Under Our Wings von BuchTraumFaenger ================================================================================ Kapitel 5: 5. Ein Hoffnungsschimmer ----------------------------------- „Shen schien eine geringe Schmerztoleranz zu besitzen (obwohl er ein erfahrener Meister des Kung-Fu und der Schwertkunst war), denn als die Wahrsagerin eine seiner kleinsten Daunenfedern ausriss, schrie er hörbar auf und zog seinen Flügel zurück, während er so tat, als ob er schwer verwundet worden wäre.“* (kungfupanda.fandom.com/wiki/Shen) * frei übersetzt ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Im Raum war es dunkel, obwohl es draußen heller Tag war. Dennoch konnten die beiden Pfaueneltern kein Risiko eingehen. Draußen war die Stadt in Feierlaune, und man konnte nicht sagen, ob nicht doch ein aufgeregter Nachbar durchs Fenster spähen würde. Vor jedem Loch hatten sie ein Tuch oder eine Decke vorgehängt, damit auch wirklich niemand sie beobachten konnte. Das einzige Licht, was in dem Haus leuchtete war eine Laterne, die von Lady Ai schweigend über zwei andere Pfaue in einer einsamen Ecke gehalten wurde. Es war ein improvisiertes Bettlager neben dem Esszimmer, wo eigentlich die Abstellkammer lag. Aber man konnte sie gut mit einem Vorhang abtrennen. Falls jemand unerwartet ins Haus kommen sollte, würde er den weißen Kriegsherrn, der jetzt von jedem für tot erklärt wurde, nicht sofort entdecken. Besonders da Shen sich gegen niemanden zur Wehr setzen konnte. Er war immer noch bewusstlos, eingebettet auf einem Kissen und Decken, die teilweise mit Blut befleckt waren. Dennoch hob sich seine weiße Gestalt kaum von dem weißen Stoff ab und verlieh ihm ein gespenstisches Aussehen. Sein zerrissenes Gewand lag durchgeschnitten, aber zusammengefaltet auf dem Boden. Liang, der neben seinem Sohn am Bettlager kniete, gab sich große Mühe die Holzsplitter mit einer Pinzette oder mit dem bloßen Flügeln herauszubekommen. Die meisten waren zum Glück nicht tief. Selbst am Kopf hatten sie nicht die Schädeldecke durchdrungen. Dennoch konnten beide nur darum beten, dass das Gehirn keinen Schaden davongetragen hatte. Liang drückte die Pinzettenenden zusammen und zog den nächsten kleinen Holzsplitter aus Shens Kopf heraus. Shens Gesichtsmuskeln zogen sich extrem zusammen, was Ai wiederum das Herz zusammenzog. „Guter Junge“, sprach Liang leise auf seinen Sohn ein. Anschließend wusch er kurz die Wunde aus und wandte sich der nächsten zu. Die Pfauenhenne seufzte schwer. Ab und zu bildenten sich Tränen in ihren Augen. Sie konnte es nicht ertragen ihren Sohn so zu sehen. Schon seit seinem ersten Atemzug war er ein sonderbares Kind mit seiner Gesundheit gewesen. Wie oft hatte sie an seinem Krankenbett Wache gehalten. Und jetzt, wie er so da lag, schnürte es ihr die Kehle zu. „Ai?“ Die Pfauenhenne zuckte zusammen, als ihr Ehemann ihren Namen rief und mit dem Flügel winkte. „Mehr Licht.“ Gehorsam beugte sich die Pfauenhenne mit der Laterne weiter vor. Von außen reagierte sie nur, innerlich waren ihre Gedanken nur bei ihrem Sohn. Aber vielleicht erging es Liang auch nicht anders, der gerade darum bemüht war ein besonders großes Holzstück zu begutachten, dass sich in Shens Flügel reingebohrt hatte. Nachdenklich betrachtete der Vater das Holzgeschoss und schob die Federn beiseite, um zu sehen wie das Stück Holz in der Haut steckte. Es war nicht so einfach, da das Blut teilweise schon geronnen und die Haut mit den Federn verklebt war. Liang nahm ein Tuch zur Hand, tunkte es in eine Schüssel mit warmem Wasser und strich über die betroffene Stelle. Das Blut löste sich und gab den Blick auf die Haut frei. Ai reckte den Hals. Es tat ihr zwar weh die vielen Verletzungen zu sehen, doch sie wollte wissen, was ihr Sohn hatte. „Und?“, fragte sie. „Wie schlimm ist es?“ „Der Knochen ist noch heil“, beruhigte Liang sie. „Es steckt nur in der Hautfalte fest. Wird aber nicht so leicht herauszukriegen sein. Ich muss den Flügel wohl etwas anschneiden.“ Mit diesen Worten nahm der Pfauenvater ein kleines Messer zur Hand. Ai sah nur mit einem Auge dabei zu, wie er sachte die kleine Operation durchführte. Liang hatte zwar kein Medizinstudium absolviert, hatte aber seit den vielen Jahren im Dorf gelernt wie man sich selber versorgte. Das gleiche verübte er auch an dem Holzpfeil in Shens Bauch, das den allermeisten Schaden verursacht hatte. Liang hatte sich zuerst davor gescheut, dieses größere Holzteil herauszuholen. Doch solange sie keinen richtigen Arzt auftreiben konnten, war das Risiko, dass das Holz schwere Entzündungen hervorrufen konnte, wesentlich größer. Zu Liangs Erleichterung hatte das Geschoss kein Organ getroffen. Während der Pfau die Wunde vernähte, musste er leicht lächeln. Sein Sohn hatte mehr als zwei Schutzengel gehabt. Doch dann verschwand sein Lächeln wieder. Oder war das nur eine Verlängerung des Unheils, dass noch auf sie zukommen könnte? Als er fertig war, erhob er sich und betrachtete seinen Sohn mit einer Sorgenfalte auf der Stirn. Lady Ai gefiel sein Blick gar nicht. „Wie sieht es aus?“ „Die Wunden sehen noch einigermaßen gut aus“, meinte Liang. „Jedenfalls zumindest es keine Komplikationen gibt…“ Er sah seine Frau an. Diese fing seinen Blick besorgt auf. „Sollen wir nicht doch versuchen den Arzt zu holen?“ Liang seufzte. „Wir müssen abwarten. In der Stadt wird eh jetzt das Chaos ausgebrochen sein. Wer weiß, ob der Arzt überhaupt zu diesem Anlass zuhause ist.“ Er legte einen Flügel auf die Schulter seiner Frau. „Das wird schon wieder. Komm, hilf mir ihn sauber zu machen. Er hat es dringend nötig.“ Damit begaben sich beide an die Arbeit das Gefieder und den Körper ihres Sohnes zu reinigen, das neben Blut auch mit Schießpulver verdreckt war. Dabei gingen sie so sanft wie möglich vor, um ihn nicht zu wecken. Er hatte nicht nur Verletzungen, sondern auch einen extremen Kampf hinter sich, den er verloren hatte. Das worauf er sein ganzes Leben lang hingearbeitet hatte, war innerhalb von wenigen Minuten den Erdboden gleichgemacht worden. Nachdem sie ihn gut abgewaschen hatten, versorgten sie seine Wunden anschließend mit Wundsalben und verbanden sie mit Verbandsstoffen. Dann rieben sie ihn trocken und deckten ihn mit einer Decke zu. Eine Weile betrachtete das Elternpaar ihren Sohn. Es war so extrem lange her als sie ihn das letzte Mal schlafen gesehen hatten. Über 20 Jahre. 20 Jahre, die für sie auf einmal wie ein Nichts vorkamen. Nach einer Weile lösten sie sich von diesem Anblick. Sie zogen die Vorhänge zu, die den Blick auf die Baracke freigab und zogen sich kurzzeitig ins Schlafzimmer zurück. Dort wechselten sie ihre Kleidung, und färbten sich auch wieder ihr Gefieder ein, denn das Wasser hatte ihre ganze Tarnfarbe abgewaschen. Als sie das Zimmer verlassen hatten, blieben sie einen Moment schweigend im Esszimmer stehen und schienen nicht zu wissen, was sie jetzt machen sollten. Schließlich hob Ai den Kopf. „Ich mach uns einen Tee.“ Schweigend saß das Ehepaar am Tisch und ließen den ereignisreichen Morgen nochmal Revue passieren. Alles kam ihnen so unrealistisch vor. Die ganzen Jahre hatten sie auf seine Rückkehr gewartet. Jetzt war alles auf einmal passiert und sie mussten das Erlebte erst einmal verarbeiten. Nachdenklich blies Ai über ihre noch dampfende Teetasse. Sie schielte zu ihrem Mann rüber, der seinen Tee noch nicht angerührt hatte und nur mit leerem Blick auf die Tischplatte starrte. Schließlich hielt die Pfauenhenne es nicht mehr länger aus und stellte die Teetasse ab. „Haben wir das Richtige getan?“, fragte sie leise. Doch Liang reagierte nicht auf diese Frage und senkte den Blick nur noch mehr. Er war sich selber nicht ganz sicher. Hatten sie sich jetzt so sehr von ihrem elterlichen Instinkt täuschen lassen und einen Fehler mit ihrer Handlung begangen? Doch hätte man sie gefragt, ob sie auch anders reagiert hätten, so hätte jeder von ihnen diese Frage mit einem deutlichem „Nein“ beantwortet. Die ganze Welt mochte ihren Sohn hassen, aber sie konnten es nicht. Nicht mehr. Einmal hatten sie ihn vor aller Augen verstoßen. So wie es das Gesetz vorgeschrieben hatte. Und auch die große Enttäuschung, dass er als Massenmörder aus ihrer Heimat verbannt werden musste. Doch genauso groß war die Wut, die Shen ihnen entgegengebracht hatte. Niemals würden sie vergessen, wie er damit gedroht hatte zurückzukommen und ganz China würde sich dann vor ihm verneigen. Bei diesem Gedanken musste Ai erneut seufzen. „Ob er uns immer noch hasst?“ Erst jetzt ging durch ihren Mann ein Ruck. Hassen. Meine Eltern haben mich gehasst. Liang blinzelte bei Shens Worten, die er während des Gesprächs mit der Wahrsagerin geäußert hatte. Sein Blick wanderte zu seiner Frau, die nicht wusste, was sie von seinem Gesichtsausdruck halten sollte. Schließlich bewegte Liang den Schnabel. „Vielleicht…“, begann er zögerlich. „Vielleicht hatte er dasselbe von uns gedacht.“ Er versuchte zu lächeln und noch ehe seine Frau darauf etwas erwidern konnte, legte er schnell seinen Flügel auf ihren Flügel. „Wir müssen abwarten, was passieren wird. Wir haben unseren Teil getan.“ Er senkte kurzzeitig seinen Blick. „Der Rest liegt bei ihm.“ Lady Ai seufzte schwer. Sie hatte Angst, dass es bei Shen Komplikationen geben könnte und es war für jeden von beiden klar, dass sie um einen Arzt nicht herumkommen würden. Liang verstärkte seinen Druck auf ihrem Flügel. „Keine Sorge, er wird es schon schaffen. Er ist stark.“ Er versuchte zu Lächeln, was seine Frau versuchte zu erwidern, aber keinem von beidem war zum Lachen zumute. Keiner wollte es aussprechen, aber sie mussten sich bewusst machen, dass sie mit Shens Verschonung gegen das Gesetz verstoßen hatten. Egal ob sie nun zur royalen Familie gehörten oder nicht, so könnten jederzeit dafür verurteilt werden – wenn sie nicht aufpassten. Lady Ai blinzelte. Sie meinte etwas gehört zu haben. Sie lag im Bett neben ihrem Mann. Beide hatten sich nur kurz hingelegt, um sich von den ganzen Strapazen zu erholen. Ais Blick wanderte zum Fenster. Es war dämmrig draußen. Wieder meinte sie ein Geräusch zu hören. Um ihren Mann nicht unnötig aufzuwecken, stieg sie leise aus dem Bett, zündete im Esszimmer eine Kerze an und näherte sich der Abstellkammer. Hinter dem Vorhang raschelte es. Der Pfauenhenne blieb das Herz stehen. War ihr Sohn aufgewacht? Zögernd schob sie den Vorhang etwas beiseite. Zuerst erschrak sie. Shen wälzte sich unruhig im Bett hin und her, doch zu ihrer Erleichterung waren seine Augen geschlossen. Er schien schlecht zu träumen. Instinktiv setzte sich die Pfauenmutter neben ihn ans Bettlager. Dort stellte sie die Kerze auf den Boden ab und legte beruhigend ihren Flügel auf seinen Flügel. „Psst“, flüsterte sie sehr leise. „Es ist gut, alles ist gut.“ Sie spürte seine Anspannung, begleitet von einem unkontrollierten Zittern. Was sah er nur gerade? Sie wünschte, sie könnte in seine Gedanken schauen. Noch immer plagten sie die letzten Geschehnisse, die sie kurz vor seiner Vertreibung aus der Stadt durchlebt hatten. Noch nie hatte sie ihren Sohn so gesehen. Noch nie hatte er sie so angesehen. Das hatte Ai bis in ihre Albträume verfolgt. Jeden Tag quälte sie die Frage, was ihr Sohn von ihr dachte. Empfand er überhaupt noch etwas für sie? Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Sie hatte sich ihm gegenüber nie richtig geöffnet. Weder in seiner Kindheit, noch als er erwachsen war. Behutsam strich sie ihm über die weißen Federn. Das starke Zittern hatte aufgehört. Doch das war nicht das Einzige, was sie so beschäftigte. Vorsichtig hielt sie einer der Federn mit den Fingerfederspitzen hoch und betrachtete sie voller Trauer. „Wie Baizhong“, murmelte sie leise. Seufzend ließ sie die Feder wieder los. Immer hatte sie Angst gehabt es würde mit Shen wie mit Baihzhong sein. Dessen Mutter war an seinem Tod zerbrochen. Sie wollte nie dasselbe durchmachen. Ihr Blick wanderte wieder zu Shens verbundenem Kopf zurück. Aber er lebte doch noch, dachte sie und Schuldgefühle schlugen wieder auf sie ein. Warum hatte sie sich nur so sehr von Baizhongs Leben beeinflussen lassen? Wäre es mit Shen sonst anders gekommen? Ai unterdrückte ein Schluchzen. Behutsam strich sie ihrem Sohn über die unverletzte Kopfseite. Wo war ihr kleines, unschuldiges Kind von damals? Schließlich konnte sie nicht anders und nährte sich mit ihrem Gesicht, bis sie ganz dicht an seinem Ohr war. „Kommt zurück zu mir“, hauchte sie und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Baizhong” steht für die chinesischen Worte „weiße Rasse/Spezies“. Wir werden erst später mehr über ihn erfahren. ;-) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)