der hier die Macht hat, nicht ich!« Jin starrte ihn an. »Die Macht?« Yuri riss an seinen Ketten. »Du hast mich gefesselt, Mann – nicht Devil, nicht Azazel – du!« Jin brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten. Das ergab keinen Sinn. Wieder fühlte er das Aufflackern von Wahrnehmungen, die von außen hereindrangen. Devil kämpfte – er war ohne Kontrolle, wie immer, niemand hinderte ihn an seinem Toben. »Du … kannst Devil nicht unterwerfen, weil ich dich daran hindere?« »Richtig!«, sagte Yuri mit verbissener Geduld. »Merkst du nicht, was sein Körper macht? Was mein Körper macht? Du bist immer noch mit ihm verbunden, du erhältst das Ganze aufrecht, weil alles, was du hier siehst, aus meinem Geist in deinen fließt. Gruselig, was? Wir sind eine Seelensuppe, du und ich. Und du hältst mich gefangen, weil du –« Seine Stimme wurde plötzlich leiser und schwerfällig. »– weil du mir nicht vertraust.« Jin fühlte Angst nach seinem Herzen greifen. Dieselbe Angst wie immer. Ihr Name war Ohmacht. »Was meinst du damit? Was soll ich tun, damit du freikommst?« »Einfach aufhören, dich vor mir zu fürchten.« Yuri sprach wie zu einem dummen Kind. »Ich weiß nicht, wie!« »Das ist ein Problem.« »Wo ist Devils Seele, die wir unterwerfen müssen? Sein Geist? Wo ist … er?« »Dreh dich um.« Jin gehorchte. Vor ihm, dem gefesselten Yuri gegenüber, erhob sich die größte Tür von allen im Raum: ein hohe, zweiflüglige Doppeltür. Sie ähnelte auf groteske Weise der Tür zum Devil May Cry, nur düsterer, wie ein unheimlicher Zwilling. Alles, was du hier siehst, erschaffst du selbst … Jin erinnerte sich an die irrationale Angst, die Devil damals vor Dante empfunden hatte. »Du kennst diese Tür, nicht wahr?«, wandte sich Jin wieder an Yuri. »Sie sieht anders aus, aber du bist schon durchgegangen.« Yuri nickte ernsthaft. »Hinter ihr hatte ich den Seraphischen Glanz eingesperrt. So lange, bis ich durchgegangen bin und mich ihm gestellt habe. Diese Tür ist die stärkste von allen. Sie wird dich zu Devil bringen, wenn du es willst. Hinter dieser Tür kannst du dem Dämon, der dich quält, in einem fairen Kampf gegenüber treten.« Leiser, fast flüsternd, ergänzte er: »Aber manchmal … manchmal bist der Dämon du selbst. Deine eigene Angst, der du Gestalt geben kannst … und musst, um sie kleinzukriegen.« Jin wusste nicht, ob er verstand, was Yuri damit meinte. Was genau erwartete ihn hinter dieser Tür? Devils wahre Seele, oder … nur ein Schatten davon, sein eigener, in Form gegossener Alptraum? »Beides«, sagte Yuri leise. »Beides.« Jin merkte, dass seine Hand an seinem Hemdkragen zog. Seine Kleidung fühlte sich plötzlich zu eng an. »Was passiert, wenn ich verliere?«, fragte er. »Sterbe ich?« »Nein. Das ist kein Kampf auf Leben und Tod, Jin. Es ist ein mentaler Kampf. Ein Kampf der Willenskraft, ein Kampf um die Oberhand. Wenn du verlierst, dann … wirst du nicht tot sein, aber … es wird dir dreckig gehen.« Yuri betrachtete ihn nachdenklich. »Das sind Wunden der anderen Art. Aber auch die heilen wieder, irgendwann.« »Was nützt mir das?«, fauchte Jin. »Devil läuft Amok, jetzt gerade. Besiegt er mich, wird er für ziemlich lange Zeit freie Bahn haben, ist es nicht so?« Yuri schwieg, die Augen abgewandt. »Mein Plan«, begann er dann, »war, dass wir gemeinsam gegen ihn kämpfen. Das, was ich mit Alice vorhabe, wollte ich auch mit dir machen. Ein Tag-Team-Match, sozusagen … Hätte bestimmt besser geklappt als mit Dante vorhin.« Seine Mundwinkel zuckten im Anflug eines traurigen Lächelns. »Aber nein, du lässt nicht zu, dass ich eingreife.« Er hob die Schultern, die Ketten rasselten leise. »Damit ist mein Plan im Arsch. Ich hab nicht eingeplant, dass wir verlieren, Jin. Dass du verlierst.« Jin fühlte ein Schaudern durch seine Glieder laufen, als er sich wieder der monströsen Doppeltür zuwandte. Von ihr ging ein Schrecken aus, den er nur aus seinen Träumen kannte, denjenigen, die regelmäßig Devil getriggert hatten. Als er die Hände zu Fäusten ballte, waren sie kalt. Das Frösteln ließ die feinen Härchen auf seinen Armen sich aufrichten. »Jin«, sagte Yuri hinter ihm. »Ich hab beschissenes Zeug gelabert, damals. Hab so getan, als würdest du’s nicht hinkriegen, wärst nicht stark genug, als gäb’s keine Hoffnung für dich, und so.« »Wahrscheinlich hattest du Recht«, entgegnete Jin teilnahmslos. Er drehte sich nicht um. »Nein, eben nicht. Das war Schwachsinn. Du hast Toshin getötet. Du hast Furfur getötet. Bestimmt wollte Dante dich verarschen, als er das gesagt hat, aber du bist ein Dämonenjäger. Was sollte an Devil anders sein? Wenn du ihn jetzt vor dir siehst, ist er nicht mehr in deinem Kopf. Du kannst ihm einfach deine Faust in die Fresse donnern. Die Faust, mit der du dieses Tekken-Turnier gewonnen hast! Du bist der fähigste Martial-Arts-Kämpfer der Welt, du hast irgendwo ’ne Urkunde, wo das draufsteht! Devil ist nur ein Ding in deinem Kopf. Erledige ihn! Du hast jetzt die Gelegenheit dazu, es gibt nur diese Art und Weise, die Sache zu beenden!« Yuri holte tief Luft. »Mach die verdammte Tür auf, Jin.« Jin starrte auf den Türspalt. Millimeter für Millimeter wurde er breiter, eine schwarze Spalte, doch plötzlich drang Licht hindurch. Jins Herz begann schnell und hart zu pochen. »Ich habe keine Waffe«, flüsterte er, die nackten Fäuste verkrampft. »Doch, doch. Deine Vernunft.« Jin schloss die Augen und öffnete sie wieder. Dann glitt die riesige Tür geräuschlos vor ihm auf. Er hatte Dunkelheit erwartet, doch was er sah, war Licht. Blätter rauschten und raschelten, als er über die Türschwelle auf die Waldlichtung trat. Sanft glitten die Sonnenstrahlen durch das satte Grün, Vogelstimmen erfüllten die frühlingshafte Luft mit einem Klangteppich, der Jins Herz vertraut war. Atemlos stand er auf der Türschwelle. »Was … ist das hier … und wo?« Yuri hinter ihm antwortete ruhig: »Das ist meine Heimat. Katsuragi, der Wald des Windes.« »Katsuragi.« Jin ließ den Blick schweifen und nahm dabei ehrfürchtig die schlichte Schönheit des Ortes auf. Er hatte nicht gewusst, dass auch Yuri ein Kind der Wälder war; er hatte es nie erwähnt. »Es ist, als … würde ich es kennen, aber ich war noch nie hier. Es sieht ganz anders aus Yakushima.« Und dennoch war etwas im Rauschen des Windes und im sanften Flattern der Blätter, das zu seinem Herzen sprach, zu einem Teil davon, den er in der letzten Zeit kaum noch wahrgenommen hatte. In einem Traum, dachte er, war ich hier … »Geh weiter«, ermunterte ihn Yuri. Jin ging. Beherzt trat er vorwärts, dorthin, wo die dicht stehenden Bäume sich zu teilen schienen. Dort hielt er abrupt an. Mitten auf der Lichtung stand seine Mutter. Ihre dunklen Augen ruhten ruhig auf ihm, als er auf sie zuhielt. Diesmal blendete ihre Anwesenheit ihn nicht; er wusste, dass sie noch immer bei ihm war und ihn behütete, dass ihr Blut, das er geerbt hatte, das Kazama-Blut, seine Seele all die Jahre lang vor Devils Zugriff geschützt hatte. Seine Mutter war der Grund, warum er nicht längst ein Monster war wie sein Vater. »Auch das ist eine Eigenart dieses Ortes, nicht wahr?«, hörte er sich sagen. »Aber ja.« Sie lächelte wissend. »Wem ist Yuri hier begegnet? Wer hat die Hand über ihn gehalten, als er gegen den Seraphim kämpfte?« »Sein Vater«, antwortete Jun Kazama. »Jinpachiro Hyuga.« Jin verstand. Er nickte. »Du weißt, warum ich hier bin – an einem Ort, an den ich nicht gehöre.« »Du gehörst an diesen Ort«, erwiderte Jin. »Ich erschaffe diesen Ort.« Er hob die Hand und berührte eines der sonnenwarmen Blätter. »Yuris Kopf ist der Ort, an den ich nicht gehöre. Er stellt ihn mir zur Verfügung, damit ich mich Devil stellen kann.« Jun öffnete ihre Arme, und das Licht malte Kreise auf ihre weiße Haut. »Ich kann dir nicht helfen, Devil zu unterwerfen«, sagte sie sanft. »Ich kann dich nur testen. Deine Stärke, deinen Willen. Ich kann dich nicht auf das vorbereiten, was geschehen wird.« »Du bist ein Filter in meinem Verstand«, stellte Jin fest. »Ein Filter, den ich überwinden muss, um zu dem vorzudringen, das … mich wirklich zerstören kann.« »Bist du bereit dazu?« »Welche Wahl habe ich?« Sie antwortete nicht; sie blickte nur stumm, und dann schloss sie ihre Hände zu Fäusten und hob sie vor die Brust. Jin erinnerte sich nicht mehr an seinen letzten Trainingskampf gegen seine Mutter. Es war zu lange her, die Erinnerung tief begraben, vom Trauma verschüttet. Und doch wusste er, wie sie ihn angreifen würde. Wusste, wie sie ihre Füße stellte, ahnte jede ihrer geschmeidigen Bewegungen. Er war noch ein Junge gewesen damals: fünfzehn, halbstark, nicht größer als sie, mit schlaksigen Gliedmaßen und zu viel ungerichteter Kraft hinter jeder seiner Aktionen. Nun war er erwachsen. Er war größer, muskulöser, durchgymnastiziert und voll kontrolliert. Er lenkte ihre Schläge ab, als wären sie Federn, die auf ihn zuschwebten. Jun war schnell, behände wie eine weiße Füchsin, doch er kannte sie. Wäre sie noch am Leben, wäre es sicher anders – dann hätte sie sich ebenso weiterentwickelt und verändert wie er –, doch sie war es nicht; die Jun Kazama, gegen die er kämpfte, war Teil seiner Erinnerung. Er dominierte dieses Duell. Auch wenn sie ihn gelegentlich traf, richteten ihre Treffer keinen Schaden an. Der Schmerz war weich und vergänglich. Unermüdlich wehrte er sie ab, ihre fast perfekte Deckung scharf beobachtend. Der Kazama-Stil war ein defensiver Kampfstil; sie kämpfte nicht offensiv, nicht aggressiv. Er jedoch hatte von Heihachi gelernt, Verteidigung in Angriff zu verwandeln. Das Einzige, was er tun musste, war, diese Technik gegen sie einzusetzen – gegen seine Mutter, die ihm nichts mehr beibringen konnte, nicht damals und nicht heute. Kein Zaudern hielt ihn auf. Er durchbrach ihre Deckung, doch anstatt sie ins Gesicht zu schlagen, was der nächste logische Zug gewesen wäre, stieß er sie hart gegen die Brust, dicht unter dem Schlüsselbein. Die Wucht schleuderte sie rücklings zu Boden. Er sah, wie sie mühsam Luft holte und den Oberkörper aufrichtete. Schatten spielten auf ihrer weißen Bluse, Schatten, die sich mit ihrem angestrengten Atem bewegten. Endlich schüttelte sie langsam den Kopf. »Es gibt nichts mehr für mich zu tun«, sagte sie zärtlich, doch zugleich bedauernd. »Den nächsten Schritt musst du allein gehen, Jin. Wie Oberst Jinpachiro den Weg für Yuri freigemacht hat, werde ich deinen für dich freimachen.« Sie stand auf – kein Blatt, kein Staubkorn haftete an ihr – und sah ihm fest in die Augen. »Geh, Jin.« Dann begann ihre Gestalt sich zu verändern. Dunkelheit senkte sich über den Wald. Ein kalter Wind ließ das Blattwerk erzittern. Jun Kazamas weiß leuchtende Erscheinung verwandelte sich, während es um sie herum immer finsterer wurde. Ihre Augen glühten auf, das Einzige, was die Schatten noch durchleuchtete; dann wurden die Umrisse wieder klar, und eine vertraute, große, kräftige Gestalt schälte sich aus der Finsternis. Schwarze Flügel öffneten sich und legten sich dann über dem Rücken zusammen. Erst glaubte Jin, es wäre Devil. Der Dämon in seiner Reinform, das, was Devil wirklich war. Dann jedoch erkannte er die menschliche Gestalt. Den muskulösen Rumpf, den schwarzen, charakteristischen Haarschopf. Da glaubte er, es wäre Kazuya, sein Vater, in seiner eigenen, schrecklichen Transformation. Doch als auch dieses Trugbild abfiel, sah Jin endlich, wem er wirklich gegenüber stand: Was er für Kazuyas Konturen gehalten hatte, waren seine eigenen. Devil Jin war zerzaust und schmutzig, er trug Jins nasse, halb zerfetzte Kleidung; alles war identisch, wie bei einem grotesk verzerrten, grausigen Spiegelbild. Zum ersten Mal begriff Jin, wie unfassbar ähnlich er seinem Vater sah. Devil Jin zog die Lippen auseinander und grinste ihn spitzzähnig an. Ja, er war unverkennbar, sein Angst erweckendes Antlitz ganz und gar dasselbe: die Hörner, die zackigen schwarzen Linien auf der Brust, die schwarz befiederten, bläulich schimmernden Flügel … Alles war, wie Jin es aus seinen Alpträumen kannte. Nur ein Detail fehlte, und das war die schwere Kette, die ehemals um Devil Jins Hüften gelegen hatte. »Hast du erwartet, sie könnte mir hier etwas anhaben?«, fragte sein teuflisches Alter Ego. »Hier gibt es nichts, das mich fesselt.« Er fuhr sich mit einer langen, blassen Zunge über die Lippen. Seine krallenbewehrten Hände öffneten sich, und Licht begann in ihnen zu pulsieren. Gleichzeitig leuchtete unheilbringend das dritte Auge auf seiner Stirn auf. »Willkommen in der Hölle, Jin Kazama. Fühle den Zorn des Teufels.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)